Читать книгу Der Knochenpoet / Das Flammensiegel - Susanne Krauß - Страница 13

3. TAG

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Ich sah einen Gottlosen, der pochte auf Gewalt und machte sich breit und grünte wie eine Zeder. Dann kam ich wieder vorbei; siehe, da war er dahin. Ich fragte nach ihm; doch ward er nirgends gefunden.

Psalm 37

Über Nacht hatte sich der Frühling zurück in den Herbst verwandelt. Aus Leibeskräften rüttelte der Wind an den Fensterläden und weckte mich im Morgengrauen aus einem unruhigen Schlummer. Eisfinger schlüpften durch die Ritzen unserer Gemäuer und krochen in jede Falte meiner Bettdecke.

Fröstelnd zog ich mir die Schlafmütze über die Ohren. Nur mit Mühe erinnerte ich mich noch daran, dass ich am Vorabend zusammen mit Vater auf unserer Burg Gäste begrüßt hatte – zwei Hofdamen und zwei Geistliche. Wie durch einen dichten Schleier hatte ich sie wahrgenommen. In meinem Gedächtnis existierten sie nur als schemenhafte Gestalten. Ich hatte ihnen angemerkt, dass sie über unsere Familienschande bereits bestens Bescheid wussten. Da ihre verlegenen Blicke nicht auszuhalten waren, hatte ich stattdessen auf ihre Hände gestarrt.

Heute Morgen würde ich es nicht schaffen, den Gästen entgegenzutreten. Vater musste sich um sie kümmern. Inständig hoffte ich, dass er sich über Nacht wieder beruhigt hatte. Ich drehte mich zur Seite, um ihn zu wecken.

Doch ich griff ins Leere. Zu dieser frühen Stunde war er schon weg. Beunruhigt setzte ich mich auf. Wenigstens mein Brüderchen schlief tief und fest. Im schwachen Licht des heraufdämmernden Morgens, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, kleidete ich mich an. Müde schlich ich zum Stall. Vaters Hengst war nicht da. Also war er ausgeritten, Gott allein wusste wohin und wozu. Ich betete, dass er keine neuen Dummheiten anstellte.

Wie eine Puppe bewegte ich mich durch die Burg, immer darauf bedacht, den Gästen aus dem Weg zu gehen. Ich bat Elsbeth, ihnen im Saal das Frühstück aufzutragen, und verschwand in den Ställen, wo ich die Pferde fütterte, obschon das nicht zu meinen Aufgaben gehörte.

Als die Gäste endlich aufgebrochen waren, wagte ich mich in den Palas zurück. Ich besprach mit Gertrud das Abendessen und scheuchte Elsbeth in den Wald. Sie sollte das frische Mailaub von den Bäumen streifen, damit wir es trocknen und im Winter an das Vieh verfüttern konnten. Aber das war nur ein Vorwand, um sie loszuwerden, ebenso wie Ludwig, den ich anwies, in der Unterburg die Schweineställe auszumisten. Ich ertrug keine Menschen um mich herum. Eine besorgte Gertrud nahm mir meinen Bruder ab. Nachdem ich es geschafft hatte, alle fortzuschicken, sackte ich zusammen.

Ich schleppte mich in den Saal, setzte mich auf die Bank vor das Kaminfeuer und stellte den Korb mit Flickarbeiten neben mir ab. Aber statt zur Nadel zu greifen, starrte ich in die prasselnden Flammen.

Wo bei allen Heiligen trieb sich Vater herum? War er am Ende zu Wibald geritten? Oder zum Kaiser? Auch Trushard war immer noch nicht zurückgekehrt.

Das Knarren der Tür schreckte mich aus meinen Gedanken. Das war bestimmt Vater! Ich sprang hastig auf und drehte mich um.

Im Türrahmen stand Meinloh und lächelte mich schüchtern an. »Ich überbringe eine wichtige Botschaft des Kaisers.«

Unter anderen Umständen hätte ich mich über seinen Besuch sehr gefreut. Ich versuchte, meine Enttäuschung zu überspielen. »Tretet ein und setzt Euch.« Ich rückte Meinloh ein Kissen auf der Bank zurecht.

Dankend nahm er Platz und legte seinen Beutel vor sich auf den Boden.

»Ich ahne es schon. Da ist Eure Wachstafel drin«, plauderte ich höflich. »Falls Euch wieder ein guter Vers einfällt.«

»Ihr habt es erfasst. Niemals würde ich mich von meinem Schreibzeug trennen.« Meinloh schlug anmutig die Beine übereinander und rückte sein Schapel zurecht. Heute trug er einen seitlich geschnürten blauen Bliaut, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen geschlitzt waren. Darunter schaute ein knöchellanges rotes Untergewand hervor. Neben dem eleganten Boten kam ich mir wie eine Bäuerin vor.

Ich ordnete meinen Rock, als ich mich neben ihm niederließ, und sah ihn fragend an.

»Der Kaiser lädt Euch und Euren Vater vor. Heute Nachmittag sollt Ihr Euch im Palas der Kaiserpfalz einfinden.« Mitgefühl schimmerte in Meinlohs Augen auf.

Ich hielt den Atem an. Mein Gott, heute schon! Womöglich würde morgen schon das Gottesurteil stattfinden. Nur noch einen Tag und eine Nacht – dann konnte Vater bereits tot sein.

»Kaiser Friedrich will beide Seiten anhören«, fügte Meinloh hinzu und streckte die Hände zum Kaminfeuer hin, um sie zu wärmen. »Deshalb wird auch Wibald bei dem Gespräch anwesend sein.«

»Dann haben wir bereits verloren«, sagte ich mutlos. »Barbarossa wird wohl kaum seinen engsten Berater der Schändung bezichtigen.«

»Euer Vater ist stark«, stellte Meinloh fest und lächelte mich ermutigend an. »Wenn es zu einem Zweikampf kommt, wird er als Gewinner hervorgehen. Ganz sicher. Wibald ist schon völlig verweichlicht durch das allzu gute und sorglose Leben. Gegen Euren Vater kommt er nicht an.«

Bei Meinlohs Worten schoss mir ein Gedankenblitz durch den Kopf. Es war nur eine winzige Hoffnung und doch ... Ich konnte etwas unternehmen. Wenigstens musste ich nicht mehr tatenlos zusehen, wie Vater tiefer in sein Verderben rannte. Ich spürte, wie das Leben in meinen erstarrten Körper zurückkehrte.

Ehe ich antworten konnte, riss jemand die Tür auf. Ein Schwall kalter Zugluft strömte von draußen herein. Wir drehten uns erschrocken um.

Mit wehendem Umhang stürmte Vater in den Saal. Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab, und sein Gesicht war gerötet. Gewiss war er auf seinem wilden Hengst durch den Wald geprescht.

Meinloh sprang auf und strich sich hastig den Rock glatt. »Seid gegrüßt, Merbodo von Beilstein. Ich überbringe Euch eine Botschaft. Der Kaiser lädt Euch für heute Nachmittag in seine Pfalz vor, zusammen mit Eurer Tochter, um zu überprüfen, ob Eure Vorwürfe gegen Wibald vom Turme gerechtfertigt sind.« Meinlohs Stimme klang ganz förmlich und ehrerbietig, wie es sich für einen guten Boten geziemte. »Ich muss Euch allerdings warnen. Der Kaiser war ungehalten über Euer unbeherrschtes Verhalten. Ein Dienstmann, der die Würde des Reiches repräsentiert, dürfe sich nicht in aller Öffentlichkeit gehen lassen. Das hat er wörtlich so gesagt. Es wäre klug, wenn Ihr Euch nachher etwas gemessener verhalten würdet.«

Vater ballte die Fäuste. »Dieser elende Hurensohn. In der Hölle soll er schmoren, auf alle Zeiten.« Meinte er damit Wibald oder den Kaiser? Vater fuhr herum und knallte die Tür wieder hinter sich zu.

Erstarrt blieben wir stehen. Wir hörten, wie er polternd die Treppe hinabrannte. Dann schallte seine wütende Stimme vom Hof zu uns hoch. »Sattel mir noch einmal mein Pferd, Gero! Aber schnell!” Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.

»Euer Vater ist von Sinnen.« Meinloh schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich lasse Euch ungerne mit Euren Sorgen alleine, aber ich muss zur Pfalz zurück, um Wibald die Vorladung zu überbringen. Heute Morgen war er nicht da.«

Er druckste ein wenig, dann errötete er, schamhaft wie eine züchtige Hofdame. »Sagt, Jungfer Rotrud, dürfte ich Euer heimliches Gemach aufsuchen? Bevor ich zurückreite, würde ich gerne ungestört einige Verse aufschreiben, die mir in den Kopf gekommen sind.«

Geistesabwesend nickte ich und deutete zur Seite. »Es ist gleich hier auf dem Flur.«

Meinloh verbeugte sich. »Gehabt Euch wohl. Bis nachher.« Hinkend entfernte er sich.

Ich rief ihm einen Abschiedsgruß hinterher und ließ mich auf die Bank sinken. Fieberhaft dachte ich nach. Vater war unbelehrbar, aber vielleicht erwies sich Wibald guten Argumenten gegenüber aufgeschlossener. So sehr es mir zuwider war – ein Gespräch mit Wibald unter vier Augen war meine letzte Hoffnung. Doch vorher hatte ich noch einiges zu regeln.

Eilig packte ich die wichtigsten Sachen meines Bruders zusammen, stolperte zum Schweinestall und drückte dem überraschten Ludwig das Bündel in den Arm. Ich beauftragte ihn, den kleinen Merbodo in die Zisterzienserabtei nach Otterberg zu bringen. Ich nahm Ludwig das feierliche Versprechen ab, gegenüber dem Kleinen Stillschweigen über die Auseinandersetzung zwischen Vater und Wibald zu bewahren. Bisher hatte unser Gesinde den Kindern gegenüber glücklicherweise den Mund gehalten. Sie waren noch viel zu jung, um all die Schrecken zu verkraften.

Ich ging zu meinem Bruder in die Küche, wo er mit Agnes einträchtig König und Königin spielte, und erklärte ihm, bei den heilkundigen Mönchen wäre er mit seinem Bruch besser aufgehoben. Er heulte laut auf und würdigte mich keines Blickes mehr, als ich ihn zum Abschied an mich drückte.

Bei Gero hinterließ ich die Nachricht, dass ich zur verabredeten Zeit in der Pfalz auf Vater warten würde, und brach dann in aller Eile nach Lautern auf. Trushard war immer noch nicht zurück. Ich legte auch keinen Wert darauf, ihm zu begegnen. Im Gegenteil, ich wünschte ihn dorthin, wo der Pfeffer wuchs. Wo auch immer das sein mochte – es war zumindest ganz weit weg.

Als ich in der Kaiserpfalz ankam, sank mir der Mut. Niemals würde ich auf diesem Gelände, das bis zum Bersten mit Menschen gefüllt war, Wibald finden!

Gesandte aus aller Herren Länder warteten vor dem Palas geduldig darauf, vom Kaiser empfangen zu werden: dunkelhäutige Turbanträger, grimmige Riesen aus dem Norden, elegante Franzosen und wild gestikulierende Italiener. Kaufleute breiteten im Hof ihre Waren aus. Mägde und Knechte schleppten Körbe voll Gemüse in die Burgküche.

Ich beschloss, in den Pferdeställen nachzusehen, ob Wibalds Hengst überhaupt da war. Falls er ausgeritten war, musste ich gar nicht erst weiter nach ihm suchen. Ich eilte über den Hof, als mir der Schultheiß entgegenkam. »Na, hat sich dein Vater über Nacht wieder beruhigt? Ich kann nicht glauben, was man mir erzählt hat. Hat er Wibald wirklich geschlagen?«

»Leider ja«, bestätigte ich seufzend. »Ich erkenne Vater nicht wieder. Aber in den letzten Jahren hat er wohl zu viel geschluckt. Jetzt läuft das Fass über.«

Jost schüttelte tadelnd den Kopf. »Wie konnte er sich bloß so gehen lassen? Wenn er eine Klage hat, soll er sie vor den König bringen.«

Ich durfte keine Zeit verlieren. »Weißt du zufällig, wo ich Wibald finden kann?«

Jost hob die Augenbrauen. »Was willst du denn von ihm?«

Der Schultheiß hielt nicht viel von weiblichen Eigenmächtigkeiten. Aber ich brauchte seine Hilfe, um Wibald zu finden. Widerwillig rückte ich mit meinem Plan heraus: »Ich will Wibald klar machen, dass es auch für ihn besser ist, die Angelegenheit im Stillen zu bereinigen. Vater ist ein guter Kämpfer. Und schau dir Wibald dagegen an! Durch das höfische Leben ist er dick und unbeweglich geworden. Vielleicht geht er das hohe Risiko, im Zweikampf zu sterben, lieber doch nicht ein. Sein Leben mag es ihm wert sein, Vater unter vier Augen um Verzeihung zu bitten und zum Gedenken an Hildegunde einige Seelenmessen zu stiften. Und wenn ich erst mal Wibald so weit habe, schaffe ich es womöglich auch noch, Vater davon zu überzeugen, Wibalds Entschuldigung zu akzeptieren.«

»Lass die Finger davon, das ist Männersache«, warnte Jost. Seine Augen verengten sich. »Weiß dein Vater überhaupt, was du vorhast?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen«, erwiderte ich.

Jost runzelte die Stirn. »Wibald ist im Tiergarten. Gerade eben hat er mich nach dem Weg zum Hirschgehege gefragt. Aber ich würde dir raten, hier zu bleiben, sonst tut er dir auch noch etwas an.«

Ich schlug den Mantel zur Seite und deutete auf den Dolch, der von meinem Gürtel herabhing. »Den habe ich immer dabei, wenn ich ohne Begleitung unterwegs bin.«

»Und das ist leider häufig der Fall«, merkte Jost missbilligend an. »Du umgehst mal wieder das Waffenverbot für Frauen. Dein Vater lässt dir zu viele Freiheiten. Du bist ein wildes Waldgeschöpf und kein sittsames Weib.«

Ich dankte ihm kurz für seine Auskunft und ließ ihn dann einfach stehen. Für seine Ermahnungen hatte ich heute wahrlich keine Zeit.

Es war ziemlich umständlich, von der Kaiserpfalz in den Tiergarten zu gelangen, denn man musste erst die ganze Anlage auf der nördlichen Seite umrunden. Besorgt musterte ich die dunkelgrauen Wolken, die sich am Himmel zusammenballten. Hoffentlich war ich zurück, bevor der Regen losging.

Aber die ersten Tropfen fielen schon, als ich den großen Woog erreichte. Ich grub mich in meinen Mantel hinein und zog mir die Kapuze fest über den Kopf. Während ich am Ufer des Gewässers entlang zum Tiergarten lief, dachte ich über Trushard nach. Je eher ich den Abschied von ihm hinter mich brachte, desto besser. Warum warten, bis er freiwillig ging? Ich beschloss, ihm heute Abend deutlich zu sagen, dass seine Anwesenheit auf unserer Burg nicht länger erwünscht war. Bevor mich die Schlingpflanze endgültig in die Tiefe zerren würde, musste ich sie von meinem Knöchel reißen. Notfalls mit Gewalt.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah ich mich um, als ich den Tiergarten erreichte. Bisher war mir kein Mensch begegnet. Dafür hatte ich nun reichlich tierische Gesellschaft. Pfauen stolzierten am Weg entlang. In den großzügig angelegten Gattern wühlten Wildschweine und Ferkel mit den Schnauzen im Schlamm, völlig unbeeindruckt von Regen und Wind. Anscheinend war ich in der weitläufigen Gartenanlage ganz alleine mit Wibald. Josts Warnung kam mir in den Sinn. Ich tastete nach dem Dolch. Sollte sich Wibald an mir vergreifen, würde es ihm schlecht bekommen.

