Читать книгу Der Knochenpoet / Das Flammensiegel - Susanne Krauß - Страница 12

2. TAG

Оглавление

Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!

Psalm 24

Wie sehr hatte ich mich auf den Tag gefreut, an dem der Kaiser in Lautern ankommen würde! Doch seit gestern kam mir sein Besuch vor wie ein knackiger Apfel, dessen süßer Duft das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ und der die bittere Wahrheit erst offenbarte, als ich ihn mit Appetit verspeisen wollte: Ich biss mitten in einen fetten, glitschigen Wurm. Falls sich Wibald tatsächlich im Gefolge Barbarossas befand, wie Trushard es vermutete, dann würde ich demnächst am Bettelstab gehen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Denn Vater hatte nichts vergessen und nichts vergeben.

Mit dem Gefühl, meiner eigenen Beerdigung beizuwohnen, quetschte ich mich durch das Menschenknäuel auf dem Lautrer Marktplatz, vorbei an Schaulustigen, Verkäufern und Huren. Meinen Bruder hielt ich fest an der Hand, damit er mir nicht verloren ging. Selbst ein Lahmer wäre in dem Gedränge mühelos vorangekommen, denn wir klemmten in der Menge so fest, dass wir weitergeschoben wurden, auch ohne unsere Beine zu gebrauchen.

Der sonst so beschauliche Ort glich einem Ameisenhaufen. Niemand in der ganzen Umgebung wollte die Ankunft Barbarossas versäumen. Wann bekam man schon einmal einen leibhaftigen Kaiser und seinen Hof zu sehen? Schließlich zog der Herrscher mit seinem Gefolge unablässig quer durch das Reich, vom großen Nordmeer bis nach Italien. Erst jetzt – sechs Jahre nach seiner Wahl zum König – hatte er endlich auch einmal den Weg nach Lautern gefunden.

Zahlreiche Schankbuden und Imbissstände verpesteten die Luft des warmen Frühlingstages. Aus den Feuerstellen, über denen ganze Schweine am Spieß gedreht wurden, entwich starker Qualm. Scharf gebratene Zwiebeln, Knoblauch, gekochter Fisch, Honigkuchen, süßer Beerenwein und Bier bildeten eine ekelhafte Geruchsmischung, die ich als Kriegserklärung an meine Nase empfand.

Mein Bruder strahlte über beide Wangen. Seit Wochen schon kannte er kein anderes Thema. Er würde den großen Kaiser, den er so sehr verehrte, von Angesicht zu Angesicht sehen! Ich beneidete meinen Bruder um seine Unwissenheit. Er war noch nicht einmal geboren, als das Unglück über unsere Familie hereingebrochen war, und ahnte nicht, welches Schicksal uns bevorstand.

Ich musste mir schnellstmöglich Gewissheit verschaffen, ob sich Wibald im Gefolge des Kaisers befand oder nicht. Aber wo sollte ich einen Platz finden, an dem ich den Einritt sehen konnte?

Sehnsüchtig blickte ich zum Turm der Sankt-Martins-Kirche empor. Wie gerne würde ich dort hinauffliegen und das Spektakulum in Ruhe von oben betrachten! Ich beneidete die Glücklichen, die am Marktplatz wohnten und aus den Fenstern allerbeste Sicht genossen, wenn der Kaiser zur Messe in die Kirche ging. Zur Feier des Tages hatten sie ihre Fachwerkhäuser mit Girlanden aus Efeu, Buschwindröschen und Maiglöckchen geschmückt.

Andere fanden es weniger angenehm, in dem Getümmel zu wohnen. Als wir in die Gasse geschoben wurden, die vom Marktplatz zur Brücke führte, sahen wir den Fischer und seinen nen Sohn, die ihren Vorgarten mit Mistgabeln gegen die Meute verteidigten. Der Schmied sah nicht minder grimmig aus. Zur Verstärkung hatte er seine Sau aus dem Stall geholt, die wie ein Wachhund neben ihm stand und jeden, der es wagte, dem Holzzaun zu nahe zu treten, empört angrunzte.

Vor der Brücke unterhielten die Spielleute das Volk. Zwei wohl bekannte Gänsefedern tanzten über die Menge hinweg. Mein Herz zog sich zusammen. Aus dem heillosen Durcheinander von Trommeln, Sackpfeifen und Drehleiern drangen Fetzen eines schwungvollen Rebecspiels zu mir herüber und vermischten sich mit Wortflicken, die ich in meinem Kopf mühelos ergänzen konnte: »Wer Läuse hat, darf hier nicht bleiben ...«

Ich biss mir auf die Lippen. Also kam die Brücke für uns auch nicht infrage, denn unter allen Umständen wollte ich vermeiden, Trushard zu begegnen. Je weniger ich ihn sah, desto schneller würde ich ihn vergessen. Nur ein paar Wochen noch, dann würde ich mich nicht einmal mehr an den Klang seiner Stimme erinnern.

Ich stellte mich gerade auf die Zehenspitzen, um im Gedränge den besten Platz auszuspähen, als ich nur wenige Schritte von uns entfernt ein leidvoll vertrautes Gesicht erkannte, das mir heute jedoch wie eine himmlische Erscheinung vorkam. Erleichtert winkte ich Jost zu.

»Macht Platz für den Schultheißen!«, bellte er. Sofort wichen die Menschen vor ihm zurück. Zielstrebig quetschte sich Jost durch die Menge und zog uns über die Brücke hinweg bis zur Kaiserpfalz. Gegenüber dem Eingangstor machte er Halt. Einigen Handwerkern aus Lautern, die ich nur vom Sehen flüchtig kannte, befahl er energisch, uns in die erste Reihe zu lassen. Dabei spielte seine Hand auffällig unauffällig mit dem Knauf des Schwertes, das steif vom Bindegürtel herabhing und an seinem schmalen Körper doppelt so mächtig wirkte. Folgsam wichen die Männer zurück, denn wer sich dem Schultheißen widersetzte, musste damit rechnen, im Verlies zu landen.

Ausnahmsweise war ich froh über die unfreiwillige Freundschaft, die wir mit Jost und seinem Bruder pflegen mussten. Den Gefallen, den er uns heute erwies, betrachtete ich als gerechte Entschädigung für die Besuche auf unserer Burg, die eher dem Einfall einer Heuschreckenplage glichen als einer gesitteten Aufwartung. Bereits kurz nach unserer Ankunft auf dem Beilstein hatte uns der schmächtige Jost mit seinem mindestens viermal so breiten Bruder Siegfried ohne Vorwarnung heimgesucht, »um uns in Lautern gebührend willkommen zu heißen«, wie der Schultheiß sich damals ausdrückte. Seitdem pflegten die ungehobelten Kerle auch ohne Einladung unsere Bierfässer leer zu saufen und den Saal zu verdrecken.

Ich atmete tief durch, vergaß für einen Augenblick meine Sorgen und genoss den Blick auf Barbarossas Palast, der mich stets aufs Neue faszinierte. In den vergangenen fünf Jahren hatte ich voller Staunen verfolgt, wie auf der leicht aufragenden Felseninsel eine riesige Anlage aus rotem Sandstein emporwuchs und ihr Mauerwerk herausfordernd immer näher gen Himmel reckte. Aus unbehauenen Brocken schufen die Mitglieder der kaiserlichen Bauhütte elegante Arkaden für den Palas und die Kapelle, rankengeschmückte Säulen, zierliche Erker, pompöse Treppenaufgänge, den einschüchternden Bergfried und eine massive Wehrmauer, die sich nordöstlich um die Pfalz zog. Hinter dem großen Weiher, der die Anhöhe im Süden und Westen umspülte, ließ Barbarossa einen Tiergarten mit Hirschen und Rehen anlegen. Um den Herrscher willkommen zu heißen, wehten auf den Türmen Fahnen, die den schwarzen Reichsadler auf goldenem Grund zeigten.

Der Palast war Stein gewordene Macht und spiegelte Barbarossas festen Willen wider, die Welt dauerhaft seiner Ordnung zu unterwerfen. Von hier aus beherrschte er das Reichsland um Lautern. Noch in Hunderten von Jahren würden die Menschen staunend vor der Pfalz stehen und sich an den Kaiser erinnern, der dieses monumentale Bauwerk hatte errichten lassen.

Die Anlage besaß nicht den ausgeprägt militärischen Charakter anderer Burgen, die mehr Festungen als Wohngebäuden glichen. Auch im Inneren bot die Kaiserpfalz zu Lautern jede nur denkbare Annehmlichkeit, obwohl sie erst vor wenigen Tagen fertig gestellt worden war.

Die Anstrengungen der vergangenen Wochen, in denen Jost von früh bis spät gearbeitet hatte, um den Besuch des Kaisers bestmöglich vorzubereiten, waren ihm anzusehen. Unter seinen klaren hellblauen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.

Trotz der Müdigkeit hatte Jost leider nichts von seiner Streitlust verloren. »Wofür sind denn diese Ungetüme von Ärmeln gut?«, fragte er herablassend und lieferte die Antwort gleich hinterher: »Die sind bestimmt für Ehemänner sehr praktisch, damit sie ihre Frauen besser festhalten können.« Ehe ich reagieren konnte, hatte er schon nach den Flatterärmeln gegriffen und zog mich damit näher zu sich heran.

Ungehalten riss ich mich von ihm los. »Wenn sich die Ehemänner gut benehmen, haben ihre Frauen auch keinen Grund fortzulaufen«, zischte ich.

