Читать книгу Das Amulett der Seherin - Susanne Krauß - Страница 7

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Eigentlich hatte Finnian immer gehofft, erst in vorgerücktem Alter als Märtyrer zu Gott zu gelangen. So schön es im Paradies zweifellos sein mochte, er fand es auf Erden auch ganz nett. Und er hing – wie er sich zähneklappernd eingestehen musste – doch mehr an seiner sterblichen Hülle als an seiner unsterblichen Seele.

Denn sein Leib war leider äußerst schmerzempfindlich. Der Mönch wollte lieber nicht wissen, wie sich der spitze Holzpfahl, den ihm einer der Bewohner des Dorfes Twissene vor die Brust hielt, in seinem Herzen anfühlen mochte. Aber die finsteren Mienen der fünf Sachsen, die ihn und seinen Gefährten Egbert drohend umringten, ließen keinen Zweifel daran, dass sie in ihrem Zorn zu allem fähig waren. Heiden waren wild, grausam und unberechenbar, das wusste jedes christliche Kind. Und sie stanken. Nach Feuer und Metall zum Beispiel wie diese Kerle, die mit ihren rußverschmierten Gesichtern, Händen und Armen aussahen, als kämen sie geradewegs aus der Hölle.

»Was zögert ihr denn noch?«, rief einer der Sachsen, seine Sichel mit lautem Zischen durch die Luft schwingend. »Tötet sie!«

Die Männer brüllten auf. Ein besonders kräftiger Kerl ließ seinen Knüppel fallen, stieß Finnian zu Boden und umklammerte dessen dünne Arme. »Stoß zu, Suithelm«, rief er dem Mann mit dem Pfahl zu, der sich daraufhin auf Finnians Beine kniete und seine Waffe in die Höhe reckte. Aus den Augenwinkeln sah der Mönch, wie ein Sachse von hinten auf Egbert zustürzte und den riesigen Spaten über dessen Kopf hob.

Finnian schickte einen letzten Blick in den tiefblauen Sommerhimmel, an dem sich keine einzige Wolke zeigte. Der Tag war viel zu schön, um zu sterben. Bitte, Herr, nicht jetzt, nicht hier, flehte er innerlich. Es gab doch noch so viele Bücher, die er lesen wollte ...

Suithelm holte mit dem Pfahl weit aus. Als die Waffe auf ihn herabraste, kniff der Mönch unwillkürlich die Augen zu. Trotz der Mittagshitze zitterte er am ganzen Körper.

»Seid ihr wahnsinnig?«, schrie eine Frau. »Haltet ein!«

Zaghaft öffnete Finnian die Lider. Der Pfahl war nur noch einen Fingerbreit von seiner Brust entfernt. Mit letzter Kraft unterdrückte er einen Schreckensschrei und drehte den Kopf zur Seite. Unbeweglich und stolz wie eine römische Götterstatue stand Egbert vor dem Sachsen, der ihm den Spaten immer noch drohend über den Kopf hielt.

Eine ältere Frau, die ein besticktes blaues Leinengewand trug, lief auf Suithelm zu und rüttelte ihn an der Schulter. »Ihr könnt sie doch nicht einfach umbringen!«

Finnian atmete auf, als sein Peiniger den Pfahl endlich zur Seite nahm. »Sie haben unsere heiligen Pferde getötet«, erwiderte Suithelm barsch.

»Die Pferde, die wir gemeinsam gezüchtet und aufgezogen haben, Sonnhild«, warf ein Mann ein, der mit einer Heugabel bewaffnet war. Sein Wohlstand war an einem aufwändig verzierten Gürtel abzulesen. Als einziger der Sachsen machte er einen sauberen Eindruck.

Die Augen der Frau verdunkelten sich. »Ich habe die Leichen gesehen, Oswin. Aber es ist nicht an euch, über die Strafe für diese unverzeihliche Beleidigung der Götter zu entscheiden.« Sie straffte die Schultern und blickte zu dem Mann hinab, der Finnian umklammert hielt. »Erpfried, du holst Ava«, befahl sie. »Sie ist in einem unserer Pferdeställe, vermutlich bei ihrer Lieblingsstute.«

Der Kerl stand tatsächlich folgsam auf, nahm seinen Knüppel und verschwand! Finnian konnte es kaum glauben. Und auch der Mann, der Egbert bedrohte, ließ den Spaten sinken und stieß ihn in den Boden.

Sonnhild wandte sich an Suithelm. »Steh auf. Der Fremde wird dir kaum weglaufen.« Höchst widerwillig erhob er sich, baute sich aber neben Finnian auf, den Pfahl stoßbereit nach vorne gereckt. Der Mönch atmete tief durch. Die Frau verfügte anscheinend über großen Einfluss im Dorf, da ihr die Männer aufs Wort gehorchten. Wahrscheinlich wurde sie so geachtet, weil sie mit ihrem Mann die heiligen Pferde züchtete.

Nur mit Mühe schaffte Finnian es, sich hochzurappeln und auf seinen wackeligen Beinen zu halten. Dankbar blickte er seine Retterin an. Obwohl sie zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt zu sein schien, sah sie immer noch gut aus. Ihre mit grauen Strähnen durchzogenen Haare hatte sie zu vier Zöpfen geflochten und auf beiden Seiten des Kopfes zu Schnecken zusammengerollt, die sich zum Teil überlappten. Um die Mundwinkel und die Augen zeigten sich die ersten Fältchen. Ihr Körper war immer noch so wohlgerundet und prall wie bei einer jungen Frau. Die silberne Scheibenfibel, die den Ausschnitt schmückte, zeigte ein Pferd, und um den Hals trug sie eine schwere Bernsteinkette, die gut zu ihren warmen braunen Augen passte. Sie wirkte wie eine Frau, die mit ihrem Leben zufrieden war. Finnian hätte gerne in Ruhe bei einem Becher Bier oder Met mit ihr über die Frohe Botschaft gesprochen. Wenn man sie für das Christentum gewinnen konnte, würden ihr die anderen ohne Zögern folgen. Aber Egbert hatte alles verdorben.

Sonnhild erwiderte seinen Blick voller Verachtung. »Und jetzt zu euch. Wie könnt ihr es wagen, die Vertrauten unserer Götter zu töten?«

Finnian überlegte, was er ihr antworten sollte. Zwischen den Männern konnte er den heiligen Hain erkennen, in dem nur noch ein einziges Pferd verstört herumlief. Dazwischen lagen die Leichen seiner unglücklichen Artgenossen. Er schämte sich entsetzlich für das, was Egbert den Tieren angetan hatte. Vergebens hatte er versucht, ihn zurückzuhalten, als er mit dem Ruf »Für Christus!« zum Hain gestürzt war, in dem drei Hengste friedlich gegrast hatten. Es waren besonders schöne Tiere mit makellos weißen Leibern gewesen. Aus ihrem Verhalten pflegten die heidnischen Priester zu weissagen, indem sie sie vor einen heiligen Wagen spannten und auf ihr Wiehern und Schnauben achteten. Finnian war seinem Gefährten hinterhergelaufen, aber Egbert war erheblich kräftiger als er und hatte ihn abgeschüttelt wie eine lästige Mücke. Zornig hatte Finnian mit ansehen müssen, wie Egbert sein großes Messer in die Leiber der Pferde hieb, wieder und wieder, bis zwei von ihnen tot waren. Erst als er auf das letzte Tier zugestürmt war, hatten die Dorfbewohner die entsetzliche Tat bemerkt und die beiden Missionsprediger ergriffen. Wenn es nicht so unchristlich gewesen wäre, hätte Finnian seinen Begleiter am liebsten verflucht. Wegen seiner Brutalität, die eines Mönches unwürdig war, waren sie in diese gefährliche Lage geraten. Ganz zu schweigen von den armen Pferden, die seinem Wahn zum Opfer gefallen waren.

Aber vor den Sachsen musste er wohl oder übel zu seinem Gefährten stehen. Noch ehe er etwas zu ihrer Verteidigung sagen konnte, ergriff Egbert das Wort. »Ich habe es zu eurem Besten getan«, sagte er mit schneidender Stimme. »Ich wollte euch die Machtlosigkeit eurer Götter vor Augen führen. Sie haben es nicht vermocht, ihre angeblichen Vertrauten zu schützen.« Egbert sprach Fränkisch, das in diesem Grenzgebiet mühelos verstanden und von vielen sogar benutzt wurde, weil im südlichen Sachsen ursprünglich Franken gesiedelt hatten, von denen ein Teil der Bevölkerung abstammte. Außerdem waren die Unterschiede zwischen Fränkisch und Sächsisch nicht so groß, als dass sich die beiden Völker nicht hätten verständigen können. Finnian selbst, der aus der englischen Provinz Nordhumbrien stammte, war dank seines sächsischen Vaters und seiner irischen Mutter mehrsprachig aufgewachsen und hatte auch das Fränkische rasch erlernt.

»Unsere Götter sind nicht machtlos!«, entgegnete Suithelm heftig. »Das werdet ihr noch schmerzhaft zu spüren bekommen. Durch unsere Hände werden sie euch strafen.« Er stieß Finnian mit dem Pfahl so heftig in die Seite, dass dieser ins Taumeln geriet.

»Und wie!«, fügte der Mann mit dem Spaten rachedurstig hinzu. »Ihr werdet euch noch wünschen, Ihr wäret nie geboren worden. Zweifellos wird Ava euren Tod verkünden.«

Finnian hätte zu gerne gewusst, wer diese Ava war, von der ihr Schicksal abhing, aber er traute sich nicht zu fragen. Stattdessen entschloss er sich, ihre Namen zu nennen. »Mein Gefährte heißt Egbert«, erklärte er, so ruhig er konnte. »Er stammt aus dem Kloster Friedeslar. Und ich bin der Sachse Finnian, der aus Nordhumbrien zu euch gekommen ist. Unsere Völker sind von einem Blut und Bein.« Mit dieser geläufigen Redensart, die auf ihren gemeinsamen Ursprung anspielte, hoffte er, die Dorfbewohner milde zu stimmen.

»Bitte glaubt uns, wir wollten euch nur die Frohe Botschaft unseres Herrn Jesus Christus verkündigen«, sagte Finnian. Das stimmte zwar nicht ganz, doch den wahren Grund für seine tollkühne Reise würde er natürlich nicht verraten. Nie im Leben hätte Finnian sich aufgemacht, anderer Leute Seelen zu retten und dafür das eigene Leben zu riskieren, mochte eine solch edle Tat auch noch so paradiesisch belohnt werden. Finnian liebte Heldengeschichten – aber nur solche, die auf dem Pergament stattfanden.

»Außerdem sind wir gekommen, um euch zu warnen«, fuhr Finnian fort. »Wir wollten mit euch in Ruhe reden, bevor die Schwerter sprechen. Der fränkische König Karl ist mit einer Fußtruppe von zehntausend Mann und dreitausend Reitern hierher unterwegs und wird morgen, spätestens übermorgen eintreffen.«

»Wie rührend!«, spottete Suithelm. »Selbstlose Mönche, die Pferde umbringen. Wahrlich, solchen Besuch hatten wir noch nie.«

Egbert hob die blutbespritzten Hände. »Was ist schon das Leben eines Tieres wert im Vergleich mit der unsterblichen Seele eines Menschen?«

Der Mann mit dem Spaten sah aus, als würde er sein Werkzeug trotz Sonnhilds Ermahnung gleich über Egberts Schädel hauen. »Halt’s Maul, du Schwätzer, oder ich vergesse mich und schlage doch noch zu!«, fuhr er ihn an.

Die Sachsen schlossen sich enger um Finnian und Egbert. Unbeweglich wie Felsbrocken, die einen Steinkreis bildeten, warteten sie auf Avas Ankunft. Die unnatürliche Stille war fast noch beängstigender als die Wutausbrüche. Auch wenn es schier unmöglich war, den Sachsen zu entkommen, wollte Finnian nicht so leicht aufgeben und die Wartezeit nutzen, um nach Fluchtmöglichkeiten zu suchen. Vielleicht bot sich ja doch eine Gelegenheit zum Entwischen, wenn sie abgeführt wurden. Leider kam der Fluss dafür nicht in Frage, denn er war wegen der anhaltenden Trockenheit nicht befahrbar. Aber gewiss gab es – abgesehen von dem letzten heiligen Hengst – noch weitere Pferde. Doch wo?