Kurz bevor ich in den Weg nach rechts zum Hirschgehege einbog, hörte ich auch schon Wibalds ärgerliche Stimme: »Na endlich, ich warte hier schon eine Ewigkeit. Und das bei diesem ekelhaften Wetter!«

Mist, er war nicht alleine! Die Bäume versperrten mir die Sicht. Nur zu gerne hätte ich gewusst, wen er gerade so unfreundlich begrüßt hatte.

Dicke Regentropfen klatschten in mein Gesicht und durchtränkten den Mantel. Aber es half nichts, ich musste warten, bis Wibald sein Gespräch beendet hatte. Während ich noch überlegte, ob ich mich im Gebüsch verstecken sollte, um ihm ungesehen folgen zu können, falls er mit seiner Begleitung zur Pfalz zurückging, fuhr mir ein Schmerzensschrei durch Mark und Bein. Jähe Furcht überfiel mich. Ich hörte ein undeutliches Gurgeln, ein Plumpsen, als ob jemand zu Boden stürzte, und dann eilige Schritte, die sich entfernten.

Es dauerte einige Herzschläge, bis ich mich aus meiner Erstarrung reißen konnte. Langsam schlich ich vorwärts. Kurz vor der Biegung blieb ich stehen und horchte. Alles blieb still. Was zum Teufel war hier passiert? Hatte Wibald sich etwa sein nächstes Opfer geholt?

Vorsichtig lugte ich um die Ecke. Mitten auf dem Weg lag Wibald, auf den Rücken gefallen wie ein hilfloser Käfer. Erst nachdem ich mich gründlich umgesehen und in das Gebüsch gespäht hatte, wagte ich mich näher. Als ich mich über den Adeligen beugte, stockte mir der Atem. Über dem Herzen war der Rock mit Blut durchtränkt. Als ich genauer hinsah, erkannte ich den schmalen Riss, der sich mitten in dem dunkelroten Flecken befand und mir verriet, dass er erstochen worden war.

Ich zuckte zurück. Als Burgherrin, die sich um Kranke und Sterbende kümmern musste, war mir zwar der Anblick von Toten vertraut, nicht aber der Anblick von Menschen, die durch Gewalt ums Leben gekommen waren.

Knapp unterhalb der linken Schulter entdeckte ich auf dem Rock einen leicht verschmierten schwarzen Flecken, der die Größe eines Daumennagels hatte. Woher mochte er stammen? Wibalds Hände zeigten mit den Innenflächen nach oben, die Finger waren verkrümmt. Der Geldbeutel hing noch am Gürtel.

Ich wagte einen Blick in Wibalds Gesicht. In seinen weit offen stehenden Augen lag Erstaunen, als könne er nicht glauben, dass ihm jemand an Hinterhältigkeit ebenbürtig sei. Er war überrascht worden und hatte nur verhältnismäßig kurz leiden müssen – ganz im Gegensatz zu meiner Schwester. Erinnerungen an ihr aufgequollenes Gesicht, in dem sich die Spuren des Kampfes mit dem Wasser deutlich abgezeichnet hatten, stiegen in mir auf. Jetzt war ihr Tod gesühnt – aber zu welchem Preis?

Ich unterdrückte den aufkommenden Brechreiz und erhob mich. So schnell wie möglich musste ich von hier verschwinden. Wenige Handbreit von der Leiche entfernt entdeckte ich ein kleines Tontöpfchen. Unwillkürlich griff ich danach und steckte es in den Beutel, der an meinem Gürtel hing.

Auf einmal hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ängstlich blickte ich mich um. Am Hirschgehege war niemand. Aber hinter den Fichten, die wie eine undurchdringliche Wand den Weg säumten, knackten Zweige. Verdammt, war der Mörder doch noch hier? Ich raffte den Rock und raste los, als wären sämtliche Jagdhunde des Kaisers hinter mir her.

Schon nach wenigen Schritten japste ich nach Luft. In meine Seiten schienen sich Dolche hineinzubohren, so heftig stach es, aber wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, rannte ich weiter. Jetzt hatte ich schon den großen Woog erreicht. Ich verzichtete darauf, einen Blick zurückzuwerfen, um keine wertvolle Zeit zu verlieren.

Mit meinen kurzen Beinen hatte ich keine Chance, falls der Mörder tatsächlich hinter mir her sein sollte. Zudem behinderte mich der lange Rock. Gleich würde eine Hand nach mir greifen und mich zurückreißen. Ich versuchte, meine Schritte zu beschleunigen, aber es ging nicht. Mein Herz schlug so heftig, dass ich fürchtete, es würde den Brustkorb sprengen. Die Schnur, mit der mein Mantel vorne zusammengebunden war, drückte wie ein Galgenstrick gegen meine Kehle. Der Beutel, der an meinem Gürtel hing, pendelte wild hin und her.

Da – ein Hecheln. Der Verfolger holte auf. O heilige Margarete, steh mir bei!

In meinem Schädel dröhnte ein Trommelwirbel. Der Regen klatschte mir ins Gesicht und zog einen Wasserschleier vor meine Augen. Ich konnte kaum noch erkennen, wohin ich trat. Eisige Sturzbäche liefen über meine Wangen und tropften in den Ausschnitt hinein. Der Bliaut saugte sich mit Feuchtigkeit voll wie ein durstiger Schwamm. Bleischwer hingen die Tütenärmel an meinen Unterarmen.

Verzweifelt merkte ich, wie meine Kräfte nachließen. In den Lungen tobte ein Feuer. Die Oberschenkel verkrampften sich, als würden sie von einer gewaltigen Hand zusammengequetscht.

Der heftige Guss hatte die Wege in gefährlich glitschigen Morast verwandelt. Eine trübe, braune Brühe spritzte aus den Pfützen hoch, in die ich hineinstolperte, setzte sich auf dem Rocksaum fest und durchtränkte meine Schuhsohlen.

Das Hecheln wurde lauter.

Ich musste den Verfolger austricksen – aber wie? Mir fiel das tiefe Schlagloch ein, das sich direkt hinter der nächsten Wegkreuzung befand.

Das Hecheln war nur noch wenige Schritte hinter mir, aber die Hoffnung gab mir neuen Auftrieb. Mit letzter Kraft schaffte ich es, die Geschwindigkeit doch noch einmal zu steigern.

Als ich die Kreuzung erreicht hatte, bog ich nach links ab und wich im letzten Augenblick dem wassergefüllten Schlagloch aus. Mein Fuß glitt im Schlamm aus, ich ließ den Rock fallen und ruderte wild mit den Händen, um das Gleichgewicht zu bewahren. Schon sah ich mich auf dem Boden liegen, den Angreifer mit dem Dolch über mir, ein höhnisches Grinsen im Gesicht – da fing ich mich doch noch. Mehr rutschend als laufend kämpfte ich mich vorwärts. Hinter mir hörte ich ein Platschen und schließlich einen dumpfen Fall.

Nur nicht zurücksehen! Jede Bewegung kostete Zeit. Ich musste weiter. Die Westseite der Pfalz tauchte vor mir auf. Das sichere Tor war nicht mehr fern. Neuer Mut durchströmte mich. Wenn sich der Verfolger wider Erwarten hochgerappelt hatte und mich hier angreifen wollte, würde man meine Schreie hören. Und er musste damit rechnen, dass uns jemand vom Fenster aus beobachtete. Hatte ich doch Glück?

Ich rannte wie ein Wiesel, zwang mich, nur an das nächste Zwischenziel zu denken – die Nordwestecke der Pfalz.

Als sie vor mir lag, stieg die Hoffnung. Noch wenige Schritte, dann kam der belebte Weg, der zur Pfalz führte. Allmählich ließ der Regen nach. Zum letzten Mal raffte ich alle Kraft zusammen. Vorwärts, immer weiter vorwärts!

Aber erst als ich den Weg erreichte, fühlte ich mich wieder sicher. Ein Stück weiter unten erblickte ich Menschen, die vor dem Tor der Kaiserpfalz standen. Jetzt würde mir nichts mehr passieren. Verzweifelt nach Luft ringend, blieb ich stehen und warf einen Blick zurück. Dem Herrn sei Dank, niemand war zu sehen!

Erleichtert lockerte ich die Schnüre meines Bliaut, um besser atmen zu können, und hielt mir die stechenden Seiten. Vor Angst, Nässe und Kälte zitterte ich am ganzen Körper.

Meine Gedanken überschlugen sich. Wibald war umgebracht worden. Aber wer war der Mörder? Oder hatte ich es mit einer Mörderin zu tun? Es erforderte nicht viel Kraft, ein Messer ins Herz zu stoßen.

Warum hatte der Verfolger so lange gebraucht, um mich einzuholen? Ein kräftiger Mann wäre im Handumdrehen bei mir gewesen. War der Täter alt, krank, verletzt, ungeübt im Laufen – oder eine Frau, die durch ihr langes Gewand behindert wurde? Ich konnte mich nicht an das Schleifen eines Rocksaumes hinter mir erinnern. Allerdings hatte das Dröhnen in meinem Schädel auch viele Geräusche übertönt. Nur das laute Hecheln war mir aufgefallen.

Sollte ich den Mord melden? Vater und ich saßen in der Falle, so oder so, denn es musste sich überall herumgesprochen haben, was tags zuvor in der Pfalz passiert war. Wibalds Tod bewahrte Vater vor einem gefährlichen Zweikampf. Deshalb war es so gut wie sicher, dass man uns verdächtigen würde. Und wenn ich dann auch noch zugab, am Schauplatz der Tat gewesen zu sein, würde niemand mehr an meine Unschuld glauben. Ich konnte nur noch hoffen, dass Jost mich nicht verraten würde und dass mich außer dem Mörder niemand im Tiergarten gesehen hatte. Mit Schrecken fiel mir mein Dolch ein. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte auch noch eine mögliche Tatwaffe bei mir getragen!

Erst nach und nach sickerte in mein Bewusstsein, was mir unter Umständen bevorstand. Mord wurde mit dem Galgen bestraft. Ich spürte schon, wie sich der Strick um meinen Hals legte. Meine Kehle zog sich zusammen.

Und Vater? Ich betete zu Gott, dass ihm irgendjemand begegnet war, der bezeugen konnte, dass er sich zum Zeitpunkt der Tat weit entfernt vom Tiergarten aufgehalten hatte.

Das Töpfchen, das ich neben der Leiche gefunden hatte, fiel mir wieder ein. Ich holte es aus dem Beutel, zog den Stöpsel heraus und betrachtete verblüfft die grüne Paste. Erst schnupperte ich, dann tunkte ich den Finger hinein und verrieb die zähe, fettige Substanz auf meinem Handrücken. Es war Schwertliliensalbe, die man für gewöhnlich benutzte, um die kleine Krätze zu heilen. Ich verstöpselte das Töpfchen wieder und verstaute es sorgfältig in dem Beutel, der an meinem Gürtel hing.

Wie war die Salbe neben die Leiche geraten? Mir fiel nur eine mögliche Erklärung ein: Wibald musste sich im Fallen an den Mörder gekrallt und dessen Beutel seitlich aufgerissen haben, sodass das Töpfchen herausgerutscht war. In seiner Eile hatte der Täter es wohl nicht bemerkt. Erst als er sich in sicherer Entfernung befand und kurz innehielt, um zu verschnaufen, war ihm aufgefallen, dass die Schnüre seines Beutels gelockert waren und die Salbe fehlte. Deshalb war er zurückgekehrt – und hatte mich entdeckt! So musste es gewesen sein.

Jetzt war ein Mörder hinter mir her. Er hatte es einmal probiert, und er würde es wieder versuchen, so oft, bis er mich erwischt hatte. Meine Eingeweide krampften sich zusammen.

Mein Gott, wie kam ich aus dieser hoffnungslosen Lage bloß wieder heraus? Gleichgültig, was ich tat, es war mit Sicherheit das Falsche.

Am liebsten hätte ich mich bei Gertrud in der Burgküche verkrochen, aber Vater und ich waren zum Kaiser vorgeladen worden. Mir blieb keine Wahl. Wenn ich keinen Verdacht erregen wollte, musste ich erscheinen. Aber ein wenig Zeit hatte ich noch. Ich würde sie nutzen, um in der alten Kapelle der Pfalz neue Kraft zu schöpfen.

Nass wie ein Fisch war ich, und mein Zopf hatte sich aufgelöst. Ich bückte mich, zupfte etwas Gras vom Wegesrand und säuberte damit die völlig verschlammten Schuhe, so gut es eben ging. Dann drückte ich das Wasser aus meinen Locken, flocht die Haare neu und richtete die Gewänder. So notdürftig zurechtgemacht, konnte ich mich wieder unter Menschen wagen. Ich war bereit.

Mit regungsloser Miene thronte Barbarossa in einem goldverzierten Faltsessel am Kopfende des Saales, in dem wir gestern seine Ankunft gefeiert hatten. Zur Begrüßung nickte er Vater und mir kühl zu, als wir vor ihm niederknieten. Die schmalen Lippen hatte er fest zusammengepresst. Keine Gesichtsregung verriet, was er dachte. Nur schwer konnte ich mir in Erinnerung rufen, wie freundlich er noch gestern zu meinem Bruder gewesen war.

Neben dem Kaiser stand Meinloh, in der linken Hand Wachstafel und Griffel, und blinzelte mir fast unmerklich zu. Seine rechte Hand zuckte, als ob er am liebsten etwas notiert hätte. Ging ihm schon wieder ein Vers durch den Kopf, oder war ihm die passende Formulierung für einen heiklen Brief des Kaisers eingefallen?

Auf der anderen Seite des Faltsessels wartete Bischof Hartmann von Brixen, ein ehrwürdiger, alter Mann, der einen freundlichen Eindruck machte und trotz seines hohen Ranges auffallend schlicht gekleidet war. Der Kaiser schätzte ihn außerordentlich und zog ihn deshalb bei heiklen Angelegenheiten gerne zurate.

Auch Jost und Siegfried waren gekommen; ihre Anwesenheit tat mir gut. Wenigstens zwei Bekannte im Saal. Siegfried lächelte mich aufmunternd an.

Vater reckte entschlossen seinen Dornbart nach oben, das Gesicht puterrot vor Wut. Er würde um sein Recht kämpfen und nicht einen Fußbreit weichen, koste es, was es wolle. Die Zeit des Schweigens und Duldens war für ihn vorbei. Ich betete innerlich, dass er sich nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen würde.

Leider hatte ich keine Gelegenheit gehabt, unter vier Augen mit Vater zu sprechen, denn er war nach mir eingetroffen. Zu gerne hätte ich die Last der Verantwortung mit jemandem geteilt. Aber vielleicht war es auch besser, wenn er nichts wusste. Ich bezweifelte, dass er sich verstellen konnte. Wenn er aufrichtig überrascht war bei der Mitteilung, dass sein Erzfeind ermordet aufgefunden worden war, glaubte man vielleicht eher an seine Unschuld.

Unsere kleine Gruppe verlor sich in dem riesigen Saal, dessen Pracht ohne die zahlreichen Gäste abweisend wirkte. Unbewegt wie Statuen warteten wir auf Wibald. Ich war die einzige Person im Raum, die wusste, dass er niemals kommen würde. Eine gespenstische Situation.

Um mich abzulenken, betrachtete ich die Wandmalereien. Hochmütig schauten die Herrscher aus ihren Bildern zu mir herunter. Unter ihren Blicken schrumpfte ich zu einem unwürdigen Nichts zusammen, einem armseligen Staubkorn, das der Wind nach Belieben herumwirbeln konnte. Tausende von Jahren königlicher Macht erdrückten mich. Was war schon unsere unfreie Ministerialenfamilie angesichts dieser glanzvollen Herrscher, von denen Barbarossa seine Legitimation herleitete und damit auch das Recht, uns nach Belieben versetzen, verkaufen, verschenken zu können?

Ich zitterte am ganzen Leib, traute mich aber nicht, den feuchten Wollmantel enger um die Schultern zu ziehen, aus Angst, durch die Bewegung Aufmerksamkeit zu erregen. Die prasselnden Feuer in den riesigen Kaminwangen kämpften vergeblich gegen die Eiseskälte an.