»Anständige Weibsleute stellen ihren Körper nicht zur Schau«, bemerkte Jost mit einem tadelnden Unterton in seiner etwas zu dünn geratenen, quäkenden Stimme und musterte schmallippig meinen Bliaut.

Ich wollte gerade zu einer passenden Erwiderung ansetzen, als drei Fanfarenstöße erklangen. Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge. Merbodo sprang aufgeregt in die Höhe. »Der Kaiser kommt!«, jubelte er.

»Ich muss noch letzte Anweisungen erteilen«, rief mir Jost zu. »Wir sehen uns beim Festessen. Ach ja, und pass auf, dass dein enges Oberteil nicht platzt, wenn du dich verneigst!« Bevor ich meinen Mund aufmachen konnte, eilte er grinsend davon.

Verärgert blickte ich ihm nach und beobachtete, wie sich sein drahtiger Körper zielstrebig einen Weg durch die Wartenden bahnte. Warum nur musste er ständig an mir herummäkeln?

Kaum war der Schultheiß mit seinem imposanten Schwert verschwunden, quetschten sich von allen Seiten schweißdünstende Leiber heran und schlossen sich wie Kerkerwände um uns herum. Schmerzhaft wurde ich in den Rücken gestoßen, als sich die Handwerker rücksichtslos nach vorne drängten. Von links grinste mich ein abgerissener Bauernlümmel an, der entsetzlich nach rohen Zwiebeln stank, und auf der rechten Seite wogte mir in Augenhöhe der füllige Busen einer Matrone entgegen. Wie ein Getreidekorn kam ich mir vor, das zwischen Mühlsteinen zerrieben wurde. Ich japste nach Luft. Vor einer kleinen Frau und einem Jungen hat niemand Respekt, dachte ich wütend. Hoffentlich würden wir hier wieder heil herauskommen.

Besorgt nahm ich Merbodo fest an die Hand. Mit meiner Linken fächelte ich mir etwas Luft zu. Für einen Frühlingstag war es ausgesprochen heiß.

Die schweren Glocken der Sankt-Martins-Kirche setzten sich in Gang – ein Zeichen, dass der Zug näher kam. Ich reckte mich, um etwas sehen zu können, und tatsächlich konnte ich die Spitze des kaiserlichen Trosses ausmachen. Ganz vorne marschierten Trompeter, Trommler und Beckenschläger. Der Höllenlärm, den sie erzeugten, tönte grell in meinen Ohren. Aber der Menge schien es zu gefallen. Heftiges Klatschen und Beifallsrufe begleiteten die Musiker. Mein Brüderchen machte eifrig mit.

Dann folgten Lasttiere, Planwagen mit hoch aufragenden Gepäcktürmen und schließlich bewaffnete Kämpfer, die auf den riesigen Schlachtrossen so weit oben thronten, dass selbst ich sie mühelos erkennen konnte, ohne mich auf die Zehenspitzen zu stellen. Bis auf Augen und Kinn war kein Fleck ihres Körpers unbedeckt: Blank polierte Topfhelme mit Nasenbügeln, silbrig schimmernde Panzerhemden, die aus Tausenden von kleinen Einzelringen zusammengesetzt waren, und sporenbewehrte Stiefel schützten sie vor Angriffen. Sie sahen nicht wie Menschen aus, sondern wie abgerichtete Kampfkolosse, die auf Befehl hin ohne Zögern zuschlagen würden. Unwillkürlich zog ich meinen Bruder näher zu mir heran. Aber er war natürlich hingerissen. »Mann, die kann niemand besiegen!«

Weniger begeistert war er von den prächtig gekleideten Hofdamen, die den Beifall der Menge mit huldvollem Nicken aufnahmen und den Bettlern milde Gaben zuwarfen.

»Schau nur, was für kostbaren Schmuck die Damen tragen«, schwärmte ich. Aber Merbodo war noch nicht in dem Alter, in dem er sich für Frauen interessierte. Gelangweilt wandte er sich ab. Ich weidete mich am Anblick der bunten Edelsteine und goldenen Ketten, die in der Sonne funkelten. Noch nie hatte ich solche Pracht gesehen. Ich selbst besaß nur das Schapel aus Blech und die Bernsteinkette, die ich von Mutter geerbt hatte.

Unruhig spähte ich nach den Adeligen. Ob Wibald vielleicht doch nicht darunter war?

Als Nächstes ritten die hohen Geistlichen heran. Manch böser Blick aus der Menge folgte ihnen, denn in ihrem farbigen Pelzwerk waren sie viel zu prunkvoll ausstaffiert, um wahre Diener Gottes zu sein. Einer von ihnen zeigte sich sogar mit einem aufreizend tiefen Kleiderschlitz, der fast bis zum Unterleib reichte.

»Scheiß Heuchler«, schimpfte die Matrone, die mich mit ihrem fülligen Leib fast erdrückte.

»Pscht, sei still«, mahnte ein graugesichtiger Mann neben ihr, der wohl ihr Gatte sein musste, und stieß sie in die Rippen. »Halt die Klappe, sonst landest du noch auf dem Scheiterhaufen.«

Ich teilte die Wut der Matrone über diese verlogenen Geistlichen, die aus uns den Kirchenzehnten herausquetschten, um sich davon ein Leben in Saus und Braus zu leisten. So mancher musste hungern, damit die selbst ernannten Nachfolger Christi schlemmen konnten.

»Wann kommt denn endlich der Kaiser?«, maulte Merbodo. Und wohl zum hundertsten Mal in den letzten Wochen fragte er mich: »Hat er wirklich einen Feuerbart?«

Geistesabwesend spulte ich meine Antwort ab wie einen Faden von der Spindel. »Natürlich, deshalb nennen ihn die Italiener auch Barbarossa. In unserer Sprache bedeutet das Rotbart.«

Lange konnte es nun nicht mehr dauern, bis die Adeligen kamen. Dann würde ich Gewissheit haben, ob sich Wibald im kaiserlichen Gefolge befand oder nicht. Ich schloss die Augen und schickte im Stillen ein kurzes Stoßgebet zu meiner Schutzheiligen, der seligen Margarete. Wenn uns doch bloß Wibalds Anwesenheit erspart bliebe!

Als ich die Augen öffnete, zuckte ich zusammen, als habe mich der Blitz getroffen. Mein Blick fiel auf dasselbe feiste Gesicht, das mich so oft in meinen Albträumen verfolgt hatte. Wie eine mächtige Welle durchflutete der Hass meinen Körper und spülte Trauer und Zorn wieder hoch. Jetzt war auch das winzige bisschen Frieden dahin, das ich in den vergangenen Jahren an unserem neuen Wohnort gefunden hatte.

Wibald sah aus wie das blühende Leben. Sein dicklicher Körper, der in Kleidung aus feinstem Scharlach gehüllt war, verriet, dass er dem guten Essen bei Hofe allzu reichlich zusprach. Obwohl er schon auf die vierzig zuging, wirkte er erstaunlich unverbraucht. Nur an dem dunklen Haar, das von silbernen Fäden durchzogen war und sich an einigen Stellen lichtete, konnte man sein wahres Alter erkennen. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte die fleischigen Lippen. Ganz offenkundig genoss er den überschwänglichen Empfang. Einem einbeinigen Bettler, der an sein Pferd heranhumpelte, warf er mit angeekeltem Gesicht ein paar kleine Münzen hin und ritt rasch weiter. Auf seinem Schild prangte das Wappen seines Geschlechtes, ein gelber Turm auf schwarzem Grund. Den Gottlosen geht es immer gut, dachte ich verbittert, und der Groll stieg wie üble Galle in mir auf.

Meine einzige Hoffnung war jetzt noch, dass er Vater nicht begegnete.

Begeisterte Heilsrufe der Menge rissen mich aus meinen Grübeleien. Die Schar der Würdenträger aus Lautern, die dem Kaiser entgegengeritten war und ihn nun in die Pfalz geleitete, ging ihm in einer feierlichen Prozession voran. Mit brennenden Kerzen in den Händen bewegten sich Priester, Äbte, Adelige und die bedeutendsten Reichsministerialen in gemessenem Schritt vorwärts, umgeben von einer Wolke aus Weihrauch.

»Da ist er!« Mit seinem dicken Zeigefinger deutete Merbodo aufgeregt auf unseren Vater, der so dicht vor dem Kaiser herschreiten durfte.

Aber ich konnte den Stolz meines Brüderchens nicht teilen. Fast hätte ich Vater nicht wiedererkannt. Seine sonst so gleichmäßigen Gesichtszüge waren zu einer grimmigen Fratze verzerrt. Die brennende Kerze stieß er wie eine gezückte Waffe nach vorne. Sein Spitzbart stach zornig in die Luft. Das war’s wohl, dachte ich entsetzt. Nun konnte ich den Kampf auf Leben und Tod nicht mehr verhindern. Kein Zweifel, diesmal würde Vater auf seinen Erzfeind Wibald losgehen, um die Schande von damals zu rächen. Wie würde die Auseinandersetzung wohl enden? Gewiss, Vater war ein imposanter Mann. Man sah es seinem muskulösen Oberkörper an, dass er regelmäßig für den Kampf übte. Aber man brauchte mehr als Kraft, um Wibald zu besiegen, man brauchte Glück – und vor allem gute Beziehungen zum Kaiser.

