Читать книгу Brave Tochter, altes Kind - Susanne Kilian - Страница 4
Der Geburtstag
ОглавлениеSame procedure as …
Wir sitzen in der Küche und sind wie vor jedem Fest beim ewig gleichen Thema.
Da lagert teurer Wein und kostbarer Sekt im Keller.
Den muss man endlich mal trinken.
Ich lege keine Flasche kühl und kippe das Zeug nachher weg.
Der Keller ist zu warm, die Sachen sind nicht optimal gelagert und mit Sicherheit untrinkbar.
Meine Eltern werden das nie einsehen.
Aber weil sie sich nicht blamieren wollen und ich mich standhaft weigere, erkämpfe ich mir am Ende doch die Erlaubnis, Wein und Sekt zu kaufen.
Das ist wenigstens auch für dieses Mal klar.
Wer kommt?
Kommt überhaupt jemand?
Ich kann’s wirklich nicht mehr hören.
Natürlich kommt immer irgendjemand.
Auf den Einkaufszettel gehören:
Kräcker. Spundekäs'. Trauben.
„Kauf nur keine kernlosen, die schmecken ja nicht."
Wären für mich aber bequemer. Sie braucht die anderen ja nicht zu entkernen.
„Also in zwei Farben. Blau und grün. Die mit Kernen sind auch größer. Kauf die."
Na eben.
Wie immer.
Die kommen auf die mit rosa Spundekäs' bestrichenen Kräcker.
Ich hätte lieber runde, sie besteht auf TUC von ALDI.
Sekt. Orangensaft. Orangensaft mit Sekt. Wasser? Wein?
„Wie Wasser? Wein? Also wirklich! Das trinkt man doch nicht beim Empfang. Wer soll das da schon trinken? Wenn überhaupt jemand kommt. Wasser und Wein gibt’s nicht beim Empfang. Das gibt’s erst später. Wenn jemand kommt."
Tja dann.
Die Schnittchen reicht man auch erst um Viertel vor zwölf und in keinem Fall zusammen mit den Kräckern.
Ja, das kenn ich.
Und dann wird jeder hin und her und vor und zurück genötigt, bis alle aufgegessen sind.
Ein Theater ist das immer.
Peinlich.
Für die Schnittchen schreibe ich endlos lange Listen:
„Unbedingt Hackepeter. Ja. Den isst dein Vater so gern. Der muss sein. Da machst du dann wieder ganz ganz dünne Zwiebelringelchen drauf. Wenn die zu dick sind, kann man die nicht richtig kauen, viel zu hart. Gekochten Schinken auch, dünn geschnitten, aber bloß nicht zu dünn. Der fällt sonst auseinander. Und Kaiserfleisch. Das auch dünn geschnitten. Bring nur keinen rohen Schinken mehr, der ist ja nicht zu beißen mit unseren Zähnen. Nein. Auch hauchdünn geschnitten nicht. Wie sieht das denn aus, da denken die Leute, die kommen, wir wären geizig. Nein. Lass den weg. Gut wäre eine feine Salami. Aber nicht wieder so scharf! Letztes Mal war die viel zu scharf. Guck mal nach einer anderen. Die muss aber hauchdünn geschnitten sein. Da kannst du ja dann drei oder vier Scheibchen drauf legen. Und Silberzwiebelchen. Nicht so groß, die ganz ganz kleinen."
Als ob es riesige Silberzwiebeln gäbe. Gürkchen. Maiskölbchen.
„Lass nur den eingelegten roten Paprika weg. Der liegt so schwer im Magen, den verträgt auch nicht jeder. Wenn überhaupt jemand kommt. Ach, dass man auch nie weiß, wer kommt …“
„Ihr ladet ja auch nie jemand ein, dann wüsste man das besser …"
„Also Susel. Das haben wir noch nie gemacht. Wer kommt, kommt. Nur wenn jemand kommt, wann kommt er dann? Na vor elf Uhr glaub ich ja nicht. Manchmal kommen die aber auch schon früher, so um zehn Uhr. Da muss alles fertig sein. Dein Vater aus dem Bett und gefrühstückt. Die Kräcker machst du ja immer erst hier. Die weichen sonst durch. Da darfst du aber nicht zu spät kommen. Ja wann kommst du denn überhaupt?"
Sie wird ja dann gar keine Ruhe haben, muss ständig ans Telefon rennen, an die Tür …
Ach, und dass mein Vater dann auch noch Ende des Monats Geburtstag hat, da darf sie jetzt gar nicht dran denken.
Mein Gott.
Mir wäre es auch lieber, wenn die zwei stressigen Schnittchentage mehr übers Jahr verteilt wären. Hat aber den Vorteil, dass ich nach diesem Monat erst mal wieder Luft holen kann. Aber mich fragt hier sowieso keiner.
„Das Brot. Kauf kein Weißbrot. Nimm das Dreikorn. Du schneidest das doch wieder in Dreiecke? Petersilie. Tomaten. Nimm nur die ganz kleinen. Obwohl … da ist die Schale so hart. Na, nimm sie trotzdem. Die sehen hübsch aus. Fällt dir jetzt noch was ein? Du garnierst das doch alles wieder so schön? Mach nur nicht so viel. Du machst immer viel zu viel. Wer soll das denn essen, wenn niemand kommt?"
Ich möchte sie nicht hören, wenn ich zu wenig machen würde.