Die Zeit verstrich, und meine Anspannung wurde unerträglich. Wann würde uns endlich jemand von der sinnlosen Warterei erlösen?

Ein Sonnenstrahl verirrte sich in die Prunkhalle und entflammte den Bart des Kaisers. Friedrich trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf die Armlehne. Schließlich erhob er sich und verkündete: »Ich stelle fest, dass Wibald vom Turme nicht erschienen ist, obwohl er von meinem Boten Meinloh persönlich geladen wurde.« Seine Worte hallten von den Wänden wider.

Ich atmete auf. Nun konnten wir gehen. Während des Rittes zum Beilstein hatte ich genug Zeit, um mit Vater unser weiteres Vorgehen zu besprechen.

Plötzlich wurde eine der großen Türen ruckartig aufgerissen, und ein sichtlich erschrockener Knappe stürzte herein: »Majestät, verzeiht die Störung, aber im Tiergarten liegt ein Toter. Es ist Wibald.«

Ich schnappte nach Luft. Der Knappe wartete, bis sich das aufgeregte Murmeln ein wenig gelegt hatte, und fügte dann langsam hinzu: »Erstochen!«

Alle Augen richteten sich unwillkürlich auf Vater. Er wurde kalkweiß. Stirnrunzelnd sah Jost mich an. Ich errötete und wandte verlegen den Blick ab.

Die hohe Stimme Barbarossas übertönte das Raunen der Versammelten: »Merbodo von Beilstein, ich frage Euch, habt Ihr etwas mit dem Mord an Wibald vom Turme zu tun?«

Fieberhaft dachte ich nach. Sollte ich mich doch zu Wort melden? Ich entschied mich zu schweigen. Wenn ich jetzt zugab, dass ich den Mord miterlebt hatte, würde uns erst recht niemand Glauben schenken. Ich hatte nichts gehört oder gesehen, was Vater entlasten konnte. Das Töpfchen mit der Salbe war auch kein Beweis für unsere Unschuld, denn es war ein ganz gewöhnliches Heilmittel, das genauso gut aus meiner eigenen Kräuterwerkstatt stammen konnte. Meine Aussage würde Vater nur noch mehr ins Verderben ziehen. Wenn die Tochter schon gestand, im Tiergarten gewesen zu sein, dann hatte sie sicherlich gemeinsame Sache mit dem Vater gemacht. Und was sollte aus meinem Bruder werden, wenn man uns beide verhaftete?

Trotzig schleuderte Vater dem Kaiser seine Antwort entgegen: »Nein!«

»Was habt Ihr heute gemacht?«, fragte Barbarossa weiter.

»Ich war im Wald – allein, falls Ihr wissen wollt, ob ich Zeugen habe«, gab Vater zögernd zu. »Ich war seit dem Morgengrauen unterwegs und habe nur kurz auf dem Beilstein vorbeigeschaut, als Euer Bote die Vorladung überbrachte. Anschließend bin ich wieder ausgeritten und habe mich in unserer Burg rasch umgezogen, weil ich in den Regenguss geraten bin. Dann bin ich sofort zur Pfalz aufgebrochen.«

Barbarossa winkte seinen Boten gebieterisch zu sich heran. »Wann habt Ihr Wibald die Nachricht übermittelt, dass er sich heute Nachmittag hier einfinden soll?«

Eilfertig huschte Meinloh nach vorne und beugte sich zum Kaiser hinunter. »Zur Sext. In der alten Kapelle haben die Mönche gerade den Hymnus gesungen. Wir haben es bis in Wibalds Unterkunft gehört. Anschließend hat Wibald mich nach dem Weg zum Tiergarten gefragt.«

Erschrocken sah ich, wie sich steile Falten auf der Stirn des Kaisers bildeten. »Das heißt also, Merbodo kann für die mögliche Tatzeit keine Zeugen benennen. Wir werden nachforschen, wer Wibald als Letzter gesehen hat.« Schmallippig musterte er Vater. »Merbodo, stimmt es, dass Ihr gestern Abend Wibald vom Turme angegriffen und bedroht habt? Er werde einen sehr hohen Preis zahlen für das, was er Eurer Tochter angetan hat – das waren doch Eure Worte, oder?« Wie ein Messer zerschnitt Barbarossas scharfe Stimme die kalte Luft.

Vater ballte die Fäuste. »Ich leugne es nicht. Wibald hat meine Tochter Hildegunde geschändet. Sie hat die Schmach nicht ertragen und starb kurze Zeit später.« Er rang um Fassung und fuhr dann fort: »Als ich Wibald gestern völlig unvermutet wiedersah, hat er mich auch noch verhöhnt. Da habe ich den Kopf verloren. Ich wollte ihn zu einem offenen Kampf herausfordern, aber nicht ermorden. Mein Gott, dazu wäre ich niemals fähig. Um Himmels willen, glaubt mir doch!« Wie ein in die Enge getriebenes Wild blickte er um sich.

Nachdenklich knetete der Kaiser seine Hände. Ich fing Josts bestürzten Blick auf. Mit Bangen sah ich, dass er einen Schritt vortrat und tief Luft holte, als ob er zum Sprechen ansetzen wollte. Ich hielt den Atem an. Würde er mich jetzt verraten? Unsicher fuhr sich Jost mit der rechten Hand durch die Igelborsten und klappte dann den Mund wieder zu. Ich stieß die Luft aus.

»Merbodo, Ihr habt mir stets treu gedient, aber ich fürchte, die Tatsachen sprechen gegen Euch«, erklärte Barbarossa mit fester Stimme. »Niemand außer Euch hätte einen Grund gehabt, Wibald umzubringen. Der Schultheiß soll den Fall in aller gebotenen Sorgfalt untersuchen. Aber auf die Ergebnisse der Nachforschungen werdet Ihr sicherheitshalber im Burgverlies warten. Jost, nehmt ihn gefangen!«

Die Falle war zugeschnappt. Der überrumpelte Schultheiß zögerte, und das machte Vater sich zunutze. Ehe ihn jemand daran hindern konnte, schnitt er Jost mit dem Dolch den Schlüsselbund vom Gürtel, stürzte zur Tür und rannte davon.

Der Schultheiß war viel zu verblüfft, um sofort zu reagieren. Ungläubig starrte er auf das Gürtelende in seiner Hand. Auch Siegfried rührte sich nicht von der Stelle. Eine schnelle Auffassungsgabe hatte gottlob noch nie zu seinen Stärken gezählt.

»Worauf wartet Ihr noch?« Barbarossa verlor die Geduld. Der kaiserliche Befehl riss Jost aus seiner Erstarrung. Gehorsam flitzte er los. Siegfried schnaufte auffallend langsam hinterher.

»Schneller!« Eine dunkelrote Zornesröte überflammte Barbarossas kräftigen Hals. Das Klacken der Stiefel auf dem Marmorboden beschleunigte sich.

»Ihr alarmiert die Wachen am Tor und die übrigen Burgmannen«, befahl der Kaiser dem Knappen, der sich sofort auf dem Absatz umdrehte und davoneilte. Inständig hoffte ich, dass Vater die Flucht gelingen würde. Wenn nicht, war er verloren.

Heftige Gewissensbisse regten sich in mir. Trug ich Schuld an der verfahrenen Situation? Meine Hände krampften sich am Bliaut fest.

Ich raffte mein Gewand und wollte zur Tür stürzen, aber der Kaiser herrschte mich an: »Hier geblieben! Raus mit der Sprache: Was hat Euer Vater vor? Besser, Ihr sagt es mir gleich, bevor meine Männer ihn mit einem Pfeil erledigen.«

Ich erschrak. Was sollte ich tun? Ich wusste genau, was Vater plante. Unter der Pfalz befanden sich unterirdische Felsengänge, durch die man die Burg unbemerkt verlassen konnte und erst ein ganzes Stück weiter nördlich herauskam. Jost und Siegfried kannten diesen Fluchtweg natürlich auch, aber ihr bisheriges Verhalten ließ nicht erwarten, dass sie dem Kaiser ihr Wissen preisgeben würden. Nein, es war unwahrscheinlich, dass Vater erwischt wurde. Ehe ihn Barbarossas Männer am Ausgang abpassen konnten, war er auf und davon. Ich riss die Augen auf wie ein Unschuldslamm und zuckte die Schultern.

Friedrichs wütende Miene verriet mir, dass er unser Spiel durchschaute und nicht gedachte, die widerstrebende Befolgung seiner Befehle hinzunehmen. Auf den Schultheißen und seinen Bruder kam ein gewaltiges Donnerwetter zu.

»Das ist unglaublich«, schäumte Barbarossa und ließ die Faust auf die Lehne seines Sessels krachen. »Schafft Merbodo her! Wenn er in meine Hände fällt, dann gnade ihm Gott. Durch seine Flucht hat er jede Milde verwirkt. Ich bin der Kaiser. Niemand widersetzt sich mir ungestraft.«

Ruckartig drehte er mir den Kopf zu. »Nur damit Ihr es wisst: Wer sich dem Gericht entzieht, nachdem er von Angesicht zu Angesicht eines Verbrechens beschuldigt wurde, ist überführt. So sieht es das althergebrachte Recht vor. Daher werte ich die Flucht Eures Vaters als Schuldgeständnis.«

»Und ich werte sie als Verzweiflungstat, Eure allergnädigste Majestät«, erwiderte ich und knickste demütig. Ich war bestürzt über den Wutausbruch des Kaisers, der bisher so gelassen gewirkt hatte. Meinlohs Bemerkung fiel mir ein: »Wenn es um seine Ehre geht, gerät der Kaiser leicht in Zorn.« Mir schwante, dass Vater einen schlimmen, womöglich tödlichen Fehler begangen hatte. Durch seine Flucht hatte er gezeigt, dass er kein Zutrauen in die Gerechtigkeit Barbarossas besaß, und damit die kaiserliche Ehre verletzt.

Friedrichs helle Augen fixierten mich unbarmherzig. »Ich mache Euch darauf aufmerksam, dass Euer Vater der Reichsacht verfällt und damit rechtlos ist. Das bedeutet, dass er überall im Reich von jedermann festgenommen und bei Widerstand getötet werden kann. Solltet Ihr ihm widerrechtlich auf dem Beilstein Aufenthalt gewähren, verfällt auch die Burg der Acht. Also überlegt Euch gut, wie Ihr Euch verhaltet.«

Selbst der tote Wibald fügte uns noch Schaden zu. Am Vormittag hatte ich gedacht, ich wäre verzweifelt, aber jetzt erst wusste ich, wie sich wirkliches Unglück anfühlt: schwer wie der Beilsteiner Fels, der sich auf meine Brust wälzte.

Der Knappe wagte sich noch einmal in den Saal. »Ich bitte um Entschuldigung, Majestät, aber der Gesandte aus Lodi ist da.«

»Er soll sich gedulden.« Barbarossa sprang auf, strich das reich bestickte Obergewand glatt und wandte sich an den Bischof: »Ehrwürdiger Vater, hättet Ihr die Güte, mich in den Tiergarten zu begleiten?« Dann drehte er sich zu mir um: »Ihr kommt ebenfalls mit. Ich möchte Euch lieber im Auge behalten.«

Es kostete mich einige Überwindung, an den Ort zurückzukehren, der mir einen solchen Schrecken eingeflößt hatte, auch wenn ich mich jetzt in sicherer Begleitung befand. Barbarossas Erregung hatte sich auf dem Weg in den Tiergarten ein wenig gelegt. Die dunkle Zornesröte an seinem Hals war einem Pfirsichton gewichen.

Von Abscheu erfüllt, blieb ich möglichst weit entfernt von der Leiche stehen. Aber der Kaiser winkte mich heran. »Seht Euch ruhig an, was Euer Vater Wibald angetan hat.«

Zögernd schlich ich näher und warf einen Blick auf die Fußspitzen des Toten.

Der Kaiser trat hinter mich. »Eure damenhafte Zurückhaltung in allen Ehren, aber sie ist hier fehl am Platze. Schaut Euch das viele Blut an, das Euer Vater vergossen hat.« Er umfasste mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und hob es ruckartig hoch, sodass mein Blick auf den großen Fleck fiel. Mit Schaudern betrachtete ich den Toten, dessen Schicksal ich um ein Haar geteilt hätte.

»Wollt Ihr Euch wirklich auf die Seite eines feigen Mörders stellen?«, raunte Barbarossa in mein rechtes Ohr. Abrupt ließ er mich los, ging zur Leiche und beugte sich seitwärts über den Toten. »Seht Ihr, wie breit der Einstich ist?«, wandte er sich an den Bischof. »Er scheint von einem Küchenmesser zu stammen, wie es benutzt wird, um Brot zu schneiden oder beim Vorlegen an der Tafel Fleisch zu zerkleinern. Bei einem Dolch oder einem Essmesser wäre die Wunde viel schmaler und bei einem Schwert wesentlich breiter.« Er richtete sich auf und schaute mich an. »Ich nehme an, Euer Vater stand vor seinem Opfer. Wibald muss sofort tot gewesen sein, bevor er um Hilfe rufen konnte.«

»Das heißt, Wibald muss sich seinem Mörder gegenüber sicher gefühlt haben, denn sonst hätte er ihn nicht so nahe an sich herangelassen«, spann ich den Gedanken weiter. »Und damit kommt mein Vater als Täter schwerlich in Betracht.«

»In der Tat, dieses Argument spricht für Euren Vater. Es ist allerdings auch das einzige, das man zu seinen Gunsten anführen kann.« Barbarossa bedachte mich mit einem kühlen Blick, aber in seiner Stimme schwang eine gewisse Anerkennung mit.

Der Bischof schlug das Kreuzeszeichen, kniete neben der Leiche nieder und drückte Wibald sanft die Augen zu. Leise murmelte er ein lateinisches Gebet vor sich hin.

Barbarossa runzelte die Stirn. »Hier sind zahlreiche Fußabdrücke, kleine und große. Merkwürdig. Man sollte doch meinen, der Mörder wäre mit seinem Opfer alleine gewesen.«

Im letzten Augenblick unterdrückte ich den Impuls, den Blick zu senken und auf meine Schuhe zu starren. »Im Tiergarten sind viele Leute unterwegs«, gab ich zu bedenken.

»Nur ein Abdruck ist deutlich zu sehen. Und er befindet sich genau vor der Leiche, also an dem Ort, wo der Mörder gestanden haben muss.« Barbarossa zeigte auf eine große Spur, die sich in dem Schlamm abzeichnete. Ich atmete auf. Meine Füße waren wesentlich kleiner.

»Wir werden den Abdruck mit geschmolzenem Wachs ausfüllen«, entschied Barbarossa. Breitbeinig baute er sich so dicht vor mir auf, dass uns nur noch eine Armlänge trennte. Die goldene Spange, die seinen Mantel über dem Schlüsselbein zusammenhielt, schwebte vor meinen Augen. »Meinloh behauptet, er habe Wibald zur Sext noch gesehen. Wo seid Ihr eigentlich um diese Zeit gewesen?«

Instinktiv wollte ich zurückweichen, aber ich riss mich zusammen und stemmte meine Füße in den weichen Boden. Auf keinen Fall durfte ich meine Unsicherheit zeigen. Ich musste so tun, als hätte ich nichts zu verbergen. Ich zwang mich, den Kopf zu heben und fest in die hellen Augen zu blicken, die mich streng musterten. Auf dem Gang zum Tiergarten hatte ich mir schon eine passende Lüge zurechtgelegt. »In den Gassen von Lautern. Ich war vor meinem Vater in der Pfalz und wollte die Zeit nutzen, um Einkäufe zu tätigen.« Bei dem Gewühl, das derzeit in Lautern herrschte, würde niemand diese Behauptung widerlegen können. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf die Reaktion des Kaisers. Glaubte er mir?

Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch. Bevor er mich nach Zeugen fragen konnte, machte ich ihn auf den merkwürdigen schwarzen Flecken knapp unterhalb von Wibalds linker Schulter aufmerksam. »Schaut Euch das an. Ich weiß nicht, welche Schlüsse ich daraus ziehen soll, aber es könnte wichtig sein. Vielleicht ist es eine Spur, die der Mörder hinterlassen hat.«

»Wahrscheinlich hat sich Wibald beim Mittagessen bekleckert«, meinte Barbarossa und wandte sich achselzuckend ab.

Der Kaiser mochte Recht haben – und der Fleck bedeutete nichts weiter und war nur ein eingetrockneter Soßenrest oder etwas Ähnliches. Aber ich erinnerte mich daran, dass Wibald sich beim Weintrinken sorgsam den Mund abgewischt hatte. Er verfügte über ausgezeichnete Tischmanieren, ganz im Gegensatz zu dem Schultheißen und seinem Bruder. Daher schien es mir eher unwahrscheinlich, dass Wibald sich beschmutzt hatte. Aber wie konnte die merkwürdige Verfärbung auf dem Gewand entstanden sein? Es war noch zu früh im Jahr für dunkle Beeren, und mir fiel nichts anderes ein, was einen schwarzen Flecken hinterlassen konnte, so verbissen ich auch nachgrübelte.

Der Kaiser blickte sich suchend um und schüttelte ratlos den Kopf: »Wo ist bloß die Tatwaffe abgeblieben?«

In meiner Aufregung hatte auch ich diesen Punkt bisher völlig übersehen. Die Waffe würde Aufschluss über den Täter geben können – so viel war sicher. Weitere Burgmannen stießen zu unserem kleinen Trupp und schwärmten gleich danach aus, um das Messer zu suchen. Sie ließen keinen Weg, kein Gebüsch und kein Gehege aus. Sie durchkämmten den ganzen Tiergarten.

Aber die Waffe blieb spurlos verschwunden.

Barbarossa ließ keine Zeit verstreichen. Gleich nachdem die Suche im Tiergarten erfolglos abgebrochen worden war, bestimmte er zwei Mitglieder aus seiner Leibwache für die Durchsuchung der Burg Beilstein. Sie sollten überprüfen, ob sich das vermisste Messer bei uns befand. Mir befahl er, seine Männer zu begleiten. Ich wusste nicht, wer von den beiden mir mehr zuwider war: Wilhelm, der gedrungene, rotwangige Anführer, oder der blasse, schmallippige Philipp.

Wilhelm genoss seinen wichtigen Auftrag in vollen Zügen. Seine Augen, die wie aufgesetzte graue Glaskugeln hervorsprangen, strahlten vor Begeisterung. Wahrscheinlich fühlte er sich geschmeichelt, dass Barbarossa ausgerechnet ihn dafür ausgesucht hatte, einen gemeingefährlichen Mörder zur Strecke zu bringen.

Philipp hingegen trennte sich nur ungern von seinem großen Bierhumpen in der Burgküche. Sein fauliger Atem schlug mir entgegen, als er mir in den Sattel half, und er ließ seine Hände dabei ein wenig zu lange auf meiner Taille verweilen. Während des Ritts zum Beilstein glotzte er mich die ganze Zeit über an, als wäre ich eine Kuh, die zum Verkauf feilgeboten wurde.

Als wir endlich auf der Burg ankamen, suchte ich fieberhaft nach einer Möglichkeit, um die verflixte Knochentruhe zu verstecken, aber Wilhelm hielt sich beharrlich an meiner Seite.

Mit Bangen beobachtete ich, wie die Männer Möbel verrückten, in Truhen stöberten, die Betten überprüften, Teppiche ausschüttelten, Heuhaufen durchwühlten, die Tiere aus den Ställen trieben und schließlich über die Leiter in den Bergfried kletterten.

Ich musste sie von der unseligen Truhe ablenken – aber wie? Im Untergeschoss befand sich das Verlies, in das der Verbrecher – sollten wir jemals einen bei uns beherbergen müssen – durch eine Luke in die Finsternis herabgelassen wurde. Mir kam ein vorwitziger Gedanke. »Also, wenn ich ein Mörder wäre, hätte ich das Messer mit Sicherheit ins Verlies fallen lassen«, sagte ich betont beiläufig.

Wilhelm warf mir einen schrägen Blick zu. »Philipp, du siehst unten nach!«, befahl er.

Mit sichtlichem Widerwillen kletterte Philipp am Seil hinunter. Während er lautstark raschelnd mit einem Stock die Binsen hin und her schob, musste ich mich zwingen, nicht zu der Truhe hinüberzusehen, die nur wenige Schritte von uns entfernt in einer dunklen Ecke unter der Treppe stand. Plötzlich hörten wir Philipps entsetzten Ausruf: »Igitt! Hier sind ganz viele Schlangen. Ich komme wieder hoch.« Ungeduldig zerrte er am Strick.

»Das sind bloß Blindschleichen«, rief ich hinunter. Innerlich genoss ich das Spektakel, das mich zumindest ein wenig für die erlittenen Schrecken entschädigte. Je länger dieser Tag andauerte, desto boshafter wurde ich.

»Wir können nicht die Untersuchung abbrechen, nur weil du Angst vor harmlosen Tieren hast. Reiß dich gefälligst zusammen«, herrschte Wilhelm seinen Mann an. Ein schwaches Strohknistern drang zu uns nach oben, aber mir schien, Philipp ging seinem Auftrag mit wenig Begeisterung nach. Überraschend schnell verkündete er: »Ich habe überall nachgesehen, hier ist nichts.«

Wilhelm hatte sich schon zum Gehen gewandt, als sein Blick auf die Truhe fiel. »Was haben wir denn da?«, murmelte er erfreut. »Die Truhe steht in einer dunklen Ecke, ganz so, als wolltet Ihr nicht, dass man sie sieht. Ei, was habt Ihr denn zu verstecken?«

»Gar nichts«, beeilte ich mich zu versichern. »Es ist nur ... äh ... wir haben den Schlüssel verlegt und die Truhe aufbrechen müssen. Jetzt ist sie kaputt. Unter der Treppe steht sie uns wenigstens nicht im Weg.«

Wilhelm fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schritt zur Truhe. »Philipp, leuchte mal hierher«, befahl er.

Gleich war Vaters Schicksal endgültig besiegelt. Ich schloss die Augen. Ich konnte einfach nicht in Wilhelms grinsende Fratze blicken.

Ich hörte ein triumphierendes Schnalzen, dann das Hochklappen des Deckels. Mein Herzschlag setzte aus.

»Leer!« Wilhelms Stimme klang enttäuscht.

Ungläubig öffnete ich die Augen. Hatten sich die Knochen in Luft aufgelöst?

Wilhelm beugte sich über die Truhe, Philipp stand mit der Fackel neben ihm. »Nichts. Noch nicht einmal ein Staubkorn. Das Mistding ist leer.« Wilhelm versetzte der Truhe einen Fußtritt. Er hatte sich schon so nahe am Ziel gewähnt.

Ich hätte jubilieren können. Ein Wunder war passiert, ganz zweifellos! Waren die Gebeine am Ende doch von der heiligen Lutrina, und sie hatte sie unsichtbar gemacht, damit sie nicht von Barbarossas groben Mannen entehrt werden konnten? Oder hatte sie das Wunder gewirkt, um meinen unschuldigen Vater zu schützen?

Auf dem Burghof schlenderte uns Trushard entgegen. Sein Anblick versetzte mir einen Stich. Auch er besaß Messer, sechs Stück sogar, mit denen er äußerst geschickt umzugehen verstand. Er brauchte seinem Opfer noch nicht einmal nahe zu kommen. Argwöhnisch musterte ich seine Miene, aber er zwinkerte mir spitzbübisch zu, ganz so, als führte er etwas im Schilde, und schwenkte dann seine langen Beine lässig an uns vorbei. Sollte ich Wilhelm auf den Messerwerfer aufmerksam machen? Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich dagegen. Womöglich machte es uns in Wilhelms Augen noch verdächtiger, dass wir einen Spielmann beherbergten, der zum unehrlichen Gesindel zählte. Bestimmt glaubte er dann, Vater und Trushard hätten gemeinsame Sache gemacht. Plötzlich bereute ich, dass ich den Knochenpoeten nicht schon heute Morgen fortgeschickt hatte.

Abgekämpft schleppte ich mich hinter den kaiserlichen Männern her, die sich nun das Lager gründlich vornahmen. Im Vorratsraum ließen sie keinen Tonkrug aus, kein Fass, keinen Bottich, keinen Korb. Sogar die Schinken, die von der Decke herabhingen, klopften sie ab.

»Kommt her!« Philipp winkte uns aufgeregt zu sich. Er kniete vor einer Aushöhlung in der Lehmwand und zeigte auf ein Stück Messergriff, das daraus hervorlugte. Entsetzt beobachtete ich, wie sich Wilhelms Fischaugen weiteten, als er näher trat. Ich reckte den Kopf.

Philipp strich sich die lange, dünne Strähne, die ihm ins Gesicht fiel, hinters Ohr und entblößte dabei eine haselnussgroße behaarte Warze auf der linken Seite seiner Stirn. Dann schob er seine Hand in das Versteck und hangelte nach dem Messer. Ich hielt den Atem an.

»Scheiße!« Philipp brüllte so laut, dass ich mir erschrocken ans Herz griff. Angewidert zog er seine Hand heraus, die über und über mit einem braunen Brei bedeckt war und ein altes Küchenmesser umklammerte, an dem nicht der geringste Blutklecks zu sehen war.

Der stechende Gestank nach Pferdeapfel verbreitete sich im Raum. Mit zugehaltenen Nasen stürmten die Männer ins Freie. Um mein schadenfrohes Grinsen zu verbergen, wedelte ich mit den Flügelärmeln vor dem Mund auf und ab.

Philipps unflätige Flüche hallten über den Hof, gespickt mit wüsten Drohungen. »Wenn ich den Mistkerl kriege, der mir diesen Streich gespielt hat, werfe ich ihn ins Verlies und schließe ihm eigenhändig das Halseisen zu!«

Auch in der Küche bekamen die Männer ihr Fett ab. »Was sucht Ihr, ein Messer?«, höhnte Gertrud und stemmte die schwabbeligen Arme in die Hüften. »Ei, da werdet Ihr hier gar viele finden, und einige davon sind sogar blutig.« Feixend zeigte sie die Messer vor, mit denen Elsbeth und sie gerade Fleisch zerkleinerten.

»Die sind beschlagnahmt«, entschied Wilhelm.

Gertrud protestierte wütend: »Und womit sollen wir jetzt das Abendessen vorbereiten? Wir haben Gäste des Kaisers auf unserer Burg.«

Doch Wilhelm ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Esst mehr Fladenbrot«, lautete sein praktischer Ratschlag. Dann steckte er die Messer ein, winkte Philipp zu sich und stampfte aus der Küche.

Gertruds grelles Gekeife dröhnte mir noch in den Ohren, als wir die Kemenate erreichten, in der wir die beiden Hofdamen untergebracht hatten. Eine davon war ausgerechnet jene üppige Blondine, die Siegfried beim Festessen so bewundert hatte. Ich war mir sicher, er würde bald auf unserer Burg auftauchen, um mit der verführerischen Gisla anzubändeln.

Was die eine der beiden Hofdamen an Temperament zu viel besaß, schien der anderen völlig abzugehen. Noch nie hatte ich eine so saftlose Frau gesehen wie Mechthild. Obwohl sie kaum älter als Mitte zwanzig sein konnte, waren ihre Bewegungen schlaff wie die einer Greisin. Weil Mechthild sich schon bei ihrer Ankunft in Lautern unwohl fühlte, hatte Beatrix sie bei uns unterbringen lassen. Sie hoffte wohl, dass ihre Hofdame auf dem Beilstein eher zur Ruhe käme als in der völlig überfüllten Kaiserpfalz. Gisla sollte sich um die Kranke kümmern.

Zielstrebig steuerten die Männer auf die Tür zu. Wilhelm betätigte nur kurz den eisernen Klopfring und öffnete dann schwungvoll die Tür, ohne die Erlaubnis zum Eintreten abzuwarten. Anscheinend wollte er den Hofdamen keine Gelegenheit geben, belastende Beweisstücke verschwinden zu lassen.

Ein schwerer Parfümduft schlug uns entgegen. Gisla hatte die Holzladen vor die Fenster gezogen, um den Raum abzudunkeln. Wilhelm stieß sie energisch auf, wobei er sichtlich bemüht war, den Anblick der überraschten Gisla zu ignorieren. Philipp hingegen verschlang sie mit seinen Blicken. Die Hofdame räkelte sich inmitten des mit feinen Daunendecken ausstaffierten Bettes. Ihr üppiges, honigblondes Haar breitete sich über die weichen Kissen aus. Auf den Hockern hatte sie nachlässig ihre hauchdünnen Seidenkleider drapiert. Neben ihr hob sich ein Berg von Pelzen in regelmäßigen Abständen. Als ich genauer hinsah, erkannte ich dahinter Mechthilds durchscheinendes Gesicht.

»Was habt Ihr hier zu suchen?«, wollte Gisla wissen. Das unerwartete Eindringen der Leibwache schien ihr nicht allzu ungelegen zu kommen. Ich wusste das leise Lächeln, das sie Wilhelm zuwarf, sehr wohl zu deuten.

Leicht stotternd und mit zart fühlenden Umschreibungen teilte Wilhelm ihr den Sachverhalt mit. Gisla raufte sich das Goldhaar, als sie von Wibalds Ermordung erfuhr, und jaulte auf. »Kurz vor der Sext ist er mir noch begegnet.«

Mechthild öffnete noch nicht einmal die Augen. Nur ihr Schnaufen erinnerte uns an ihre Anwesenheit. Wilhelm musterte sie kopfschüttelnd. »Ist sie krank, oder schläft sie so tief?«

»Sie hat Gliederschmerzen und Fieber«, antwortete Gisla mit theatralischem Seufzen. »Deshalb sind wir auch schon nach der Sext auf den Beilstein zurückgekehrt.«

Während die Männer mit der Durchsuchung begannen, trat ich ans Bett und befühlte Mechthilds Stirn. Sie glühte. »Sie hat hohes Fieber«, stellte ich erschrocken fest.

»Trotzdem müssen wir die Damen leider bitten, das Bett zu verlassen«, erklärte Wilhelm. »Die Matratze muss umgedreht werden.«

Gisla reckte sich hoch. »Auf gar keinen Fall«, entgegnete sie entschieden. »Dafür geht es der Kranken viel zu schlecht. Oder wollt Ihr Euch vor der Kaiserin verantworten, wenn Mechthild sich verkühlt und womöglich stirbt?«

Wilhelm verzog mürrisch das Gesicht. »Also schön«, gab er verdrießlich nach. Als er sich zu Vaters schwerer Truhe umwandte, die vor dem Bett stand, schmunzelte Gisla in sich hinein. Sie sah aus wie mein Bruder, wenn er jemandem erfolgreich einen Streich gespielt hatte.

Bei der Räumung der Kemenate hatten wir die Truhe an ihrem Platz gelassen, denn das Zimmer, das Vater, Merbodo und ich uns derzeit zu dritt teilten, war zu klein für das große Möbelstück.

Ich war dankbar, dass mein Bruder diese entwürdigende Szene nicht miterleben musste. Es war richtig gewesen, ihn ins Kloster zu schicken, und ich beschloss, ihn auf jeden Fall noch in den nächsten Tagen dort zu lassen. Abt Stephan würde schon dafür sorgen, dass die Nachricht von dem Mord nicht bis zu dem Kleinen durchdrang.

Wilhelms platt gedrückte Nase zuckte wie bei einem Jagdhund, der schnüffelnd die Fährte aufnimmt. Entschlossen klappte er den Deckel von Vaters Truhe auf und leerte sie Stück für Stück. Ganz oben lagen zwei Paar Schuhe, die er Philipp in die Hand drückte. »Wenn wir zurück in der Pfalz sind, vergleichen wir sie mit dem Wachsabdruck«, kündigte er an.