Ein Raunen ging durch die Menge, als die Herolde nahten, die dem Herrscher das Reichsschwert vorantrugen, das Zeichen königlicher Macht und Gerichtsbarkeit, die ihm von Gott verliehen worden war. Merbodo hüpfte von einem Fuß auf den anderen und zerrte an meiner Hand. »Reiß dich nicht los«, mahnte ich ihn. »Wehe, du gehst mir verloren!«

»Der Kaiser, der Kaiser!«, schrie Merbodo und stimmte in das Brüllen der Menge ein. Ich hatte Mühe, überhaupt noch etwas zu erkennen, denn rings um mich herum wurden bunte Tücher geschwenkt und legten sich wie ein Flickenteppich über meinen Kopf. Ich reckte mich auf die Zehenspitzen, um ein Guckloch zu finden, das mir einen Blick auf den Herrscher erlaubte. Unter einem Baldachin aus Seide, auf dem der Reichsadler prangte, ritt das kaiserliche Ehepaar ein.

Als ich Barbarossa betrachtete, spürte ich im ersten Augenblick ein wenig Enttäuschung. Ich hatte mir den Kaiser immer wie einen Helden aus den griechischen Sagen vorgestellt – groß, stark und strahlend. Wer innerhalb weniger Jahre das Wunder vollbrachte, das Reich zu neuer Größe zu führen und zum Kaiser gekrönt zu werden, konnte doch nicht wie ein gewöhnlicher Sterblicher aussehen! Gewiss, der Kaiser hielt sich kerzengerade im Sattel, und seine ebenmäßigen Gesichtszüge strahlten eine heitere Gelassenheit aus. Aber er war höchstem von mittlerer Statur und keineswegs gut aussehend. Die Haut fand ich viel zu blass, die Lippen zu schmal und den Hals entschieden zu kräftig.

Aber wenigstens mein Bruder war entzückt. »Er hat ja wirklich einen Feuerbart!« Friedrichs rötlich schimmernder Backenbart war genauso sorgfältig gepflegt wie die kurz geschnittenen blonden Locken, die an der Stirn von einem Goldreif geschmückt wurden. Unter dem purpurfarbenen Mantel leuchtete ein mit Edelsteinen besticktes Seidengewand hervor.

Das Antlitz des Kaisers wurde von durchdringenden Augen beherrscht, die mir so scharf erschienen, als könnte ihnen nicht die winzigste Kleinigkeit entgehen. Aber konnten sie auch ins Herz der Menschen sehen? Würden sie erkennen, wann jemand log und wann jemand die Wahrheit sprach? Friedrich war bekannt für seine unbestechliche Gerechtigkeit, die er ohne Ansehen der Person walten ließ. Aber auf wessen Seite würde er sich stellen, sollte es tatsächlich zum befürchteten Eklat zwischen Wibald und meinem Vater kommen?

Als ich meinen Blick der Kaiserin zuwandte, wallte der Neid in mir hoch. Sie war zart, blond, blauäugig, mit einem Teint so duftig wie ein Himmelswölkchen. Kein Wunder, dass die Minnesänger landauf, landab ihre Schönheit rühmten. Aber sie lieferte den Spielleuten auch in anderer Hinsicht reichlich Stoff für Erzählungen. Die Geschichte ihrer Heirat mit Barbarossa trug märchenhafte Züge. Der böse Onkel hatte die arme Beatrix nach dem Tod ihres Vaters in einen finsteren Turm gesperrt, um ihr Erbe an sich zu reißen. Doch auch der Kaiser hatte ein Auge auf die Grafschaft Burgund geworfen, in der immerhin die strategisch so wichtigen Alpenpässe lagen, die ihm den freien Zugang nach Italien sicherten. Dem Druck Barbarossas musste sich der Fiesling beugen und die edle Dame zähneknirschend wieder herausrücken. Barbarossa freite die von ihm Befreite, die sich natürlich prompt in ihren Lebensretter verliebte, obwohl er mit seinen vierunddreißig Lenzen mehr als doppelt so alt war wie sie. Barbarossas Gegner bezeichneten ihn als »Weiberknecht«, was darauf schließen ließ, dass er seiner Gattin herzlich zugetan war, und das wohl nicht nur wegen der Alpenpässe. Bisher war ich mir nicht sicher gewesen, ob die Geschichte ein Körnchen Wahrheit enthielt oder einfach nur hübsch ausgedacht war, aber nun bemerkte ich, dass Beatrix über die Pferde hinweg ihrem Mann einen zärtlichen Blick zuwarf, den er genauso liebevoll erwiderte.

Nur mühsam konnte die Leibwache die Menschen abwehren, die sich an das Paar herandrängten. Jeder wollte den König berühren. Das einfache Volk war felsenfest davon überzeugt, dass vom Körper des Königs magische Kräfte ausgingen. Notfalls sollte auch ein Zipfel seines Mantels ausreichen, um am Segen teilzuhaben. Die Anwesenheit des Königs konnte angeblich sogar Krankheiten lindern und für eine reiche Ernte sorgen.

Aber der glühendste Anhänger des Kaisers in ganz Lautern war sicherlich mein Brüderchen. »Heil Friedrich!«, trompetete Merbodo voller Inbrunst, riss sich plötzlich von meiner Hand los und stürzte wieselflink vorwärts, seinen schmalen Körper geschickt zwischen den Menschen durchwindend.

»Komm zurück!«, rief ich wütend und griff nach ihm, aber Merbodo war schneller. Weil er so klein war, entschlüpfte er sogar der Leibwache.

Entschlossen kämpfte ich mich hinter ihm durch, bis ich es zur ersten Reihe geschafft hatte. Merbodo näherte sich dem Pferd des Kaisers. Besorgt beobachtete ich, wie die Leibwache von den herandrängenden Menschen immer näher an Barbarossa gedrückt wurde. Die Troddeln des Baldachins schwankten heftig hin und her, als würde ein Sturm toben.

Schon streckte mein Bruder triumphierend die Hand nach der bestickten Satteldecke aus, da prallte ein zurückweichender Wachmann gegen ihn, und Merbodo wurde schräg vor das Ross des Kaisers geschleudert.

Ich schrie auf.

Der schwarze Hengst des Kaisers scheute und stellte sich auf seine Hinterbeine. Die riesigen Hufe wirbelten in der Luft – genau über Merbodo. Jeden Augenblick konnten sie meinen Bruder zerschmettern.

Ich stand da wie festgefroren. Unwillkürlich kniff ich die Augen zusammen. Heilige Magarete, rette meinen Bruder ... Die Menge verstummte. Die plötzliche Stille ängstigte mich mehr als jedes Geschrei. Sie konnte nur eines bedeuten.

Um mich herum hörte ich ein erleichtertes Aufseufzen. Zaghaft öffnete ich ein Lid.

Merbodo lag neben dem Hengst, regungslos, aber anscheinend unversehrt. Dem Kaiser war es wohl im letzten Augenblick gelungen, das Pferd herumzureißen. Das war knapp, äußerst knapp gewesen. Ich öffnete das zweite Lid.

Barbarossa sprang vom Pferd und barg den Jungen vorsichtig in seinen Armen. Auch Beatrix stieg ab und beugte sich über meinen Bruder. Mit ihrer kleinen Hand strich sie ihm die Locken aus dem dreckverschmierten Gesicht.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich regte sich Merbodo in Barbarossas Armen und schlug die Augen auf. Mein Herz hüpfte vor Erleichterung.

»Er lebt«, raunten sich die Menschen zu, und die Nachricht wanderte in Windeseile durch die Menge. Plötzlich rief jemand: »Ein Wunder! Der Kaiser hat ein Wunder vollbracht!” Jubel brandete auf.

Meine Versteinerung löste sich, und ich schwankte auf die Leibwache zu. »Lasst mich durch, es ist mein Bruder«, bettelte ich die Männer an, die mich nach kurzem Zögern passieren ließen.

Demütig versank ich vor dem Kaiserpaar in einem tiefen Knicks.

Barbarossa sah mich scharf an: »Wer seid Ihr?«

»Rotrud von Saulheim, Majestät. Mein Vater Merbodo befehligt die Burg Beilstein. Habt Dank für die schnelle Hilfe. Eure Geistesgegenwart hat meinem Bruder das Leben gerettet.«

»Euer Vater ist einer meiner fähigsten Männer«, erinnerte sich Barbarossa und wandte seine Aufmerksamkeit wieder meinem Bruder zu: »Hast du Schmerzen?«

»Nein«, erwiderte der Junge tapfer, aber an seinem verzerrten Gesicht sah ich, dass er log. Dem Kaiser gegenüber wollte er sich keine Blöße geben. Aus ihm würde einmal ein guter Ministerialer werden.

»Kannst du stehen?« Als Merbodo die Frage bejahte, stellte Barbarossa ihn behutsam auf die wackeligen Beinchen. Rasch nahm ich meinen Bruder, der noch etwas benommen wirkte, an die linke Hand. »Au«, entfuhr es ihm.

