Читать книгу Das Amulett der Seherin - Susanne Krauß - Страница 5
PROLOG AUF DEM SÄCHSISCHEN ERESBERG, IM FRÜHJAHR 747
ОглавлениеAuch ohne die Runen zu befragen, wusste Veleda, dass an diesem Tag etwas Bedeutsames geschehen würde. Ihre Knochen raunten es ihr zu, als sie nach einem kurzen, unruhigen Schlaf erwachte.
Je erfahrener sie als Seherin wurde, desto weniger war sie für ihre Weissagungen auf die mit Zeichen versehenen Holzstäbchen angewiesen, denn im Laufe der vielen Jahre war sie mit den Runen eins geworden. Sie waren in ihren Körper gekrochen, hatten sich in ihre Knochen geritzt und in ihr Blut geschlichen. Seitdem bewegten sie sich mit ihrem Herzschlag, sie kribbelten in ihren Fingern, rauschten in ihren Ohren, tauchten vor ihren geschlossenen Augen auf, wanderten über ihre Haut und drängten über die Zunge aus ihr hinaus.
»Eihwaz, Perthro und Algiz«, murmelte sie vor sich hin. Während sie sich auf ihrem weichen Lager dehnte und streckte, grübelte sie über die Botschaft nach, die ihr die Götter für diesen Tag zukommen ließen. Die Rune Eihwaz, die an zwei miteinander verschmolzene Haken erinnerte, stand für den Weltenbaum, der die neun Welten miteinander verband: Ganz oben thronten die Götter in Asenheim und Wanenheim, und auch die Lichtelfen besaßen dort ihren Wohnsitz. Darunter kam die Welt der Menschen, umgeben von dem Reich der Feuerriesen und dem eisigen Nebelheim, wo auch ein böser Drache sein Unwesen trieb. In der Unterwelt hausten die Zwerge und die Riesen. Außerdem befand sich dort das Totenreich der Göttin Holda. Veleda ging davon aus, dass sich die Rune Eihwaz in diesem Fall auf die Irminsul bezog, jene Nachbildung des Weltenbaumes, die den Sachsen als eines ihrer größten Heiligtümer galt und in deren Nähe sie wohnte. Auch die sich nach rechts öffnende Rune Perthro vermochte sie mühelos zu deuten. Sie symbolisierte den Brunnen der Weisheit am Fuße des Weltenbaums. Gewiss eine Anspielung auf das Fest zu Ehren der Göttin Holda, das gleich in der heiligen Quellenhöhle stattfinden würde.
Aber Algiz? Die Rune sah aus wie der Abdruck eines Vogelfußes und wurde mit den Raben des höchsten Gottes Wodan und der Totengöttin in Verbindung gebracht. Sie stand für Schutz und Verteidigung, für Leben und Tod, weshalb sie auch die Rune der Helden war. Manchmal schickten die Götter dieses Zeichen als Warnung. Wollten sie Veleda mitteilen, dass bei dem Fest in der Quellenhöhle etwas Unerwartetes, womöglich gar Schreckliches geschehen würde? Doch was konnte das sein? Ein kriegerischer Überfall der Franken? Die Späher hatten nichts gemeldet. Ein Unwetter? Veleda erhob sich von ihrem Lager und spähte durch die Ritzen der Fensterläden. Der kornblumenblaue Himmel und die ersten gleißenden Sonnenstrahlen versprachen einen schönen Frühlingstag.
Sollte sie dem Gaufürsten Bescheid sagen? Immerhin lag die Irminsul auf demselben Berg wie die Eresburg. Sie entschied sich dagegen. Da kein feindlicher Angriff drohte, würde sie ihn nur unnötig beunruhigen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als das einschneidende Ereignis auf sich zukommen zu lassen.
Was auch immer es sein mochte, sie fühlte sich der Herausforderung nicht gewachsen, denn sie war völlig übermüdet. Mitten in der Nacht war sie zu einem Schwerkranken gerufen worden, und als sie sich endlich wieder auf ihr Lager hatte betten können, war ihr trotz der kühlen Luft der Schweiß aus allen Poren gebrochen. Aber sie kam in die Jahre, in denen der monatliche Blutfluss allmählich versiegte, und litt oft unter einer plötzlich aufwallenden inneren Hitze. Ja, sie wurde allmählich alt. Viel zu viele silberne Fäden lichteten ihr dunkles Haar, und der Faltenkranz um ihre Augen wurde immer dichter und tiefer. Es wurde höchste Zeit, dass sie eine Nachfolgerin ausbildete, aber Veleda hatte noch kein Mädchen getroffen, das würdig genug gewesen wäre, zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen zu vermitteln.