Als Wilhelm fast den Boden der Truhe erreicht hatte, stutzte er, tastete vorsichtig weiter und zog triumphierend ein in Lappen gewickeltes Päckchen heraus. »Wenn mich nicht alles täuscht, fühlt sich der Inhalt wie ein Messer an.«

Sorgfältig zog er die alten Lumpen auseinander. Bereits die zweite Schicht zeigte rotbraune Flecken, die dritte leuchtete uns tiefrot entgegen. Schließlich hob Wilhelm ein blutbeschmiertes großes Küchenmesser empor, damit es von allen im Raum gut gesehen werden konnte, und schwenkte es wie eine Siegesprämie hin und her. »Hab ich’s doch gewusst! Wer suchet, der findet.«

Gisla setzte sich abrupt im Bett auf.

»Das gibt es doch gar nicht ... das ist doch nicht möglich ...«, stammelte ich. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen.

Wilhelm fuchtelte mit der Messerspitze vor meinen Augen herum. »Erkennt Ihr die Tatwaffe? Stammt sie aus Eurer Burgküche?«

Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, um der Klinge auszuweichen. »Solch ein gutes Messer ist viel zu teuer für uns. Vielleicht hat es der Mörder aus der Küche der Kaiserpfalz entwendet.«

Zum Vergleich zog Wilhelm die Messer hervor, die er Gertrud weggenommen hatte. Für jeden war klar erkennbar, dass sich die Werkzeuge in keiner Weise ähnelten.

Wilhelm schnitt eine verächtliche Grimasse. »Bewahrt Euer Vater öfter bluttriefende Messer in seiner Truhe zusammen mit den Gewändern auf? Ich meine, in der Regel tut man so etwas nicht, es sei denn, man versteckt eine Tatwaffe, oder?«

Betont ruhig gab ich zurück: »Und ich meine, in der Regel versteckt ein Mörder die Tatwaffe wohl kaum in seiner eigenen Truhe, oder? Das wäre doch äußerst dumm, nicht wahr?« Ich setzte noch einen drauf: »Ich bin der festen Ansicht, dass dieses Messer vom Mörder bewusst hier versteckt wurde, um den Verdacht auf meinen Vater zu lenken.«

»Oder es war ein besonders raffinierter Schachzug Eures Vaters, der genau diese Vermutung hervorrufen wollte.« Wilhelm gab sich nicht so schnell geschlagen.

Ich auch nicht. »Warum sollte Vater das Messer in die eigene Truhe legen, anstatt es einfach in die Lauter zu schmeißen oder beim Toten zurückzulassen?«

Wie ein Jagdhund, der sich in seinem Opfer festgebissen hatte, ließ Wilhelm nicht locker. »Vielleicht wurde er gestört, als er das Messer noch in der Hand hielt, und hat es deshalb mitgenommen. Oder er fürchtet, dass die Waffe wiedererkannt wird.« Wilhelm zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass Euer Vater noch bei klarem Verstand ist. Ein Rasender handelt nicht immer logisch.«

»Mein Vater mag zu impulsiv gehandelt haben, aber er ist kein Irrer«, gab ich scharf zurück.

Wilhelm hob mit der Messerspitze langsam mein Kinn empor und sah mich durchdringend an. Der kalte Stahl ritzte meine Haut leicht auf. »Ich bin sicher, Ihr steckt mit Eurem Vater unter einer Decke. Vielleicht habt Ihr sogar Wibald ermordet. Eure Augen haben so etwas Verschlagenes. Mit Euch bin ich noch lange nicht fertig.«

Meine Kehle wurde ganz trocken, aber ich versuchte, Wilhelms Blick möglichst gelassen zu erwidern. Hoffentlich hielt Jost den Mund. Von dem Schultheißen hing jetzt alles ab.

Wilhelm ließ das Messer sinken und wickelte den wichtigen Fund sorgfältig wieder in die blutigen Lumpen. »Einer von Euch beiden hat die Tat begangen, so viel steht fest.«

Ich schrak zusammen, als habe mich eine Wespe gestochen. »Gar nichts steht fest!«, fuhr ich ihn an.

Ehrerbietig wandte Wilhelm sich an Gisla. »Werte Dame, ich bitte Euch vielmals um Verzeihung, aber ich muss auch Euch fragen, ob Ihr das Messer kennt.«

Gisla schüttelte hoheitsvoll den Kopf. Wie zufällig verrutschte dabei das Federbett und entblößte eine runde, weiße Schulter.

Nach einem knappen Abschiedsgruß polterten Wilhelm und Philipp die Treppe hinunter. Fassungslos sah ich für einen kurzen Augenblick zu, wie die Männer Richtung Stall abzogen, bevor ich Ihnen wutentbrannt hinterherlief. Das konnten doch wohl nicht alle Ermittlungen gewesen sein, die sie auf unserer Burg durchführten?

Sie banden gerade ihre Pferde los, als ich außer Atem am Stall anlangte. Ich tippte Wilhelm an die Schulter. Erstaunt drehte er sich um. »Was wollt Ihr denn noch?«, knurrte er mich an.

Ich spürte, wie ich vor Ärger rot anlief. »Was ist mit den Schuhen der anderen Männer? Wollt Ihr sie nicht auch mitnehmen?«

»Wozu?«, gab Wilhelm lässig zurück. »Wir haben doch alles gefunden, was wir brauchen.« Dann schubste er mich zur Seite wie ein lästiges Kind, winkte Philipp zu sich und stapfte hinaus.

Wenn ich Trost und Zuspruch benötigte, verkroch ich mich in der Küche, die ich »unsere Schatzkammer« nannte, denn sie bot alles, was für mich lieb und teuer war: heimelige Wärme, köstliches Essen, stärkende Getränke und aufmunternde Worte. Gertrud besaß hinter ihrer rauen Schale ein Herz aus Butter, und das war auch der Burgbesatzung nicht lange verborgen geblieben. In der Küche war schon mancher Liebeskummer gelindert und mancher Zorn besänftigt worden. Auch ich ließ mich hier gerne aufpäppeln, wenn ich völlig ausgelaugt von einem aufreibenden Besuch bei Kranken oder Sterbenden auf die Burg zurückkehrte.

An diesem Abend, an dem die Nerven blank lagen, benötigte ich die Schatzkammer dringender denn je. Nachdem ich die Tür aufgestoßen hatte, blieb ich zögernd im Rahmen stehen. Nur neben Trushard war noch ein Platz frei. Auf der anderen Seite der Küchenbank saßen Gertrud und Elsbeth. Der Spielmann strahlte mich an, aber ich ignorierte ihn und rückte mir einen Hocker dicht an die Feuerstelle. Bloß nicht neben ihm sitzen. »Ich brauche ein wenig Wärme«, log ich.

Besorgt wie eine Glucke drückte Gertrud mir einen Becher heißen Würzwein in die Hand. Aufmerksam sahen mich alle an. Stockend berichtete ich, was passiert war.

»Ach Gott, ihr Leut!« Das war alles, was Gertrud hervorbrachte. Elsbeth zog den Kopf tiefer in die Haube hinein, wie eine Schnecke, die sich in ihrem sicheren Panzer versteckte.

»Den wahren Mörder zu finden ist so unmöglich, als wolle man versuchen, mit dem Sieb Wasser zu holen«, sagte ich mutlos.

Aber Trushard nickte mir aufmunternd zu. »Ihr werdet es schaffen, das weiß ich«, verkündete er und stach zur Bekräftigung mit dem knochigen Zeigefinger in die Luft. »Der Kaiser hat Unrecht. So ein Schuft wie der Wibald wird viele Feinde gehabt haben. Nicht nur Euer Vater hatte allen Grund, Wibald zu hassen.« Das stimmte. Auch dem Knochenpoeten hatte er übel mitgespielt.

Ein heftiger Luftzug ließ die Kräuterbündel, die wir zum Trocknen neben den Eingang gehängt hatten, rascheln. Siegfried drückte seinen mächtigen Schädel durch die niedrige Tür, dann quetschte er schnaufend den Wanst hinterher. Seine dunkelblonde Wallemähne war feucht von dem Regen, der inzwischen wieder eingesetzt hatte, und glänzte im Schein des Feuers. Das Holz der Bank gab einen ächzenden Laut von sich, als er seinen mächtigen Leib neben Trushard ausbreitete.

»Keine Sorge, Rotrud, wir haben deinen Vater noch nicht gefunden«, beruhigte Siegfried mich, noch ehe ich ihn danach fragen konnte, und nahm von Gertrud dankbar einen stärkenden Trunk entgegen. »Unsere Burgmannen haben sich bei der Suche allerdings auch nicht durch besonderen Eifer hervorgetan.«

Der Beilsteiner Fels auf meiner Brust wurde zum ersten Mal seit dem Mord ein wenig leichter. »Wann wird die Suche fortgesetzt?«

Es gluckerte vernehmlich, als Siegfried den Becher in einem Zug leer trank. »Morgen nach dem Frühstück. Ich werde die Männer zum Dansenberg schicken. In der Nähe von Barbarossas Jagdhaus wird sich dein Vater wohl kaum aufhalten.«

»Danke für deine Unterstützung, Siegfried. Du riskierst viel für uns. Aber pass auf, dass du den Bogen nicht überspannst«, warnte ich ihn. »Der Rotbart hat euch euer Verhalten bei Vaters Flucht sehr übel genommen.«

Siegfried zuckte die Achseln. »Er hat getobt, aber sein Brüllen ging bei mir zum einen Ohr hinein und zum anderen gleich wieder hinaus. Bestrafen kann er uns nicht. Langsamkeit ist schließlich kein Verbrechen. Wer einen so mächtigen Leib hat wie ich, kann eben nicht schnell rennen.« Grinsend klopfte Siegfried auf seine stramme Wampe.

»Was wird er erst sagen, wenn er von dem Messerfund erfährt?«, grübelte ich.

Siegfried sah mich fragend an, und ich erzählte ihm, was in der Zwischenzeit auf der Burg geschehen war.

Der Bruder des Schultheißen zog die Stirn kraus. »Er wird von der Schuld deines Vaters noch mehr überzeugt sein«, seufzte er und hielt Gertrud den Becher hin. Widerwillig sprang sie auf und schenkte nach. Er nahm einen tiefen Schluck, rülpste und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Der Kaiser kennt deinen Vater nicht so gut wie wir. Niemals wäre Merbodo zu einem feigen Mord fähig. Ein Zweikampf nach ritterlichen Regeln – ja, aber doch kein heimtückisches Erstechen. Er ist schließlich ein Mann und kein Feigling.«

Seine Worte waren wie Balsam auf meiner wunden Seele. Ich bereute, dass ich oftmals so unfreundlich zu Jost und Siegfried gewesen war. Die beiden waren echte Freunde, die uns auch in der Not treu zur Seite standen. »Siegfried, eure Hilfe werde ich euch nie vergessen.«

Ich versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. »Bei der Suche nach dem Mörder müssen wir logisch vorgehen«, dachte ich laut nach. »Als Täter kommt nur in Betracht, wer erstens gegen Mittag im Tiergarten war und zweitens nach dem Mord die Gelegenheit gehabt hat, das Messer in unserer Truhe zu verstecken. Zur Sext lebte Wibald noch. Danach ging er sofort in den Tiergarten. Ich schätze, er dürfte kurz vor dem Regenguss dort angekommen sein.«

Ich schätzte es nicht, ich wusste es. Nicht nur Trushard, auch mir gingen die Lügen mittlerweile leicht von den Lippen.

Trushard nickte zustimmend und ergänzte: »Ihr sprecht von einem Mörder. Vergesst nicht, Wibald könnte auch von einer Frau umgebracht worden sein. Es erfordert keine Kraft, einen Mann zu erstechen. Und der Fundort der Leiche, ein verschwiegenes Plätzchen im Park, könnte auf ein heimliches Stelldichein hindeuten.« Als Minnesänger dachte Trushard gleich an eine Liebelei. Er hatte wohl gar nichts anderes im Kopf.

»Aber der sichergestellte Fußabdruck ist viel zu groß für eine Frau«, meinte Siegfried. Er schüttete den Rest des heißen Weins in sich hinein und wedelte nach Gertrud. »Trinkt doch gleich aus dem Kessel«, knurrte sie ihn an und knallte ihm den aufgefüllten Becher hin. Die winzigen Härchen ihres Damenbartes bebten vor Empörung. Siegfried grinste breit. »Ich muss mich stärken nach der anstrengenden Suche.«

Fasziniert beobachtete ich, wie Trushard mit den Ohren wackelte. »Der Abdruck muss nicht unbedingt vom Mörder stammen«, gab er zu bedenken. »Außerdem könnte sich eine besonders raffinierte Frau auch Männerschuhe anziehen, um den Verdacht von sich abzulenken. Schließlich sah es nach Regen aus, und der Mörder musste damit rechnen, Fußspuren zu hinterlassen.«

»Ich habe mir von Barbarossas Männern den Abdruck besorgt«, warf Siegfried ein, mit einem schlauen Glitzern in den Augen. »Habe ihnen versprochen, ihn zu Wilhelm hier auf die Burg zu bringen.« Er lachte dröhnend. »Wer konnte ahnen, dass ich ihn hier gar nicht mehr antreffe?«

Ich strahlte ihn dankbar an, als er den wachsgelben Abdruck aus seiner Tasche zog und uns zeigte. So viel Einfallsreichtum hätte ich Siegfried gar nicht zugetraut.

»Ich brenne darauf, mir alle Schuhe auf dieser Burg vorzunehmen und mit dem Abdruck zu vergleichen«, stellte Siegfried grinsend fest.

»Bestimmt hat der Mörder die Schuhe gut versteckt oder in die Lauter geworfen«, sagte ich mutlos. »Immerhin hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass es eine wichtige Fußspur gibt.« Trübselig starrte ich in meinen Becher und überlegte, ob ich meine Schuhe wegwerfen sollte, auch wenn ich nur sehr undeutliche Abdrücke hinterlassen hatte. Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich dagegen. Schuhe waren viel zu teuer.

»Befragt doch Euren Torwächter«, schlug Trushard vor. »Er kann genau sagen, wer nach Einsetzen des Regens auf Eurer Burg ein- und ausgegangen ist. An Gero kommt niemand ungesehen vorbei. Und da es völlig unmöglich ist, am helllichten Tag heimlich über Eure hohen Wehrmauern zu steigen, wissen wir dann genau, wer als Mörder – oder Mörderin – infrage kommt.« Die Glöckchen an seinen Schuhen bimmelten leise, als er vorsichtig versuchte, die langen Beine unter dem Tisch zu entwirren und ein wenig zu dehnen. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, sprang Gertrud auf und lief los, um Gero zu holen.

In der Küche wurde es still. Um mich zu beruhigen, starrte ich in das prasselnde Feuer und genoss die Wärme, die von ihm ausstrahlte. Burgküchen waren in der Tat Schatzkammern, bei denen früher oder später jeder einmal vorbeischaute. Daher waren die Küchenbediensteten in der Regel gut unterrichtet über alles, was in ihrer Nähe passierte. Auch in der Kaiserpfalz.

Mit einem Mal zuckte mir eine Idee durch den Kopf, wie ein fernes Wetterleuchten am Horizont. Zunächst erschien sie mir abwegig, aber je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel sie mir. Nach und nach nahm der Plan Gestalt an. Über alles, was mit dem Mord zusammenhing, musste ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Welcher Ort wäre für Erkundigungen besser geeignet als Barbarossas Küche, aus der wahrscheinlich auch die Tatwaffe stammte? Zwar würde gegenüber der Tochter eines verdächtigen Mörders niemand reden. Aber was wäre, wenn ich einfach in eine andere Haut schlüpfte? Bei einem Spielweib würden sich die Zungen der Bediensteten lockern, da war ich mir sicher. Und mit Trushard an meiner Seite wäre die Täuschung perfekt. Das hieße dann allerdings, dass ich den Knochenpoeten erst einmal nicht fortschicken konnte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als seine Gegenwart noch einen Tag länger zu ertragen. Tief in meinem Inneren bedauerte ich es allerdings nicht wirklich.