»Du hast bestimmt das Handgelenk gebrochen«, vermutete der Kaiser und hob den Kleinen auf sein Pferd. »Du reitest jetzt mit mir in die Pfalz, damit dich mein Leibarzt behandeln kann. Und anschließend bekommst du ein großes Stück Kuchen.«

Während Merbodo verarztet wurde, hatte ich ein wenig Zeit für mich. Ich sehnte mich nach Stille, um meinen aufgewühlten Geist zu beruhigen. Ein Gebet in der alten Kapelle der Kaiserpfalz würde mir gut tun. Vor Hunderten von Jahren war sie auf dem höchsten Punkt des Burggeländes errichtet worden. Sie war das einzige Überbleibsel aus vergangenen Zeiten und gehörte zu dem – ebenfalls uralten – Friedhof, der bei der Anlage der Kaiserpfalz eingeebnet und überbaut worden war.

Ich klinkte die Tür auf und trat leise ein. Doch ich hatte mich getäuscht, als ich geglaubt hatte, in der Kapelle zur Ruhe zu kommen.

Auf der Holzbank vor dem Altar saß ausgerechnet Trushard. Mit seinem hocherhobenen Lockenkopf und den gestrafften Schultern wirkte er nicht wie ein demütiger Christ, sondern eher wie ein zu allem entschlossener Sünder.

Ich wollte mich gerade zurückziehen, als er den Kopf drehte. »Ich bete schon eine geraume Weile, aber der Hass brennt in mir wie eine lodernde Flamme. Ich würde am liebsten mit meinen Messern auf ihn zielen.« Seine Stimme klang dunkel.

Unwillkürlich ballte ich die Fäuste. »Und ich könnte Wibald mit eigenen Händen entmannen.« Kaum hatte ich geantwortet, biss ich mir auf die Zunge. Aber es war zu spät.

Ein leises Lächeln stahl sich auf Trushards Lippen. »Wusste ich’s doch. Das Bauchgrimmen überfiel Euch, als ich von Wibald erzählte. Vorher wart Ihr munter wie ein Spatz.« Er räumte das Rebec beiseite, das neben ihm auf der Bank lag, faltete seinen Umhang zu einem Kissen und schob ihn mir hin. »Setzt Euch doch und erzählt mir, was Euch bedrückt.«

Es war das erste Mal seit Jahren, dass sich jemand für mein Wohlergehen interessierte. Für Vater war ich seit Mutters Tod nichts weiter als eine Magd, die auf der Burg ihre Pflichten erfüllte, und für meinen Bruder eine Ersatzmutter, die sich gefälligst Tag und Nacht um seine vielfältigen Bedürfnisse zu kümmern hatte. Aber seltsam erschien mir Trushards Interesse doch. Außerdem: Wie kam er überhaupt hierher? In der Kaiserpfalz hatte er als Spielmann nichts zu suchen, es sei denn, er wäre eingeladen worden. Was ich allerdings bezweifelte.

Vorsichtshalber ließ ich mich am äußersten Rand seines Umhangs nieder. Starr sah ich an Trushard vorbei zum Altar, auf dem kleine Vasen mit Butterblumen und Gänseblümchen standen, umgeben von silbernen Leuchtern. Tief atmete ich den honigsüßen Duft der Wachskerzen ein. Das warme Rot der schmucklosen Sandsteinwände hüllte mich beruhigend ein. In dem Sonnenlicht, das durch die runden Fensterbögen hereinfiel, tanzten Staubkörner.

Die Glöckchen an Trushards Schnabelschuhen klingelten leise, als er näher rückte. »Was hat Wibald Euch angetan?«

Zögernd wandte ich mich zu ihm um. Mein Blick fiel auf das Kreuz, das über dem grünen Leinenrock hing. Aus welchem Knochen es wohl geschnitzt war? War es womöglich der Überrest eines Menschen – ein Stück von einem Schädel, einem Becken oder einem Schenkel? Knochen wohnten Zauberkräfte inne, hieß es. Eigentlich glaubte ich nicht an solchen Unfug, aber seit gestern war ich mir nicht mehr so sicher, ob nicht doch etwas daran war. Es wäre eine Erklärung dafür, warum ich in Trushards Gegenwart so verwirrt war und Handlungen beging, die ich später bereute. »Niemand kann mir helfen«, wiegelte ich ab.

»Sagt das nicht. Nicht nur meine Zunge ist scharf, sondern gelegentlich auch mein Verstand. Vielleicht fällt uns eine Lösung ein, wenn wir gemeinsam nachdenken.« Er rutschte ein wenig tiefer, bis unsere Augen auf gleicher Höhe waren, und streckte die Storchenbeine aus. Rasch drehte ich den Kopf zur Seite, aber er griff nach meinem Kinn und drehte es zu sich hin, sodass ich seinem Blick standhalten musste. »Warum weicht Ihr mir aus?«

Weil seine Augen Abgründe waren, die mich in die Tiefe zogen. Weil ich einen ehrbaren Ehemann suchte und keinen Lotterlümmel, der nach einer kurzen Liebelei zur nächsten holden Dame weiterziehen würde. Weil ich unter allen Umständen den Zauberkräften seines Knochens trotzen musste. Ich zwang mich, ruhig zu atmen, obwohl mein Herz davonzugaloppieren schien. »Wieso sollte ich ausgerechnet Euch vertrauen?«

Wenn ihn meine Frage gekränkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Wieso nicht?«, gab er gelassen zurück und nahm die Hand von meinem Kinn. »Glaubt mir, ich bin nur halb so schlimm, wie ich aussehe. Außerdem schulde ich Euch Dank. Es war sehr mutig von Euch, mich gegen den Willen Eures Vaters aufzunehmen. Zur Strafe spricht er nicht mehr mit Euch, stimmt’s?«

Stumm nickte ich. Wie wohltuende Medizin war das Mitgefühl, das in Trushards Augen schimmerte. Vielleicht war seine Seele doch nicht völlig verdorben? Vater hatte mich eindringlich vor Spielleuten gewarnt, aber Großmutter hatte immer behauptet, dass es auch anständige Gaukler gäbe. Gestern hatte Trushard nach einem stärkenden Mahl freiwillig geholfen, in allen Räumen die müffelnden Binsen auszutauschen. Die Kinder waren völlig versessen auf ihn und hingen wie die Kletten ständig an seinem Rockzipfel. Auch unsere Köchin hatte den ausgehungerten Vogel ins Herz geschlossen.

Ich entschied, mir meine Sorge von der Seele zu reden. Schaden konnte es nicht, denn bald würde ohnehin jeder wissen, was damals in Saulheim passiert war. Und vielleicht fiel Trushard wirklich ein Ausweg aus der verfahrenen Situation ein.

»Wibald kam gerade von Barbarossas Krönung zurück und war auf Durchreise in unserem Heimatort Saulheim.« Ich zwang mich, tief durchzuatmen, um meinen Herzschlag zu verlangsamen. »Er genoss die Gastfreundschaft des Pfalzgrafen, in dessen Diensten mein Vater stand. Wibald schlich meiner Schwester Hildegunde nach, als sie im Wald Holz sammeln wollte, und dann ...« Ich brachte es nicht über mich, das Unfassbare auszusprechen. »Hildegunde konnte die Schande nicht ertragen und hat sich wenig später in einem Weiher ertränkt.«

Bei der Erinnerung stiegen Tränen in mir hoch. Nur mit Mühe unterdrückte ich sie. »Wenn doch nur einer von uns wach geworden wäre, als sie sich nachts zum Weiher schlich! Dann könnte sie heute noch leben«, brach es aus mir heraus. »Ich hätte wissen müssen, was sie vorhatte. Keiner kannte sie besser als ich. Wir waren unzertrennlich. Nach Wibalds Tat war sie verstört und still, aber ich dachte, sie würde sich wieder fangen.«

Sachte legte Trushard seine rechte Hand auf meinen linken Arm und drückte ihn tröstend. »Macht Euch keine Vorwürfe, niemand hätte es verhindern können.«

Errötend zog er die Hand weg, aber an der Stelle, die er berührt hatte, kribbelte es, als würden dort Hunderte von Ameisen herumlaufen. Stockend fuhr ich fort: »Wir konnten meine Schwester noch nicht einmal auf dem Friedhof begraben. Wie einen toten Hund mussten wir sie auf einem Feld verscharren. Der Pfarrer war unerbittlich. Auf einem geweihten Gottesacker sei kein Platz für Selbstmörder. Der Weiher, in dem sich Hildegunde ertränkt hatte, wurde von den Leuten gemieden. Uns mieden sie auch.«

Mich fröstelte. Ich zog den Umhang enger um meine Schultern. »Ein halbes Jahr später starb Mutter bei Merbodos Geburt. Die Trauer um meine Schwester hatte ihr wohl zu viele Kräfte geraubt. Großmutter weinte den ganzen Winter durch. Im Frühjahr brach sie zu einer Pilgerfahrt nach Köln auf. Am Schrein der heiligen Ursula wollte sie für die Familie beten. Vater begleitete sie. Er kam ohne sie zurück. Großmutters schwaches Herz hatte die anstrengende Reise nicht überlebt. Wir waren so froh, als mein Vater kurz darauf in Barbarossas Dienst berufen wurde und wir auf den Beilstein ziehen konnten. Wir wollten einen Neuanfang machen.«

Während ich sprach, hatte Trushard mich aufmerksam betrachtet. »Und nun kommt ausgerechnet Wibald hierher und stört Eure Ruhe.« Er seufzte tief. »Beim Einzug des Kaisers sah Euer Vater aus, als ob er irgendetwas Unvernünftiges tun würde. Er hatte sich kaum noch in der Gewalt.«

Meine Hände waren trotz der Frühlingswärme eiskalt. Ich barg sie in den weiten Flügelärmeln und rieb sie aneinander. »Ich bin sicher, er wird auf Wibald losgehen oder ihn zu einem Kampf herausfordern.«

»Als Ministerialer steht Euer Vater unter einem Adeligen«, stellte Trushard fest. »Deshalb darf er Wibald weder beschuldigen noch angreifen, ohne stichhaltige Beweise oder glaubwürdige Zeugen vorzubringen. Sollte er ihn trotzdem anklagen, wird ein Gottesurteil folgen.«

Meine Kehle wurde ganz trocken. »Ein Zweikampf auf Leben und Tod.«

»Man sagt, Gott vernichte im Kampf den Schuldigen durch den Arm des Unschuldigen.« Aus Trushards Tonfall hörte ich heraus, dass er mich mit diesen Worten nur trösten wollte. Glauben konnte er vermutlich selbst nicht daran.