Wieder spähte er zwischen den Leibern der Sachsen hindurch. Vor lauter Aufregung hatte er sich noch gar nicht richtig umsehen können. In angemessener Entfernung vom Hain lag das Dorf mit seinen ungewöhnlich großen und schön gestalteten Wohnhäusern, zahlreichen Speichern, Scheunen, Grubenhäusern sowie mehreren Erzverhüttungsöfen und Schlackenhalden. Nicht nur der Pferdezucht, sondern auch dem Kupfervorkommen in Twissene, das zu den reichsten im ganzen Land zählte, verdankten die Bewohner der Siedlung ihren Wohlstand. Finnian war zu Ohren gekommen, dass es nicht zuletzt dieses Kupfervorkommen war, das König Karl und seine Krieger zur nahe gelegenen Eresburg lockte. Auf der anderen Seite der Diemel war der steil aufragende, gerodete Berg zu erkennen, auf dem die Eresburg und die Irminsul erbaut worden waren. Finnian wandte den Blick nach rechts und reckte sich unauffällig. Tatsächlich – hinter der Flussbiegung war eine Pferdekoppel!

Suithelm fing seinen Blick auf und verzog spöttisch den Mund. Betont harmlos schaute Finnian zu Sonnhild, die auf einem Baumstumpf saß und sich verstohlen die Augen wischte, während sie das letzte Pferd betrachtete. Oswin verließ den Kreis, trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er war ein eher gemütlich wirkender Mann mit gepflegtem Vollbart und einem kleinen Bauch. Sein schulterlanges Haar glänzte in der Sonne wie helles Bier. Finnian konnte sich ihn auch gut als Wirt in einer Taverne vorstellen.

Sonnhild schmiegte ihre Linke in Oswins Hand. Wie auf Kommando reckten sie ihre Köpfe hoch zum Eresberg, dort, wo die Irminsul stehen musste, obwohl sie aus dieser Entfernung nicht zu erkennen war. Sie war das größte und schönste Heiligtum der Engern, wie Finnian auf der Reise erfahren hatte. Sie symbolisierte das Universum, das sich die Sachsen als einen Baum vorstellten, der aus neun verschiedenen Welten bestand. Auf solch eine merkwürdige Idee konnte nur ein wildes Volk verfallen, das keinen König, keine Städte, keine Klöster und – was für Finnian das Schlimmste war – keine Bücher kannte. Seine Vorfahren hatten wahrlich gut daran getan, vor Jahrhunderten nach England auszuwandern und den christlichen Glauben anzunehmen, fand er. Wie lange die Irminsul wohl noch stehen würde? Finnian zweifelte nicht daran, dass es König Karl gelingen würde, die Burg einzunehmen. Sein Heer war riesig, und außerdem war Gott auf seiner Seite.

Aber bis die Sachsen endlich besiegt waren, hatten sie leider noch viel zu viel Zeit, um Finnian zu töten. In der gleißenden Mittagssonne schwitzte er, als habe man ihn in einen glühenden Backofen gesteckt. Kein Lüftchen brachte Linderung. Wie eine kratzende zweite Haut klebte die raue Tunika an ihm fest. Er bewunderte Egbert, der so ruhig dastand, als befände er sich im Kreis seiner Mitbrüder und nicht unter wütenden Feinden. Er war fast so hochgewachsen und kräftig wie die sächsischen Hünen. Finnian konnte noch nicht einmal das geringste Anzeichen von Angst bei ihm erkennen. Weder bebten die Flügel seiner Adlernase, noch zeigte sich auf seiner hohen Stirn auch nur ein einziger Schweißtropfen. Selbst die dunkelblonden Haare lagen genauso glatt wie nach dem Aufstehen, als er sie gekämmt hatte. Hatte er wirklich keine Angst, oder war er nur geschickter als Finnian, wenn es darum ging, sie zu verbergen? Ihm fiel ein, was Egbert ihm erzählt hatte: Seine Mutter habe ihn im November geboren, während draußen das erste Glatteis die Wege unpassierbar machte. Am kältesten und tiefsten Punkt der Nacht sei er zur Welt gekommen. War etwas von dieser Kälte damals in sein Herz gekrochen und hatte ihn unempfindlich gegen Schmerzen gemacht?

Am liebsten hätte Finnian nicht nur Egbert, sondern auch sich selbst verflucht. Nur wegen eines verrückten Traums hatte er erst sein sicheres Kloster in Ingyruum verlassen und dann die fränkischen Truppen, mit denen Egbert und er bis dahin gereist waren. Wenn er sein Leben verlor, dann war es Gottes gerechte Strafe für seine Vermessenheit und seinen Ehrgeiz. Hatte er als Mönch nicht stabilitas loci gelobt und damit versprochen, an dem Ort zu bleiben, den Gott in seiner Weisheit ihm zugeteilt hatte? Und war jener Ort nicht mit einer reichhaltigen Bibliothek ausgestattet, die viele Schätze aus Pergament enthielt? Aber nein, er musste ja unbedingt hinaus aus der Abgeschiedenheit des Klosters und von Nordhumbrien in das gefährliche Sachsenland reisen, nur um seinem unerreichbaren Traum nachzujagen! Seinen Abt und seinen Bischof hatte er angelogen, als er ihnen gesagt hatte, er wolle zur Buße für seine Sünden die sichere Heimat verlassen und in der Fremde als Missionsprediger wirken. Hätte Gott gewollt, dass er sein Kloster verließ, dann hätte er ihn schon irgendwann herausgeholt. Ach, und nun ereilte Finnian die gerechte Strafe! Am Ende würden die Dorfbewohner auch noch glauben, dass sie Spione waren, die König Karl geschickt hatte.

Finnians Knie zitterten so heftig, dass er Angst hatte, sie könnten jeden Augenblick einknicken. Wenigstens verdeckte das weite Habit seine hin und her wackelnden Beine. Aber wahrscheinlich sahen die Sachsen ihm trotzdem an, wie erbärmlich feige er war. Alle Arten von Strafen, mit denen Missionsprediger schon wegen angeblichen Religionsfrevels belegt oder bedroht worden waren, kreisten unaufhörlich in seinem Kopf. Zwei Ewalde, der eine mit hellem, der andere mit dunklem Haar, waren im vergangenen Jahrhundert erschlagen worden, nur weil sie darum gebeten hatten, den Gaufürsten sprechen zu dürfen. Und erst vor zwei Jahren war der fromme Liafwin auf der alljährlichen sächsischen Stammesversammlung in Marklo an der Weser mit Steinigung und Pfählung bedroht worden. Und der berühmteste Glaubensbote von allen, der selige Bonifatius ... ach! 754 hatte er bei den Friesen den Märtyrertod erlitten. Nun konnte Finnian nur noch eine helfen. Stumm betete er zur heiligen Mutter Gottes. Maria, Himmelskönigin, errette mich in der Not!

Das Knacken von Zweigen ließ ihn aufhorchen. Er hörte feste, gleichmäßige Schritte, in die sich das Rascheln eines Gewandes mischte. Das mussten Erpfried und diese Ava sein. Nun würde sich sein Schicksal entscheiden. Sein Herz hüpfte.

Respektvoll wichen die Männer, die Egbert und ihn bewachten, zur Seite. Sonnhild sprang auf und lief herbei. »Ava, gut, dass du gekommen bist!«

Finnians Herz schlug noch schneller, als er Ava erblickte. Diese Mischung aus Weib und Tier sollte darüber befinden, was mit Egbert und ihm geschehen würde? Mit ihrem ärmellosen Gewand aus Tierhäuten und Federn und ihrem dunklen Haar, das ungebändigt bis zu den Hüften herabfiel, erinnerte sie an ein Raubtier, das sich ohne Zögern auf sein Opfer stürzen würde, um es zu verschlingen. Ihre Aufmachung war äußerst unanständig: kein Untergewand, kein Schleier und noch nicht einmal Schuhe! Schamlos stellte sie ihr Fleisch zur Schau. Üppige, pralle Rundungen hatte sie wie eine heidnische Fruchtbarkeitsgöttin. An ihrem breiten Gürtel baumelte ein Lederbeutel, und in der Hand trug sie einen lächerlich wirkenden Eschenholzstab mit einem Messingknauf. Für eine Frau war sie viel zu groß – und vor allem viel zu selbstbewusst. Die Gelassenheit, mit der sie Finnian in die Augen sah, erinnerte ihn an seinen Abt. Unwillkürlich senkte der Mönch den Blick. Nach achtzehn Jahren im Kloster war er den Umgang mit verführerischen Frauen nicht gewöhnt.

Doch es war schon zu spät. Ein Wort aus seiner Heimat fiel ihm ein, um Ava zu beschreiben: ælfsciene, schön wie eine Elfe. Verwirrt fragte er sich, wie das Lapislazuliblau, das die Buchmaler als Farbe für den Himmel zu benutzen pflegten, in ihre Augen gekommen war. Sein Blick, den er dummerweise nicht tief genug gesenkt hatte, fiel auf die glatten Haare, die ihre Taille umspielten. Sie waren von einem so satten und glänzenden Schwarz, als habe jemand sie in eine rußhaltige Tinte getaucht. Finnian überkam das sündige Verlangen, sie zu berühren. Bestimmt würden sie sich kühl und weich wie Seide anfühlen.

Zutiefst über sich selbst erschrocken, sah er auf seine Füße, die in staubigen Schuhen steckten. Zum ersten Mal in seinem Leben verwünschte er seine abstehenden Ohren, die mit Sommersprossen gesprenkelte blasse Haut und die möhrenfarbenen Haare. Er schämte sich für sein mehrfach geflicktes schwarzes Habit, in dem er gewiss wie eine zerfledderte Krähe aussah.

Als Ava näher trat, entstieg ihrer Kleidung ein Geruch nach Räucherwerk – Bilsenkraut, Wacholder, Fichtenharz, Beifußkraut und anderen unheilvollen Zauberpflanzen, die ein guter Christ tunlichst meiden sollte. Um, ein Haar hätte Finnian sich bekreuzigt, aber gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass es klüger wäre, diese Frau, die über ihr Schicksal entscheiden würde, nicht zu beleidigen.

»Satan ist auferstanden!«, krächzte Egbert. Finnian hob den Kopf. Mit ausgestrecktem Arm deutete sein Gefährte auf einen goldenen Anhänger, den Ava trug. Jetzt erst fiel er Finnian auf. Bei allen Heiligen, der Anhänger zeigte ein Paar in wollüstiger Umarmung und eine ekelhafte Schlange! Dazu ein mächtiger Baum – vielleicht die Irminsul? Pflegten die Sächsinnen an ihrem Heiligtum Unzucht zu treiben, um ihren Göttern zu huldigen?

»Sie ist leibhaftig wieder auferstanden!«, rief Egbert.

Wieso sie?, wunderte sich Finnian. Hatte er nicht eben erst vom Satan gesprochen?

»Wer, bei allen Göttern, ist denn dieser Satan?«, fragte Erpfried.

»Der mächtigste böse Geist der Christen«, erwiderte Ava. Ihre Stimme war volltönend und klar. »Er ist der Feind ihres Gottes.« Sie verzog keinen Gesichtsmuskel, als sie Egbert betrachtete, der immer noch mit ausgestrecktem Arm auf sie deutete. »Viele Christen glauben, dass Satan in den Frauen wohnt.«

»Dann sind sie aber ganz schön dumm«, sagte Oswin ungläubig. »Jeder weiß doch, dass Frauen von den Göttern besonders geschätzt werden und deshalb besser als die Männer dafür geeignet sind, mit ihnen zu sprechen. Wie du, Ava.« Respekt klang aus seiner Stimme.

Sie war also eine Seherin. Deshalb trug sie solch einen merkwürdigen Stab und roch nach diesen teuflischen Pflanzen, die von den Heiden dazu benutzt wurden, um unheilvollen Zauber und Wahrsagerei zu treiben.

Egbert senkte den Arm. »Nach der Erschaffung der Welt hat die erste Frau den ersten Mann zur Sünde verführt und damit bewiesen, dass ihre Seele dem Bösen gegenüber besonders anfällig ist. Und deshalb ...«

»Der Frevel, den die beiden Christen begangen haben, muss mit dem Tod bestraft werden«, fiel Suithelm ihm ins Wort. »Nicht wahr, Ava, das siehst du doch genauso?«

»Die Gastfreundschaft ist uns Sachsen heilig«, erwiderte sie. »Hätten diese Fremden uns ihr Anliegen respektvoll vorgetragen, dann hätten wir sie ebenso respektvoll angehört. Aber zumindest einer von ihnen hat die Vertrauten unserer Götter getötet, und das können wir nicht einfach so hinnehmen. Da habt ihr recht, Männer.«

Sie musterte erst Finnian, dann Egbert. »Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?«

Egbert würde gewiss alle Schuld auf sich nehmen, hoffte Finnian. Deshalb beschloss er zu schweigen.