Ich streckte die klammen Finger aus und wärmte sie am Feuer, bis sich Geros schmale Gestalt zögernd durch die Tür schob.

»Nimm doch Platz und trink einen Schluck Wein mit uns«, forderte ich unseren Torwächter auf. »Vermutlich hat Gertrud dir gesagt, worum es geht. Nun, wer ist außer Vater heute Mittag auf die Burg gekommen? Wer könnte das Messer bei uns versteckt haben?«

Fragend schaute ich in Geros einziges Auge, aber er wandte den Blick ab. Nachdenklich zupfte er die helle Binde zurecht, mit der er die rechte Augenhöhle bedeckte, trat ein paar Schritte auf uns zu und blieb zwischen Tisch und Feuerstelle stehen. »Unsere kaiserlichen Gäste kehrten in der fraglichen Zeit alle auf die Burg zurück. Zuerst kam so ein schmächtiger kleiner Mönch ohne Gefolge, ich glaube, er hieß Rainald.« Gero kratzte sich am Kopf. »Danach traf der strenge Abt mit den Eisaugen ein. Kurz vor Euch klopfte die hübsche Dame an das Burgtor. Sie begleitete die Kranke, die ständig hustete und sich kaum noch auf dem Pferd halten konnte.«

»Waren das alle?«, forschte ich weiter.

Gero warf dem Spielmann einen abschätzigen Blick zu. Fast triumphierend sagte er: »Nein, auch der Knochenpoet ließ sich heute Mittag mal wieder blicken, nachdem er sich vorher weiß Gott wo herumgedrückt hatte. Eine ganze Weile nach Beginn des Regens musste ich ihn einlassen.« Unwillkürlich hielt ich den Atem an und musterte Trushard. Er spießte Gero mit seinen Augen förmlich auf.

»Ist nicht auch der arme Arnold heute Mittag vorbeigekommen?«, warf Gertrud ein.

Stirnrunzelnd gab Gero zu: »Stimmt. An den Einsiedler hatte ich gar nicht mehr gedacht. Aber der fromme Arnold zählt wohl kaum zu den Verdächtigen.«

Ich sah Gero genau ins Gesicht, aber er wich meinem Blick beharrlich aus. »Ich glaube fest an die Unschuld unseres Burgherrn«, erklärte er. »Er ist ein anständiger Mann. Ganz im Gegensatz zu dem zwielichtigen Gesindel, das sich auf den Straßen herumtreibt.«

Das war auf Trushard gemünzt, ganz klar. Ich musste Gero von dem unseligen Thema ablenken und stellte ihm hastig eine letzte Frage: »Warst du die ganze Zeit über an deinem Platz, oder hast du ihn zwischendurch verlassen?«

»Nein, Herrin, ich habe seit dem Mittag bis jetzt durchgehend Wache gehalten, wie es sich gehört.«

Der Täter befand sich also mitten unter uns. Meine Beine fühlten sich plötzlich ganz weich an. Mit Sicherheit würde der Mörder erneut versuchen, mich ein für alle Mal loszuwerden. Gegenüber dem Gesinde durfte ich mir meine Angst nicht anmerken lassen. Ich schluckte schwer, dann fasste ich die Ergebnisse zusammen, wobei ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken: »Wir haben mehrere Verdächtige, die die Gelegenheit hatten, das Messer bei uns zu verstecken. Beim Abendessen werde ich sie näher in Augenschein nehmen. Vielleicht bekomme ich etwas heraus.«

»Abendessen – das klingt verlockend für einen hungrigen Mann«, ertönte vom Eingang eine melodische Stimme. Überrascht drehte ich den Kopf zur Tür.

Meinloh lächelte uns an und verkündete: »Kaiser Friedrich hat mich angewiesen, meine Unterkunft auf den Beilstein zu verlegen. Ich soll für ihn ein wachsames Auge auf die Vorgänge in dieser Burg halten und zusammen mit einem Mitglied der Leibwache für die Sicherheit der Angehörigen des Hofes sorgen. Und darüber hinaus meinte er, es könnte auch nicht verkehrt sein, die Stimmung unter seinen Leuten, die hier untergebracht sind, mit etwas Musik zu heben.«

Zumindest in einem Punkt musste ich Barbarossa Recht geben: Die Atmosphäre auf unserer Burg war unerträglich gespannt. Als Aufpasser hatte der Kaiser ausgerechnet den dümmlichen Philipp zurückgeschickt, der sich bei der Durchsuchung schon vor harmlosen Blindschleichen gefürchtet hatte. Bevor die Gäste in den Saal zum Abendessen durften, hob er jeden Wandbehang hoch und vergewisserte sich, dass es dahinter tatsächlich kein Versteck und keine Geheimtür gab. Er kroch sogar unter die grob gezimmerte Holztafel und die Bänke, obwohl jeder auf den ersten Blick sehen konnte, dass dort kein Meuchelmörder saß. Mit dem Schwert wühlte er in den Binsen herum. Die Einzigen, die er dabei aufscheuchte, waren ein paar kleine Mäuse. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen sah sich Philipp beim Essen ständig in unserem düsteren Saal um, der nur von wenigen Kienspänen und dem Feuerschein des Kamins erhellt wurde. Das Schwert hatte er demonstrativ neben sich auf die Eichenbank gelegt.

Kein Wunder, dass sich die Gäste trotz – oder wegen? – seiner Anwesenheit äußerst unbehaglich fühlten. Lustlos löffelten sie ihre Suppe und hielten sich beim Wein auffallend zurück, gerade so, als ob sie lieber einen klaren Kopf behalten wollten. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Wenn ich auf einer fremden Burg untergebracht wäre und die Tochter eines entflohenen Mörders zur Gastgeberin hätte, würde ich mir auch Sorgen um mein Wohlergehen machen. Aber in ganz Lautern herrschte Raumnot, und es gab kein halbwegs angemessenes Ausweichquartier für die höfischen Gäste. Meinloh hatte mir berichtet, dass der Kaiser außerdem davon ausging, dass sich Vaters Wut einzig gegen Wibald richtete, sodass nicht mit weiteren gefährlichen Vorfällen zu rechnen war.

Meinloh war der Einzige, der gelassen wirkte. Er saß zwischen Abt Ottino und mir auf der Bank und kritzelte hingebungsvoll auf seiner Wachstafel herum. Mittlerweile hatte ich den Eindruck, sie wäre mit seiner linken Hand fest verwachsen, so selten legte er sie zur Seite. Ich bedauerte, dass er geistesabwesend war, denn ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten. Er war ganz anders als die Männer aus Lautern, gebildet und von gepflegtem Äußeren. Ich genoss den Duft von Rosenwasser, der ihn einhüllte. Sein Vers über meine Smaragdaugen fiel mir ein. Noch nie hatte ich einen Mann inspiriert. Ob sich Meinloh wohl ernsthaft für mich interessiert hätte, wenn mein Vater nicht als Mörder verdächtigt würde?

Mir wurde bewusst, dass ich heute vielleicht zum letzten Mal das Abendessen in solch vornehmer Gesellschaft verbringen würde. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde ich künftig ebenso wie Trushard in der Burgküche essen müssen, zusammen mit Knechten und Mägden. Falls ich überhaupt etwas zu essen bekam. Ich würde bald auf dieselbe Stufe wie Trushard sinken, nein, sogar noch darunter, denn im Gegensatz zu ihm besaß ich keine ausgebildeten künstlerischen Fähigkeiten und wäre auf die Barmherzigkeit frommer Christen angewiesen.

Ich riss mich zusammen. Dem Selbstmitleid konnte ich mich immer noch ergeben, wenn ich als Bettlerin am Straßenrand saß. Jetzt musste ich meine Kräfte anspannen und jede Gelegenheit nutzen, um Licht in das Dunkel zu bringen. Am besten fing ich mit unseren Gästen an. Ich musste sie genau beobachten. Jede Auffälligkeit konnte einen wichtigen Hinweis liefern.

Zu meiner Rechten saß Rainald, ein schmächtiger Mönch mittleren Alters, der bis vor kurzem in der kaiserlichen Kanzlei gearbeitet hatte. Er kaute auf jedem winzigen Bissen so lange herum, als wolle er ihn noch im Mund verdauen. Mit den herabhängenden Schultern und den nach unten fallenden Mundwinkeln machte er einen verbitterten Eindruck. Seine verschiedenfarbigen Augen verwirrten mich. Das linke Auge funkelte wie ein Bernstein, während das rechte unergründlich dunkel war. Wirre braune Haare bedeckten die Tonsur wie Gestrüpp, das den Boden überwuchert. Schon lange waren sie nicht mehr nachgeschnitten worden. Die schwarze Kutte wies ihn als Angehörigen des Benediktinerordens aus. Konnte ein Mörder so harmlos aussehen?

Meinloh hatte mir vor dem Abendessen erzählt, dass Rainalds Dienst in Barbarossas Kanzlei vor kurzem beendet worden war. Dabei hatte er ihn erst im Oktober aufgenommen. Niemand bei Hofe konnte sich einen Reim darauf machen. Jetzt befand sich Rainald noch im kaiserlichen Tross, um seinen Nachfolger einzuarbeiten. Aber da seine Dienste nicht mehr dringend benötigt wurden, hatte man ihn auf unserer Burg und nicht in Barbarossas Nähe untergebracht.

Der Mönch hatte bisher noch kein Wort gesprochen. Ganz im Gegensatz zu Gisla, die immer wieder versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Aber mir war nicht nach Reden zumute. Mit ihren dicken Goldketten sah die Hofdame wie eine wandelnde Schatztruhe aus. Ihr kirschrotes Seidengewand raschelte leise, als sie mit ihrer ringgeschmückten Hand den Rotweinbecher hob, um einen tiefen Schluck zu nehmen. Ich musste zugeben, dass sie eine höchst verführerische Frau war. Ihre Kleidung erfüllte nur einen Zweck: die Männer neugierig zu machen auf das, was sich darunter befand. Jede Rundung ihres Körpers war ein erotisches Versprechen, und mir war schon zu Ohren gekommen, dass sie es äußerst bereitwillig einlöste. Das war sicherlich auch der Grund, warum Beatrix ausgerechnet Gisla als Krankenpflegerin auf den Beilstein geschickt hatte. Bestimmt ging sie davon aus, dass hier die Auswahl männlicher Opfer geringer wäre.

Aber da hatte sie die Rechnung ohne Siegfried gemacht, der sich sofort neben die verführerische Hofdame an die grob gezimmerte Holztafel gesetzt hatte. In ihrem sündhaften Tun waren er und Gisla einander ebenbürtig. Sie waren sozusagen Fleischesverwandte. Ganz behutsam rutschte sie während des Essens immer näher an Siegfried heran.

Die Kaiserin und der Marschall, die für die Unterbringung der Gäste zuständig waren, hatten eine geschickte Auswahl getroffen. Der stille Rainald und der strenge Abt waren passende Gesellschafter für die allzu lebensfrohe Gisla.

Mein Blick wanderte zu Ottino. Der Abt stammte aus dem schwäbischen Prämonstratenser-Kloster Rot an der Rot und suchte Barbarossa auf, um von ihm die Bestätigung alter Rechte zu erbitten. Ottinos hageres Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Seine Nase war so spitz und dünn, als ob er mit ihr die Luft zerschneiden wollte. Wie ein Silberreif umgaben die grauen Haare die exakt geschnittene Tonsur. Auf der ungefärbten Wollkutte prangte eine schwere goldene Kette mit einem auffälligen Kreuz aus Granatsteinen. Aufrecht, als habe er eine Lanze verschluckt, saß Ottino mir gegenüber und nagte sorgfältig ein Hühnerbein ab. Er war äußerst schlecht gelaunt. Dass wir ihm auf unserer Burg kein eigenes Zimmer bieten konnten, kränkte ihn in seiner Abtwürde. Und dann hatten wir auch noch sein Gefolge auf dem Entersweiler Hof unterbringen müssen, weil wir einfach nicht genügend Platz hatten. Außerdem war er darüber verärgert, dass das Abendessen wegen der aufregenden Ereignisse erst so spät aufgetragen wurde. Den nächstbesten Anlass würde Ottino nutzen, um seine Wut abzulassen. Und ich ahnte auch schon, wen er sich als Opfer ausgesucht hatte.

Mit seinen eisblauen Augen verfolgte Ottino misstrauisch jede Bewegung von Gisla, die Siegfried mit einem gespielt hilflosen Lächeln um sein Messer bat. Verblüfft beobachtete ich, wie dieser Hüne von Mann rot anlief, als er ihr zuvorkommend das Fleisch zerteilte. Danach tunkte er vor lauter Verwirrung sein Brot in den Wein statt in die Bratensoße.

Als Gisla so nah an Siegfried heranrutschte, dass sich ihre Schultern fast berührten, hielt sich Ottino nicht mehr länger zurück und fauchte die Hofdame an: »Nach allem, was heute geschehen ist, solltet Ihr besser in Euch gehen anstatt weiterhin Eurer Wollust nachzugeben.«

Den scharfen Tadel nahm Gisla völlig ungerührt zur Kenntnis. Gelassen säbelte Siegfried weiter am Braten herum und legte seiner Sitznachbarin ein besonders zartes Stück auf die Brotscheibe. Um Meinlohs Mundwinkel spielte ein feines Lächeln. Er legte endlich seine Wachstafel zur Seite und nahm sich ein Stück Wildschweinpastete.

Anklagend richtete Ottino sein Hühnerbein auf Gisla. »Die Leiche Eures Liebhabers ist noch nicht erkaltet, da sucht Ihr Euch schon Ersatz.«

Fast hätte ich mich an meinem Stückchen Brot verschluckt. Ausgerechnet Wibald und Gisla waren ein Paar gewesen? Wie konnte eine so attraktive Frau wie Gisla diesen Dreckskerl nur freiwillig anfassen? Selbst ein Weib, das nicht mehr Verstand besaß als ein Schmalztopf, musste doch merken, mit was für einem Schuft sie es zu tun hatte!

Unbarmherzig fuhr Ottino fort: »Wie man mir berichtet hat, war es Wibald, der die Beziehung beendet hatte, oder? Vor Wut sollt Ihr damals die Lieblingsstickerei der Kaiserin zerrissen haben.«

Meine Ohren wurden plötzlich riesengroß. Gisla hätte einen Grund gehabt, Wibald umzubringen. Endlich hatte ich einen Fingerzeig, wo ich mit meinen Nachforschungen ansetzen konnte.

Gisla verlor die Geduld. »Was geht Euch das eigentlich alles an? Wollt Ihr mir auch noch in meinem Bett hinterherschnüffeln?«

Ottino legte das abgenagte Hühnerbein zur Seite und hob mahnend den Zeigefinger. »Eva war es, die Adam zur Sünde verführte«, sagte er mit so schneidender Stimme, dass der schreckhafte Philipp zusammenzuckte. »Ohne dieses elende Weib würden wir alle noch im Paradies leben. Die wankelmütigen Frauen bedürfen einer strengen Zucht, um nicht dem Teufel anheim zu fallen. Wir Priester sind für ihre Seelen verantwortlich. Und Ihr seid eine ganz besonders verdorbene Vertreterin Eures Geschlechts! Vergesst nicht, körperliche Liebe zwischen Mann und Weib, die nicht miteinander verheiratet sind, ist eine Todsünde!«

Neugierig schaute ich Rainald an. Würde er sich nun auch ereifern? Doch der Mönch starrte nur ausdruckslos den Löffel an, auf dem ganze fünf Erbsen lagen, hob ihn an den Mund und schluckte sie herunter, brav wie ein Junge, der nur seiner Mutter zuliebe etwas isst.