»Ich möchte die Richtigkeit dieser Behauptung lieber nicht überprüfen«, erwiderte ich bedrückt.

»Rotrud, Ihr müsst gut auf Euren Vater Acht geben«, sagte Trushard eindringlich.

»Und wie soll ich das anstellen?«, gab ich zurück.

Gedankenverloren zeichnete Trushard mit dem linken Fuß die Umrisse des Fensters nach, die von der Sonne auf den Fliesenboden gemalt wurden. »Hatte Euer Bruder nicht einen Unfall? Bittet Euren Vater, ihn nach Hause zu bringen. Schließlich kann der kranke Merbodo den weiten Weg nicht allein zurücklaufen. Wenn Euer Vater erst einmal eine Nacht darüber geschlafen hat, kühlt sich sein Zorn hoffentlich ab. Dann sieht er vielleicht ein, wie unsinnig es ist, einen Streit anzuzetteln, bei dem er nur verlieren kann.«

Eine leise Hoffnung keimte in mir auf. »Das ist eine gute Idee.« Eine Frage musste ich noch loswerden, bevor ich Vater suchte: »Was tut Ihr hier eigentlich? Ich dachte, Ihr wolltet Wibald aus dem Weg gehen.«

Trushard lachte spöttisch. »Keine Sorge, hier in der Kapelle sind wir sicher vor ihm. So nah bei Gott hält er sich nicht auf.«

Ich holte die Hände aus den Ärmeln und zupfte meinen Schnurmantel zurecht. »Wie seid Ihr überhaupt in die Pfalz gekommen?«

Trushard grinste. »Ich habe dem Wächter erzählt, ich würde heute Abend im Palas auftreten. Da Ihr mich so großzügig mit neuer Kleidung beschenkt habt, sehe ich ganz anständig aus. In meinen alten Flicken hätte er mich wohl kaum passieren lassen.«

Der Spielmann hatte getrickst, um in die Pfalz zu kommen. Das Lügen ging ihm leicht von den Lippen. »Und was wollt Ihr in der Kaiserpfalz?«, fragte ich ihn weiter aus. »Ihr habt hier nichts zu suchen.«

Trushards Gesicht verdüsterte sich. Ruckartig richtete er sich auf und stellte die Beine gerade nebeneinander. »Ich warte, bis es dunkel ist. Dann hole ich mir von unserem gemeinsamen Freund Wibald etwas zurück, was mir gehört.« Seine Stimme war hart wie ein Fels.

»Sagt es doch rundheraus: Ihr wollt stehlen. Ich sollte der Wache Bescheid sagen, damit sie Euch hinauswirft, bevor Ihr Euren finsteren Plan in die Tat umsetzen könnt.« Trotz des guten Willens blieb ich wie angeleimt auf der Bank sitzen.

»Ich tue nichts Unrechtes«, versicherte Trushard, ein bisschen zu hastig, wie ich fand. »Es ist nur so: Das Gesetz ist nicht immer gerecht. Deshalb muss ich ein wenig ... äh ... nachhelfen.«

Nachdenklich betrachtete ich Trushards dürren Hühnerhals, seine eingefallenen Wangen und die mageren Schultern. Wibald hatte ihm übel mitgespielt. Ich würde es dem Adeligen gönnen, wenn der Gaukler ihm eine Lehre erteilte. Wenn ich nicht nachfragte, was Trushard im Schilde führte, konnte ich später glaubhaft versichern, ich hätte von nichts gewusst. Ich stand auf und strich meinen Rock glatt. »Seid unbesorgt. Ich werde Euch nicht verraten. Und vielen Dank für Euren guten Ratschlag.«

Auf dem Weg zur Tür wurde mir bewusst, dass ich mich selbst belogen hatte: Es würde keine Wochen dauern, bis ich Trushard vergessen hatte, sondern Monate. Wenn überhaupt. Liebe war eine Schlingpflanze, die sich immer enger um meine Fußknöchel wand, je verzweifelter ich versuchte, mich von ihr zu befreien. In der vergangenen Nacht hatte ich geträumt, dass ein Skelett seine Armknochen nach mir ausstreckte, um mich ins Grab zu ziehen. Kurz bevor es mich berührte, war ich schweißgebadet aufgewacht. Kam der Tod nicht als Spielmann zu den Sterbenden? Mir fiel die düstere Legende von Tristan und Isolde ein, die Trushard uns gestern Abend vorgesungen hatte. Durch einen verbotenen Liebestrank waren die beiden für immer aneinander gekettet. Trushards Stimme hallte in meinen Ohren wider: »O weh, der Trank bringt euch den Tod, niemals entrinnt ihr dieser Not ...«

»Knochenpoet« – so wurde Trushard auf unserer Burg spöttisch gerufen. Auch wenn Elsbeth mit dem Schimpfwort auf seine knochendürre Figur anspielte – der Name war noch in anderer Hinsicht treffend: Trushard war ein Dichter, der mit seinen Liedern den Tod beschwor.

Ich fing Vater auf der Treppe ab, die zum Eingang des Palas führte. Ich atmete tief durch und versuchte, ein freundliches Lächeln in mein Gesicht zu zaubern. »Merbodo geht es nicht gut. Er muss sofort nach Hause ins Bett. Kannst du mit ihm auf den Beilstein zurückreiten? Du weißt doch, Merbodo und ich sind zu Fuß gekommen.«

Vaters Augen verengten sich. »Unsinn, ihm geht es prächtig. Er wird gerade in der Burgküche gemästet.«

»Er hat immerhin das Handgelenk gebrochen«, beharrte ich. »Er muss sich schonen.«

»Stell dich nicht so an. Es ist bloß ein kleiner Knacks«, knurrte Vater. Listig funkelte er mich an: »Reite du doch mit ihm zurück.« Er hatte mich durchschaut.

Unter allen Umständen musste ich heute Abend in Vaters Nähe bleiben. »Dein Hengst ist mir zu wild«, gab ich zurück. »Er gehorcht mir nicht.«

Aber Vater zuckte nur die Achseln und verschwand im Eingang. Einen Augenblick blieb ich erstarrt stehen, dann machte ich kehrt und lief zur Burgküche.

Als ich eintrat, stopfte sich mein Bruder das letzte Stück Mandelkuchen in den Mund, der von einem dicken Milchbart verziert war, und strich sich mit der unverletzten Hand zufrieden über das Bäuchlein.

»Er hat die Geschichte mindestens zehnmal erzählt«, empfing mich die Küchenmagd Hilde schmunzelnd. »Von Mal zu Mal wurde das Pferd riesiger, und der Abstand zwischen den Hufen und dem Kopf Eures Bruders verringerte sich immer weiter, bis er auf Haaresbreite zusammenschrumpfte. Zum Schluss waren wir uns alle darin einig, dass er nur durch die übermenschliche Macht des Kaisers gerettet worden war.«

Ich stöhnte leise auf. Eines war sicher: Als »Wunder von Lautern« würde die Geschichte in wenigen Tagen im ganzen Reichsland die Runde machen. Nur mit Mühe gelang es mir schließlich, Merbodo der heimeligen Burgküche zu entreißen und einen vertrauenswürdigen Knecht zu finden, der sich bereit erklärte, mit ihm auf den Beilstein zu reiten und ihn dort bei der Köchin abzuliefern. Wenigstens hatte ich ihn damit aus dem Weg, wenn es zur Katastrophe kommen würde.

Mittlerweile war es höchste Zeit, zum Festschmaus zu gehen. Aus dem großen Saal drang mir ein summendes Stimmengewirr entgegen. Ich atmete so tief durch, wie es der eng geschnürte Bliaut erlaubte, und versuchte, meinen zitternden Körper zu beruhigen. Wie eine Giftschlange fraß sich die Angst vor dem, was noch heute unweigerlich passieren würde, durch meine Eingeweide.

Woher sollte ich die Kraft nehmen, um diesen Abend zu überstehen? Ich musste es schaffen, meine Verstörung zu überspielen und den Schein zu wahren – wie auch immer. Niemand durfte mir anmerken, wie es in Wirklichkeit um mich stand.

Ich strich die Röcke glatt und betrat mit klopfendem Herzen den Festsaal, den ich nur als menschenleere Halle kannte. Abwartend sah ich mich um. Wie immer zogen die prächtigen Wandgemälde meinen Blick magisch an. Meine Augen weideten sich an ihrer verschwenderischen Farbenfülle. Sonst gab es in meinem Leben fast nur braune, graue und grüne Töne – die Farben des Waldes, des Burggemäuers und der Kleidung des Gesindes. Aber hier, auf diesen Wänden, leuchteten Könige des Alten Testamentes, römische Cäsaren und natürlich der große Kaiser Karl in Purpurrot, Lapislazuliblau, Violett, Sonnengelb, Smaragdgrün und sogar Gold um die Wette.