»Verteidigung?«, schnaubte Egbert. »Ihr betet teuflische Götzen an und schwingt euch zu Richtern über uns auf? Weib, sieh dich vor! Einzig und allein unserem Gott sind wir Rechenschaft schuldig. Wir sind gekommen, um eure verdorbenen Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Im Guten wollten wir euch überzeugen, aber ihr scheint nur die Sprache des Schwertes zu verstehen. Wartet nur, König Karl wird euch mit Gewalt zum Evangelium bekehren!«

Der Mann mit dem Spaten stürzte auf Egbert zu. »Was erlaubst du dir?«

»Stopft ihm sein unverschämtes Maul!«, rief Erpfried und schwang seinen Knüppel.

Unerschrocken sah Egbert den Angreifer an. »Ich bin bereit, als Blutzeuge für meinen Glauben zu sterben.«

Ava hob ihren Stab. Sofort verstummten die aufgebrachten Männer. »Wenn sich die beiden Missetäter nicht äußern wollen, dann kommen wir eben ohne sie zu einem Urteil.« Sie überlegte einen Augenblick. »Ich stelle fest, dass ihr den Älteren der beiden dabei erwischt habt, wie er auf ein Pferd einstach. An seiner Schuld kann kein Zweifel bestehen. Ob ihm sein Gefährte bei der schändlichen Tat geholfen hat, ist nicht bewiesen, denn niemand hat es gesehen. So hat es mir Erpfried berichtet. Ist seine Darstellung richtig?«

Die Männer murmelten etwas und nickten.

Auch wenn sie Unzucht trieb, die Frau war wirklich klug, dachte Finnian. Gut, dass Sonnhild befohlen hatte, sie zu holen.

Ava musterte Finnians Kleidung. Um ihre Mundwinkel zuckte ein spöttisches Lächeln. Unter ihren Augen waren Schatten, als habe sie zu wenig geschlafen. Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und blieb mit geschlossenen Lidern reglos stehen. Welche inneren Bilder sie wohl sehen mochte?, fragte sich Finnian. Hoffentlich eine Vision, in der Egbert auf die Pferde einstach und er, Finnian, ihn davon abzuhalten versuchte.

Sie öffnete die Lider, blinzelte und sah Finnian verwirrt an. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Um seines Seelenheiles willen sollte er den Blick dieses unkeuschen Weibes nicht erwidern, aber er konnte die Augen nicht von dem Blau ihrer Pupillen abwenden. Finnian schrieb seine Verwirrung dem Geruch ihrer teuflischen Pflanzen zu.

Ava straffte ihren Körper. »Der Hals und die Hände des Jüngeren sind blutbespritzt. Er scheint also auch schuldig zu sein.«

Finnians Herzschlag setzte aus.

»Allerdings wissen wir es nicht genau«, erklärte Ava. »Ich werde deshalb heute Nacht die Runen befragen.«

Wenigstens ein kleiner Aufschub. Finnian atmete erleichtert auf. Fürs Erste war die Gefahr gebannt.

Wieder nickten die Männer. »Ein weises Urteil«, fand Sonnhild.

Egbert sah Ava verächtlich an. »Die Runen befragen – was für ein Unsinn! Als ob bemalte Holzstäbchen die Wahrheit herausfinden und Recht sprechen könnten!«

»Als ob Schweineknochen Wunder bewirken könnten! So dumm können auch nur Franken sein, die an sogenannte Reliquien glauben«, erwiderte Ava spöttisch. »Wahrscheinlich ist noch nicht einmal die Hälfte der angeblichen Überbleibsel eurer Heiligen echt.«

Egberts Adlernase zuckte. »Dieses Weib ist wahrhaftig vom Teufel besessen!«

Kopfschüttelnd sah Ava ihn an. »Nehmt die beiden fest und sperrt sie ein«, befahl sie. Dann wandte sie sich an die Dorfbewohner: »Und ihr stilltet umgehend auf die Eresburg flüchten oder in die sicheren Wälder. Lasst endlich die Arbeit liegen und packt die wichtigsten Sachen zusammen! Es ist allerhöchste Zeit. König Karl wird unseren Spähern zufolge schon morgen eintreffen.«

Immer noch verwirrt, beobachtete Finnian, wie sie gelassen davonschritt. Ihr Gang war geschmeidig wie der eines Luchses. Der breite Gürtel betonte die verführerischen Rundungen ihres Körpers, die Federn wippten auf und ab, und das lange Haar umwehte sie wie ein schwarzer Seidenschleier. Finnian wollte den Blick senken, wie es sich gehörte, aber seine Augen hatten plötzlich einen eigenen Willen und weigerten sich, etwas anderes anzuschauen als dieses weibliche Raubtier.

Selbst als ihn Suithelm und Erpfried auf beiden Seiten ergriffen und wegzerrten, drehte er sich noch einmal nach ihr um. Er konnte gerade noch den letzten Zipfel ihres wehenden Rockes erkennen. Widerstandslos ließ er sich ins Dorf treiben, zu einem Schweinestall, wo Egbert und er mit einem unwirschen Grunzen empfangen wurden. Von dem stechenden Geruch drehte sich Finnian der Magen um.

»Wie Ava schon sagte, die Gastfreundschaft ist uns Sachsen heilig. Wir bringen euch so unter, wie es euch gebührt«, sagte Suithelm höhnisch und stieß Finnian hinein. Dann legte er von außen mit einem lauten Knall den Riegel vor die Tür.

* * *

Zufrieden überprüfte Walram die zusätzlichen Eisenriegel, die er von innen an dem einzigen Burgtor hatte anbringen lassen. Damit war die Eresburg für den Angriff des starken fränkischen Heeres bestens gerüstet. König Karl würde sich eine blutige Nase holen und gedemütigt wieder abziehen müssen, so viel stand fest.

Selbst ein unvorstellbar riesiges Heer von hunderttausend Kriegern oder mehr würde die größte und stärkste Feste der Engern nicht erobern können. Der an drei Seiten steil aufragende Eresberg bot in Kriegszeiten einen natürlichen Schutz, denn er konnte nur im Süden ohne größere Schwierigkeiten angegriffen werden. Schon Walrams Vorgänger als Gaufürst hatte ihn rundum sichern lassen durch einen hoch aufgeschütteten Wall, der von einer stabilen Mauer aus Palisaden und Erde gekrönt war und auch die Irminsul einschloss. Damit umfasste die Burg mittlerweile das gesamte Plateau und nicht mehr, wie zu Veledas Zeiten, nur einen Teil davon. Den südlichen Abschnitt der Wallanlage hatte Walram zusätzlich durch einen Graben sichern lassen, der mehr als zwei Mannslängen tief war. Auch ein knapp unterhalb der Palisaden verlaufendes Flechtwerk aus Reisigbündeln erschwerte das Heranstürmen der Feinde und sorgte dafür, dass die Böschung nicht abrutschen konnte. Das Burgtor selbst war kastenförmig in den Wall eingefügt und überbaut worden, sodass die Feinde von oben mit Pfeilen, Steinen und kochendem Pech gebührend empfangen werden konnten. Zwei solide Holztürme sicherten die Südflanke zusätzlich. Auch in den anderen drei Himmelsrichtungen des Berges waren Türme erbaut, damit jeder Feind schon beim Anschleichen erspäht werden konnte. Den Nordturm hatte Walram näher an der Irminsul als früher errichten lassen.

Dank dieser mehrfachen Sicherung konnte Walram als Befehlshaber der Eresburg, die nicht weit entfernt von der fränkischsächsischen Grenze lag, seine Aufgaben bestens erfüllen. Die Feste sicherte zwei wichtige Fernstraßen: zum einen die so genannte »Wagenstraße«, die von Frankonovurd aus nach Padrabrunno führte, und der alte »Römerweg«, auf dem man von der Bonnburg zur Eresburg gelangte.

Es gab noch einen weiteren Grund, weshalb Walram so siegessicher war: die Bewaffnung seiner Männer. Der westfälische Herzog hatte ihm Saxe verkauft, die weitaus schlagkräftiger waren als die Waffen des fränkischen Heeres. Voller Stolz betrachtete Walram seinen Langsax, der in einer Lederscheide bis zu den Knien hinunterhing und in den Tiwaz eingraviert war, die pfeilförmige Rune des siegreichen Kriegers, der für Gerechtigkeit kämpft.

Er wollte gerade gehen, als er die Stimme seines Stellvertreters hörte. »Die Burg ist voll.« Gibicho stand außen vor dem zweiflügeligen Holztor.

Walram horchte auf. Ihm war schon zu Ohren gekommen, dass Gibicho Flüchtlinge wegschickte, doch er hatte es nicht glauben wollen, schließlich hatte er ausdrücklich angeordnet, so viele Menschen wie nur irgend möglich in die Burg zu lassen.

»Aber wo soll ich denn hin mit meiner kleinen Tochter?« Die Frau klang verzweifelt. »Mein Mann ist im vergangenen Winter bei einem fränkischen Überfall gestorben. Und wenn die Feinde kommen und mich und mein Kind schutzlos vorfinden ...« Ihre Stimme klang jung. Die Götter hatten sie allzu früh zur Witwe gemacht.

Walram überlegte kurz, ob er eingreifen sollte, aber er wollte erst abwarten, wie das Gespräch ausging. Er brauchte Gewissheit, damit Gibicho sich nicht herausreden konnte. »Wir können nicht endlos Leute aufnehmen«, erklärte der Edeling barsch. »Scher dich fort!«

Die Frau schluchzte leise auf.

»Weib, bist du taub?«, knurrte Gibicho. »Du sollst abhauen!« Seine Stimme klang drohend, als wollte er die Frau jeden Augenblick in den tiefen Wallgraben werfen.

Walram vernahm weder Kleiderrascheln noch Schritte. Anscheinend rührte sich die Frau nicht. Bestimmt war sie vom langen Fußmarsch erschöpft.

»Au!« Die Witwe wimmerte und plumpste zu Boden. Hatte Walrams Stellvertreter ihr etwa einen Fußtritt oder eine Ohrfeige versetzt?

Es reichte. Walram öffnete von innen das Tor und trat hinaus.

Gibicho stand breitbeinig mitten auf dem Weg, der zwischen den Gräben hindurch zum Tor führte. Von der Frau und ihrem Kind war nichts zu sehen, sie lagen wahrscheinlich auf den Knien vor dem Edeling, der selbst für einen Sachsen ungewöhnlich groß und stark war. Sigbert, der Torwächter, hatte sich an den Rand des Grabens gedrückt, als ginge ihn die Misshandlung des Flüchtlings nichts an.

Gibicho rührte sich nicht von der Stelle, als Walram um ihn herumging. Die Frau war tatsächlich vor dem Edeling zusammengesunken. Ihr Kind, ein hübsches Mädchen mit dunklen Locken, das im Krabbelalter sein mochte, hatte sie schützend vor die Brust gebunden. Auf ihrem Rücken trug sie ein schweres Bündel. Da sie klein und mager war, musste sie sich mit der Last sehr geplagt haben. Alles an ihr war braun. Die zu einem Kranz geflochtenen Haare glänzten wie polierter dunkler Bernstein, ihre Haut schimmerte in einem satten Bronzeton, die großen Augen erinnerten an zwei Eicheln, ihr verwaschenes Gewand aus Brennnesselgewebe, das von einem Strick zusammengehalten wurde, war staubbraun und ihr Umhang hatte die Farbe von Eierschalen. Doch trotz ihres ärmlichen Aussehens war sie von einer sanften Schönheit.

»In meinem Haus ist noch Platz für dich.« Walram ging auf die Frau zu und zog sie hoch.

»Danke, Herr«, presste sie hervor. »Die Götter mögen es Euch lohnen.«

Schweigend sah Gibicho zu, wie Walram ihr mit seinem Ärmel die Tränen von der Wange tupfte. »Wie heißt du?«, fragte Walram.

»Liebhild, Herr.« Die Frau schwankte durch das Gewicht auf ihrem Rücken. »Ich lebe auf Eurem Gut in Curbechi.«

Eine Unfreie, die ihm gehörte. Dann war er umso mehr verpflichtet, sich um sie zu kümmern, zumal ihr Mann bei dem Überfall auf seinen Hof gestorben war. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen haben, aber er war Herr über viele Menschen und hielt sich selten in Curbechi auf. Meistens lebte er auf der Eresburg und damit in Avas Nähe. Walram reichte Liebhild seinen Arm, um sie zu stützen. Dankbar klammerte sie sich daran fest.