Ich kannte solche Ermahnungen schon zu lange von unserem Priester aus Sankt Martin, um mich darüber aufzuregen. Für die Geistlichen waren wir Frauen ohnehin nur halb so viel wert wie Männer, und die Geschichte mit Eva würde uns wohl bis ans Ende aller Tage angelastet. Nur merkwürdig, dass die Priester niemals Kain erwähnten. Immerhin wurde der erste Mord von einem Mann begangen. Dagegen nahm sich der Genuss eines Äpfelchens doch recht harmlos aus.

Honigsüß war der Tonfall, in dem Gisla widersprach: »Ehrwürdiger Vater, findet Ihr nicht, dass die Maßstäbe ein wenig schief sind, mit denen die Kirche uns arme Sünderlein beurteilt? Wieso wird nach dem kirchlichen Bußkatalog ein Übermaß an Leidenschaftlichkeit zwischen Eheleuten mit zehn Tagen Fasten bestraft, während ein Mann, der einem anderen die Zunge herausreißt, mit vierzig Tagen davonkommt?«

Ich hielt den Atem an. Gisla balancierte auf dem schmalen Abgrund zur Ketzerei und ließ es eindeutig an Ehrerbietung gegenüber dem Abt fehlen. Aber sie hatte Recht. Wie gut, dass kein fanatischer Kleriker hinter die Bettvorhänge des kaiserlichen Paares blicken konnte, denn sonst würde das Reich zugrunde gehen. Nach dem kirchlichen Bußkatalog müsste sich Barbarossa auf ewig von Brot und Wasser ernähren, da er seine Beatrix sicherlich feuriger liebte, als die Priester billigen konnten. Aber ein vom ständigen Fasten geschwächter Herrscher besaß wohl kaum genügend Kraft für die anstrengenden Regierungsgeschäfte.

Ottino erhob sich so ruckartig, dass Meinloh neben ihm auf der Bank ins Schwanken geriet. »Schweigt endlich! Etwas mehr Frömmigkeit stünde Euch wohl an. Noch ist es nicht zu spät. Geht in Euch, meine Tochter!« Dann schritt er zornentbrannt aus dem Saal.

Während des ganzen Essens hatte Rainald kein einziges Wort gesprochen.

Das Muster von Trushards Narbengeflecht hätte ich mit geschlossenen Augen nachzeichnen können. Wie schon am Abend zuvor rieb ich ihm seinen Rücken vor dem Schlafengehen mit meiner Ringelblumensalbe ein, um die Schmerzen zu lindern. Ich tat es nur aus christlicher Barmherzigkeit, redete ich mir ein.

Gestern hatten wir uns ins Lagerhaus zurückziehen müssen, aber da mein Vater und mein Bruder heute fort waren, hatten wir mein kleines Zimmer im Bergfried für uns. Es war eigentlich nicht schicklich, dass ich mit Trushard alleine war, aber ich wollte den anderen nicht preisgeben, was Wibald ihm angetan hatte. Der Knochenpoet wurde ohnehin auf unserer Burg misstrauisch beäugt. Nur Gertrud und die Kinder hatten ihn in ihr Herz geschlossen.

Trushard saß auf einem Hocker vor dem Bett und duftete nach süßem Lavendel. Mit Vaters Kleidung hatte er auch den Geruch unserer Familie angenommen, denn ich legte kleine Kräutersäckchen in die Truhe, um das Ungeziefer fern zu halten. Der Wohlgeruch milderte den säuerlich-fettigen Gestank des Talglichts, das ich auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett abgestellt hatte. Es erhellte das dunkle Zimmer nur spärlich und warf flackernde Schatten auf Trushards vernarbten Rücken.

Ganz vorsichtig strich ich die Salbe auf seine Wunden. Ich genoss die Berührung seiner Haut und ertappte mich dabei, dass ich die Behandlung länger als notwendig ausdehnte. Ich widerstand der Versuchung, mit den Fingerspitzen seinen Nacken hochzuwandern, den er so gerade hielt, als trüge er auf dem Haupt die Königskrone, mit meinen Lippen die flaumigen Haarwirbel zu erspüren und mit den Händen das undurchdringliche Gewirr schwarzer Spirallocken auseinander zu zupfen, eine nach der anderen, bis ich sehen konnte, was sich darunter verbarg. Mein Blick glitt über die mageren, aber muskulösen Arme, die er regelmäßig trainierte, um Kraft für das Messerwerfen aufzubauen. Wie viele Frauen er darin wohl schon gehalten hatte?

Trushard schloss die Augen und spannte die Schultern an.

»Tut es weh?«, fragte ich besorgt.

Er schüttelte den Kopf. »Eure Salbe ist sehr wirksam. Ich kann mich schon viel besser bewegen. Ich bedauere, dass ich Euch keinen erfreulicheren Anblick als einen geschundenen Rücken bieten kann.«

»Ich habe auch meine Narben davongetragen, nur kann man sie im Gegensatz zu Euren nicht sehen«, erwiderte ich. Ich war mit dem Einreiben fertig und ließ die Arme in den Schoß sinken.

Den ganzen Tag über hatte ich mich zusammengerissen, weil ich niemanden merken lassen wollte, wie es um mich stand. Aber jetzt, in der Abgeschiedenheit meines Zimmers, konnte ich die Tränen nicht länger unterdrücken. Sie kitzelten mich, als sie über meine Wangen flossen. Ich fühlte mich wie ein zitterndes Blatt, das mit letzter Kraft am Ast hängt. Nur um Haaresbreite war ich heute dem Tod entronnen. So schnell konnte das Leben zu Ende sein. Es war nicht mehr als eine Nebelbank, die flüchtig vorüberzog, um sich ebenso rasch, wie sie entstanden war, wieder aufzulösen. Der Mörder konnte jederzeit erneut zuschlagen.

Die Glöckchen klingelten, als sich Trushard auf dem Hocker umdrehte und mit dem Ärmel sorgsam meine Tränen abtupfte. »Bei der Suche nach dem Mörder könnt Ihr auf mich zählen«, sagte er leise.

Ich würgte den Tränenkloß hinunter, der sich in meiner Kehle zusammenballte. »Wisst Ihr, was das Schlimmste ist? Mein eigener Vater ist für mich zum Fremden geworden. Wilhelm hat heute gesagt, Vater sei nicht mehr bei klarem Verstand. Und ich fürchte, er hat damit sogar Recht.«

Mitfühlend sah Trushard mich an. »Habt Ihr Verwandte, die Euch im Notfall aufnehmen können?«

Ich schüttelte den Kopf. »Vater hat sich nach Großmutters Tod so abweisend verhalten, dass es auch die gutmütigsten irgendwann aufgegeben haben, uns zu besuchen oder einzuladen.«

Trushard nahm meine Hände. Seine Haut war wohltuend warm. Wie selbstverständlich lagen seine Finger auf meinen Oberschenkeln. Die sanfte Berührung drang durch den Stoff der Gewänder und löste ein atemberaubendes Kribbeln aus. Der Anblick seiner nackten Brust machte mich verlegen. Die Rippen zeichneten sich deutlich ab. Verschämt starrte ich auf das verzauberte Knochenkreuz, das um seinen Hals hing. Eigentlich müsste ich ihn jetzt in die Schranken weisen, aber seine Liebkosung war so tröstlich, dass ich ihn gewähren ließ.

Trushard ließ meine Rechte los und fuhr mit den Fingerspitzen sachte, fast unmerklich über den Rücken meiner linken Hand. Ich fühlte mich, als habe man mir einen Liebestrank eingeflößt, der durch die Adern rauschte und mein Blut in Wallung brachte. Ich hangelte nach dem letzten Rest meines Willens, um das sündige Fleisch zu bezwingen. Hatte Abt Ottino vielleicht doch Recht? Waren wir Frauen von Natur aus schwach und gaben allzu leicht unseren Begierden nach? Nur eine schöne Hülle war Trushards Körper, nichts weiter, ermahnte ich mich. Irgendwann würde er verwesen und zu Staub zerfallen. Die unsterbliche Seele, die sich in ihm verbarg, war gewiss durch und durch verdorben und würde ihn in die Hölle hinabzerren.

Eine anständige Frau würde Trushard jetzt in freundlichem, aber bestimmtem Ton auffordern, das Zimmer zu verlassen. Aber richtige Damen mussten auch keine Mörder suchen.

Errötend senkte ich den Blick und betrachtete seine sonnengebräunten Hände, die biegsamen, langen Finger und die Adern, die unter seiner Haut bläulich durchschimmerten. Kleine Tintenflecke an den Fingern seiner linken Hand verrieten mir, dass er lesen und schreiben konnte, was für einen einfachen Spielmann durchaus nicht selbstverständlich war. War er etwa ein entlaufener Priester oder ein Student, dem das Hocken über den Büchern zu langweilig geworden war? »Was ist eigentlich mit Eurer Familie?«, fragte ich neugierig.

Versonnen starrte er in die kleine Flamme des Talglichts. Behutsam barg er meine Linke in seinen Händen. Wenn er sie doch nur nie wieder losließe. Ich schloss kurz die Augen und betete innerlich zur heiligen Margarete um Standhaftigkeit. Meine Verwirrung war so groß, dass ich seine Worte nur mit Mühe aufnehmen konnte. »Mein Vater ist ein reicher Kölner Tuchhändler«, sagte Trushard leise. »Aber dort, wo bei anderen Menschen ein Herz schlägt, klirrt bei ihm ein Geldbeutel. Tag für Tag war ich eingepfercht in seinem stickigen Kontor, das die Größe eines Hühnerstalls besitzt, musste endlose Zahlenkolonnen berechnen und einen Stoffballen nach dem anderen überprüfen. Ein stumpfsinniges Dahinvegetieren.«

»Und deshalb habt Ihr ein Leben im Luxus gegen ein armseliges Vagabundendasein eingetauscht?«, fragte ich ungläubig.

Nachdenklich entgegnete Trushard: »All der Luxus dient nur dazu, die Leere in sich selbst auszufüllen. Das ist wirklich armselig. Ich brauche keine Seidengewänder, um glücklich zu sein, aber frisches Grün um mich herum, die Wolken über mir und jede Menge Musik und Tanz!«

»Ihr habt bestimmt viel von der Welt gesehen«, sagte ich neidisch. Als ich noch in Saulheim lebte, war ich ab und an sogar bis an den Rhein gekommen, hatte Mainz, Ingelheim und Worms besucht.

»Bis nach Santiago de Compostela bin ich gepilgert«, erzählte Trushard stolz. Seine Augen leuchteten auf. »Aber am schönsten war es in Okzitanien. Die Menschen dort lieben Musik und ehren die Minnesänger. Ganz im Gegensatz zu den Deutschen, die uns Spielleute wie elendes Pack herumschubsen. Von den okzitanischen Troubadouren habe ich viel gelernt. Und die melodischen Laute ihrer Sprache passen so wundervoll zur Musik.« Trushard spielte mit den Fingern meiner linken Hand. Mein Herz setzte aus, nur ein winziges Wimpernzucken lang, dann hatte ich mich wieder im Griff.

Ich räusperte mich. »Warum seid Ihr ins Reich zurückgekehrt?« Meine Stimme klang so heiser, dass ich erschrak. Mit Sicherheit sah er mir an, wie es um mich stand.

»Ich hatte Heimweh. Aber nach der liebevollen Behandlung, die Wibald mir angedeihen ließ, habe ich beschlossen, endgültig nach Okzitanien zu ziehen. Verständigungsprobleme werde ich nicht haben, denn die Sprache der Troubadoure beherrsche ich mittlerweile fließend.« Er lächelte mich an. »Lautern liegt auf dem Weg nach Frankreich. Es war eine äußerst glückliche Fügung, dass der Kaiser ausgerechnet jetzt hier weilt. Gestern habe ich viel Geld verdient, das wird eine ganze Weile reichen.« Zufrieden zeigte er auf den prall gefüllten Beutel, der zusammen mit dem Rock und dem Gürtel auf dem Bett lag.

Er umschloss mein Handgelenk. Bei allen Heiligen, warum musste er mich jetzt so merkwürdig ansehen? Lag Sehnsucht in seinem Blick, oder bildete ich mir das ein? Seine Augen waren schwarz wie die Hölle, in der er einst landen würde, und mich würde er mit sich reißen, wenn ich nicht aufpasste. Um meine Verlegenheit zu überspielen, forschte ich weiter: »Warum seid Ihr ausgerechnet Messerwerfer geworden?«

Trushard grinste. »Messerwerfer erhalten die doppelte Entlohnung. Außerdem erregt man mit dieser Kunst auf jedem Jahrmarkt großes Aufsehen.« Er wurde wieder ernst. »Aber im Gegensatz zu anderen würde ich nie mit Messern werfen, wenn ein Mensch am Brett steht. Ich hätte dann so viel Angst, ihn unabsichtlich zu verletzen, dass ich nicht mehr sicher zielen könnte. Und ich achte darauf, dass die Zuschauer immer weit genug entfernt sind, denn ab und an kommt es schon einmal vor, dass ein Messer von der Scheibe abprallt.«

Eine Vermutung beschäftigte mich schon den ganzen Abend. Ich hob Trushards Hände hoch und schnupperte daran. »Hm, das riecht noch ein ganz klein wenig nach Pferdeapfel«, sagte ich und schnalzte genießerisch mit der Zunge. »Vermutlich nach jenem Apfel, der einen gewissen kaiserlichen Mann so erzürnt hat.« Erneut zog ich die Nase kraus. »Außerdem hängt noch das beißende Aroma unserer Seife an Euren Fingern. Ein vergeblicher Versuch, sich zu reinigen, würde ich sagen.«

Über unsere Hände hinweg fing ich Trushards Schmunzeln auf. Eine weitere Frage drängte sich mir auf. »Wieso haben Wilhelm und Philipp Eure Messer heute nicht gefunden? Die ganze Burg wurde auf den Kopf gestellt.«

Trushard lachte laut auf. »Mein Handwerkszeug war an dem sichersten Ort untergebracht, den man sich vorstellen kann.« Er legte den Kopf schief und linste mich schelmisch an.

»Und der wäre?« Ich hasste es, ihm alles aus der Nase ziehen zu müssen. Er spielte Katz und Maus mit mir, ließ mich absichtlich vor Neugier zappeln.

In seinen dunklen Augen blitzte es auf. »Unter dem üppigen Körper von Gisla.«

»Wie bitte?« Empört ließ ich seine Hände los.

»Wenn Ihr wütend seid, seht Ihr mit Euren grünen Augen aus wie eine fauchende Wildkatze«, spöttelte er. »Keine Sorge, ich habe die Hofdame nicht angerührt. Sie hat die Messer unter ihrer Matratze versteckt, weil sie meinte, die Männer würden sich bestimmt nicht trauen, eine Schwerkranke wie Mechthild aus dem Bett zu scheuchen.«

Ein schrecklicher Verdacht stieg in mir auf. »Liegt sie etwa auch auf den Knochen?«

»Euer Verstand ist so scharf wie meine Messer. Als die Leibwache anrückte, hat Gertrud mich gebeten, die unseligen Gebeine zu verstecken. Welche Bitte könnte ich Eurer reizenden Köchin schon abschlagen? Unter Einsatz meines Lebens habe ich sie daher schnell aus der Truhe geräumt und in den Palas geschafft.«

Abrupt wechselte er das Thema. »Redet nicht so um den heißen Brei herum, Rotrud. Euch interessiert doch in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Das fahrende Gesindel gehört immer zu den Ersten, die verdächtigt werden. Und Gero hat ja fast triumphierend herausposaunt, dass ich genau zur richtigen Zeit auf die Burg zurückkam und mich damit sozusagen zum Abschuss freigegeben.«

»Ich glaube nicht, dass Ihr fähig wärt, einen Menschen kaltblütig umzubringen«, versicherte ich hastig.