Ein Truchsess wuselte eilfertig herbei. Als ich ihm meinen Namen nannte, wies er mir mit seinem langen Stab einen Platz in der Mitte der Halle zu. Schon von weitem erspähte ich den Schultheißen und seinen Bruder. O heilige Margarete, mir blieb heute auch gar nichts erspart!

Resigniert ließ ich mich neben Jost nieder. Immerhin hatte sich das ungehobelte Geschwisterpaar dazu durchringen können, in ordentlicher Aufmachung bei Hofe zu erscheinen, doch ich rechnete nicht damit, dass dieser ungewohnt makellose Zustand lange anhalten würde.

Der schmächtige Jost peinigte meine Nase mit dem Muff seiner grauen Kleidung. Siegfried hatte den muskelbepackten Leib in einen leuchtend roten Rock gezwängt. Er platzte fast vor Kraft wie ein Schlachtross und hielt Ausschau nach einer geeigneten Dame, bei der er seinen Überschuss am späten Abend loswerden konnte.

Suchend blickte ich mich um. Wo war Vater? Alles, was im Reichsland um Lautern Rang und Namen besaß – Grafen, Burgherren, Äbte und Reichsministerialen – hatte der Truchsess dicht beim Kaiserpaar platziert. Mein Blick glitt über die Würdenträger, die wie aufgeplusterte Gockel auf den Bänken thronten, prall angefüllt mit Stolz darüber, zur auserlesenen Schar derjenigen zu gehören, die der Kaiser höchstpersönlich eingeladen hatte. Die weit aufgeblähten Nasenflügel verrieten ihre Erregung, sich in unmittelbarer Nähe des Mächtigsten aller Mächtigen zu befinden.

Endlich entdeckte ich Vater. Mit den Fingerspitzen trommelte er wild auf dem Tisch herum. Er beachtete das Gerede des Herrn von Frankenstein nicht, der neben ihm saß, und stierte dumpf vor sich hin. Aber seine wild zuckenden Gesichtsmuskeln verrieten mir, dass er kurz vor dem Überschäumen stand.

»Diese Pfalz ist der schönste Palast, den ich jemals gesehen habe, wahrhaft eines großen Kaisers würdig.« Eine angenehm volle Stimme, die jedes Wort so deutlich aussprach, als wäre es ein einzigartiges Klanggefäß, riss mich aus meinen Grübeleien. Neugierig musterte ich den jungen Mann, der sich verbeugte und zu meiner Linken Platz nahm. Ein Hauch von Rosenwasser wehte zu mir herüber. Mein Blick wanderte über die weichen Lippen, die sanft geschwungene Nase, die schulterlangen, blonden Haare, die von einem Schapel geschmückt wurden, und blieb schließlich an den traubenblauen Augen haften, die mein Interesse offen erwiderten.

Ich fühlte mich ertappt und sagte rasch: »Als Friedrich vor sechs Jahren zum König gewählt wurde, war hier auf diesem Felsplateau nur eine vergleichsweise bescheidene burgähnliche Anlage.«

Mein Nachbar lächelte mich freundlich an. Mir fiel auf, dass er dunkle Ringe unter den Augen hatte. Zechte er die Nächte durch, oder war er krank? »Mein Name ist Meinloh. Ich diene dem Kaiser als Bote.« Ein leichter Rotstich überflog seine Wangen. »Bitte entschuldigt mich einen Augenblick, aber Ihr habt mich inspiriert.«

Verblüfft sah ich zu, wie er unter der Bank nach einem großen Beutel fingerte und darin herumkramte. Unauffällig zog er eine Wachstafel und einen Knochengriffel hervor und legte sie auf seinen Schoß. »Smaragdaugen ...«, murmelte er vor sich hin. »Was reimt sich bloß darauf? Nichts. Weder auf Smaragde noch auf Augen. Hm. Ich muss es anders angehen. Ihre Smaragdaugen funkeln im Licht. Ein tiefer Blick von ihr mein Herze bricht.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Ja, das ist gut. Wirklich gut.« Hastig kritzelte er los.

Siegfried beugte seinen mächtigen Schädel über die Tafel. »Was tut Ihr da?«, fragte er verständnislos.

Meinloh reckte die Brust nach vorne. »Ich bin nicht nur Bote, sondern auch Minnesänger. Meine bescheidenen Kompositionen trage ich gelegentlich bei Hofe vor. Die Kaiserin schätzt sie sehr. Meine ganze Leidenschaft gilt der Dichtkunst. Ich bedauere außerordentlich, dass meine Aufgaben es verbieten, ihr mehr Zeit zu widmen. Ich weiß nicht, wie viele Nächte ich schon durchgeschrieben habe, weil ich tagsüber einfach nicht dazu komme.«

Daher stammten also die dunklen Ringe unter seinen Augen. Ich wollte gerade zu einer höflichen Erwiderung ansetzen, als strahlende Posaunenklänge den Beginn des Festmahls ankündigten. Unter einem Trommelwirbel trugen Pagen dampfende Schüsseln voller Köstlichkeiten herein, die alles enthielten, was die an Fischweihern und Jagdgründen reiche Gegend hergab: Rehrücken und Wildschweinbraten aus dem Reichswald, fette Hechte und Karpfen sowie jede Menge Geflügel. Dazu gab es kostbaren Safranreis und zartes Frühlingsgemüse. Die Gäste brachen in bewundernde Rufe aus, als die Pfauenbraten serviert wurden, die die Köche mit Gefiederhauben bedeckt hatten, sodass die Tiere aussahen, als würden sie noch leben. Ich bedauerte, dass mein Magen vor lauter Anspannung heute wie zugeschnürt war.

Kaiser Friedrich erhob sich von seinem Sitz am Kopfende des Saales und forderte nach einer kurzen Begrüßung die Gäste auf, mit dem Essen zu beginnen.

Siegfried zog den Teller, den er sich mit seinem Bruder teilte, zu sich heran und schaufelte einen gewaltigen Fisch darauf. Dabei murmelte er etwas von einem Prachtstück, wobei nicht klar war, ob er mit diesem zweifelhaften Kompliment den Karpfen oder die üppige Hofdame meinte, die er gerade unziemlich anstarrte. Auf dem roten Rock prangte bereits der erste Fleck.

Jost folgte Siegfrieds Blick und schnaufte empört. »Die Schnüre ihres Obergewandes sind an den Seiten gelockert, und sie trägt nichts darunter, absolut gar nichts!«

»Umso besser. Da weiß ich doch wenigstens gleich, dass es sich lohnt, sie kennen zu lernen.« Siegfried grinste erwartungsfroh.

Meinloh warf den beiden einen mahnenden Blick zu und schnitt dann eine Scheibe Wildschweinbraten zurecht. Geschickt spießte er ein Fleischstück auf und reichte es mir. Innerlich wand ich mich. Welchen Eindruck musste der Höfling von uns haben! Dabei waren solch tumbe Reichsministerialen in unserer Gegend eigentlich die Ausnahme. Wir waren stolz darauf, zum Kernland der Königsmacht zu zählen, und die meisten von denen, die auf dem Burgenkranz um Lautern ihren Dienst versahen, waren äußerst fähige Männer.

Dankend nahm ich das Fleisch entgegen und knüpfte an unser Gespräch wieder an, indem ich meinen Namen nannte und erklärend hinzufügte: »Mein Vater befehligt die Burg Beilstein, die ganz in der Nähe von Lautern liegt und ihm als Dienstlehen vom Kaiser übereignet wurde. Barbarossa hat meinen Vater vor fünf Jahren aus dem rheinhessischen Saulheim geholt. Dort stand er zuvor in den Diensten des Pfalzgrafen Hermann von Stahleck.«

»Die Ernennung Eures Vaters ist eine große Auszeichnung. Der Kaiser hat für den Ausbau des Lautrer Reichslandes die fähigsten Männer zusammengestellt, damit seine Herrschaft in dieser strategisch wichtigen Region gesichert ist«, bemerkte Meinloh anerkennend und fragte dann mit einem spitzbübischen Glitzern in den Augen: »Dann seid Ihr also die Schwester des kleinen Jungen, der heute auf so wundersame Weise durch den Kaiser gerettet wurde?«

Ich konnte nur resigniert nicken.

»Wenn Ihr einverstanden seid, werde ich Euch morgen einen Besuch abstatten und mir von Eurem Bruder die Geschichte noch einmal in Ruhe erzählen lassen. Ich beabsichtige, ein Lied darüber zu verfassen«, kündigte Meinloh an.

Bloß nicht, dachte ich entsetzt. Mein Bruder würde auf der Burg anschließend herumstolzieren wie ein Pfau. Schnell wechselte ich das Thema: »Wisst Ihr, wie weit die Vorbereitungen für den Italienzug gediehen sind?«

»In etwa sechs Wochen kann das Heer vom Lechfeld bei Augsburg abmarschieren. Pfalzgraf Otto von Wittelsbach und der Reichskanzler wurden bereits in diplomatischer Mission über die Alpen geschickt. Morgen werden in Lautern Bischof Hartmann von Brixen und noch einige andere fromme Männer eintreffen. Der Kaiser will sich mit ihnen über das weitere Vorgehen beraten und ihren Beistand einholen.«

»Aber müssen wir den Italienern denn gleich eins überbraten?«, fragte Siegfried, mühsam einen Rülpser unterdrückend. Er angelte nach dem blütenweißen Tischtuch. Aus jahrelanger Erfahrung im Umgang mit ihm ahnte ich, dass er versuchen würde, sich damit den Mund abzuwischen, und sah ihn warnend an. Er verstand den Wink und benutzte seinen Ärmel.