Nein, mir fällt jetzt auch nichts mehr für die Schnittchen ein.
Was ist mit dem Kuchen zum Kaffee?
„Ich würde so gerne wieder mal eine Torte machen. Aber die Marianne sagt, sie schenkt mir dieses Jahr eine. Die macht sie auch selbst. Sogar den Tortenboden. Hoffentlich ist die dann auch so gut wie meine immer. Hausgemacht ist am besten. Soll ich nicht doch am Vormittag einen Tortenboden belegen? Könnte ich doch machen. Schön frisch. Hausgemacht."
Möchte mal wissen, was an ihrem ewigen blöden Aprikosenkuchen hausgemacht ist.
Obstboden von ALDI. Aprikosen aus der Dose auch und der Fertig-Tortenguss ebenfalls.
Ganze zehn Minuten brauche ich, um sie davon abzubringen.
Schon allein die Vorstellung:
Ich fabriziere in der Küche die Kräcker.
Ständig klingelt das Telefon oder es klingelt an der Haustür.
Und mein Vater rennt, die Arme in die Luft werfend, wie ein kopfloses Huhn zwischen Toilette und Küche hin und her.
„Vielleicht reicht ja auch die Torte von der Marianne. Wahrscheinlich kommt niemand. Die kommen entweder zum Geburtstag von mir oder zu dem von deinem Vater. Ach, wenn der nur auch schon rum wäre …"
Womit wir wieder beim Thema wären.
Und was gibt’s am Abend?
Ach, am Abend.
Da sind wir doch alle zu müde, wir essen die restlichen Schnittchen auf, niemand hat nach dem Kaffeetrinken richtig Hunger, sind doch immer Schnittchen übrig.
„Und du hebst alle Rechnungen auf. Bevor du dann gehst, dürfen wir nicht vergessen abzurechnen. Heb nur alles auf, damit du dein Geld kriegst. Und mach nur nicht wieder so viel. Ach, das wird alles wieder so unruhig. Das ist immer so anstrengend für uns. Am liebsten würde ich gar niemand sagen, dass ich Geburtstag habe. Aber die wissen das ja alle. Und dann kommen die auch. Vielleicht kommt auch niemand … Ach, wenn der Tag nur schon vorbei wäre."
Ja.
Das wünsche ich mir allerdings auch.
Und dass du mir vielleicht einfach mal hundert Euro in die Hand drückst und sagst:
„Mach mal. Du wirst das schon gut machen."
Dann müsste ich mir hier nicht den ganzen Nachmittag dieses Geschwätz Werkommt, Kommtjemand, Kommtniemand anzuhören.
Am Nachmittag vor dem Geburtstag einkaufen und abends vorbereiten.
Trauben entkernen, halbieren, grüne und blaue getrennt in Plastikdosen und Deckel zu.
Silberzwiebeln abtropfen lassen, Gewürzgurken abtropfen, kleinschneiden, Maiskölbchen kleinschneiden, Tomaten waschen, durchschneiden und alles in kleine siehe oben …
Die Petersilie steht im Wasser.
Der Belag wartet im Kühlschrank auf seine Verwendung.
Statt noch früher aufstehen zu müssen, damit die Butter sich gut schmieren lässt, nehme ich jetzt schlauerweise Remoulade aus der Tube für das weiche Dreikornbrot.
Am Geburtstagsmorgen geht’s dann schon zu Hause rund.
Brot bestreichen, einmal diagonal durch und belegen.
Der Metzger hat Papierblättchen zwischen Schinken- und Salamischeiben gemacht.
Ich könnte ihn dafür küssen.
Dieser blöde Hackepeter mit seinen fitzeldünnen Zwiebelscheiben.
Ich hab immer Angst, dass das Zeug schlecht ist, bis es gegessen wird.
Aber egal zu welchem Anlass, mein Vater besteht auf seinen Hackepeter.
Mir wird gar nicht besser, wenn ich an den vor mir liegenden Tag denke.
Zwei große Platten sind voll und ausgarniert, ab in die Schachteln.
Restlichen Garnierkram einpacken, TUC, Spundekäs', Trauben, Geschenke, Tortenspitze, Blumen.
Hab ich alles?
Ab zum Konditor, Kuchen holen. Ist ja lachhaft, dass meine Mutter außer der Torte keinen mehr braucht. Sie gibt doch jedem ein Kuchenpäckchen mit.
Jetzt los.
Kurz vor der Autobahnauffahrt: Schrecksekunde.
Ich hab den restlichen Schinken, die Salami usw. vergessen, um dort weiter Schnittchen zu schmieren, da brauche ich Nachschub.
Umkehren, zurück.
Als ich das Zeug aus dem Kühlschrank hole, würde ich am liebsten zu Hause bleiben.
Jetzt reiß dich zusammen, heute Abend bist du ja wieder hier.
Gut, dass ich jetzt gemerkt habe, dass was fehlt, und nicht erst bei meinen Eltern.
Was für ein Nebel und der verspricht einen sonnigen Tag.
Wo stelle ich da die blöden Schnittchen hin?
Immer in Reichweite sollen die sein; auf dem Terrassentisch ist es jetzt noch schattig und kühl, aber später wird er die pralle Sonne abkriegen.
Ach, das werde ich doch dann alles sehen.
Nur die Ruhe.
Dieser Tag hat auch nicht mehr Stunden als jeder andere.
Auch wenn ich versuche, mir das klarzumachen, helfen tut es nicht.