Sie wusch den Schweiß von ihrem nackten Körper ab, dann streifte sie die kostbare Glasperlenkette über und schlüpfte in das Gewand aus Tierhäuten und Federn, das sie als Seherin auswies. Fast schon angeekelt kleidete sie sich in den langen dunkelblauen Wollmantel, der bei der Festlichkeit unverzichtbar war, um ihrer Erscheinung die nötige Würde zu verleihen. Eigentlich liebte sie ihn, weil er von den Schultern bis zu den Hüften mit besonders hübschen bunten Steinchen besetzt war, aber sie würde in dem Mantel noch mehr schwitzen.
Dabei benötigte sie gerade an diesem Tag einen kühlen Kopf und einen kühlen Leib, um klar denken zu können, wenn das Unerwartete geschah. Veleda fragte sich, warum ihr die Götter nur Andeutungen hatten zukommen lassen und keine genaue Warnung. War sie unwürdig, weil sie nicht wie ihre gleichnamige Vorgängerin nahe bei den Göttern in einem Turm hauste, sondern bei den Menschen in einem ganz gewöhnlichen Haus aus Lehm, Holz und Stroh? Beleidigte sie die prunksüchtigen Götter, weil sie bescheiden lebte?
Doch Veleda fand, dass sie sich an ihrer Gabe nicht bereichern durfte, und so nahm sie nur in den seltensten Fällen teure Geschenke an. Eine Ausnahme bildeten die warmen Felle, die der Gaufürst ihr geschenkt hatte aus Freude über die Geburt des lang ersehnten Sohnes, der dank ihrer Hilfe gesund auf die Welt gekommen war. Sie polsterten die Bänke, die sich an den Wänden des einzigen Raumes entlangzogen, sodass sie nachts weich schlafen und tagsüber gemütlich sitzen konnte. Ansonsten war die Einrichtung sehr schlicht. In der Mitte des Hauses befand sich die mit Steinen eingefasste Feuerstelle. Der Rauch zog durch eine Öffnung im Dach ab. Auf dem Holzklotz, den sie mit einem weißen Tuch bedeckt hatte, befragte sie ihre Runen. In der Ecke neben dem Eingang war aus einem Gestell und einem langen Brett ein Tisch aufgebaut worden, den sie jedoch nicht zum Essen, sondern zur Herstellung von Salben, Tränken, Räucherwerken und Umschlägen benutzte. Um den Kranken Heilung bringen zu können, sprach sie mit den mächtigen Geistern der Pflanzen, befreite die guten unter ihnen und bändigte die bösen, damit sie den Menschen durch ihr Gift keinen Schaden zufügen konnten. Das ganze Häuschen duftete nach den Kräutern, die Veleda überall im Raum verteilt zum Trocknen aufgehängt hatte oder die frisch gepflückt auf ihrer Arbeitsplatte lagen.
Immerhin musste sie ihr Heim nicht wie die meisten anderen Menschen mit dem Vieh teilen. Von dankbaren Ratsuchenden wurde sie mit allem versorgt, was sie zum Leben benötigte. Als Seherin war sie von körperlich harter Arbeit befreit, denn sonst wären die Götter beleidigt worden.
Aber diese Vorrechte hatten einen viel zu hohen Preis: die Einsamkeit. Wer jederzeit für die Götter und die Menschen da sein musste, durfte weder einen Gatten noch Kinder sein Eigen nennen. Wie oft wachte sie morgens mit tränennassen Augen auf, weil sie im Traum die Hände eines Mannes an ihrem Körper gespürt oder einen Säugling in den Armen gehalten hatte! Doch Seherinnen mussten bis an ihr Lebensende rein und jungfräulich bleiben, weil sie sonst die Gabe verloren, mit den Göttern zu sprechen. Als Hexe konnte Veleda den Zaun, der die Welt der Menschen von der Welt der Götter trennte, überwinden und deshalb wurde sie beinahe wie eine Göttin verehrt, aber manchmal wünschte sie sich, sie könnte weniger unnahbar sein und stattdessen einfach nur eine Frau wie alle anderen – eine Frau, die lieben und sich auch einmal an einer starken Schulter anlehnen durfte.