Dann wandte sich Walram an Sigbert und Gibicho. »Die nächsten Flüchtlinge lasst ihr gefälligst ein«, ordnete er an. »Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt, aber anscheinend muss ich es euch noch einmal sagen. Diese Burg dient unter anderem dazu, den Bewohnern der umliegenden Dörfer Zuflucht zu gewähren. Und für jeden, der aufgenommen werden möchte, wird sich auch ein Platz finden lassen. Zehntausend Menschen können auf dem Eresberg lagern.«

Sigbert gab nur durch die Andeutung eines Nickens zu erkennen, dass er Walrams Anweisung verstanden hatte. An seiner unbewegten Miene konnte der Gaufürst ablesen, dass der Torwächter es sich weder mit dem Befehlshaber noch mit dessen Stellvertreter verscherzen wollte.

»Das verfluchte Pack wird uns die Haare vom Kopf fressen, bis unsere Vorräte aufgebraucht sind«, knurrte Gibicho. »Und wie sollen wir dann kämpfen?«

»Unsere Vorräte reichen für ein paar Wochen«, erwiderte Walram scharf. »Vergiss nicht, für wen wir kämpfen. Nicht für uns allein, sondern für alle, die da draußen leben und unseren Schutz benötigen! Ohne Volk sind wir nichts wert. Wenn wir keine Bauern mehr haben, die die Felder bestellen, werden wir verhungern. Und deshalb wirst auch du gefälligst die Flüchtlinge hereinlassen! Ich allein bestimme, wann die Burg voll ist, klar?«

Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Liebhild den Streit. Sie wirkte so eingeschüchtert, als würde sie sich am liebsten mit einer Tarnkappe unsichtbar machen. Walram spürte, wie sich ihre Hand noch fester um seinen Arm schloss. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Wächter der nicht weit entfernten Südtürme über die Geländer beugten, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen.

Gibicho spuckte auf den Boden. »Du willst mir sagen, was ich tun und lassen soll? Ausgerechnet du? Ein Findelkind ohne Herkunft? Angeblich von den Göttern gesandt? So ein Unfug! Wer weiß schon, ob du überhaupt ein Sachse bist? Am Ende bist du gar ein fränkisches Kuckucksei, das man uns untergeschoben hat! Mit deinem schwarzen Haar siehst du eher so aus, als ob du aus dem Süden kommst!«

Wie immer, wenn die Rede auf seine unklare Herkunft kam, spürte Walram einen Stich. Diese Wunde würde nie verheilen. Es war nicht das erste Mal, dass Gibicho ihn hämisch an seine unbekannten Eltern erinnerte, und deshalb hasste er seinen Widersacher umso mehr. Auch wenn er es seiner angeblich göttlichen Herkunft verdankte, dass er Gaufürst geworden war, hätte er viel lieber weniger berühmte, aber dafür menschliche Eltern gehabt. Walram und Ava hatten nie behauptet, von den Göttern zu den Sachsen gesandt worden zu sein, aber da seine Schwester die Gabe der Weissagung besaß und er seine Truppen aus jedem Kampf mit den Franken siegreich herausführte, hatten die meisten Bewohner des Diemelgaus irgendwann angefangen zu glauben, dass die Zwillinge tatsächlich übermenschliche Fähigkeiten besaßen. Als der frühere Gaufürst schon in jungen Jahren kinderlos verstorben war, hatten Edelinge, Freie und Halbfreie Walram zum Nachfolger gewählt. Gibicho, der nach Walram der mächtigste Edeling im Diemelgau war, hatte diese Niederlage nicht verwunden. Um ihn zu versöhnen, hatte Walram ihn zu seinem Stellvertreter erkoren, eine falsche Entscheidung, wie er sich eingestehen musste, denn Gibicho hintertrieb die Befehle des Gaufürsten, wo er nur konnte.

Walram beneidete Gibicho darum, dass dieser im Gegensatz zu ihm so aussah, wie ein echter Sachse angeblich aussehen sollte. Auch wenn sich die Völker in den vergangenen Jahrhunderten so vermischt hatten, dass man Sachsen und Franken äußerlich nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, spukte in den Köpfen immer noch ein Vorbild herum, das Gibicho perfekt verkörperte: weizenblonde Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen, ein üppiger Bart, den er zu Zöpfen geflochten hatte, ein kantiges Gesicht und eisblaue, fast durchsichtige Augen. Bei Walram dagegen zeigten sich höchstens Bartstoppeln, sodass er sein Kinn immer rasieren musste. Stets war Gibicho prunkvoll gekleidet, um seinen Reichtum zur Schau zu stellen und Walram auch in dieser Hinsicht zu übertreffen. Trotz der Hitze trug er den silberdurchwirkten purpurroten Umhang, der von einer edelsteinbesetzten Scheibenfibel zusammengehalten wurde. Die strammen Waden, denen die Weiber verzückt hinterherzuschauen pflegten, steckten in eng anliegenden blauen Hosen aus feinstem Leinen. An seinem Hals baumelte die goldene Kette mit dem hammerförmigen Anhänger, von der er sich nie trennte. Das religiöse Symbol war dem berühmten Hammer Donars nachgebildet, von dem es hieß, er würde sein Ziel immer treffen und nach dem Wurf in die Hand des Besitzers zurückkehren. Damit wollte Gibicho sich nicht etwa zur Verehrung Donars bekennen, sondern vielmehr zeigen, dass er selber so stark wie ein Gott war.

In Walrams Fäusten zuckte es. Am liebsten hätte er Liebhild abgeschüttelt und sich auf Gibicho gestürzt. Er war seinem Stellvertreter zwar körperlich unterlegen, aber er war auch ziemlich groß und kräftig und überdies einer der besten Krieger der Engern, denn er handhabte die Waffen mit großer Geschicklichkeit. Aber es war eines Gaufürsten nicht würdig, sich wie ein betrunkener Bauer zu prügeln, fand Walram. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich zurückhalten. Er entschied, es bei einer mündlichen Drohung zu belassen. »Pass auf, was du sagst, sonst bekommst du noch eine Menge Ärger. Herzog Brun wird es ganz sicher nicht schätzen, wenn du auf der Burg Unruhe stiftest. Und er hat in diesem Krieg den Oberbefehl.«

Gibicho verschränkte die Arme vor der Brust. »So schnell schüchterst du mich nicht ein. Der Herzog ist weit weg. Meine Vorfahren haben dieses Land erobert, während dein einziges Verdienst darin besteht, als Säugling in einer heiligen Quellhöhle gefunden worden zu sein!«

Abrupt drehte Walram sich um und stapfte davon, ehe er sich womöglich doch noch vergaß. Wenn er nicht so aufgebracht gewesen wäre, hätte er Liebhild das schwere Bündel abgenommen, aber jetzt musste er so schnell wie möglich ausreichend Abstand zwischen Gibicho und sich legen, sonst würde er sich doch noch auf ihn stürzen. In ihren Holzschuhen schlurfte Liebhild mühsam vorwärts. Widerwillig passte er seine Geschwindigkeit der ihren an. Sie waren gerade im Torhaus angelangt, da hörte Walram, was Gibicho vor sich hin murmelte: »Im Krieg sind schon viele Männer gestorben, und nicht alle durch die Hand des Feindes.«

* * *

Ava wünschte sich, die Göttin hätte ihr einen Felsbrocken auf den Rücken gebunden statt der Last, die ihr durch die Vision in der vergangenen Nacht aufgebürdet worden war. Wie deutlich hatte sie alles gesehen und miterlebt! Ihre Knochen schmerzten noch von den erlittenen Schrecken. Warum nur hatte Frí ihr diese Vision nicht früher geschickt? Vielleicht hätte sie dann noch etwas retten können. Jetzt blieb ihr nur, das Schlimmste zu verhindern und den Auftrag zu erfüllen, den die Göttin ihr erteilt hatte. Zum Glück gab es wenigstens einen Menschen, mit dem sie darüber sprechen konnte: ihren Zwillingsbruder.

Auf dem Weg zu seinem Haus versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Es fiel ihr nicht allzu schwer, denn als Seherin durfte sie ihre Gefühle nie offen zeigen. Immer musste sie sich mit Gelassenheit und Würde bewegen, gleichgültig ob sie wütend, traurig oder fröhlich war. Die vergangenen Jahre kamen ihr so vor, als habe sie ihre stets gleiche Haltung nur für diese Tage eingeübt. Vielleicht war es auch ihre einzige Aufgabe, in der Stunde der Not an der Seite der Sachsen zu stehen. Und vielleicht war dies der einzige Grund, warum die Götter sie und ihren Bruder diesem Volk als Findelkinder geschenkt hatten. Ihr eigenes Schicksal hatte Ava in der Vision nicht gesehen, aber es kümmerte sie auch nicht, zu sehr waren ihre Gedanken darauf gerichtet, das Unabänderlich wenigstens abzumildern.

In den Gassen herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Die Eresburg umfasste zwar den ganzen Bergrücken, der viel größer war als ein Dorf, aber der Platz reichte dennoch kaum aus, um das Heer und die Flüchtlinge aus den umliegenden Siedlungen und Gehöften aufzunehmen. Erschöpfte Menschen kauerten im Staub vor den Holzhäusern, ihre Bündel mit der notwendigsten Habe neben sich. Zum Glück hatte es schon länger nicht mehr geregnet, sodass die Flüchtlinge wenigstens unter freiem Himmel schlafen konnten. Da es nicht genügend umzäunte Flächen für das kostbare Vieh gab, trieben sich Kühe, Schafe und Schweine in den Gassen herum.

Der Anblick der schwer bewaffneten Krieger ließ Ava erschauern. Da und dort übten sie sich in Zweikämpfen mit dem Sax oder spielten mit Knochenwürfeln, um sich die Zeit zu vertreiben und sich vielleicht auch von der Angst abzulenken. Bogenschützen wetteiferten miteinander, indem sie auf bemalte Holzscheiben zielten. Das Hämmern der Schmiede, die ohne Unterlass vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Nacht arbeiteten, um die alten Waffen zu reparieren und neue herzustellen, erfüllte die Burg mit unerträglichem Lärm.

Eine Anspannung wie vor einem Gewitter lag über dem Berg. Der Angriff stand unmittelbar bevor. Sächsische Späher hatten gemeldet, dass die Franken schon am nächsten Tag eintreffen würden. Nur die Götter wussten, wie dieser Kampf ausgehen würde. Und Ava.

Trotzdem schritt sie gelassen voran. Jeder wich ehrfürchtig zurück, sobald sie näher kam, denn ihr ungewöhnliches Gewand und der Stab wiesen sie als Seherin aus. Freundlich nach allen Seiten grüßend, ging sie unbehelligt durch die Menge und kam trotz des dichten Gedränges schnell voran. Als sie um die Ecke zu Walrams Haus bog, hörte sie schon die verhasste Stimme ihrer Schwägerin Roswitha, die durch die offenen Fenster drang. »Wie bitte? Du kannst doch nicht einfach zwei Fremde anschleppen, ohne mich zu fragen! Unser Gästehaus ist schon voll. Und wie das Weib aussieht! Zerlumpt wie eine Bettlerin, pfui!« Dabei war das Hallenhaus groß genug, um mehr als zwei Gäste zu beherbergen. Erheblich mehr.

Ava hatte ihren Bruder eindringlich vor Roswitha gewarnt, aber die Leidenschaft für diese Frau, die der Liebesgöttin Frí an Schönheit ebenbürtig war, hatte damals über alle Bedenken gesiegt. Roswitha wusste genau, wie man Männern den Kopf verdrehte, und hatte dieses Talent bei Walram gezielt eingesetzt, um Gaufürstin zu werden. Wenn sie ihre blonden Locken in den Nacken warf, entströmte ihnen ein unwiderstehlicher Rosenduft. Mit ihren großen blauen Augen hatte sie Walram angestrahlt, als ob er noch heldenhafter wäre als der sagenumwobene Siegfried. Natürlich nur vor der Ehe, danach gab sie ihm zu verstehen, dass er sie langweilte. Ihre Gewänder waren auffallend eng geschnitten, damit jeder sehen konnte, wie großzügig sie von den Göttern ausgestattet worden war. Wie ihr Vorbild Frí liebte sie Schmuck über alles. Der schwere Halsring aus Silber reichte ihr nicht, sie trug dazu auch noch eine bunte, mit Silberspiralen durchsetzte Glasperlenkette. Am meisten aber hing sie an ihrer goldenen Brosche, die eine zusammengeringelte Weltenschlange darstellte. Ihre kirschroten Lippen verzog sie bei Bedarf zu einem Schmollmündchen, und wenn sie wollte, konnte sie sogar ihre Stimme in ein sanftes Gurren verwandeln.