Ich übersetzte Siegfrieds Frage in eine gewähltere Sprache: »Gibt es wirklich keine Möglichkeit, den Krieg gegen Mailand und seine Verbündeten zu verhindern?«

»Leider nein«, erwiderte Meinloh seufzend. »Einige lombardische Städte haben die Schwäche von Barbarossas Vorgängern ausgenutzt, um sich immer mehr Rechte anzueignen, die dem Kaiser zustehen. Wir müssen Stärke zeigen, sonst machen die Aufrührer mit uns, was sie wollen. Und nach allem, was in den letzten Jahren vorgefallen ist, glaubt niemand mehr ernsthaft daran, dass sich die mailändische Partei allein mit Worten überzeugen lassen wird. Die Lombarden haben Barbarossa zu sehr gereizt. Wenn es um seine Ehre geht, gerät der Kaiser leicht in Zorn.«

»Italien ... das liegt doch irgendwo ganz weit weg im Süden ...«, sinnierte Siegfried und kratzte sich die mächtige Nase, die wie ein Erker aus dem Schädel hervorsprang.

»Hinter den Alpen, um genau zu sein«, belehrte ich ihn und fügte hinzu, als ich seinen verständnislosen Blick bemerkte: »Die Alpen sind ein sehr hohes Gebirge, schätzungsweise zehnmal höher als unser höchster Berg in Lautern. So hoch, dass selbst im Sommer auf den Gipfeln noch Schnee liegt.«

»Aber in Italien selbst ist es herrlich warm«, schwärmte Meinloh.

»Ihr wart schon dort?«, erkundigte ich mich interessiert.

»Ich war beim ersten Italienzug dabei, als der Kaiser gekrönt wurde«, antwortete Meinloh und lächelte versonnen. »Der Onkel Friedrichs, Bischof Otto von Freising, hat Italien einmal als Garten der Wonne gerühmt. Er hat wahrlich nicht übertrieben, denn die Städte dort sind so reich, dass sie selbst Köln weit in den Schatten stellen.«

»Werdet Ihr auch diesmal wieder mitziehen?«, bohrte ich neugierig weiter.

»Erst singe ich ein Minnelied für das reizende Burgfräulein vom Beilstein.« Meinloh langte nach seiner Harfe, denn der Kaiser hatte ihm gerade das Zeichen gegeben, mit der Musik zu beginnen. Meine Wangen brannten, solche höfischen Komplimente war ich nicht gewohnt. In der Regel war ich schon froh, wenn Jost mir keine Schimpfworte an den Kopf warf.

Ich ertappte mich dabei, wie mein Blick neugierig über Meinlohs schlanken Körper glitt, als er die Treppe zur Empore hinaufeilte. Er trug einen knielangen Rock, der im Schritt raffiniert geschlitzt war und den Blick auf formvollendete Schenkel freigab. In den Schuhen schien er zu tänzeln. Das rechte Bein zog er leicht nach, aber dieser kleine Makel hob die natürliche Anmut, mit der er sich bewegte, nur umso mehr hervor.

Erstaunt bemerkte ich, dass auch Jost dem Sänger nachsah. In seinem Blick glaubte ich eine gewisse Verärgerung zu erkennen. Überhaupt war Jost heute Abend ungewohnt still. Abgesehen von der Bemerkung über die Hofdame hatte er noch kein Wort gesagt und bisher, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, auch nicht gegen mich gestichelt. Er musste wirklich von den Anstrengungen der letzten Wochen völlig ausgezehrt sein.

Siegfried linste zu der Hofdame mit dem freizügigen Bliaut hinüber. Sie erwiderte sein Lächeln und warf ihre honigblonde Mähne zurück. Innerlich stöhnte ich auf. Immer wieder fand Siegfried ein Weib, das noch dümmer war als er und sich von seinem strammen Leib betören ließ. In Lautern hatte er schon sämtliche Mägde beglückt, und nun setzte er seine Jagd am Hofe fort.

Ich nutzte die Gesprächspause und hielt nach Wibald Ausschau. Er saß am entgegengesetzten Ende des Saales, ganz weit weg von Vater – dem Herrn sei Dank. Angeregt unterhielt er sich mit seinem Sitznachbarn. Immer wieder nippte Wibald am Wein und wischte sich anschließend sorgsam den Mund ab. Dieser Schuft schien in allerbester Stimmung zu sein, während ich vor Sorgen verging.

Im Saal kehrte Stille ein, als Meinloh zu sanften Harfenklängen sein Lied vortrug. Es handelte natürlich von der Liebe eines Ritters zu einer hohen Dame, die für ihn unerreichbar war – was sonst? Ein anderes Thema gab es für die Minnesänger nicht. Eine gefällige Melodie mit hübschen Reimen. Bei Hofe wusste man solche Kompositionen sicherlich zu schätzen. Aber ich verglich Meinloh unwillkürlich mit Trushard. Der Spielmann trug seine Lieder und Geschichten nicht vor, er durchlebte sie bei jedem Auftritt aufs Neue. Er erzählte nicht von Tristan – er war Tristan. Das machte ihn als Künstler so einzigartig und als Mensch so undurchschaubar. Wenn Meinloh doch nur einen Tag früher in mein Leben getreten wäre! Einen Ministerialen wie ihn hatte ich mir immer als Gatten gewünscht: gebildet, freundlich, weltgewandt – und gut aussehend noch dazu. Doch nun verging ich fast vor Sorge um meinen Vater. Und abgesehen davon zog mich die Liebe wie eine Schlingpflanze unerbittlich in die Tiefe.

»Weiberkram«, grummelte Siegfried, als Meinloh sein Lied beendet hatte und heftiges Handgeklapper den Saal erfüllte.

Jost pflichtete ihm bei: »Gefühlsduselei.« Nach einem abschätzigen Blick auf den Minnesänger fügte er hinzu: »Aalglatter Federfurzer.«

»Schön, dass es Menschen gibt, die zu zarten Empfindungen fähig sind und sich nicht nur von ihren Trieben leiten lassen«, erwiderte ich honigsüß. »Es ist eine Freude, ihnen zuzuhören, wenn sie ihre Gefühle in ausgewählte Worte kleiden. Aber zu diesem Kunstgenuss sind tumbe Dörfler natürlich nicht fähig.«

Langsam trank ich einen Schluck Rotwein, um die flatternden Nerven zu beruhigen. Der Pfeffer, mit dem er versetzt war, wärmte von innen. Ein ungewohntes Prickeln breitete sich auf meiner Haut aus.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Wibald aufstand, sich vom Tisch entfernte und den Saal verließ. Ruckartig drehte ich meinen Kopf in Vaters Richtung. Zu meinem Schrecken schnellte er hoch, als habe er den ganzen Abend darauf gewartet, seinen Todfeind abzupassen, und stürzte zu derselben Tür, durch die Wibald nur wenige Wimpernschläge zuvor entschwunden war.

Ich knallte den Weinbecher auf den Tisch und hastete los.

Noch ehe ich die Tür erreicht hatte, hörte ich schon laute Stimmen auf dem Flur.

»Diesmal kommt Ihr mir nicht mehr davon.« Der sonst so ruhige Tonfall meines Vaters, in dem er gelassen seine Befehle zu erteilen pflegte, vibrierte vor Erregung. Die jahrelang aufgestaute Wut brach aus ihm heraus.

»Was wollt Ihr denn tun? Mich zu einem Zweikampf herausfordern? Ihr wisst, dass dies nicht erlaubt ist«, höhnte Wibald.

Hastig trat ich durch die Tür und ließ sie ebenso schnell wieder ins Schloss fallen, damit die Gäste im Saal den Streit nicht mitbekamen. Halt suchend lehnte ich mich gegen die Wand.

Breitbeinig und mit verschränkten Armen hatte sich Wibald vor seinem Gegner aufgebaut und grinste ihn kalt an.

Mit zusammengebissenen Zähnen sprang Vater auf Wibald zu, packte seinen Rock und schlug ihm mit erhobener Faust kräftig mitten auf die Nase.

»Vater, lass ihn los«, flehte ich hilflos.

Zögernd lockerte er seinen Griff und trat einen Schritt zurück, den Blick fest auf Wibald gerichtet. Immer noch brannte sein Gesicht vor Zorn.

Wibald starrte seinen Gegner ungläubig an. Behutsam fuhr er sich mit der rechten Hand über die Nase und zuckte zusammen, als er den verletzten Knochen berührte. Blut tropfte zwischen seinen Fingern durch und hinterließ auf den hellen Steinfliesen ein bizarr gesprenkeltes, dunkles Muster. »Das werdet Ihr büßen, Merbodo«, knirschte er.