An diesem Morgen war das Bedürfnis nach Beistand überwältigend groß. Resigniert nahm sie den Eschenholzstab mit dem aufgesetzten Knauf aus Messing in die Hand. Er schien ihr schwer wie ein Baumstamm, aber sie musste ihn immer bei sich tragen, denn er war ein Zeichen ihrer Würde. Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das weiche Lager, dann gab sie sich einen Ruck und verließ ihr Heim.
Sie schritt an den Häusern der Priester vorbei und wandte sich nach rechts, zum heiligen Hain, der von den Göttern bewohnt wurde. Bäume waren am Anfang der Welt aus den Haaren des Ur-Riesen Tuisto entstanden. Das erste Menschenpaar war von den Göttern aus einer Esche und einer Ulme geschaffen worden. In den Bäumen ehrte man die Götter selbst, und deshalb durfte man den Hain nur gefesselt betreten, als sichtbares Zeichen dafür, dass der Mensch seine Unterlegenheit ihnen gegenüber anerkannte. Wer strauchelte, durfte sich nicht erheben und auch nicht aufhelfen lassen, sondern musste sich am Boden wieder hinauswälzen. Um böse Geister vom Hain fernzuhalten, hatte Veleda Pferdeschädel in die Wipfel der Bäume gesetzt und an den Ästen Tierknochen aufgehängt. Auch Kranke suchten den Hain auf, und so mancher verließ ihn geheilt, nachdem er sich an der labenden Gegenwart der Götter gestärkt hatte.
Veleda fühlte, wie ein Schauer über ihre Wirbelsäule kroch, als sie in die Nähe des Hains gelangte. Sie hatte gehört, dass die Christen ihren Gott zwischen steinernen Mauern verehrten, doch die sächsischen Götter waren zu wild und mächtig, um sich einsperren zu lassen. Veleda hatte das deutliche Gefühl, dass die Götter ihr vom Hain aus eine Botschaft zuflüstern wollten. Doch ihr Raunen wurde übertönt von den vielen Menschen, die an ihr vorbeigingen und sie ehrerbietig grüßten.
Von Weitem schon hörte sie das fröhliche Stimmengewirr der Menge, die vor der Irminsul auf sie wartete. Mehrere Hundert Bewohner der Eresburg und der umliegenden Dörfer hatten sich versammelt. Veleda erfreute sich an dem bunten Bild, das sich ihr bot. Im Alltag zogen die meisten ungefärbte Kleider an, aber nun waren alle zu Ehren der Göttin festlich herausgeputzt mit leuchtenden Gewändern. Wer es sich leisten konnte, trug bunte Glasperlenketten, goldene Scheibenfibeln oder silberbeschlagene Gürtel. Die Mädchen hatten die offenen Haare mit Kränzen aus frischen Blumen oder Wasserpflanzen geschmückt. In den Händen hielt jeder die Gabe, die er gleich beim Fest der Göttin Holda opfern wollte: ein Kräuterbündel, eine mit Speisen gefüllte Tonschale oder ein frisch gebackenes Brot. Wer die Göttin besonders liebte oder sie um Hilfe bitten wollte, hatte für sie ein wertvolleres Geschenk mitgebracht: Ketten, Fibeln, Ringe und Dolche funkelten im Schein der hellen Morgensonne.
Da jeder mit seinen Kümmernissen zu Veleda kam, wusste sie genau, welche Herzenswünsche die Göttin erfüllen sollte. Zum Beispiel sehnte sich Sonnhild, die Frau des Pferdezüchters, schon seit ihrer Hochzeit vor drei Sommern nach eigenen Kindern. In Holdas Reich warteten die ungeborenen Säuglinge darauf, zu ihren Eltern zu gelangen, und Sonnhild hoffte, die Göttin mit ihrer Opfergabe, einem silbernen Armreif; gewogen zu stimmen. Um Holda noch mehr zu ehren, hatte sich Sonnhild außerdem dazu bereiterklärt, in einem Weidenkorb alles mitzubringen, was für die Feier benötigt wurde: Putzlappen, um die Quellränder zu reinigen, Moos und Efeu, um sie zu schmücken, sowie einen Krug, um das heilige Wasser zu schöpfen, mit dem Frauen besprengt werden sollten, die sich ein Kind wünschten. Aber Veleda wusste, dass Sonnhilds Opferbereitschaft nichts nutzen würde. Mehrfach hatte sie die Runen befragt, und die Antwort der Götter war jedes Mal niederschmetternd gewesen: Sonnhild war unfruchtbar. Es hatte Veleda besonders leidgetan, ihr das sagen zu müssen, weil die gutmütige und kluge Frau die beste Mutter wäre, die sich ein Kind nur wünschen könnte. Und ihr Mann Oswin war ohnedies vom Schicksal schwer geschlagen, hatte er doch schon vor Jahren bei einem Überfall der Franken kurz vor der geplanten Hochzeit jene Frau verloren, die seine erste Liebe gewesen war. Doch vor Kurzem hatte Veleda auf Sonnhilds Drängen die Runen noch einmal befragt und dabei voller Erstaunen erfahren, dass sich Sonnhilds Familie vergrößern würde.