Doch meistens wollte sie nicht. Auch jetzt keifte sie weiter: »Deine Zieheltern müssen wir auch noch aufnehmen. Oswin hat nicht von ungefähr einen dicken Bauch. Er allein wird unsere Vorräte plündern.«

Seufzend dachte Ava, dass sie ungelegen kam, aber ihr Gespräch duldete keinen Aufschub. Und wenn sie es recht bedachte, dann kam sie immer ungelegen, denn ihre Schwägerin konnte sie nicht ausstehen. Um sich zu sammeln, blieb Ava kurz unter dem Eichenbalken stehen, der das strohgedeckte Vordach des Langhauses abstützte. Er gabelte sich oben, sodass er an die Irminsul erinnerte. Zwei Raben waren in den Balken geschnitzt – die Boten Wodans, die ihrem Herrn alles zutrugen, was sich in der Menschenwelt ereignete. Das Vordach war so breit, dass man an heißen Sommertagen dort im Schatten sitzen konnte. Wie alles andere in dem Haus war auch die Bank aus Eichenholz, denn Walram schätzte diesen Baum mehr als jeden anderen. Nur zu gerne hätte Ava kurz gerastet und sich an dem Rosenduft erfreut, der den kleinen Blumenkrügen entströmte, die links und rechts von der Bank standen. Rote Heckenrosen – welch ein Hohn in einem Haus, in dem eher Zwist als liebevolle Eintracht herrschte! Dabei hatte Roswitha wahrlich keinen Grund für ihr ständiges Gekeife. Walram besaß nicht nur das größte und prächtigste Haus auf dem Eresberg, sondern auch einen mehr als stattlichen Hof in Curbechi und weitere ausgedehnte Güter an der Diemel. Er ließ es seiner Frau an nichts fehlen und war ihr trotz ihres schwierigen Wesens nach wie vor herzlich zugetan.

»Meine Zieheltern bringen ihre eigenen Vorräte mit«, sagte Walram beschwichtigend. »Und die beiden Flüchtlinge bleiben doch nur für ein paar Tage. Im Handumdrehen haben wir die Franken verscheucht, und dann kann Liebhild wieder in ihre Hütte zurückkehren.«

Ava biss sich auf die Lippen, als sie hörte, wie siegesgewiss ihr Bruder war. Gleich würde sie ihm seine Zuversicht rauben müssen, aber es hatte keinen Sinn, das schmerzhafte Gespräch aufzuschieben.

Sie gab sich einen Ruck und trat ein. Nach der Hitze, die im Freien herrschte, empfand sie die Kühle und das Dämmerlicht in dem Haus, das nur über wenige Fenster verfügte, als angenehm. »Seid gegrüßt«, sagte sie freundlich.

Roswitha thronte an ihrem Lieblingsplatz: einem weich gepolsterten Eichenholzsessel, der im Winter neben der Feuerstelle stand und im Sommer neben dem größten Fenster. Und sie ging ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: der Schönheitspflege. Auf dem Gesicht klebte eine Paste, die nach Avas Rezept aus Honig, Mandelöl und Rosenöl bestand und die Haut zart machte. Zum Schutz vor Flecken hatte Roswitha den Oberkörper mit einem weißen Laken verhüllt. Nur ihre rechte Hand ragte heraus. Darin hielt sie den kleinen Eber aus Bronze fest, der so lang war wie ihr Zeigefinger, und den sie überallhin mitschleppte, weil er eines von Frís Lieblingstieren war. Die Göttin der Fruchtbarkeit hatte ihn »Kampfschwein« genannt. Die Figur ständig mit sich herumzutragen, hatte ihrer Schwägerin allerdings nichts genutzt, denn die Ehe war bisher kinderlos. Eine Leibmagd, deren hervorstechendste Merkmale Unscheinbarkeit und Gefügigkeit waren, stand hinter ihrer Herrin und wusch die Paste vorsichtig mit einem nassen Leinentuch ab.

Walram saß auf der mit Fellen gepolsterten Bank vor dem Holztisch und lächelte Ava an. Allein schon der liebevolle Blick ihres Zwillingsbruders tröstete sie. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, hatte sie das Gefühl, auf die glatte Oberfläche eines Sees zu schauen und ihr eigenes Bild zu betrachten. Der einzige sichtbare Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass er ein Mann war und sie eine Frau. Die rabenschwarzen Haare trug er schulterlang. An der Stirn waren sie nach sächsischer Sitte geschoren, damit sie höher erschien. Obwohl Ava und Walram verschiedenen Geschlechts waren, fühlten und dachten sie oft dasselbe, und wenn sie nur einen Tag voneinander getrennt waren, war es für beide so schmerzhaft, als habe man ihnen einen Teil ihres eigenen Körpers weggenommen. Für Ava war es wie ein Geschenk der Götter, dass es auf dieser Welt jemanden gab, mit dem sie so eng verbunden war, zumal sie ohne leibliche Eltern aufgewachsen waren. Sonnhild und Oswin hatten sich vorbildlich um sie gekümmert, aber trotzdem litten die Zwillinge darunter, nicht zu wissen, von wem sie abstammten. Jeder Sachse hielt seine Ahnen in Ehren, nur Ava und Walram hatten niemanden, dessen Andenken sie bewahren konnten.

»Ach, da ist wieder der Schatten meines Mannes!«, spottete Roswitha. »Du warst heute ja noch gar nicht da. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Sonst tauchst du gleich nach dem Morgenmahl auf und quälst uns bis zum Mittag mit deiner Anwesenheit.«

»Du hast vor der Hochzeit gewusst, dass meine Zwillingsschwester und ich unzertrennlich sind«, erwiderte Walram schneidend. Allmählich riss ihm wohl doch der Geduldsfaden. »Also beklage dich jetzt nicht. Durch Blutsbande sind Ava und ich so eng miteinander verbunden, wie zwei Menschen es nur sein können. Das ändert nichts an meiner Liebe zu dir, Roswitha, wie du sehr wohl weißt.«

Avas Augen leuchteten auf, als sie die junge Frau erblickte, die sich in die Ecke neben dem Webstuhl gekauert hatte und einen Säugling an ihre Brust drückte. »Liebhild! Wie ich sehe, geht es dir und deiner Tochter den Umständen entsprechend gut«, sagte sie herzlich.

Ein Ruck fuhr durch Liebhilds ausgemergelten Körper, und ein Strahlen überzog . ihr schmales Gesicht. »Ava, ich bin dir immer noch so dankbar für alles, was du für uns getan hast. Schau her!« Stolz hielt sie ihr den Säugling entgegen.

Ava trat näher und nahm ihr das kleine Bündel ab. Wie immer, wenn sie ein Kind in den Armen hielt, zog ein schmerzhaftes Sehnen durch ihre Brust. Wie gerne würde sie ein eigenes Kind haben, aber die Zeiten hatten sich nicht geändert, und wie ihre Vorgängerin Veleda war sie zu Keuschheit verpflichtet. Liebhilds Kleine war ein besonders hübsches Mädchen, mit großen braunen Augen, einem Stubsnäschen und dunklen Locken. »Sie hat sich prächtig entwickelt«, erwiderte Ava, während sie dem Kind sachte über den Kopf strich.

»Sie krabbelt schon fleißig«, sagte Liebhild stolz. »Nicht mehr lange, dann wird sie ihre ersten Schritte machen.«

»Ihr kennt euch?«, fragte Walram erstaunt.

»Bei der Geburt gab es Schwierigkeiten. Meine Nachbarin hat deshalb Ava holen lassen. Wir hatten Glück, dass sie gerade auf Eurem Gut war. Obwohl wir so arm sind, dass wir sie nicht entlohnen konnten, ist sie eilends gekommen und hat uns geholfen. Mit ihrer Heilkunst hat sie meiner Kleinen und mir das Leben gerettet.« Liebhild lächelte spitzbübisch. »Deshalb habe ich mein Mädchen Ava genannt.«

»Danke der Göttin Holda, nicht mir«, wehrte Ava ab. »Ich bin nur die Botin, die den Willen der Götter erfüllt. Ohne ihre Kraft wäre ich machtlos.« Ihr fiel auf, dass die Ecke, in der die Bäuerin kauerte, dunkler war als gewöhnlich. War es die Ahnung kommenden Unheils, oder gab es eine Last, die Liebhild mit sich herumschleppte?

Ava hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Bedauernd gab sie das Mädchen der Mutter zurück und wandte sich dann an ihren Bruder. »Wir müssen reden, Walram. Sofort. Unter vier Augen.«

Verräterisch hastig erhob er sich. Liebhild sah erschrocken zu ihm hoch. Ava verstand, wie unangenehm es ihr sein musste, der keifenden Roswitha allein ausgeliefert zu sein.

Die Leibmagd war mit ihrer Arbeit fertig und betrachtete mit ängstlich gerunzelter Stirn das Antlitz ihrer Herrin, um zu überprüfen, ob sie nur ja keinen noch so winzigen Rest Paste übersehen hatte. »Geh nur mit deiner Schwester!«, höhnte Roswitha. »Ihr habt euch auch erst gestern Abend zum letzten Mal gesehen.« Sie scheuchte ihre Leibmagd fort, riss sich das Laken vom Oberkörper und warf es wie ein trotziges Kind zu Boden.

»Sei gut zu Liebhild«, sagte Walram, ohne auf die Sticheleien seiner Frau einzugehen. »Sie hat einen schweren Marsch hinter sich. Und wenn es dich stört, dass sie zerlumpt ist, dann kannst du ihr eines deiner alten Gewänder schenken. Schließlich hast du genügend davon.«

Als sie einige Schritte vom Haus entfernt waren, seufzte er tief auf. »Du hattest so recht damit, mich vor Roswitha zu warnen, Schwesterchen. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht für meine Dummheit schelte. Aber ich Trottel begehre sie noch immer!«

Ava hatte diese Klage schon so oft gehört, dass sie keine Lust mehr verspürte, wieder einmal über die unglückliche Ehe ihres Bruders zu reden. »Lass uns zum südwestlichen Wachturm gehen«, schlug sie vor. »Dort hört uns niemand.«

»Geht es um die beiden Christen?«, fragte er, während sie durch die Gassen gingen. »Ich habe schon gehört, was geschehen ist.«

Ava verscheuchte das Bild von dem sommersprossigen Mönch, das sie immer wieder belästigte. Er war so anders als all die Männer, die ihr bisher begegnet waren. Verglichen mit ihm, wirkten die meisten Sachsen, abgesehen von Walram, so unfertig wie grob geschnitzte Holzfiguren. Finnian besaß eine zierliche Figur, fein geschnittene Gesichtszüge, geschwungene helle Brauen, strahlend blaue Augen, die von dichten Wimpern umrahmt wurden, und langgliedrige Finger. Bei ihm hatte sich der göttliche Künstler gar die Mühe gemacht, ihm zwischen den Augen quer über den Nasenrücken ein Band von winzigen Sommersprossen auf die lilienweiße Gesichtshaut zu tupfen. Allerdings musste Finnians Gott dabei betrunken gewesen sein, denn es sah aus, als habe er den Pinsel mal hierhin und mal dorthin geführt, kreuz und quer, ohne Sinn und Verstand. Dazu hatte er ihm auch noch diese leicht abstehenden Ohren verpasst, die sich nach außen zu recken schienen, damit ihnen nur ja nichts von dem entging, was um sie herum passierte. Jeden anderen Mann hätte dieser Makel entstellt, aber bei Finnian rundete er vielmehr das Aussehen eines lebensfrohen und leicht skurrilen Menschen ab.

Als sie ihm gegenüber gestanden hatte, war ihr aufgefallen, dass seine kreisrund geschnittenen Haare wie eine Feuerkrone in der Sonne leuchteten. Und dann hatte sie doch tatsächlich geglaubt, seine Lippen auf den ihren zu spüren! Es mussten die Nachwirkungen ihrer berauschenden Räuchermischung sein, die ihr eine solche Vision vorgegaukelt hatten. Sie beschloss, in Zukunft weniger Bilsenkraut zu benutzen. Sofern es überhaupt eine Zukunft für sie gab.

»Die Mönche sind meine geringste Sorge«, seufzte Ava. »Nein, es geht um viel ernstere Dinge.«

Sie waren am Ziel angekommen. Walram öffnete die Tür des hölzernen Turms und ließ Ava wie immer den Vortritt. Den Wächter schickte er mit einem Auftrag zum Tor. Als sie allein waren, stellten sie sich eng nebeneinander an die Brüstung und genossen schweigend den Blick. Unter ihnen breitete sich der undurchdringliche, sächsische Wald aus, ein schier unentwirrbares Dickicht aus Bäumen und Gestrüpp. Von oben sah es aus wie ein fantasievolles Mosaik, das sich aus den verschiedensten Grüntönen zusammensetzte. Die Buchen sorgten für zarte Tupfer, wohingegen die Tannen dunkle, fast schon schwarze Flecken bildeten. Im Tal bahnte sich die Diemel ihren Weg durch die Wildnis, wie eine dunkle Schlange, die über das Mosaik glitt.