Inzwischen hatte ihr Streit Aufmerksamkeit erregt und Neugierige angelockt. Unter den betreten dreinschauenden Gesichtern erkannte ich auch das spitze Antlitz von Abt Stephan, der dem Zisterzienserkloster von Otterberg vorstand. Energisch schob er sich nach vorne. »Im Namen Gottes, haltet ein!«, fuhr er die Kampfhähne an und stellte sich zwischen sie. »Ihr vergesst die Würde dieses Hauses.«

Irgendjemand hatte Wibald ein Tuch in die Hände gedrückt. Er tupfte sich damit die blutende Nase ab. Wütend schnaubte er unter dem Stoff hervor: »Ehrwürdiger Abt, dieser Mann hat mich grundlos angegriffen, als ich den Saal verlassen habe.«

»Von wegen grundlos!«, rief Vater empört. »Meine Tochter Hildegunde hat er geschändet. Ein Fausthieb ist noch viel zu wenig für das, was er ihr angetan hat.«

Nun war es heraus. Die Umstehenden zogen deutlich hörbar die Luft ein. Ich krallte meine Finger in den Rock, innerlich ganz kalt und starr vor Entsetzen.

»Aber Eure Tochter heißt doch Rotrud?«, meinte der Abt verständnislos.

Vaters Hände krampften sich an seinem Gürtel fest. »Hildegunde ist schon vor sechs Jahren gestorben.« Anklagend deutete er mit dem Zeigefinger auf Wibald. »Wegen ihm!”

»Mein Sohn, Ihr bringt eine schwere Beschuldigung vor. Habt Ihr Beweise?« Abt Stephan ließ sich nicht so schnell aus der Fassung bringen.

»Woher denn?«, gab Vater heftig zurück und strich sich über den zitternden Dornbart. »Wie bitte soll man Zeugen für eine Schändung benennen, die heimlich im Wald stattfand?«

Nachdenklich wiegte der Abt sein Haupt hin und her. »Das Beste wird sein, wenn Ihr Eure Vorwürfe morgen dem Kaiser vortragt. Er soll darüber entscheiden, was zu tun ist.« Zu Vater gewandt, fügte er hinzu: »Geht jetzt nach Hause und sucht Frieden im Gebet!«

Dieser Mahnung konnte sich Vater nicht verschließen. Zögernd wandte er sich zum Gehen, aber als sich der Kreis der Gaffer langsam auflöste, rief er Wibald eine letzte Drohung zu: »Vergesst nicht, Ihr werdet bezahlen für das, was Ihr meiner Tochter angetan habt! Macht Euch auf einen hohen Preis gefasst, einen sehr hohen Preis!«

»Wie konntest du dich nur derart gehen lassen?« Die Frage platzte aus mir heraus, als wir das Tor der Pfalz passiert hatten und uns niemand mehr hören konnte. Mein Gesicht brannte immer noch vor Scham und Entsetzen über Vaters peinlichen Ausfall.

»Hast du gesehen, wie verächtlich er mich angegrinst hat?« Schwer atmend saß Vater vor mir im Sattel und umklammerte die Zügel so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. »Der elende Scheißkerl hat meine Tochter auf dem Gewissen, und dann verhöhnt er mich auch noch!” Scharf riss er die Zügel herum und lenkte das Pferd nach links, weg von der Gasse mit den Fachwerkhäuschen, in denen die Burgmannen wohnten.

»Trotzdem – reiß dich gefälligst zusammen«, fuhr ich ihn an. »Glaubst du etwa, ich hasse ihn nicht? Aber wir dürfen nicht zulassen, dass er unser Leben zerstört.«

Vater reckte den Bart vor. »Hildegunde war meine Tochter, und ich war für sie verantwortlich. Das Schwein muss bestraft werden. Willst du denn keine Gerechtigkeit? Ich dachte immer, du hättest deine Schwester geliebt!«

Jetzt wurde er ungerecht. »Natürlich, aber ich liebe auch meinen kleinen Bruder«, gab ich scharf zurück. »Und der braucht seinen Vater.«

Vater bog nach rechts ein, in den Weg, der unterhalb der Obstgärten gen Osten führte. Wie Schneeflocken hingen die weißen Blüten an den Birnbäumen. »Es geht um unsere Ehre«, erklärte Vater in eisigem Ton. »Wibald hat sie beschmutzt.«

Die Angst und die Wut über Vaters Starrsinn ließen mich alle Zurückhaltung vergessen. »Du bist es doch, der unsere Ehre in den Dreck zieht! Du hast dich benommen, als wärst du ein betrunkener Bauer und kein Ministeriale. Dank deiner Mitteilungsfreude weiß jetzt der ganze Hof über unsere Familienschande Bescheid.«

Vaters Kopf schnellte zu mir herum. Ich erschrak. Er sah aus, als ob er mich am liebsten gezüchtigt hätte. »Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken. Mein eigen Fleisch und Blut! Ich habe nichts Unrechtes getan. Ganz im Gegensatz zu Wibald ... und deiner ach so heiß geliebten Großmutter! Sie ist an allem schuld.« Ruckartig riss er den Hengst nach rechts und preschte über die Wiesen zur Lauter.

Ich klammerte mich an ihm fest, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Links und rechts flog die Landschaft an uns vorüber. Erst als wir das weite Tal erreichten, in dem sich die Lauter durch Wöge und Sümpfe zog, ließ Vater den Hengst in den Trab zurückfallen.

Ich lockerte meinen Griff und strich das Haar zurück. Hatte sich ein böser Dämon Vaters Verstandes bemächtigt? Bisher hatte ich Berichte über Besessene immer als Unsinn abgetan, aber nun geriet ich in Zweifel. Das war nicht mehr der Vater, den ich kannte, das war ein vor Zorn rasender Irrer. Ich hatte so gehofft, heute einen Ehemann zu finden – und stattdessen einen Vater verloren. Ich wartete, bis seine Atemzüge wieder etwas gleichmäßiger gingen. »Was hat denn Großmutter mit der Sache zu tun? Sie ist doch schon vor Jahren gestorben.«

Er senkte den Blick und starrte auf die Zügel. »Wir sind ein verfluchtes Geschlecht.«

»Es gibt keine Flüche«, beschwor ich ihn. »Das ist nichts als dummer Aberglaube, der eines Reichsministerialen nicht würdig ist.«

»Und warum passiert dann ausgerechnet uns ein Unglück nach dem anderen? Erst kommen meine Brüder im Kreuzzug um, dann wird Hildegunde geschändet und ...« Er holte tief Luft. »Und dann stirbt auch noch mein Weib bei Merbodos Geburt.«

»Unzählige Männer kommen in Kriegen um, und jeden Tag sterben Tausende von Frauen im Kindbett«, rief ich aus. »Aber das Schicksal unserer Familie hast du selbst in der Hand. Lass die Vergangenheit endlich ruhen und blick nach vorn! Was auch immer du tust, nichts kann Hildegunde wieder lebendig machen. Aber dein Sohn hat eine bessere Zukunft verdient. Was soll aus Merbodo werden, wenn Wibald dich beim Gottesurteil tötet?« Von mir wagte ich gar nicht zu reden. Dass ich für Vater nicht mehr zählte, war mir schon lange klar. Vor Hildegundes und Mutters Tod war das anders gewesen. Da war Vater vor Stolz über seine klugen Töchter fast geplatzt und hatte dafür gesorgt, dass wir lesen, schreiben, rechnen und sogar Bogen schießen lernten. Als wären wir Jungen und keine Mädchen. Es schien mir Tausende von Jahren her zu sein.

Die Abendsonne war schon so schwach geworden, dass die Lauter wie ein schwarzes Seidenband aussah, das sich neben uns her durch das sumpfige Gelände schlängelte. »Du wirst sehen, der Kaiser schlägt sich morgen auf Wibalds Seite und lässt dich im Stich«, sagte ich bitter.

»Für unsere Herren sind wir Dienstleute doch nur nützliche Dummköpfe«, grollte Vater. »Sie pressen uns aus wie die Trauben in der Kelter. Hinterher schmeißen sie die ausgemergelte Schale weg. Den Kaiser interessiert es einen Dreck, was wir fühlen. Hauptsache, wir gehorchen ihm und tun unsere Arbeit. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen.«

Die Ankündigung ließ mich entsetzt aufhorchen. Was meinte er damit? »Um Gottes willen, tu bloß nichts Unüberlegtes!”

Aus der Satteltasche zerrte Vater die Zinnbecher hervor, die uns der Truchsess im Namen des Kaisers überreicht hatte, als wir das Fest vorzeitig verließen. Zur Erinnerung an den Abend erhalte jeder Gast ein solch wertvolles Geschenk, hatte uns der Truchsess erklärt. In hohem Bogen schleuderte Vater erst den einen, dann den anderen Becher in das sumpfige Gelände. »Ich will keine Almosen, ich will mein Recht!«, brüllte Vater. Seine Raserei machte mir Angst. So ungehemmt kannte ich ihn gar nicht. Verstört betrachtete ich ihn von der Seite. In seinem Gesicht blitzte es.

Im Dämmerlicht lag der Fichtenwald wie eine dunkle Höhle vor uns. Vater riss scharf an den Zügeln, gab dem Pferd abermals die Sporen, dass es wiehernd den Kopf zurückwarf, und preschte in scharfem Galopp davon. Erschrocken krallte ich meine Hände an Vaters Hüften fest. »Nicht so schnell!”, schrie ich gegen den kalten Wind an, der meine Wangen wie ein Peitschenhieb traf. Aber Vater raste mit mir mitten in die Finsternis hinein.

Der Knochenpoet / Das Flammensiegel

Подняться наверх