Ich beneide alle Leute, die heute am Haus meiner Eltern vorbeigehen und nicht rein müssen.
Ich beneide sogar die Rosenbüsche im Vorgarten, weil sie stehen bleiben können.
Los, ab, rein, ich klingle.
Hab aber keine Geduld, endlos zu warten, bis mir aufgetan wird.
Mein Mann und ich stellen Kartons, Kuchenschachteln, Blumen und so weiter vor der Haustür ab und ich schließe auf. Keiner lässt sich blicken und so schließe ich auch die Wohnungstür auf und gehe in die Küche.
Da sitzen sie in trauter Eintracht noch beim Frühstück.
Das Geburtstagskind im Morgenrock, der Gatte im Schlafanzug.
Aber Leute, es ist halb zehn, warum sollte ich eigentlich so früh auf der Matte stehen?
„Ei, du bist ja schon da!!!"
Riesenverblüffung.
Mein Klingeln haben sie anscheinend nicht gehört und jetzt fängt das Telefon an zu bimmeln.
Na, da kommt aber Leben in die Bude.
Das Affentheater geht los.
„Te-le-fooon!"
Brüllt mein Vater los, obwohl meine Mutter ihm genau gegenüber sitzt; er springt auf.
„Schrei doch nicht so! Ich hör’s doch!"
Sie springt auf und er macht eine skurrile Drehung, weil er beinah über den Stuhl fällt.
Wütend schreit meine Mutter:
„Jetzt pass doch auf!"
Gemeinsam eilen sie aus der Küche ins hintere Wohnzimmer, wo das Telefon steht.
Die sind erst mal beschäftigt.
Ich trage derweil meine Schnittchenkartons raus auf den Terrassentisch, noch ist es dort kühl.
Die anderen verderblichen Sachen räume ich in den Kühlschrank.
Mein Mann trägt die Kuchenschachtel in den kühlen Keller.
Mein Vater ist inzwischen schon wieder im Flur, stürzt zur Wohnungstür und ruft ins Treppenhaus:
„Wer ist denn da?"
Mein Gott.
Er hat meinen Mann und mich vorhin im Flur gesehen, wer sollte denn jetzt sonst da sein?
Meine Mutter hat fertig telefoniert.
Endlich können wir ihr gratulieren und die Geschenke überreichen.
„Ihr sollt doch nicht so viel schenken. Eieiei. Ja. Die Gesundheit ist das Wichtigste. Ach nein, was hast du denn da für riesige Blumenstöcke gebracht? Wo stelle ich die denn hin? Da muss ich gleich mal auf meiner Fensterbank gucken. Jesses, du bist ja immer noch im Schlafanzug."
„Nicht doch."
Mein Vater verschwindet im Bad.
Sie ist aber selbst noch im Morgenrock.
Aber wie sie versichert, ist sie gewaschen, gekämmt, war auf der Toilette und hat alles drunter schon an bis auf ihr Kleid.
Mein Mann trollt sich, ich bringe ihn zum Auto; na, bis heute Abend; der hat es gut.
Wieder drin, gehe ich ins vordere Wohnzimmer, da ist der Tisch schon ausgezogen und die längste und breiteste Tischdecke liegt auf. Gläser, Teller, Besteck und Servietten stehen auf der Anrichte bereit. Soviel zu „kommt überhaupt jemand?".
Gleich kann ich mich den Kräckern widmen, wird auch Zeit.
Friedliche Stille.
Meine Mutter ist im Schlafzimmer.
Mein Vater immer noch im Bad.
Telefon.
Türklingel.
Mein Vater reißt die Badezimmertür auf und brüllt:
„Telefooon! Es klingelt! Nun geh doch einer mal …"
„Herrgott, ich komm ja schon!"
Wütend reißt sie die Schlafzimmertür auf und rast ohne Morgenmantel im Korsett und auf Strümpfen zum Telefon.
Inzwischen bin ich längst an der Tür.
Da steht ganz verschüchtert die Mieterin von oben, Frau Grabert.
Hier ist aber auch ein Gebrüll!
Eigentlich müsste sie das gewöhnt sein, seit Jahrzehnten wohnt sie hier.
Sie wollte nur fragen, wann es recht ist, zum Gratulieren zu kommen; und weg ist sie.
Mein Vater verschwindet kopfschüttelnd im Schlafzimmer:
„Kinder, Kinder. Nee!"
Meine Mutter ist immer noch am Telefon, sie quatscht mit einer alten Schulfreundin.
Ich schaue nach, ob genügend Sekt und Orangensaft kühl liegen.
Dann mache ich mich mit Kräckern, Spundekäs' und halbierten Trauben ans Werk.
Sind sie denn nun fertig mit Frühstück oder nicht?
Ich schiebe mal einfach alles zur Seite.
Mein Vater erscheint als Erster, komplett angezogen jetzt.
„Hach, ich war doch noch gar nicht fertig. Ist das mein Kaffee? Wo sind denn meine Tabletten? Wo ist denn die Mutti?"
Am Telefon, telefoniert mit der Maja.
„Menschenskinder. Nee, die Maja, die findet ja nie ein Ende!"
Er wirft die Arme in die Luft.
Dann richtet er seinen ausgestreckten Zeigefinger auf mich und sagt anklagend:
„Das muss man sich mal vorstellen. Am Geburtstag. Und da ruft der Fritz schon um halb acht in aller Herrgottsfrühe an. Am Geburtstag! Nee!"