Ava konnte sich kaum vorstellen, dass all diese Schönheit aus dem Leichnam des Ur-Riesen Tuisto entstanden war, aber wenn es die Sachsen und die nordischen Völker seit Menschengedenken so erzählten, dann musste es stimmen. Dieser Überlieferung zufolge erschlugen die ersten Götter – Wodan, Wili und We – Tuisto und schufen aus seinem Leib die Erde. Aus seinen Knochen türmten sie die Berge auf, die Schale seines Schädels nutzten sie als Himmelsgewölbe, sein Gehirn verwandelten sie in Wolken, und seine Haare formten sie zu Bäumen. Aus dem Leichnam floss so unermesslich viel Blut, dass es sich in den Seen und Meeren sammelte. Und mit seinen Brauen umzäunten die drei Götter die Menschenwelt. Nur wenige Auserwählte vermochten sie lebend zu überwinden. Und zu diesen wenigen, die vom schützenden Zaun aus in die anderen Welten gelangen konnten, zählte Ava.

Kein Windhauch regte sich. Nur das leichte Knacken des hölzernen Turmes, der sich in der Hitze dehnte, war zu hören. Es erinnerte Ava an einen Menschen, der sich wohlig in der Sommerwärme räkelte. Ihr schien es, als koste das Land in Stille und Andacht noch einmal die letzten schönen Tage aus.

»Ist unsere Heimat nicht herrlich? Bis zu meinem letzten Blutstropfen werde ich sie verteidigen«, sagte Walram nachdenklich.

»Es wird nichts nützen«, erklärte Ava ohne Umschweife. »König Karl wird die Eresburg einnehmen und die Irminsul zerstören.«

»Das ist unmöglich«, erwiderte er ungläubig. »Wir haben den Berg in eine uneinnehmbare Festung verwandelt.« Sein Blick glitt über den hoch aufgeschütteten Wall.

»Frí hat sich mir in einer Vision offenbart.« Ava holte tief Luft. »Morgen früh werden König Karl und seine Krieger hier sein und uns einschließen. Wir müssen noch heute möglichst viel von den Schätzen der Irminsul in Sicherheit bringen. Vor allem aber müssen wir den geheimen Fluchtweg aus der Burg noch einmal überprüfen, damit wir Menschen retten können.«

Etwas bange sah Ava ihren Bruder von der Seite an. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Bist du dir auch ganz sicher?«, hakte er nach. »Du weißt, ich zweifle nicht an deinen Weissagungen, aber vielleicht hast du ausnahmsweise etwas missverstanden ...«

Sie konnte nachvollziehen, dass er es nicht wahrhaben wollte, denn ihr war es zunächst genauso ergangen. »Die höchste Göttin, die von ihrem Himmelsthron aus alles sieht und alles weiß, offenbart sich üblicherweise keinem Sterblichen. Doch dass sie heute Nacht zu mir, einem Menschenkind, gesprochen hat, zeigt, dass unser Volk in höchster Not ist.«

Walrams Hände krallten sich an der Brüstung fest. »Was genau hat sie denn gesagt?«

Ava legte ihre rechte Hand auf die Linke ihres Bruders. »Hüte die Irminsul! Hüte meine Schätze, Ava! Das waren ihre Worte. Danach bin ich aufgewacht. Sofort habe ich eine einsame Stelle im Wald aufgesucht, um die Göttin genauer zu befragen.«

»Wie bitte? Du bist nachts ganz allein in den Wald gegangen, obwohl jeden Augenblick die Franken eintreffen können? Das war leichtsinnig!«, brauste Walram auf. »Ich werde mit dem Torwächter, der dich hinausgelassen hat, ein ernstes Wörtchen reden.«

Sie hätte seine Reaktion vorhersehen müssen. Oft genug hatten sie sich gestritten, weil Walram glaubte, er sei der Ältere und müsse sie beschützen. Dabei sagte ihr eine innere Stimme, dass sie vor ihm auf die Welt gekommen war. Deshalb hatte auch sie das Amulett um den Hals getragen, als man sie beide in der Quellhöhle gefunden hatte. Aber er hatte ja recht mit seiner Sorge, denn wenn sie die Götter um Rat fragte, war sie wehrlos und für einen Krieger, der schon seit Wochen keine Frau mehr in den Armen gehalten hatte, gewiss auch allzu verführerisch. Bei ihrem Ritual pflegte sie die Kleidung auszuziehen, als Zeichen dafür, dass sie alles ablegte, was sie mit der Welt der Menschen verband. Um die Götter zu rufen, entzündete sie ein Feuer, in dem sie allerlei magische Kräuter, Hölzer, Beeren und Wurzeln verbrannte, und trommelte so lange, bis sie der Menschenwelt entrückt war. Sobald sie die Nähe der Götter spürte, merkte sie nicht mehr, was um sie herum vor sich ging, und war daher ein leichtes Opfer. Aber das wollte sie Walram gegenüber nicht zugeben. »Es geht um unser Volk«, sagte Ava eindringlich. »Es ist unser beider Pflicht, es zu schützen, koste es uns auch unser eigenes Leben.«

»Du hättest mich wecken müssen«, erwiderte er vorwurfsvoll.

Ava seufzte über seine Hartnäckigkeit. »Du weißt, dass ich nur allein mit den Göttern reden kann.« Dann sah sie ihn traurig an. »Walram, wir dürfen niemandem sagen, was mir die Göttin offenbart hat. Auch Roswitha nicht. Du weißt, wie gern sie sich wichtigmacht. Nichts, aber auch gar nichts darf bekannt werden!«

»Es würde die Kampfkraft meiner Männer schwächen und Panik verursachen«, stimmte er zu. »Aber irgendeine Voraussage darüber, wie die Belagerung verlaufen wird, musst du treffen, das wird von einer Seherin erwartet.«

Ava hatte lange darüber nachgedacht. »Ich kann keine falsche Weissagung verkünden. Also werde ich verbreiten lassen, dass sich die Götter mir gegenüber noch nicht offenbart haben. Das ist zwar auch eine Lüge, aber sie ist aus der Not geboren.«

»Gibt es denn wirklich keinen Weg, um die Burg zu halten?«, fragte Walram.

Stumm schüttelte sie den Kopf.

»Wir werden die Festung mit aller Kraft verteidigen, auch wenn es aussichtslos ist.« Walram berührte das goldene Amulett, das ein Schmied nach dem Vorbild von Avas Anhänger gefertigt hatte. Selbst die drei Runen, die auf der Rückseite eingraviert waren, sahen genauso ungelenk aus wie auf der Vorlage.

»Die Götter selbst geben uns ein leuchtendes Beispiel«, sagte Ava. »Beim Weltuntergang kämpfen sie weiter, obwohl sie genau wissen, dass sie verlieren werden. Entscheidend ist die Haltung, mit der man sein Schicksal erträgt. Jeder muss den Lebensauftrag erfüllen, der ihm von den Nornen mitgegeben wurde.«

»Was man verliert, kann man neu gewinnen.« Walram klang schon wieder recht zuversichtlich. »Deine Vision hat nicht ausgeschlossen, dass wir die Burg zurückerobern, oder?«

Ava spürte, wie etwas von dem Druck in ihrem Inneren wich. Dankbar blickte sie ihren Bruder an. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Das wäre in der Tat eine Möglichkeit.«

»Es kann gar nicht sein, dass uns die Franken endgültig besiegen«, sagte Walram eindringlich. »Die sächsischen Ahnen, die aus dem Norden kamen, haben sich dieses Land hier untertan gemacht. Wir sind ein Kriegervolk. Das bezeugt auch unser Name. Wir sind die Saxnotas, die Genossen, die mit dem Sax kämpfen und mit ihrer Waffe unbesiegbar sind!«

»Das sind wir schon lange nicht mehr«, wandte Ava ein. »Als wir noch Kinder waren, hat König Pippin die Sachsen unterworfen. Die Vertreter unseres Volkes mussten geloben, alle Befehle des Königs zu befolgen, seine Herrschaft über das Land anzuerkennen und alljährlich dreihundert Pferde zu liefern.«

Walram zuckte die Achseln. »Man kann viel geloben, wenn der Tag lang ist. Die Franken waren nicht mächtig genug, ihre angebliche Oberherrschaft auch durchzusetzen. Wir haben uns kräftig gewehrt. Wenn ich an die vielen Nadelstiche denke, die wir ihnen mit unseren Überfällen auf ihr Gebiet verpasst haben ...«

»Karl ist nicht Pippin«, schnitt Ava ihm das Wort ab, bevor er ihr wieder einmal allzu ausführlich seine Heldentaten schilderte, so wie es jeder Mann liebte. »Pippin war mit anderen Angelegenheiten beschäftigt, nachdem er uns unterworfen hatte. Karl jedoch kann seine ganze Kraft auf uns konzentrieren. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod zwischen unseren Völkern. Es geht um die Zukunft unseres Landes: frei und den Göttern verbunden oder fränkisch und christlich. Frí hat mir bedeutet, dass dieser Krieg mehr als dreißig Jahre dauern wird. Und er wird mit unerbittlicher Härte geführt werden. Dreißig Jahre – stell dir das vor, Walram! Das ist eine ganze Generation.«

Walram räusperte sich. »Was wird aus uns, Ava? Bleiben wir zusammen, du und ich?« Seine Stimme klang heiser.

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Meine Vision hat darauf keine Antwort gegeben, auch nicht auf die Frage, wer den Krieg gewinnen wird.«

Walram deutete auf seinen goldenen Anhänger. »Der Mann und die Frau unter dem Weltenbaum, das sind wir, Ava. Du und ich. Nichts kann uns trennen.«

»Die Liebe ist die höchste Schutzmacht. Sie wird uns die Kraft für den Kampf geben. Das haben sich bestimmt auch unsere Eltern gedacht, als sie das Amulett anfertigen ließen.« Ava seufzte. »Falls es überhaupt von unseren Eltern stammt.«

Walram blickte ins Land hinaus. »Warum, Ava, lassen die Götter zu, dass uns die Franken besiegen?«

Ava lehnte sich an seine Brust. Während er ihr tröstend über den Kopf strich, überlegte sie, ob sie richtig gehandelt hatte. Sie hatte ihm das Schlimmste verschwiegen. Die Göttin hatte noch mehr zu ihr gesagt: »Jemand, der zu den Engern gehört, wird die Verantwortung dafür tragen, dass die Eresburg und die Irminsul fallen. Ihr seid selbst schuld an eurem Schicksal.«

* * *

Silberfarben, riesig und prall – verlockend wie eine Münze glänzte der Vollmond am Himmel, umgeben von einem Kranz aus Licht. Ava schöpfte aus ihm magische Kraft, und sie hatte deshalb schon viele Nächte damit verbracht, in seinem Schimmer die Götter um Rat zu bitten, heilkräftige Kräuter zu sammeln, in die Zukunft zu blicken oder die Zauberkunst auszuüben. Mond und Sonne waren göttliche Geschwister, die man nicht genug verehren konnte, machten sie doch durch ihr Licht das Leben überhaupt erst möglich.

Auch in dieser Nacht wollte Ava die sanften Strahlen des Mondgottes, der auf dem monatlichen Höhepunkt seiner Schönheit war, für die Befragung der Runen nutzen. Die Seherin kniete vor dem Opferstein, der zu Füßen der Irminsul stand. Für die Menge, die dem Ritual stumm beiwohnte, sah es aus, als sei sie in ein Gebet versunken, aber in Wirklichkeit war sie viel zu aufgewühlt, um mit den Göttern zu sprechen. Vielleicht zum letzten Mal würde sie an dieser heiligen Stätte die Runen befragen und von den Göttern Weisungen empfangen. Tränen steckten in ihrer Kehle fest, wo sie sich dick und hart wie eine eiserne Kugel anfühlten.

Wie viele Nächte noch würde die Irminsul stehen? Zwei, drei oder vielleicht noch mehr? Lange konnte es nicht mehr dauern. Späher hatten gemeldet, dass König Karl Walrams leer geräumten Hof in Curbechi beschlagnahmt hatte. Es gab keinen Zweifel: Am nächsten Tag würde er eintreffen. Ava verstand nicht, warum die Göttin ihr aufgetragen hatte, ein Heiligtum zu hüten, das sowieso bald fallen würde.