Weit über all die Kümmernisse und Sorgen der Menschen hinaus ragte die Irminsul, denn die gewaltige Säule aus Eschenholz war höher als ein Wachturm. Ihre Spitze lief in zwei Bogen aus, die sich teilten und über der wartenden Menge ausbreiteten, als wären sie Arme, die sich schützend über sie legten. Dazwischen thronte ein Adler. Dieser weise und mächtige Vogel saß auch in der Krone des Weltenbaumes. Völlig frei, von keinem Bauwerk oder Baum bedrängt, stand die Irminsul am höchsten Punkt des Eresberges. Nur ein niedriger Weidenzaun trennte sie von der wartenden Menge. Man erzählte sich, sie würde den Himmel abstützen, und in der Tat drängte sich dieser Eindruck jedem auf, der das Heiligtum betrachtete. Vom Fuß der Irminsul aus genoss man einen weiten Blick über das Land. Wenn sie allein in dieser luftigen Höhe war, fühlte sich Veleda den Göttern ganz nahe. Gleichgültig, was geschehen würde, die Irminsul war unzerstörbar. Aus dieser Gewissheit schöpfte Veleda neue Kraft.
Die Gläubigen wichen zurück, als die Seherin mitten durch die Menge hindurchschritt, den Eschenholzstab fest mit der feuchten Hand umklammernd. Sie war schon wieder nass geschwitzt und hatte das Gefühl, in dem schweren Mantel gesotten zu werden. Kurz vor dem Weg, der zur Quellenhöhle führte, blieb sie stehen, um Luft zu schöpfen, dann hob sie ihren Stab als Zeichen dafür, dass die Gläubigen ihr folgen sollten.
Wie eine bunte Riesenschlange wand sich die Menge den nördlichen Abhang des Eresberges hinunter. Veledas Füße bewegten sich von selbst auf dem steilen schmalen Pfad voran, den sie schon ungezählte Male gegangen war. Seit ihrer Geburt wohnte sie auf dem Eresberg, und es gab kein noch so winziges Kraut, das sie dort nicht kannte. Beim Abstieg eröffnete sich eine atemberaubende Aussicht auf die dunkel bewaldeten Berge, die sich hinter der Diemel im Norden und auf der anderen Seite des Tals im Osten erhoben.
Veleda bog nach links ab, schritt am nördlichen Wachturm vorbei und erreichte den engen steinigen Pfad, der in scharfen Windungen den Berg hinunterführte. Sie musste aufpassen, dass sie nicht stürzte, denn sonst würden die Menschen ihr Ungeschick als schlechtes Vorzeichen deuten. Veleda atmete auf, als sie auf den Weg gelangte, der sich am Hang entlangschlängelte. Der grau-rote Fels zu ihrer Linken war stark zerklüftet und mit Moos und gelben Flechten überwachsen. Gleich hinter der Abzweigung öffnete sich eine enge Felsspalte, die Veleda immer ein wenig unheimlich war. Sie war gerade so breit, dass sich ein Mensch mit Mühe hindurchzwängen konnte, und dahinter wartete nichts als finsterste Schwärze. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeiging, hatte sie das Gefühl, ein Lindwurm würde sich gleich herausschlängeln und sie verschlingen. Ihre Furcht war nicht ganz unbegründet, wusste doch die Sage zu berichten, dass der nahezu unbezwingbare Siegfried in den Höhlen an der Flanke des Eresberges, die sich nahe bei den Quellen befanden, einen bösartigen Drachen getötet hatte, der einen Goldschatz bewachte. Drachenhöhlen hießen sie seither.
Und wie immer atmete sie auf, als sie den Eingang zu den beiden Quellen erreichte. Sie entsprangen in einer Höhle, die der Göttin Holda geweiht war.
Veledas Sehkraft hatte in den letzten Jahren nachgelassen, und deshalb erblickte sie die beiden hellen Bündel, die zwischen dem Eingang und den Quellen lagen, erst, als sie die Höhle betrat. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber trotzdem nicht genau erkennen, woraus die Bündel bestanden. Sie bezwang ihre Neugier und schritt langsam auf sie zu.
