Читать книгу Leben mit Borderline - Susanne Küppers - Страница 5

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Schon seit Monaten freue ich mich auf den Urlaub. Wie jedes Jahr, seit sieben Jahren, geht es an Pfingsten in den Center Parc. Zusammen mit meinen beiden Kindern Kevin, 13 und Cindy, elf Jahre alt. Kraft tanken. Die Kinder können zusammen Abenteuer erleben und ich habe Zeit für mich. Mütterliche Animation ist hier nicht gefragt, dafür sorgt schon das Programm des Center Parcs. Es ist die einzige Zeit im Jahr, in der ich meine Seele für eine Woche baumeln lassen kann, und das habe ich jedes Jahr mehr als nötig.

Die übrige Zeit des Jahres arbeite ich an der Rezeption einer Zahnarztpraxis. Dort kann ich mich austoben, verwirklichen, das glaubte ich jedenfalls. Und dann kann ich mich in der einen Woche im Park wieder regenerieren. Schließlich klappte das ja seit 1997.

Doch dieses Jahr ist alles anders. Im Center Parc angekommen bekomme ich solches Asthma, dass ich frierend unter der Decke im Bett liege, während alle anderen kurzärmelig den Park durchqueren. Mein Gewissen quält sich durch den Tag, muss das schlimm sein für die Kinder, im Urlaub eine kranke Mutter zu haben. Und die Freunde, mit denen wir zusammen gefahren sind, die erwarteten doch von mir, dass ich wie jedes Jahr als Clown fungiere. Abendliches Zusammensitzen auf der Terrasse, mit anschließendem feuchtfröhlichem Beisammensein bis in die Puppen, um dann am Morgen schnell mit den Kindern ins Schwimmbad zu gehen, die Kinder planschend und wir den Kater im Liegestuhl pflegend. Und dann am Mittag gemeinsam im Park Tretboot fahren, Fahrradtouren machen, abends in einem der drei gemieteten Bungalows kochen und dann die Wiederholung des Vorabends erleben: hoch die Gläser, Prost, die Vierte…

Was denken nur alle von mir? Wie gut, dass ich diesmal meinen Exmann eingeladen habe, wenigstens funktioniert er für die Kinder und sie sind nicht so allein bei den anderen. Mühselig kämpfe ich mich mit dem Fahrrad ins Bad, um wenigstens den Versuch zu starten, mich dort sehen zu lassen. Nach wenigen Minuten ist an ein weiteres Aushalten nicht mehr zu denken, ich muss gehen, ich friere, mir ist schwindelig, ich huste, mir wird schlecht…ich fahre zurück zum Bungalow und lasse die anderen zurück. Im Bungalow angekommen, kuschle ich mich wieder auf die Couch, mit meiner Feder- und einer Wolldecke, schaue fern und friere immer noch. Ein warmer Tee hilft auch nicht wirklich weiter und ich versuche zu begreifen, warum diesmal alles so anders ist. Ich grüble und grüble. Das bin ich ja gewohnt, in meinen Gedanken versunken zu sein, überlegend, was da die letzten Wochen passiert ist.

Kurz vor Ostern wurde ich von Frauke, meine Freundin und Musiklehrerin der Kinder, zum Gästegottesdienst in die Neuapostolische Kirche eingeladen. Ein Jahr zuvor hatte sie mich schon einmal eingeladen, da hatte ich abgesagt, aber diesmal hatte ich Lust mitzukommen und fand es schön. Die meisten in der Kirche kannte ich, sie waren Patienten in der Praxis, in der ich arbeitete, und dementsprechend wurde ich freudig und sehr warmherzig empfangen. Da hatte ich doch den Vergleich zu den Zeugen Jehovas, in deren Vereinigung ich hineingeboren worden war und 22 Jahre meines Lebens verbracht hatte, und empfand die Neuapostolische Kirche als sehr angenehm. Ich war interessiert, die Lehre zog mich in ihren Bann und das Herzliche zog mich magisch an. Also besuchte ich weitere Gottesdienste und schon nach kurzer Zeit hatten wir riesigen Anschluss bekommen. Hier eingeladen, dort eingeladen. Ich war überschwänglich, freudig und gut drauf, das fiel sogar in der Praxis auf.

Und da war Familie Roser, ein älteres Ehepaar, beide fast 65. Er war Vorsteher in der Gemeinde, die wir besuchten. Sie nahmen sich uns in besonderer Weise an. Doch zu Familie Roser gab es eine Vorgeschichte:

Frauke erzählte mir seit Jahren immer wieder Einzelheiten von dieser Familie. Da sie ein sehr einnehmendes Wesen hat und sich schnell mit Menschensehr eng anfreundet und daraufhin auch wieder verkracht, habe ich so manche Dinge einfach nur angehört. Sie wollte sich eben auch mal auskotzen und ich bin das ja gewohnt. Sie erzählte, dass Herr Roser psychisch erkrankt war. In diesen schweren Stunden war sie rund um die Uhr da, doch aus irgendwelchen Gründen, die sie mir zu dem Zeitpunkt noch nicht anvertrauen wollte, kam es zu einem riesigen Krach. Aufgrund dieses Streits musste Herr Roser in eine psychiatrische Klinik und sie bekriegten sich ab da nur noch.