Doch wenigstens einmal noch wollte sie sich am Anblick der Irminsul erfreuen. Niemand wusste, wann und von wem die Säule erschaffen worden war, aber ganz gewiss waren es keine Menschen gewesen, denn dafür war sie viel zu gewaltig und zu kunstvoll verziert. Riesen mussten sie aufgestellt haben, und bestimmt hatten die handwerklich geschickten Zwerge die Schnitzereien ausgeführt. Die eingekerbten Figuren schilderten, wie die Welt aus Feuer und Eis entstanden war, wie Wodan und seine Brüder den ersten Mann und die erste Frau aus zwei Treibholzstämmen erschaffen hatten, wie sich die beiden Göttergeschlechter der Asen und der Wanen befehdet und schließlich Frieden geschlossen hatten. Gemeinsam kämpften sie gegen das Wolfsungeheuer und die Weltenschlange. Eine andere Schnitzerei stellte die Entdeckung der Runen durch Wodan dar. Auch der Untergang der Welt wurde anschaulich gezeigt und die Entstehung eines neuen Universums.

Dass der Weltenbaum fallen würde, war für Ava unvorstellbar, denn er existierte schon ewig, obwohl eine bösartige Schlange an seinen Wurzeln beständig nagte. Aber zu seinen Füßen befand sich eine Quelle, die heiliges Wasser spendete und von den drei Nornen gehütet wurde. Die Jungfern mit den Namen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heilten die Wunden des Baumes und wachten über das Leben von Menschen und Göttern. Auf einem Webstuhl webten sie die Schicksalsfäden, wobei ihnen Menschenknochen als Schiffchen dienten und Totenschädel als Webgewichte. Jedes menschliche Leben folgte einem Muster, das aber nicht für alle Zeiten festgelegt war, denn die Vergangenheit und eine sich ständig verändernde Gegenwart bestimmten die Zukunft, und somit konnten die Menschen durch ihre Taten ihr Schicksal beeinflussen. Avas Aufgabe als Seherin bestand hauptsächlich darin, die einzelnen von den Nornen gewebten Fäden zu erkennen und zu unterscheiden zwischen dem, was von den Schicksalsgöttinnen bestimmt worden war, und dem, was noch geändert werden konnte und musste.

Auch an diesem Abend wollte sie die Nornen anrufen, um die Wahrheit über die Tötung der heiligen Pferde zu erkunden. Mochte ihr Herz auch voller Trauer sein, sie musste ihre Pflicht erfüllen. Alle Kraft zusammennehmend, erhob sie sich und drehte sich zur Menge um. Mehrere Hundert Menschen waren gekommen, um zu erfahren, was mit den beiden Missetätern geschehen würde. Sie hatten sich hinter dem kniehohen Weidenzaun versammelt, der die heilige Stätte halbkreisförmig umschloss. Neben dem Tor standen die beiden Angeklagten, Finnian und Egbert. Beide waren nicht nur gefesselt, sondern auch geknebelt, denn die Bewacher befürchteten, sie könnten mit christlichen Sprüchen die heilige Befragung der Götter stören. Ava erkannte verwundert, dass Finnians Augen leuchteten, als ziehe ihn das Ritual trotz seiner Angst in den Bann. Egbert hingegen beobachtete Ava lauernd, wie ein Jäger, der auf einen Fehler seiner Beute wartete, um sie zu töten. In der ersten Reihe konnte Ava Sonnhild, Oswin und Walram erkennen. Ihr Bruder lächelte ihr verstohlen zu. Roswitha fehlte. Sie hatte es wohl vorgezogen, schmollend zu Hause zu bleiben.

Trotz der vielen Menschen war es so ruhig, dass Ava das sanfte Knistern der Luft hören konnte. Wie immer kurz vor einem Ritual baute sich um sie herum eine magische Kraft auf, die ihr verriet, dass die Götter nahten. Von dem Hain, der sich südlich an das Heiligtum anschloss, wehte der leise Gesang einer Nachtigall herüber.

Ava hatte Eoba gebeten, sie bei der Runenbefragung zu unterstützen, weil sie ihn von allen vier Priestern, die bei der Irminsul lebten, am meisten schätzte. Im Gegensatz zu den anderen besaß er ein stilles und nachdenkliches Wesen. Er entzündete das Festfeuer und weihte es im Namen Donars mit dem Hammerzeichen. »Durch dieses Feuer sind die Götter unter uns anwesend«, verkündete er.

Ava spürte, dass Finnian sie anstarrte, und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Im Licht des Feuerscheins schienen Flammen aus seinem roten Schopf zu züngeln. Bewunderung las sie in seinem Blick, aber auch Schuldbewusstsein. Sollte er doch etwas mit der Ermordung der Pferde zu tun haben? Nein, es war unvorstellbar. Sie gab sich einen Ruck und trat ans Feuer. Als Opfer für die Götter nahm sie ihren schweren goldenen Armreifen ab und warf ihn in die Flammen. »Wir werden die Runen befragen, um zu erkunden, wie erzürnt die Götter sind und welche Strafe sie für den oder die Mörder ihrer heiligen Pferde vorsehen«, verkündete sie.

Ava drehte sich wieder um und breitete vor dem Opferstein ein weißes Tuch aus. Mit ihrem Stab malte sie in Brusthöhe alle vierundzwanzig Runen in die Luft. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse, und allmählich spürte sie, wie die magische Kraft, die sie umgab, immer stärker wurde.

Schließlich stand sie wieder mit dem Gesicht zum Opferstein. Sie hob den Stab in die Höhe. »Ihr drei Nornen wacht über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschen. Helft mir, das Netz der Schicksalsfäden zu erkennen, das ihr für diese beiden Männer gewebt habt.«

Sie umfasste den Stab mit beiden Händen. »Wodan, du höchster aller Götter, Entdecker der Runen! Neun Tage lang hast du am Weltenbaum gehangen, hungernd und dürstend, bis du die Erkenntnis von den Runen erlangt hast, durch die Götter und Menschen miteinander sprechen können. Hilf uns mit deiner Weisheit und Zaubermacht!«

Sie legte den Stab auf den Boden und setzte sich, mit dem Rücken zur Menge, auf einen Hocker, den Eoba ihr hingestellt hatte. Dann griff sie nach dem flachen Weidenkorb, in dem sie die Runen aufzubewahren pflegte. Ava hatte alle vierundzwanzig Stäbchen selbst gefertigt, das Eschenholz zurechtgeschnitten, die heiligen Zeichen hineingeritzt und mit ihrem eigenen Blut nachgezeichnet. Dadurch waren die Runen zu einem Teil ihrer selbst geworden.

Eoba verband ihr die Augen mit einem schwarzen Tuch. Ava entschied, zuerst Finnians Schicksal zu erkunden, da es ihr mehr am Herzen lag. »Welches Urteil sprecht ihr, verehrte Götter, über den christlichen Missionsprediger Finnian?«

Sie konzentrierte sich auf ihre Frage, während sie die Stäbchen mit der Hand mischte. »Runen, raunet rechten Rat!«, sprach Ava. Dann legte sie den Korb auf ihren Schoß und ließ die Hände darüber schweben, um den Kräften nachzuspüren, die von den Runen ausgingen. Wo lag die richtige Antwort auf ihre Frage? Es kribbelte in ihren Fingern, als sie die rechte Ecke des Korbs erreichte. Von dort zog sie drei Stäbchen heraus und legte sie vor sich auf das weiße Tuch.

Eoba nahm ihr die Augenbinde ab. Obwohl es sie danach drängte, den Wurf anzusehen, musste sie zuerst zum Himmel blicken, dem Sitz der Götter. »Wodan, öffne meine Augen, damit ich die Runen richtig deute!«, bat sie mit erhobenen Armen. Dann ließ sie sie sinken und betrachtete die Runen. Unwillkürlich atmete sie auf. Sie hatte zwar nichts anderes erwartet, war aber dennoch erleichtert, als sie die Bestätigung durch die Götter las.

»Finnian ist in friedlicher Absicht gekommen«, verkündete Ava. Sie schloss die Augen und sah das Geschehen im heiligen Hain bei Twissene ganz deutlich vor sich. »Mit dem Tod der Pferde hat er nichts zu tun, ja, er hat sogar versucht, seinen Gefährten davon abzuhalten. Er will uns nur mit Worten von seinem Anliegen überzeugen. Die Götter raten uns, ihn unbehelligt ziehen zu lassen, wenn die Kämpfe vorbei sind.«

Doch die Runen verrieten Ava noch mehr, als sie der Menge gegenüber zugeben wollte. Finnian verfügte über eine starke Überzeugungskraft und die Fähigkeit, gegensätzliche Kräfte zu vereinen. War dies seine Bestimmung, die ihm die Nornen in die Wiege gelegt hatten? Und warum hatte es ihn dann ausgerechnet nach Sachsen verschlagen?

Wieder wurden Ava die Augen verbunden. Sie hatte Egbert von Anfang an instinktiv gehasst, doch sie versuchte, dieses Gefühl beiseitezudrängen und sich stattdessen dem Willen einer höheren Macht zu öffnen. »Welches Urteil sprecht ihr, geliebte und verehrte Götter, über den christlichen Missionsprediger Egbert?«

Diesmal spürte sie, dass die richtigen Runen an drei verschiedenen Stellen des Korbs zu finden waren. Zielsicher griff sie nach links unten, dann nach rechts unten und schließlich in die Mitte.

Auch hier war das Orakel eindeutig, wie Ava erkannte, nachdem Eoba ihr die Binde wieder abgenommen und sie Wodan erneut angerufen hatte. Die Götter hatten ihr die Todesrune geschickt – ein unmissverständlicher Befehl, den Missionsprediger für die Tat mit seinem Leben bezahlen zu lassen.

»Egbert hat die Pferde getötet und dadurch die Götter beleidigt. In ihm steckt eine große zerstörerische Kraft. Er ist selbstsüchtig und gefühlskalt. Der Frevel, den er begangen hat, kann nur durch sein Blut gesühnt werden.« Ava stockte. Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich, doch sie konnte das Urteil der Götter nicht aussprechen. Menschenopfer gab es bei den Sachsen schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Noch nie hatte sie den Tod eines Menschen befohlen. Es war viel schwerer, als sie gedacht hatte. Und sie würde das Todesurteil selbst vollstrecken müssen. Egbert würde gefesselt auf dem Opferstein liegen, und sie wäre gezwungen, ihm mit einem Messer die Kehle durchzuschneiden. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Wen wollten die Götter strafen – Egbert oder sie? Mochte er ihr auch noch so verhasst sein, er war ein Mensch, und deshalb konnte sie seinen Tod nicht anordnen. Aber als Seherin musste sie den Willen der Götter verkünden, nicht ihren eigenen.

Sie fasste sich und setzte nochmals an. »Die Götter ...« Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Keinen Ton brachte sie mehr heraus. Sie spürte Eobas verwirrten Blick und hörte ein leises Raunen in ihrem Rücken. Die Zuschauer wurden langsam unruhig.

Ava fühlte sich dadurch unter Druck gesetzt, und ehe sie sichs versah, entfuhren ihr die Worte: »Die Götter befehlen uns, ihn auszupeitschen und einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang am Pfahl dem Gespött der Menge auszusetzen. Das Urteil wird gleich morgen früh vollstreckt.«

Sie biss sich auf die Lippen, doch es war zu spät. Die Worte ließen sich nicht mehr zurückholen. Sie hatte den Willen der Götter missachtet – und damit den schlimmsten Frevel begangen, den sie sich als Seherin zuschulden kommen lassen konnte.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Was hatte die Göttin geweissagt? »Jemand, der zu den Engern gehört, wird die Verantwortung dafür tragen, dass die Eresburg und die Irminsul fallen. Ihr seid selbst schuld an eurem Schicksal.« Und dieser jemand war sie, Ava, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes gewollt hatte, als den Göttern und den Sachsen zu dienen. Sie hatte den Zorn der Götter heraufbeschworen – und damit vielleicht sogar den Untergang ihres Volkes.

* * *

Am Morgen waren die Franken angekommen, und schon am späten Nachmittag hatten sie ihren ersten Angriff begonnen. Aus dem Jubel der Sachsen und den Flüchen der Franken schloss Finnian, dass Karls Krieger es nicht schafften, die südliche Befestigung zu überwinden. Obwohl der winzige Verschlag, in den man ihn gesperrt hatte, ein gutes Stück von dem blutigen Geschehen entfernt war, hörte er viel mehr, als ihm lieb war.

Seit dem Angriff kniete er neben dem Strohlager und betete so inbrünstig wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er flehte Gott an, den fränkischen Truppen zu einem raschen Sieg zu verhelfen, in den Heiden das Licht des wahren Glaubens zu entzünden und seinem Gefährten, den man im Morgengrauen abgeführt hatte, beizustehen. Ab und an schob Finnian eine kleine Bitte dazwischen: Er, der Herr, möge doch auch dafür sorgen, dass sein armer Knecht Finnian den Krieg wohlbehalten überstehe und geläutert in sein Kloster zurückkehren könne. Der harte Boden scheuerte die Knie auf, bis sich Finnian vor Schmerz kaum rühren konnte, aber er nahm es als willkommene Buße für seine Torheit. Und was waren schon wunde Knie gegenüber den Schmerzen, die Egbert gewiss klaglos erduldete?