Das „Nee“ spuckt er regelrecht aus und setzt bekümmert seine Kaffeetasse an den Mund.
„Telefoniert sie denn immer noch mit der Maja? Das ist ja furchtbar heute. Und wo sind denn meine Pillen?"
Jetzt erscheint meine Mutter auf der Bildfläche, endlich auch fertig angezogen.
„Ach. Ich hab ja noch gar nicht fertig gefrühstückt; mein Kaffee. Die Post … sag mal, hast du schon nach der Post …"
„Ja, wann soll ich denn? Wie soll ich denn? Ich hab ja meine Pillen noch gar nicht; mein Kaffee ist gleich alle."
„Du kannst die Pillen doch einmal selbst holen, hier nebendran liegen sie doch. Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt!"
„Mein Gott. Also wirklich."
Genau das werde ich mir den ganzen Tag anhören müssen.
Immer in erhöhter Lautstärke.
Keine Sekunde vergeht, in der nicht einer der beiden quasselt.
So.
Sekt, Orangensaft und Kräcker haben wir jetzt ohne größere Nötigungen durch.
Frau Grabert ist da und Bekannte aus der Nachbarschaft, na immerhin.
Das nächste Highlight sind die Schnittchen.
„Könnte ich mal von dem Hackepeter? Ich seh doch nix."
Ich habe die Platte genau vor ihn hingestellt, man kann den Hackepeter unschwer an den Zwiebelringen erkennen.
„Wo? Na, nun gib mal drauf."
Er braucht wirklich nur die Hand auszustrecken; na gut, geb ich’s ihm auf den Teller.
Alle schwatzen munter durcheinander.
Dem Geburtstagskind sieht man zwar an, dass ihm das Freude macht, aber wegen ihrer Schwerhörigkeit wird sie bei dem Stimmengewirr wie immer nur „Bahnhof" verstehen.
Die Schnittchen schwinden dahin.
„Könnte ich jetzt endlich auch mal von dem Hackepeter?"
Da hat meine Mutter Pech.
Ich hatte schon gesehen, wie die Hand meines Vaters über das Tischtuch tastete und immer die richtigen Schnittchen traf.
Still und emsig hat er fast alle aufgegessen.
„Kann ich jetzt von dem Kochschinken? Tu mal drauf!"
Er hält mir seinen Teller hin.
Hat meine Mutter vorhin nicht gesagt, ich hätte wieder viel zu viel gemacht und wer das alles essen soll? Viel bleibt hier nicht übrig, ich muss nachher neue machen für heute Abend.
Die Besucher sind weg, werden aber zum Kaffeetrinken wieder kommen.
Vielleicht kann ich mich mal für fünf Minuten allein auf die Terrasse in die Sonne setzen.
Weit gefehlt.
Erst muss ich unter Anweisung meiner Mutter abräumen.
Sie lässt nicht locker.
„Nein. Tu das nicht hinten in den Kühlschrank, das kommt hier unten hin. Wo ist denn der Sekt? Wie viel haben die denn … nur eine halbe Flasche? Ach so. Eine ist leer und das ist die zweite. Ach so. Na dann. Warum tust du denn den Löffel umgekehrt in die Flasche rein? Damit die Kohlensäure nicht raus geht? Aber Ssussell. Wir haben doch so einen schönen Sektflaschenverschluss! Den kriegst du nicht drauf? Ich hol den mal und mach den drauf. Was sind denn das hier für Päckchen? Wie? Schnittchenbelag für heute Abend? Aber da kommt doch niemand mehr. Ach, für uns? Aber da sind doch noch welche übrig. Was, das sind nur noch drei? Also, ich esse heute Abend sowieso nichts. Wo ist denn der Kuchen? Wieso ist der nicht im Kühlschrank? Ach, der ist unten im Keller. Ich weiß nicht … mit meinem Magen. Ach, ich bin so unruhig. Brauche ich nicht sein? Na, du machst mir Spaß. Ich weiß ja, dass du das alles machst. Aber mein Magen. Ich glaube, ich koche mir ganz schnell einen Magentee. Ich bin so unruhig. Wenn der Tag doch nur schon vorbei … Hoffentlich kommt die Marianne mit der Torte rechtzeitig. Hoffentlich schmeckt die auch. Ich mache jetzt erst mal den richtigen Verschluss auf diese Flasche. Dass du den aber auch nicht drauf …"
Sie steht die ganze Zeit mit der Sektflasche in der Hand vor dem offenen Kühlschrank und hält ihren Monolog.
Zack.
Die Kühlschranktür fliegt vor ihrer Nase zu, beinah wäre ihr vor Schreck die Flasche aus der Hand gefallen.
„Also! Mach doch den Kühlschrank zu!"
Weder sie noch ich haben meinen Vater kommen hören.
„Sowas! Jetzt erschreck mich doch nicht so! Warum knallst du denn den Kühlschrank einfach zu? Wir müssen doch hier was gucken. Jetzt geh doch mal aus den Füßen! Leg dich lang! Du kannst hier sowieso nichts machen! Leg dich lang auf deinen Sessel!"
Sie reißt den Kühlschrank wieder auf.
Wahrscheinlich bleibt der Kühlschrank jetzt nur noch aus Trotz offen, während sie die Flasche ordentlich verschließt und wieder zurück stellt.