Je näher sie kam, desto klarer wurde das Bild. Nein, es war keine Sinnestäuschung. Vor ihr lagen zwei Säuglinge, fest eingewickelt in blütenweißen Stoff, mit schwarzem Flaum auf den Köpfchen. Sie schlummerten so ruhig, als habe die Mutter sie nur kurz abgelegt, um ein paar Blumen zu pflücken oder Kräuter zu sammeln. Aber keine Frau aus der Umgebung würde ihre Kinder an diesem Tag bei den Quellen liegen lassen, denn jede wusste, dass hier die alljährliche Feier zu Ehren Holdas stattfinden würde. Vermutlich wollte die Mutter – oder der Vater? – die Winzlinge in die Obhut der Göttin geben, denn Kinder standen unter ihrem Segen. Man erzählte sich, die Kleinen würden aus den Tiefen der Erde kommen, dort wo die Nornen den Lebensfaden jedes einzelnen Menschen spannen. Und Holda war nicht nur die Beschützerin der Kinder, sondern auch die Göttin der Quellen, Teiche und Brunnen.
Angestrengt dachte Veleda nach, während sich vor der Höhle die Menge drängte. Als Heilerin und Hebamme kannte sie jede Frau weit und breit, und ihr war keine bekannt, die eine Schwangerschaft verheimlicht hatte. Alle, die in den letzten Wochen Kinder zur Welt gebracht hatten, kümmerten sich um sie, so wie es sein sollte. Wer auch immer die Mutter war, sie musste sehr verzweifelt gewesen sein. Veleda hatte unzähligen Kindern auf die Welt geholfen, und noch nie hatte sie eine Frau erlebt, die es über sich gebracht hätte, ihr Kind wegzugeben, auch wenn man Neugeborene ungestraft aussetzen konnte, da sie erst nach neun Nächten eine Seele erhielten.
Die Kinder konnten also nicht aus der Umgebung stammen, aber wer hatte den weiten Weg unternommen, um sie ausgerechnet hier ihrem Schicksal zu überlassen? Und wie waren sie hergekommen? Fremde Reisende mit zwei neugeborenen Kindern wären aufgefallen, und es hätte sich bis zu Veleda herumgesprochen.
Die Menschen vor dem Eingang riefen aufgeregt durcheinander.
»Was liegt da vor den Quellen?«
»Tatsächlich, zwei Kinder!«
»Wie kommen die denn hierher?«
Veleda drehte sich um und hielt ihren Stab in die Höhe. Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Dann schritt sie betont langsam zu den Säuglingen. Sie bückte sich zu ihnen hinunter. Die beiden glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie legte ihren Stab auf den Boden und wickelte behutsam das feine Linnen auseinander, um das Geschlecht der Kinder zu bestimmen. Ein Mädchen und ein Junge. Veleda schätzte, dass sie mindestens einen Monat alt waren. Sie hob das Mädchen hoch, und als sie aufstand, öffnete es die Lider. Gelassen wie eine Herrin erwiderte die Kleine Veledas forschenden Blick. Sie hatte wissende Augen, in denen eine ruhige Kraft lag. Um den Hals trug das Mädchen eine goldene Kette, dessen Ende in den Leinenwickeln versteckt war.
Veleda zog sie hervor. Zum Vorschein kam der außergewöhnlichste Anhänger, den sie jemals gesehen hatte. Er war aus purem Gold und so fein gearbeitet, als habe ihn einer der für ihre Kunstfertigkeit berühmten Zwerge hergestellt. Die Zwillinge mussten von vornehmster Abstammung sein. Als Veleda das Schmuckstück berührte, um es umzudrehen, spürte sie die starke magische Kraft, von der es durchdrungen war. Deshalb war es kein gewöhnlicher Anhänger, sondern ein Amulett. Auf der Rückseite waren mit ungelenker Hand drei Runen eingeritzt, die Veleda wie die dringende Bitte um Schutz erschienen. Sie verstand nun die rätselhafte Botschaft der Götter und wusste genau, was zu tun war. Diese Kinder waren ganz sicher nicht vom Himmel gefallen, aber vom Himmel geschickt worden. Wer auch immer sie in der Quellhöhle abgelegt hatte, erfüllte damit den Willen der Götter.
Veleda wandte sich um und schritt zum Eingang, mit dem Mädchen in ihren Armen. »Diese Kinder sind uns von der Göttin Holda gesandt worden«, verkündete sie mit fester Stimme.