Offen blickte er mich an. »Ich wollte ungestört dichten. Nachdem ich die Nacht in Lautern verbracht hatte, bin ich morgens in der Nähe der Kranichswiese geblieben. Die Vögel können bezeugen, dass ich da war. Als der Regen einsetzte, bin ich zum Beilstein zurückgelaufen. Allerdings habe ich mich dabei ein wenig verirrt.«

Unbehaglich rutschte ich auf dem Bett herum. Die Kranichswiese lag im Osten, kurz hinter dem Marktflecken, auf dem Weg zum Beilstein. Vom Tiergarten, der sich westlich von Lautern befand, würde es eine ganze Weile länger dauern, auf unsere Burg zurückzukehren. Doch Trushard hatte sich verlaufen. Zeitlich würde bei ihm alles zusammenpassen. Und er hatte keine Zeugen. Unsere Burgbesatzung, die fest zu Vater hielt, würde jetzt den Knochenpoeten verdächtigen. Verlegen räusperte ich mich. »Habt Ihr Euch von Wibald zurückgeholt, was Euch gehört?«

Trushard deutete auf seinen Geldbeutel. »Auf den Pfennig genau. Es ist die Summe, die ich verloren habe, weil ich wochenlang nicht auftreten konnte, der Preis für mein Maultier, die Behandlungskosten und ... hm ... eine kleine Entschädigung für die erlittenen Schmerzen. Ich finde, dabei ist Wibald noch ganz gut weggekommen. Wenn ich ein ehrbarer Mann wäre, hätte man ihm für meine Misshandlung die Hand abgeschlagen.«

Ein wenig bang sah er mich an, als wartete er darauf, ob ich ihn dafür verurteilen würde. Er hatte Wibald bestohlen. Aber zu meinem eigenen Erschrecken fand ich richtig, was er getan hatte. Heute hatte ich begriffen, dass Recht und Gerechtigkeit zwei grundverschiedene Dinge waren, die nur selten in Einklang miteinander standen. Trushard seufzte erleichtert auf, als ich ihn anlächelte. »Und wie seid Ihr an das Geld gekommen?«, forschte ich nach.

Er zwinkerte mir zu. »Spätabends, als Wibald noch beim Festessen saß und es bereits dunkel war, bin ich durch das Fenster in sein Zimmer geklettert. Das Gästehaus der Pfalz ist zum Glück mit Efeu überwuchert. Ausnahmsweise kam mir zustatten, dass ich so wenig wiege. Und nichts ist leichter, als Fensterläden von außen aufzuhebeln. Dazu braucht man nur ein Messer, das man in die Ritze schiebt.«

»Ihr habt eine Menge verbrecherischer Talente, die aber ohne jeden Zweifel äußerst nützlich sind.« Ich beugte mich ein wenig zu ihm vor. »Wärt Ihr bereit, mir zu helfen?«

»Natürlich«, antwortete Trushard, ohne zu zögern. Unsicher legte ich ihm meinen Plan dar. Würde er mich für verrückt erklären?

Aber er lachte leise in sich hinein. »Ich liebe es, Leute an der Nase herumzuführen.«

Ich atmete auf, nicht nur wegen seiner Unterstützung, sondern weil er noch einen Tag länger bleiben würde. Gib zu, du bist froh, dass du einen Vorwand gefunden hast, um den Abschied hinauszuzögern, wisperte mir eine boshafte Stimme in meinem Inneren zu.

Trushard stand auf und schlüpfte in den Rock. »Was ist eigentlich bei dem Vergleich der Schuhe mit dem Wachsabdruck herausgekommen?«, fragte er scheinbar beiläufig.

»Auf unserer Burg sind die Schuhe, die der Mörder benutzt hat, jedenfalls nicht, oder sie sind sehr gut versteckt«, erwiderte ich seufzend. Ich hatte das mit Siegfried zusammen überprüft. Anschließend hatte er den Abdruck wieder eingesteckt, um ihn in die Kaiserpfalz zurückzubringen.

An der Tür drehte sich Trushard noch einmal um. »Ihr könnt mir vertrauen, Rotrud. Ich bin Spielmann geworden, um den Menschen Freude zu bringen, nicht den Tod.«

Stirnrunzelnd hockte ich in meinem Zimmer vor dem Kleiderhaufen und überlegte, ob ich alles zusammengetragen hatte, was ich für den großen Auftritt benötigte. Ein roter Rock und ein weißes Hemd von Vater, gelbe Beinlinge von Merbodo, ein grünes Kleid von mir – mein neues Gewand würde in allen Regenbogenfarben schillern! Meinen gelben Schal wollte ich zu einem Turban winden und mit Pfauenfedern verzieren, die ich im Tiergarten aufzutreiben gedachte. Weiße und rote Schminke besaß Trushard. Als Gürtel würde ein einfacher Strick genügen, schließlich wollte ich mich nicht in eine feine Hofdame verwandeln.

Mein Blick fiel auf das Talglicht, das das Zimmer nur schwach erhellte. Wenn ich die ganze Nacht hindurch nähen musste, würde es nicht reichen. Verdammt, es blieb mir nichts anderes übrig, als mich noch einmal in die Dunkelheit zu wagen und im Lager Kerzen zu holen.

Bisher war ich ein Kind der Nacht gewesen. Wenn die brodelnde Burg abends zur Ruhe kam, war ich frei. Dann fiel die Anspannung des Tages von mir ab, und für kurze Zeit konnte ich die Last der Verantwortung für die Burg ablegen, wie einen schweren Korb, den man über eine weite Strecke getragen hat und endlich zur Seite stellen kann. Ich genoss die Stille, freute mich über die Geborgenheit des Bettes, das gleichmäßige Atmen von Vater und den warmen Körper meines Bruders, der sich an mich kuschelte. Besonders aber liebte ich die unendliche Weite des glitzernden Sternenhimmels, der mir wie eine Ahnung der Ewigkeit erschien. Obwohl unser Pfarrer immer wieder beteuerte, die Toten befänden sich entweder bei Gott, in der Hölle oder im Fegefeuer, glaubte ich fest daran, dass die Seelen der Verstorbenen am nächtlichen Firmament schwebten. Irgendwo da draußen mussten sie sein, meine Schwester, meine Mutter und meine Großmutter, und wenn ich die Sterne betrachtete, fühlte ich mich ihnen ganz nahe.

Seit heute Mittag jedoch war die Nacht nicht mehr mein Zufluchtsort, sondern mein größter Feind, denn in der Dunkelheit ließ sich trefflich morden. Ich wusste nicht, wem ich auf unserer Burg trauen konnte. Aber es war leider nur zu wahrscheinlich, dass mitten unter uns ein Mörder weilte.

Ich horchte an den mit Holzläden fest verschlossenen Fenstern, dann presste ich mein Ohr an die Tür. Tiefe Stille. Sicherheitshalber legte ich mir den Gürtel um und befestigte meinen Dolch daran. Zum Schutz vor der nächtlichen Kälte schlang ich mir den gelben Schal um die Schultern. Ganz behutsam klinkte ich die Tür auf, schob mich hinaus und zog sie hinter mir zu. Das Licht ließ ich im Zimmer stehen, weil ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Ich kannte mich gut genug aus, um mich auch in der Finsternis zurechtzufinden.

Ich wartete ein Weilchen, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann tappte ich auf Zehenspitzen die Treppe hinab. Als ich vor dem Eingang des Bergfrieds anlangte, atmete ich auf. Die erste Hürde war geschafft. In Ottinos und Rainalds Zimmer blieb es ruhig. Sachte öffnete ich die Tür, die ächzend aufschwang. Erschrocken hielt ich inne. Es half nichts. So ungern ich mich auch von meinem Schal trennte, ich musste ihn opfern. Um das laute Knallen beim Zuschnappen zu vermeiden, stopfte ich ihn zwischen die Tür und den Rahmen.

Eine Böe fegte über den Hof. Ich erschauerte und schlang die Arme um meine Schultern. Ängstlich spähte ich über den verlassenen Hof, der in silbergraues Mondlicht getaucht war, dann wagte ich mich die Treppe des Bergfrieds hinunter.

Mir war, als ob ich das Knarzen der Holzbrücke gehört hätte, die den runden Turm mit der Oberburg verband. Ich zuckte zusammen und sah vorsichtig über die Schulter zurück. Nichts. Es waren wohl nur Bäume gewesen, die im Wind geächzt hatten. Meine überreizten Sinne spielten mir einen Streich.

Unten im Entersweiler Hof schlug ein Hund an. Obwohl er ein gutes Stück entfernt war, schallte sein Bellen in der nächtlichen Stille bis auf die Burg hoch. Vom Beilsteiner Felsen erklang der lang gezogene Ruf eines Waldkauzes. Ich bemühte mich, vorsichtig aufzutreten, aber ich konnte nicht vermeiden, dass der Kies unter meinen Füßen knirschte, während ich zum Vorratsgebäude lief. Das Geräusch kam mir so laut vor, dass ich dachte, die ganze Burgbesatzung müsste davon aufwachen.

Über den Himmel zogen weiße Wolkenfelder, die ab und an funkelnde Sterne enthüllten. Vor mir lag die pechschwarze Schlucht zwischen dem drohend aufragenden Beilstein und dem Palas. Nicht der winzigste Mondstrahl drang hierher. Ich wünschte, ich hätte doch das Talglicht mitgenommen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Ich biss die Zähne zusammen und wagte mich in die undurchdringliche Finsternis. Nicht einmal meine Hand konnte ich vor Augen erkennen. Wilde Panik überfiel mich. Ich musste alle Kraft aufbieten, um nicht einfach wegzurennen. Wenn der Mörder nun doch nicht schlief und mir auflauerte? Ich spitzte die Ohren. Hatte ich hinter mir das Knirschen von Schritten gehört? Hastig vergewisserte ich mich, dass niemand zu sehen war.

Ein zartes Rebecspiel ertönte. Plötzlich sah ich die Knochentruhe vor mir, mitten auf dem Weg. Sie öffnete sich, und entsetzt beobachtete ich, wie ein Skelett herauskletterte, das in fahle Fetzen gehüllt war. Lange, rote Haare fielen über die Schulterknochen. Langsam fing es an, sich zu dem Rebecspiel im Takt zu wiegen, und winkte ein zweites Gerippe zu sich, an dem die Überreste eines weiten Frauengewandes flatterten. Hand in Hand tanzten sie durch die Luft. Ich wollte fortlaufen, aber wie gebannt blieb ich stehen. Ein Schauer kroch meine Wirbelsäule hoch.

Immer mehr Gebeine kamen dazu, fügten sich in den Reigen ein, drehten sich links im Kreis, immer schneller und schneller. Voller Grauen hörte ich ein leises Wehklagen, dann ein gebieterisches Wispern in meinem Ohr: »Komm zu uns!” Hatte Hildegunde mich gerufen?

Ein eisiger Hauch streifte meine Wange. Schon spürte ich eine knochige Hand auf meiner Schulter, da erklang Trushards warme Stimme, die ein heiteres Frühlingslied sang. Ich erkannte es sofort wieder, denn er hatte es uns am ersten Abend vorgetragen.

Ich schüttelte mich und rieb mir die Augen. Unsinn. Es gab keine umherirrenden Seelen. Die Nähe des Todes, die ich heute erfahren hatte, musste meine Sinne verwirrt haben. Von wegen Rebecspiel und Gesang. Mit seinem Raunen hatte mir der Wind etwas vorgegaukelt. Die Wirklichkeit war schlimmer als jeder Spuk. Jammernde Geister waren immer noch harmloser als ein Mörder aus Fleisch und Blut. Und wenn ich mich jetzt nicht weiter vorwärtstraute, würde ich den Verbrecher niemals zur Strecke bringen.

Endlich hatte ich den Eingang zum Vorratsgebäude erreicht. Die Tür schwang fast lautlos auf. Gut, dass wir die Scharniere noch vor kurzem eingeölt hatten. Der Geruch nach geräuchertem Schinken und gesalzenem Fisch schlug mir entgegen. Ich tastete mich vorwärts. Gleich rechts in der Ecke mussten die Honigkerzen liegen, die ich mir nun als Belohnung für meine Tapferkeit gönnen würde. Wenn ich schon die ganze Nacht über nähen musste, wollte ich wenigstens nicht von einem stinkenden Talglicht eingenebelt werden, sondern mich am süßen Wachsduft erfreuen.

Als ich eintrat, stieß mein Knie gegen etwas Hartes, das krachend umfiel. Ich langte danach, erspürte einen Schemel und stellte ihn leise wieder auf. »Mist!«, fluchte ich. Elsbeth war bestimmt wieder zu faul gewesen, um ordentlich aufzuräumen. Verzagt lauschte ich. Rührte sich irgendetwas oder schliefen alle weiterhin tief und fest?

Mit den Händen fuhr ich über den rauen Putz, als ich mich an der Wand vorsichtig entlangschob. Ich zählte die Schritte. Bis zur Ecke mussten es ungefähr acht sein. Geschafft. Die Kerzen lagen auf dem hintersten Bierfass. Erleichtert nahm ich vier Stück an mich und tappte zurück zur Tür.

Als mir draußen die frische Luft entgegenschlug, atmete ich auf. Ein kurzes Stück Finsternis, dann lag wieder der mondbeschienene Hof vor mir. Fast beschwingt eilte ich auf den Bergfried zu. Um ein Haar wäre ich in einen dicken Haufen Pferdeäpfel getreten. Welcher Trottel hatte die Tiere in den Hof gelassen? Sie sollten doch unten in den Ställen bleiben! Verärgert wich ich nach links aus.

In diesem Augenblick hörte ich ein Surren hinter mir, dann durchzuckte mich ein stechender Schmerz am rechten Oberarm. Neben mir schlug ein Pfeil auf dem Boden auf. Ein erstickter Schrei brach aus meiner Brust. Instinktiv raste ich auf den rettenden Bergfried zu, der nur wenige Schritte entfernt war. Ich hetzte die Stiege hoch, ein zweiter Pfeil flog heran, verfehlte mich knapp und traf den Türrahmen. Hastig verschwand ich im sicheren Turm, riss den Schal hoch und rannte in mein Zimmer.

Mit fahrigen Händen schloss ich fest hinter mir ab. Hier im Bergfried war ich sicher. Ich lauschte hinaus. Es war immer noch still, mein Schrei war wohl nicht laut genug gewesen, um jemanden aufzuwecken.

Ich überlegte, ob ich um Hilfe rufen sollte. Aber es war zu spät. Der Mörder würde sich längst verdrückt haben. Außerdem hegte ich nicht das geringste Interesse daran, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Denn was sollte ich antworten, wenn jemand wissen wollte, warum ein Mörder hinter mir her war? Wilhelm würde dieser Frage hartnäckig nachgehen und bestimmt herausfinden, dass ich zur Tatzeit im Tiergarten gewesen war. Dann saßen Vater und ich noch tiefer in der Klemme, und Wilhelm würde triumphierend behaupten, ich hätte den Anschlag auf mein Leben nur vorgetäuscht, um von der eigenen Schuld abzulenken.

Morgen Früh wollte ich Jost um Hilfe bitten. Ihm würde schon etwas einfallen. Das war die letzte Nacht, die ich alleine durchstehen musste.

Wer auch immer für den Pferdeapfel verantwortlich war – ich segnete ihn in Gedanken. Mit seiner Nachlässigkeit hatte er mir das Leben gerettet. Die kleine Wunde am Oberarm schmerzte zum Glück nur wenig. Der Pfeil hatte mich lediglich gestreift.

Ich zitterte am ganzen Leib. Kraftlos sank ich auf das Bett, dann heulte ich los. Zum zweiten Mal war ich heute dem Tod nur um Haaresbreite entkommen. Der Mörder würde keine Ruhe geben, bis er mich hatte. Aber welcher gottverfluchte Höllenhund war hinter mir her?

Der Knochenpoet / Das Flammensiegel

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