Dann verkündet sie:
„So. Und jetzt spüle ich."
Denn dies ist ein Haushalt ohne Spülmaschine.
Um Himmelswillen, bloß das nicht.
Den Magentee hat sie anscheinend vergessen.
Ich rede auf sie ein wie auf einen kranken Hund, sie soll sich auch hinlegen, ein bisschen ausruhen.
Nein.
Kann sie nicht.
Und wenn das Telefon …?
Soll sie sich doch einfach nebenan auf die Couch legen, dann kann sie gleich rangehen.
Mein Vater hat sich inzwischen aus dem Staub gemacht.
Nachdem sie mir genaueste Anweisungen gegeben hat, welches Geschirr ich nehmen soll und wie ich den Kaffeetisch zu decken habe, legt sie sich endlich auch hin.
Hoffentlich kommt die Marianne pünktlich.
Die Torte.
Ja.
Jetzt ist aber gut.
Ich werde doch endlich in Ruhe spülen können?
Den Tisch decken?
Noch ein paar von den verdammten Schnittchen für den Abend machen können?
Für den Augenblick herrscht himmlische Ruhe.
Sie liegt hinten und er vorne lang.
Beide die Augen geschlossen.
Sie nehmen keine Notiz von mir, als ich das gespülte Geschirr wegstelle und das Kaffeegeschirr raus räume.
Ich hätte nichts dagegen, wenn das so bliebe, bis die Nachmittagsgäste eintrudeln.
In der Küche stelle ich mir Brot, Schinken, Gurken und so weiter zurecht und mache mich in dieser erholsamen Stille an die Arbeit.
Das muss mein Vater sein, er schleicht durch den Flur. Na, vielleicht muss er nur mal zur Toilette. Genau. Aber irgendetwas wurstelt er doch da herum, als er rauskommt.
„Susi! Wir müssen doch noch die Post … Susi!"
Ich lasse Schnittchen Schnittchen sein und fege in den Flur.
Das darf doch nicht wahr sein!
Da hat er die Tür aufgerissen, steht mit der Post in der Hand vor meiner friedlich auf dem Sofa eingeschlafenen Mutter und schwätzt auf sie ein.
„Herbert! Das hat doch Zeit! Ich war gerade so schön eingeduselt! Was hast du mich jetzt erschreckt! Richtig Herzklopfen hab ich!"
„Aber wir müssen doch die Post … Lies doch mal vor, lies doch endlich, bevor gleich wieder jemand kommt. Hier. Hach, ich seh doch nichts!"
„Also … du bist aber wirklich … wo ich gerade so schön eingenickt war!"
Bis jetzt hat noch keiner gemerkt, dass ich in der Tür stehe.
So eine Unverschämtheit, die Frau aufzuwecken.
Er lässt sich umständlich auf dem Sessel ihr gegenüber nieder.
Von wegen nichts sehen.
Die Briefumschläge hat er schon aufgemacht, wahrscheinlich alle unangenehmen Sachen raus sortiert, einschließlich der Kontoauszüge von der Bank. Das alles pflegt er in den Wohnzimmerschrank zu stopfen, der wird eines Tages noch platzen.
Jetzt rappelt sie sich hoch und sucht in dem Durcheinander auf dem Tisch nach ihrer Brille.
„Nicht doch. Das ist die Telefonliste. Bis jetzt haben sieben angerufen, sieben, nein, acht mit der Lilo vorhin. Nur dein Bruder noch nicht. Typisch."
„Ja, wo ist denn … die Brille war doch vorhin noch da. Ich hab dir aber auch gesagt, du sollst den Tisch hier mal aufräumen! Man kann gar nichts finden."
„Also Suusi. Nee. Also wirklich …"
Das Telefon klingelt.
Er brüllt:
„Susi. Telefon."
Sie brüllt:
„Herbert. Telefon."
Dabei sitzen sie sich genau gegenüber.
Endlich nimmt meine Mutter ab und nach einem „Moment, bitte" fummelt sie zuerst mal an dem kleinen Apparat, der ihr das Telefon lauter stellen soll. Das Ding fiept und pfeift.
Mein Vater wirft die Arme in die Luft und schüttelt wild den Kopf:
„Mensch. Susi."
„Wer? Wer ist dran? Ach Sabieeene. Duuu …"
Jetzt mache ich mich aber schnell in die Küche zu meinen Schnittchen.
Sabine ist meine Kusine und die Tochter von Lilo, der Schwester meines Vaters, beide leben seit langem in der Schweiz.
Ich hab nichts gegen sie, kann sie gut leiden.
Aber wenn sie anruft, dann ist das so, als wäre mindestens der Papst dran.
Bei meinen Eltern hab ich überhaupt keine Lust, mit ihr zu reden.
Denn dann hängt mir links meine Mutter über der Schulter und rechts hängt mir mein Vater im Nacken, nur damit sie ja jedes Wort mitkriegen, das die göttliche Sabine zu mir sagt.
„Suuusel. Die Sabieeene. Nun komm doch mal. Schnell."
Hab ich’s doch geahnt.
„Ich kann grade nicht. Schöne Grüße."
Gleich werden beide mit verklärten Gesichtern hier in der Küche aufkreuzen und lang und breit berichten, was sie gesagt hat.
Wo jetzt mit der Schachtel voller Schnittchen hin?
Die muss in den Kühlschrank, auf dem Terrassentisch ist die pralle Sonne drauf.