Ausgerechnet diese Familie nahm sich nun uns an, welch Grauen, denn Frauke war eifersüchtig ohne Ende. Wir verheimlichten immer, wenn wir sonntags bei Familie Roser eingeladen waren. Ehe ich mich versah, gehörten wir wie Tochter und Enkel zur Familie. Mit deren drei Kindern, die alle in meinem Alter sind, verstand ich mich prächtig, wir unternahmen viel gemeinsam und ich fühlte mich wohl. Nun habe ich endlich die Familie, nach der ich mich immer so sehr gesehnt habe.

Kaum sind wir im Center Parc angekommen, ruft Wolfi Roser, wir sind inzwischen per Du, an und sagt mir, wie sehr er mich vermisse. Täglich überschüttet er mich mit den liebsten SMS und seine Anrufe werden immer häufiger. Es ist ein richtig schönes Gefühl, ich durfte solche Zuneigung weder mit meinem Vaternoch mit meiner Mutter erleben und genieße diese Aufmerksamkeit deshalb umso mehr. Mein Zustand verschlechtert sich allerdings zusehends und am Donnerstagabend beschließe ich, bereits früh am nächsten Morgen mit Kevin zurückzufahren, denn morgens ist mein Zustand noch am besten. Cindy fährt bei Freunden mit und mein Exmann kümmert sich solange um sie. Die Autofahrt ist anstrengend, doch ich schaffe es in drei Stunden nach Hause. Zu Hause! Endlich zu Hause! Nun wird es mir sicher bald besser gehen, denke ich, ich habe ja noch eine Woche Urlaub. Langsam erhole ich mich von dem Asthma und friere auch nicht mehr so sehr.

Am Montag darauf gehe ich dann auch wieder arbeiten, doch gut geht es mir nicht. Ich mache wie eine Maschine meine Abrechnung, funktioniere ohne Gefühle. Dienstag, während ich die Abrechnung postfertig mache, merke ich, ich bin am Ende. An der Sprechanlage kann ich kaum mehr meinem Chef antworten, er motzt schon, dass ich deutlicher reden soll und was denn mit mir los sei. Ja, was ist los mit mir? Wenn ich das nur wüsste. Ich klebe den Umschlag zu, erleichtert, die Arbeit für heute geschafft zu haben, laufe in den Flur um den Umschlag zur Post zu legen, und falle dort meinem Chef und der angestellten Zahnärztin halb ohnmächtig in die Arme. Nichts geht mehr. Und das passiert mir, die ich gerade zwei Fehltage in sieben Jahren hatte, die ich immer gelobt wurde, wegen meiner guten Leistung und meiner Beliebtheit bei den Patienten, und weil ich die Organisation der Praxis prima meisterte, es gab kaum Wartezeiten, obwohl die Patienten in Massen kamen. Ausgerechnet mir passiert das.

Eine Kollegin soll mich daraufhin zum Arzt fahren, ich muss schrecklich ausgesehen haben. Auf dem Parkplatz vor unserer Praxis steht Wolfi. Welch ein Zufall, er übernimmt mich und fährt mich zutiefst besorgt zum Arzt. Dort klappe ich wieder zusammen, kann nicht aufhören zu zittern und bin völlig hilflos, ich atme hektisch und bekomme eine Spritze und muss in eine Tüte atmen, damit ich aufhöre zu hyperventilieren. Langsam komme ich wieder zu mir. Was passiert da nur mit mir? Ich kann es gar nicht begreifen. Wolfi fährt mich nach dem Arztbesuch zu sich nach Hause, er möchte nicht, dass ich alleine bin. Doch wohl fühle ich mich auch dort nicht. Warum? Keine Ahnung. Am späten Nachmittag bitte ich dann eindringlich darum, nach Hause zu dürfen, ich möchte für mich sein. Wolfi hat Cindy inzwischen von der Schule abgeholt, Kevin kommt sowieso erst um vier nach Hause, also möchte ich heim.

Endlich zu Hause. Ich fühle ich mich wohler. Irgendwie bekomme ich den Tag rum. Doch am nächsten Morgen folgt das gleiche Drama, mir wird schwindlig, schlecht, ich habe Schweißausbrüche, ich friere, der Arzt muss kommen. Wieder eine Spritze,dazu nun Tabletten, Normoc. Keine Ahnung, was das genau ist, ich schlucke alles, es muss mir doch schnell wieder besser gehen, ich werde gebraucht. Die Praxis, die Kinder, und, und, und…ich muss funktionieren. Ich schlafe viel, komme aber einfach nicht zu Kräften. Nach dem der Arzt am Freitag ein drittes Mal kommen muss – ich konnte nicht einmal mehr alleine auf die Toilette – sagt er, dass es so nicht weitergeht. Er spritzt mir wieder ein Beruhigungsmittel und erklärt mir, dass ich wohl ein Burn-out-Syndrom habe und dass es besser sei, wenn er mich in die psychiatrische Klinik einweist, denn meine Lebenslust habe schließlich auch den Nullpunkt erreicht. Inzwischen ist Wolfi hinzugekommen, er beruhigt mich, sagt, es sei das Beste für mich, er und seine Frau würden sich um die Kinder kümmern und er wäre auch schon in dieser Klinik gewesen, das habe ihm gut getan. Wehren kann ich mich sowieso nicht, also ruft der Arzt in Hirsau an und kündigt mich dort an.

Leben mit Borderline

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