Die Menschen antworteten mit einem Raunen.
Veleda streifte dem Mädchen das Amulett ab. Als sie es in die Höhe hob, wurde es still in der Menge. »Da nicht alle erkennen können, was dieser Anhänger zeigt, werde ich es erklären. Er stellt einen Mann und eine Frau in inniger Umarmung dar. Zusammen bilden sie den Stamm eines Baumes, dessen mächtige Krone aus drei starken Zweigen mit fein gearbeiteten Blättern besteht. Um den Baum und die beiden Menschen herum formt eine Schlange, die sich selber in den Schwanz beißt, einen Kreis.«
Veleda holte tief Luft. »Ihr wisst, was am Ende aller Tage passieren wird. Die Götter werden einen vergeblichen Kampf gegen ihre Feinde antreten. Doch uns allen ist der Untergang beschieden. Der Anhänger zeigt den Weltenbaum, in dem die letzten Überlebenden der Menschen, ein Mann und eine Frau, Zuflucht finden werden. Aus ihrer Liebe wird neues Leben geboren, und eine bessere Welt wird entstehen. Die riesige böse Weltenschlange, die Götter und Menschen so lange gequält hat, ist vorerst unschädlich gemacht.«
Ehrfürchtig starrten die Zuschauer den Anhänger an. Die haselnussbraunen Augen von Sonnhild, die in der ersten Reihe stand, waren weit aufgerissen. In ihrem Gesicht spiegelten sich die Gefühle wider, die wohl alle hegten: Ungläubigkeit, Verwirrung und Spannung. Den schweren Korb hatte sie zu ihren Füßen abgestellt.
»Heute Morgen haben mir die Götter drei Runen offenbart«, fuhr Veleda fort. »Sie haben mir den Weltenbaum und den Brunnen der Weisheit gezeigt.«
Es war so still, als hielten alle den Atem an.
»Die Nornen haben das Schicksal dieses Mädchens fest mit dem Schicksal unseres Volkes verknüpft«, erklärte Veleda. »Es ist dazu bestimmt, zwischen der Welt der Götter und unserer Menschenwelt zu vermitteln. Deshalb werde ich es als Seherin ausbilden. Die Götter haben es mit besonderen Gaben ausgestattet, um uns Hilfe zu schicken. Denn den Sachsen stehen im Kampf gegen die Franken schwere Zeiten bevor. Ich werde die Kleine Ava nennen, weil sie eine große Kraft in sich birgt.«
Sonnhilds Augen leuchteten auf, als die Seherin ihr das Kind und das Amulett in den Arm legte. »Bevor ich mit der Ausbildung anfangen kann, wirst du für die Kleine sorgen«, sagte Veleda lächelnd zu ihr. Holda ist großmütig an ihrem Ehrentag, dachte sie, während sie zu dem Jungen zurückging. Mir schenkt sie eine Nachfolgerin und Sonnhild zwei Kinder.
Als Veleda den Winzling hochhob, ballte er die Fäustchen und schrie wütend auf. Es klang wie das zornige Brüllen eines Kriegers, der sich auf den Feind stürzt. Er strampelte so heftig mit den Beinchen, dass Veleda ihre Arme weit von sich strecken musste, damit er sie nicht traf, während sie mit ihm zum Eingang schritt.
»Ein Kampfrabe!«, rief der Bauer Rainer, der hinter Sonnhild stand, und deutete auf die schwarzen Haare des Kindes. Alle lachten.
»Du hast recht«, stimmte Veleda ihm zu. »Deshalb soll der Junge Walram heißen. Die Runen haben mir verkündet, dass ihm ein gefährliches Leben bevorsteht. Ihm ist es von den Göttern bestimmt, ein Krieger zu werden und unser Volk mit dem Schwert zu verteidigen. Walram wird uns schützen, und Ava wird uns Rat spenden.« Sie wandte sich an Sonnhilds Mann und übergab ihm den kleinen Jungen. Oswin nahm ihn so stolz entgegen, als wäre er sein eigener Sohn.
Veleda kehrte um und hob ihren Stab von der Erde auf. Plötzlich erschien er ihr leicht wie eine Feder. Sie wandte sich an die Menge. »Indem wir uns der Kinder annehmen, die uns heute geschickt worden sind, ehren wir die Göttin. So soll es sein.« Zur Bekräftigung ihrer Worte schlug Veleda mit dem Stab auf den Boden.