Die Markise darüber darf seit Jahren nicht runtergezogen werden.
Könnte ja ein plötzlicher Windstoß abreißen, könnte ja ein Vogel drauf kacken.
Aber die Torte muss nachher in den Kühlschrank.
Also runter in den Keller.
Ich bringe dafür den anderen Kuchen mit hoch.
Na, die beiden telefonieren aber lange, kostet nicht ihr Geld, Sabine hat angerufen.
Aber wehe, meine Mutter ruft mal in der Schweiz an.
Dann steht mein Vater die ganze Zeit neben ihr und je länger sie telefoniert, desto wütendere Blicke lässt er in ihre Richtung blitzen; wird es ganz arg, klopft er auf das Glas seiner Armbanduhr und zappelt herum wie ein Kasperle. Und legt sie dann endlich entnervt auf, folgt ein Vortrag über die enormen Kosten eines Auslandsgesprächs.
Er tut immer so, als würde das in die Tausende gehen!
Als erster Kaffeegast kreuzt die Marianne mit ihrer wunderschönen Torte auf.
Kein Rissel-Buttercreme-Ungeheuer, wie meine Mutter sie immer fabrizierte und um die sich jeder gerne drückte, wenn er irgend konnte.
Das ist Schlagsahne mit Kirschen und ein selbstgemachter Schokoladen-Biskuit-Boden, eine Art Schwarzwälder Kirsch.
Wie soll sie ahnen, dass meine Mutter keine Schlagsahne mag?
Und mein Vater dunkle Tortenböden verabscheut?
Na.
Zum Kaffeeklatsch erscheint auch der katholische Pfarrer, meine Mutter ist ganz gerührt.
Gleich zwei Stück der leckeren Torte verdrückt der wohlbeleibte Kirchenmann.
Mein Vater verwickelt ihn in ein Gespräch über sein Spezialgebiet, in das verwickelt er jeden Katholiken, der ihm unterkommt:
Dass die Evangelischen für die Katholischen eigentlich nur verirrte Schäfchen sind, obwohl beide ja doch Christen sind.
Für diesen seinen philosophischen Scharfsinn wird er in der Kaffeerunde bewundert.
Und das in seinem Alter!
Kuchen und Torte gehen weg wie warme Semmeln, dazwischen bimmelt das Telefon.
Das hat jedes Mal ein hektisches Aufspringen meiner Eltern zur Folge.
Jetzt kommt meine Mutter zurück und berichtet, dass ihr Bruder samt Frau und meine andere Kusine samt Mann heute nicht mehr kommen werden. Aber dann zum Geburtstag meines Vaters Ende September.
„Siehst du, ich hab’s ja gleich gesagt."
Das hat von Seiten meines Vaters ein Arme-hoch-Werfen und ein durch die Zähne gepresstes „Men-schens-kin-der!" zur Folge.
Daraufhin der lakonische Kommentar von Marianne:
„Ei Herbert, warum regst du dich denn gleich wieder so künstlich auf?"
Ich liebe sie für solche Bemerkungen.
Sie ist die Einzige, die sich das traut.
Trotz Unkerei meiner Mutter finden sich Gottseidank immer wieder Nachbarn ein, die diese ansonsten frostige Atmosphäre aus Nörgelei und Schreierei etwas erträglicher machen.
Der Pfarrer hat längst das Feld geräumt.
Ich stehe mit Marianne in der Küche und wir spülen gemeinsam.
Meine Mutter konnten wir erfolgreich überreden, bei ihren restlichen Gästen zu bleiben.
Erstaunlich.
Wir kriegen Spülen und Abtrocknen auch ohne ihre genauesten Anweisungen hin.
Marianne sagt:
„Jetzt geh doch heim. Seit wann bist du denn schon da? Halb zehn? Mach dir doch keinen Kopp. Jetzt kommt niemand mehr."
Ich suche im Kühlschrank die halbe Flasche Sekt.
Ich hab doch gesehen, wie meine Mutter die wieder reingestellt hat.
Komisch.
Der ganze Kühlschrank riecht aber nach Wein.
Im Gemüsefach findet sich die fast ganz ausgelaufene Flasche.
Liegend, der fantastische Sektverschluss ist drauf.
Gerade kommt mein Vater in die Küche und ich zeige ihm die Bescherung.
Maßloses Erstaunen.
„Ja, wie kommt das denn jetzt?"
Er hat vorhin nur Selters und Orangensaft ins Türfach gestellt.
Aber genau da hatte meine Mutter den Sekt hingestellt; hat er …?
Nein. Hat er nicht. Wie kommt das jetzt?
Hoffnungslos.
Dann waren das die Heinzelmännchen.
Da ist noch eine volle Flasche; die und Orangensaft und Wasser bringe ich rein.
Die Gäste sind durstig geworden und meine Mutter fragt:
„Haben wir noch Schnittchen? Wenn noch jemand möchte … Du könntest doch jetzt noch die Schnittchen …?"
Nein.
Hier will im Augenblick niemand Schnittchen.
Bald löst sich die Gesellschaft auch auf, in der Küche packt meine Mutter jedem ein Kuchenpäckchen.
Nicht zu großzügig.
Morgen will man ja auch noch was vom Geburtstag haben, morgen kommt die Isabel zum Saubermachen und die soll auch was kriegen.
Zuerst wird gemault, weil ich einen halben Frankfurter Kranz und eine halbe Käsesahnetorte mitgebracht habe, und jetzt ist fast alles weg.
