Читать книгу Brave Tochter, altes Kind - Susanne Kilian - Страница 3
Das Medaillon
ОглавлениеIch sehe gar nicht ein,
warum man gegen Ungerechte
gerecht sein soll.
Goethe
Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt.
Und was schenken mir meine Eltern aus diesem Anlass?
Endlich das Silberbesteck, das mir meine Oma schon als Kind versprochen hat.
Und was noch?
Ein silbernes Medaillon.
Wenn ich es aufklappe, lächelt mich links meine Mutter und rechts mein Vater an.
Zwischen Girlanden sind auf der Vorderseite drei Buchstaben eingraviert:
M. P. S.
Mama. Papa. Susel.
Wunderbar.
Darüber soll ich mich freuen!
Schwarz könnte ich mich ärgern.
Dieses Silberbesteck hätte ich in all den Jahren so gut gebrauchen können.
Dieses grässliche Medaillon an seinem Silberkettchen.
Soll ich mir meine Eltern auch noch um den Hals hängen, damit ich sie mir immer ansehen kann?
Ich hab sie doch sowieso schon am Hals.
Seit langem bin ich verheiratet, habe Kinder und gerade ist mein erstes Enkelkind geboren.
Ich bin Nachtwache in einem Altenheim und lebe mein Leben so nebenbei.
Denn an erster Stelle bin ich ihre Susel, das alte Kind.
Ich habe nach den Bedürfnissen meiner Eltern zu leben, nicht nach meinen.
Wenn sie rufen, habe ich zu springen; ist ja sonst keiner da.
Trotzdem können sie mir jederzeit mit was auch immer ein schlechtes Gewissen machen.
Sinn und Zweck meiner Existenz ist das Wohl meiner Eltern.
Niemals kämen sie auf die Idee, mich zu fragen, wie es mir dabei geht.
Ich starre die drei Buchstaben M. P. S. an und weiß, dass ich das Ding nie tragen werde.
Aber ich kann es nicht einfach im Rhein versenken, was ich am liebsten tun würde.
Bestimmt werden sie bei irgendeinem ihrer Besuche danach fragen.
Also wickle ich es in ein Taschentuch und lege es zu meinem Schmuck.
So sehe ich es nicht und es soll meine Sachen nicht berühren.
Ja, ich habe gelitten, leide und werde weiter leiden, weil sie mich unter ihrer Fuchtel haben.
Nein, ich weiß nicht, wie ich mich aus ihren Fängen befreien könnte.
Einmal in der Woche gehe ich mit meiner Mutter einkaufen.
Ich begleite beide bei jedem Arzttermin, der ansteht.
Jeden Abend zwischen achtzehn Uhr und achtzehn Uhr dreißig rufe ich pflichtschuldig an.
Wo immer ich bin, was immer ich tue.
Auch aus dem Urlaub.
Natürlich feiern wir zusammen sämtliche Familienfeste und ebenso natürlich, ob Geburtstag, Weihnachten oder sonst was, die Stimmung ist immer angespannt.
Was kriegen sie dieses Mal in die falsche Kehle?
Über welches Familienmitglied regen sie sich heute auf?
Weil es sich falsch benimmt? Das Falsche sagt? Das Falsche an hat?
Jedes Mal ein Horror, wenn der Besuch meiner Eltern bei uns fällig ist.
Der gleiche Horror, wenn etwas im Haus meiner Eltern zu feiern ist.
Wenn es irgendwie geht, drückt sich jeder.
Da stehe ich ganz allein auf weiter Flur.
Ob in der Vergangenheit, jetzt oder in der Zukunft, jedes Fest im Haus meiner Eltern läuft in den letzten Jahren haargenau nach dem gleichen Schema ab.
Das sind meine „Schnittchentage".
Da bin ich fast den ganzen Tag bei meinen Eltern.
Mein Mann bringt mich hin, gratuliert und macht sich - so schnell es geht - aus dem Staub.
Sohn oder Tochter kommen, gratulieren und sind verschwunden.
Oder sie rufen an.
Oder sie rufen nicht an.
Weil sie es vergessen haben oder was weiß denn ich … das ist natürlich unmöglich.
Und wer kriegt dann den ganzen Tag das Gejammer ab?
Klar.
Nächsten Monat steht der Geburtstag meiner Mutter an.
Ab und zu schleichen sich Bemerkungen dazu in die allabendlichen Telefongespräche ein.
Etwa die ewige Frage:
„Wer kommt?"
Aber es ist ja noch Zeit.
Die Tischdecken wird sie schon mal sichten.
Auch Gläser und Geschirr im Schrank schon mal durchspülen.
Das muss ja alles sauber sein.
Wenn man in den Schrank greift und da wäre was staubig, weil ewig nicht gebraucht …
Nicht auszudenken.
Vielleicht macht sie eine Torte?
Vielleicht belegt sie einen Obstboden?
Ich fasse es nicht, das ist immer das Gleiche.
Muss sie ständig ihre genauesten Anweisungen geben?
Könnte sie mich nicht einfach mal machen lassen, wie ich mir das denke?
Das würde mir viel Zeit sparen.
Keine tagelanges Geschwätz, nein, nicht am Telefon.
Da habe ich gefälligst bei ihnen anzutanzen.
Und dann machen wir doch wieder wie eh und je die vermaledeiten „Schnittchen".
Aber es hilft ja nichts.
Morgen ist es wieder so weit.
Eine Woche vor ihrem Geburtstag.
Und wir werden eine Woche lang von nichts anderem reden.