Plötzlich ein Aufschrei meiner Mutter:
„Susel! Wir müssen ja noch abrechnen! Hast du alle Zettel mitgebracht? Hast du nichts vergessen? Warte, ich hole mein Portemonnaie."
„Was will sie denn jetzt?"
Fragt die Marianne.
Ich sage, dass ich alle Zettel von Einkäufen für den Geburtstag aufhebe, ihr vorzeige und zusammenrechne und dann das ausgelegte Geld kriege.
„Also, das wäre mir zu blöd."
Sie guckt mich an, guckt zur Decke und schüttelt den Kopf.
„Und warum gibt sie dir nicht einfach hundert Euro und sagt: Mach mal und behalt den Rest? Du hast doch auch die Rennerei und die Fahrkosten."
„Frag sie. Vielleicht hat sie Angst, ich haue mit dem Geld einfach ab? Das ist schon immer so, ich hab mich dran gewöhnt."
Da kann sie mich nur mitleidig anschauen.
Wir gehen ins Wohnzimmer.
Marianne und Frau Grabert bleiben bis zum Abend, werden mit meinen Eltern die letzten Schnittchen vertilgen und dann beim Aufräumen helfen.
Na, wenn das so ist …
Ich warte nicht auf meinen Mann, ich fahre mit dem Zug nach Hause.
Auf dem Weg zum Bahnhof Stille.
Keiner sagt was, fragt was, labert mich mit irgendeinem Blödsinn zu.
Wie ich mich jedes Mal freue, wenn Geburtstag, Weihnachten oder was auch immer mit meinen Eltern hinter mir liegen.
Aber kaum hab ich mal Luft geholt, da kommt schon das Nächste.
Dabei reicht mir schon der Alltag.
Das abendliche Telefonieren.
Die wöchentlichen Besuche ein- oder zweimal.
Und die niederdrückende Gewissheit, dass es noch jahrelang so weitergeht.
Und meine Eltern werden älter und älter.
Und ich mit ihnen.
An einem eiskalten, stürmischen Tag Ende Januar stirbt völlig überraschend Lilo, die Schwester meines Vaters.
Er selbst hat sie nur immer Franz genannt.
Vielleicht hätte er lieber einen Bruder gehabt.
Sie war zwei Jahre jünger als er. Und keine Krankheit, gar nichts deutete auf so ein unverhofftes Ende hin.
Meine Kusine hatte angerufen und nur ganz kurz mit meiner Mutter gesprochen. Ihr praktisch nur den plötzlichen Tod mitgeteilt. Es war ganz unvorhergesehen in der vorigen Nacht passiert. Wie man sich vorstellen kann, hatte sie für nähere Details keine Zeit.
Nach dem allerersten Schock und nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte, erregte das nun sofort den Unmut meines Vaters:
„Ja, kann denn das sein? Warum hast du mich denn nicht sofort ans Telefon gerufen? Wann wird die Beerdigung sein?"
Natürlich kann meine Mutter ihm jetzt im Moment auch nicht mehr sagen.
Nein.
So übermittelt man seinem Onkel diese Nachricht nicht. Das ist doch unglaublich. Er weiß sozusagen nichts. Er wird im Unklaren gelassen. Über alles.
Er weiß zur Stunde nicht, wann die Beerdigung sein wird.
Vielleicht steht die noch gar nicht fest?
Im Augenblick wird meine Kusine anderes zu tun haben, als Onkel und Tante haarklein und detailgenau zu informieren.
Vielleicht will sie das auch gar nicht.
Meine Eltern sitzen neben dem Telefon.
Weil sie nie ein schnurloses haben wollten, können sie sich nun nicht von diesem Telefon wegrühren.
Dann teilen sie mir doch kurz mit, dass sie sich nach langem Hin- und Herüberlegen entschlossen haben, zu dieser Beerdigung zu fahren.
Hektisch legen sie auf, in den nächsten Sekunden erwarten sie Sabines Anruf.
Weil sie vorhaben, hinzufahren, müssen sie auch endlich wissen, wann diese Beerdigung ist.
Wer zu dieser Beerdigung kommt.
Warum hören sie denn jetzt nichts mehr?
Ich kann mir inzwischen denken, warum meine Kusine nicht mehr anruft.
Sie wird ganz genau wissen, dass meine Eltern sich diese Beerdigung nicht entgehen lassen werden, so alt sie auch sind und so beschwerlich die Reise auch sein mag.
Und sie kann sich sicher auch vorstellen, dass Onkel und Tante sich gemütlich bei ihr einrichten wollen.
Schlafen. Essen.
Und in ihrer unausrottbaren Kommissar-XY-Manier jedes Detail zum plötzlichen Ableben ihrer Mutter aus ihr heraus fragen werden.
Wenn niemand weiß, wann die Beerdigung ist, dann kann auch niemand kommen.
So einfach ist das.
In diesem Augenblick entschließe ich mich, meine Eltern auf dieser Reise zu begleiten.
Nicht weil sie alt sind.
Das würden sie schon alleine schaffen, mit Zug und Taxi und Abholen und Bringen.
Nein, ich hege eine vage Hoffnung.
Ein ganz zartes Pflänzchen.
Möglicherweise könnte sich durch diesen gänzlich unerwarteten Tod meiner Tante irgendetwas ändern.
Vielleicht kämen wir uns auf dieser Reise näher und könnten doch mal über das eine oder andere in aller Ruhe reden.
Und gleichzeitig könnte ich meine Kusine ein wenig vor der Aufdringlichkeit meiner Eltern bewahren; die wird genug um die Ohren haben.
Wild entschlossen rufe ich meine Eltern an und sage, dass ich sie auf dieser Reise begleiten werde.
Mein Vater ächzt:
„Hach. Das brauchst du doch nicht. Wir wissen ja immer noch nicht mehr. Ja. Hach, ja. Und die Sitzungen an den zwei Fastnachtssonntagen, hach, die muss ich nun auch gleich abbestellen. Und dieser Wind, dieser Wind, der wird ja immer schlimmer. Susel. Es bricht alles über mich herein. Dass das aber auch so plötzlich kommen muss … Hach. Wir haben schon viel zu lange geredet. Wenn Sabine jetzt anruft, ist ja besetzt! Die Leitung muss …"
Hätte meine Tante mich vorher gefragt, dann hätte ich ihr gleich sagen können, dass sie jetzt drei Dinge ganz falsch gemacht hat:
Ohne Vorwarnung plötzlich über Nacht zu sterben.
Sich so ein miserables Wetter dafür auszusuchen.
Nicht das Ende der Fastnachtszeit abgewartet zu haben.
Sie haben jetzt endlich Sabine selbst angerufen, fünf Mal.
Immer besetzt.
Sie haben sich trotz allem schon nach Zügen erkundigt. Weil sie aber nicht wissen, wann die Beerdigung ist, konnten die auch nicht sagen, ob Sonntag oder werktags gefahren wird. Die Leute waren sehr unfreundlich.
Er weint nicht.
Er klingt nicht mal traurig.
Gebetsmühlenartig wiederholt er immer wieder, dass er auf Nachricht von meiner Kusine wartet. Er regt sich furchtbar auf, weil niemand bei ihr ans Telefon geht. Er nimmt es ihr übel, weil jetzt Stunde um Stunde vergangen ist und er da sitzt und immer noch nicht über das Datum der Beerdigung informiert wurde.
„Hach, diese Ungewissheit. Das ist doch die Höhe. Dieses Wetter, jetzt schneit es auch noch. Und das alles jetzt in der Fastnachtszeit. Ach. Alles bricht über mir zusammen. Ich werde kein Auge zu tun heute Nacht. Nein, wirklich. Das gehört sich doch nicht. Ganz und gar nicht gehört sich das. Wir müssen doch wissen, woran wir sind."
Wie immer geht es nur um seine eigene Befindlichkeit.
Um neunzehn Uhr ein kurzer, knapper Anruf meines Vaters.
Übermorgen fahren wir.
Morgen wird gepackt und er besorgt die Fahrkarten. Nein, ich kenne mich da nicht so aus. Er macht das schon.
Diesen Samstag wird die Beerdigung sein.
Das muss man sich mal vorstellen.
Wenn er nicht endlich die Sabine erreicht hätte, die hätte gar nicht mehr Bescheid gesagt. Das ist doch wirklich nicht zu fassen.
Das ist ein Affront!
Nach dieser Nachricht muss ich unbedingt mit meiner Kusine reden und ich habe auch irgendwann Glück.
Sie weint.
Mein dunkler Verdacht bestätigt sich. Sie wollte überhaupt niemanden über die Beerdigung informieren. Die soll im allerkleinsten Kreis in aller Stille stattfinden. Du liebe Güte, wieso wollen denn meine Eltern kommen? Die haben es in den letzten Jahren zu ihrer lebenden Mutter nicht geschafft, was wollen sie jetzt bei der toten? Kommen die wirklich?
Sie weint.
„Verdammt noch mal, deine Eltern werden wie immer in der Wohnung meiner Mutter ins Gästezimmer wollen. Was soll ich denn da machen? Ich kann sie nicht ausladen. Du weißt doch, wie beleidigt die immer gleich sind. Aber das steh ich nicht durch. Mein Bruder ist doch da mit Frau und Tochter. Die nerven mich schon genug. Ich kann einfach nicht noch …"
Sie weint.
Hätte ich mich nicht schon vorher entschlossen, jetzt steht fest, dass ich meine Eltern begleite.
Als Sabine sich einigermaßen beruhigt hat, einigen wir uns auf Folgendes:
Sie wird gleich Hotelzimmer für uns bestellen, sowie sie etwas Luft hat.
Ich werde versuchen, ihr meine Eltern - so gut ich kann - vor und nach der Beerdigung fernzuhalten.
Weder sie noch ich sagen meinen Eltern, dass wir miteinander telefoniert haben.
Selbstverständlich nehmen meine Eltern an, sie werden in ihrem angestammten Gästezimmer wohnen, eben dann zu dritt.
Was für ein Horror.
Als sie hört, ich würde mitkommen, sagt meine Mutter prompt:
„Das ist sehr gut. Da kannst du ja der Sabine helfen. Betten beziehen. Die Wohnung ausräumen. Den ganzen Papierkram ordnen, der da so anfällt. Du kannst auch für uns alle kochen."
Sie hocken gemütlich plaudernd in der Landschaft und ich ordne Papiere, schleppe Möbel, koche?
Wir fahren zu einer Beerdigung.
Und nur zur Beerdigung.
Wie lange hättet ihr denn vor, euch da breit zu machen?