Als die Sonne merklich an Kraft verlor, verstummte endlich das Kampfgebrüll. Zumindest diesen Tag habe ich überlebt, dachte Finnian erleichtert und widmete dem Herrn ein inniges Dankgebet. Der rötliche Schein der untergehenden Sonne, der durch das winzige Fenster hereinfiel, erfüllte den Verschlag.

Auf einmal hörte er leichte gleichmäßige Schritte. Er beschloss, auf seinen Knien zu bleiben und den Heiden den Anblick wahrer Frömmigkeit zu bieten. Mochten sie ruhig sehen, wie inbrünstig er seinem Gott diente. Außerdem gab es sowieso keinen Hocker, auf den er sich hätte setzen können. In dem Verschlag war nur ein einfacher Strohhaufen mit zwei löchrigen Wolldecken hergerichtet worden, sonst nichts. Er neigte den Kopf noch tiefer über seine gefalteten Hände und fing an, laut das Paternoster zu beten.

Der Riegel wurde entfernt. Finnian sah nicht auf, als jemand hereintrat, aber der Geruch nach teuflischem Räucherwerk verriet ihm, wer seine Andacht unterbrochen hatte. Sein Herz fing an zu rasen, und gleichzeitig schalt er sich dafür. Ein Mann, der vor einer Frau Angst hatte, einfach lächerlich!

Hinter Ava wurde abgesperrt. Ruhig wartete sie, bis er sein Gebet beendete. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er »Amen« sprach. Er überlegte, ob er aufstehen sollte, unterließ es dann aber, um ihr zu zeigen, dass sie seine Kontemplation störte. Wohl oder übel musste er zu ihr aufsehen.

Wieder war er sich sicher, dass die heidnischen Seherinnen Unzucht trieben. Weshalb sonst trug sie ihr Haar offen wie eine Hure? Sittsame Frauen versteckten ihr Haar unter einem Schleier oder hatten es zumindest zu Zöpfen geflochten. Ihre Haut war so unnatürlich weiß, als habe sie sich geschminkt. Die Schatten unter ihren Augen waren noch tiefer als am Vortag. Kein Wunder, wenn sie nachts der Lust frönte, anstatt zu schlafen! Und dann noch dieses abstoßende Gewand! Bestimmt trug sie es, um in die Haut der Tiere zu schlüpfen, aus denen es gefertigt war, und ihren wilden Trieben freien Lauf zu lassen. Finnian fiel auf, dass das verruchte Amulett fehlte, mit dem sie kundtat, welch fleischlichen Gelüsten sie sich an der Irminsul hingab. Egbert hatte recht: Ava war der leibhaftige Satan. Der schlaue Teufel war in die Maske einer schönen Frau geschlüpft, um dem Herrn fromme Männerseelen abspenstig zu machen.

In der linken Hand hielt sie einen Becher, in der rechten eine Schüssel. Sie stellte beides auf dem Boden ab. »Ich bringe dir das Abendessen. Teil dir das Wasser gut ein, es muss für zwei Tage reichen. Bedank dich bei deinem König dafür. Der Sommer war bisher sehr trocken, und an die einzige Quelle, die noch Wasser spendet, kommen wir nicht mehr heran.«

»Danke«, krächzte er. Erst jetzt spürte er, wie elend sich sein Magen anfühlte und wie trocken seine Kehle war. Er hatte seit dem Morgen nichts mehr zu sich genommen. Vorsichtig warf er einen Blick in die Schüssel. Sie enthielt einen schleimigen, dünnen Haferbrei. Ob er vergiftet war? Schließlich kannte sie sich mit Kräutern bestens aus. Auch wenn sie Finnian durch den Runenwurf entlastet hatte, war das noch kein Beweis dafür, dass sie ihn tatsächlich überleben ließ. Womöglich hatte sie auf die Todesstrafe nur verzichtet, um König Karl nicht unnötig zu reizen, und würde Egbert und ihn stattdessen in aller Heimlichkeit umbringen lassen. Bei einer Belagerung starb es sich schnell, und niemand würde fragen, wie es geschehen war. Finnian beschloss zu fasten. Er musste ohnedies Buße tun, schließlich hatte er den Namen Gottes missbraucht, um seine selbstsüchtigen Pläne zu verfolgen.

»Wie sind die Kämpfe ausgegangen?«, fragte er zögernd.

»Auf unserer Seite gab es zum Glück nur wenige Leichtverletzte. Für mich hat es sich kaum gelohnt, die Verbände auszupacken. Die Franken dürften dagegen ziemlich viele Tote zu beklagen haben. Wir haben ihnen gezeigt, wie geschickt wir kämpfen und wie gut wir unsere Burg zu sichern verstehen.« Stolz klang aus Avas Stimme. Ein müdes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie auf ihn herunterblickte. »Noch nie hat ein Mann vor mir gekniet.«

Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Hastig rappelte er sich auf. Doch vom langen Knien waren seine Beine taub geworden, und er geriet ins Taumeln. Ava trat auf ihn zu, um ihn zu stützen. Er wollte nach ihrem Arm greifen – und streifte stattdessen ihre linke Brust. Sofort zuckte er zurück, als habe er sich die Finger verbrannt. Amüsiert blickte Ava ihn an. Ekel, aber auch Wollust durchströmten ihn. Er spürte, wie ihm vor Scham das Blut ins Gesicht schoss. Hastig suchte er nach einem unverfänglichen Thema, um von seinem peinlichen Ausrutscher abzulenken. »Wie geht es meinem Gefährten?«, fragte er.

Ihre Lider flatterten kurz – ein Anflug von Schuldbewusstsein? Ava zuckte die Achseln. »Ich habe mir die Bestrafung nicht angesehen.«

Finnian wünschte, sie würde endlich gehen. Er hatte auch so schon genug damit zu tun, das Gefühlschaos zu ordnen, das ihre Anwesenheit in ihm entfacht hatte. Demonstrativ faltete er seine Hände und blickte zu Boden.

Doch nach einem kurzen Schweigen ergriff sie noch einmal das Wort. »Unsere Leute halten euch für Spione im Dienste des fränkischen Königs. Wie konntet ihr nur so dumm sein, euch kurz vor dem Angriff hierher zu begeben?«

Das hatte er sich auch schon gefragt. Aber natürlich würde er nie zugeben, dass sie recht hatte. Nur bis kurz hinter die Grenze hatte er sich wagen wollen, gerade so weit, dass er guten Gewissens hätte behaupten können, bei den Sachsen gewesen zu sein. Doch Egbert hatte ihn unerbittlich immer weiter geschleppt, durch ein fast menschenleeres Land, bis zu dem heiligen Hain. »Wir wollten es noch einmal im Guten versuchen, bevor euch das Evangelium mit dem Schwert beigebracht wird«, erwiderte er matt.

»Du siehst wahrlich nicht wie ein Held aus«, sagte sie offen. »Komm, sag schon, was hat dich wirklich zu uns getrieben?«

War er so leicht zu durchschauen? Er presste die Lippen aufeinander.

»Findest du nicht, dass ich ein Recht darauf habe, es zu erfahren?«, beharrte sie. »Immerhin habe ich euch beiden das Leben gerettet.«

»Das haben die Runen getan«, erwiderte er.

Ava verzog spöttisch den Mund. »Ich dachte, ihr glaubt nicht daran. Hast du schon nach einem Tag als Gefangener deine Meinung geändert?« Sie trat noch näher an ihn heran. Er wich so hastig zurück, dass er fast über den Saum seiner Tunika gestolpert wäre. Von dem Geruch ihrer Kleidung wurde ihm schwindlig. »Was glaubst du, wie sehr sich die Sachsen gefreut hätten, wenn ich den Tod für euch befohlen hätte?«, raunte Ava ihm zu. »Sie wollen Blut sehen. Immerhin lagert euer allerchristlichster König vor unserer Burg. Das nährt den Hass. Voller Freude hätten sie zugesehen, wie ich euch den Göttern opfere.«

Nie und nimmer konnte er es ihr erzählen. Er wollte nicht, dass sie ihn auslachte, wenn sie erfuhr, welch törichten Traum er hegte. Aber es wäre unklug, sie zu verärgern. Deshalb beschloss er, ihr eine Abwandlung jener gotteslästerlichen Lüge zu erzählen, die er seinem Abt gegenüber gebraucht hatte. »Gott hat mich zu euch geschickt«, sagte er schließlich. »In meinem Heimatkloster hat er mich mit der Mission beauftragt, und vor einigen Nächten ist er mir wieder im Traum erschienen. Geh sofort zu den Sachsen, Finnian, hat er zu mir gesagt, dort wirst du gebraucht. Sei unbesorgt, niemand wird dir auch nur ein Haar krümmen, denn du stehst unter meinem Schutz. Und dann habe ich geträumt, die Irminsul würde zerstört und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, würde eine christliche Kirche errichtet. Dem Befehl Gottes muss man gehorchen, sonst verwirkt man sein Seelenheil.« Er hoffte, der Herr würde ihm angesichts der Notlage verzeihen, dass er dessen Namen schon wieder missbrauchte, weil er einen Ruf vortäuschte, den er niemals erhalten hatte.

Er zwang sich, Ava anzusehen, weil er wissen wollte, ob sie seine Lüge glaubte. Er erschrak. Ihre Gesichtsfarbe war noch weißer geworden, fast schon durchscheinend, und ihre Augen wirkten unnatürlich groß und starr. »In der Tat, wenn man den Göttern nicht gehorcht, erregt man ihren Zorn«, sagte sie langsam. »Ich verstehe dich besser, als du denkst. Du hast richtig gehandelt. Was genau geschieht denn bei euch Christen, wenn man sein Seelenheil verwirkt, wie du es nennst?«

Zeigte sie tatsächlich so etwas wie Reue? »Dann landet man in einem ewigen Feuer, das wir Hölle nennen«, sagte Finnian. Sie zuckte zusammen, und er beschloss, die Schrecken weiter auszumalen. Vielleicht war ihre Seele doch noch zu retten. Schließlich war auch aus Maria Magdalena eine tugendhafte Frau geworden. »Mit glühenden Zangen ergreifen widerlich stinkende Teufel die verirrten Seelen und stoßen sie in einen riesigen Schlund, der Flammen spuckt. Aus diesem Feuer gibt es kein Entrinnen.«

»Niemals?«, fragte sie zögernd.

»Niemals«, bekräftigte er, zufrieden mit seinem wenn auch bescheidenen Missionserfolg. Immerhin hatte er eine wunde Stelle bei ihr entdeckt, und es mochte sich lohnen, dort anzusetzen, sollte sich die Gelegenheit noch einmal bieten.

Ava gab sich einen Ruck. »Schließ mich bitte in dein Gebet ein, wenn du das nächste Mal mit deinem Gott sprichst.« Sie klopfte an die Tür, die sofort geöffnet wurde. Ava ging ohne einen Abschiedsgruß davon.

Finnian blieb verwirrt zurück. Voller Abscheu blickte er auf seine Hand. Blutrot sah sie aus im Schein der untergehenden Sonne. Noch immer fühlte er Avas Brust zwischen seinen Fingern. Weich hatte sie sich angefühlt, und so zart ... Nur Schmerzen konnten dieses ekelhaft schöne Gefühl vertreiben. Seine Mutter, die aus dem irischen Fischerdorf Áth Cliath stammte, hatte ihm von dem heiligen Coemgen erzählt, der sich als Eremit zurückgezogen hatte, um mit Gott allein zu sein. Als ihn eine schöne Frau in seiner Einsamkeit aufsuchte und in Versuchung führte, warf er sie in den nahe gelegenen See und wälzte sich anschließend nackt in Brennnesseln, um die Begierden seines Körpers abzutöten. Doch da Finnian in seinem engen Verschlag dem löblichen Beispiel des Heiligen nicht folgen konnte, musste er sich mit dem harten Boden kasteien. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut, als er wieder auf die Knie sank, und fügte seinem Gebet eine neue Bitte hinzu: »Und, oh Herr, bewahre mich vor den sündhaften Verlockungen des Fleisches.«

* * *

Das Gespräch mit Finnian beschäftigte Ava noch, als sie schon längst wieder in ihrem Häuschen war, in dem früher Veleda gewohnt hatte. In der vergangenen Nacht hatte sie keinen Schlaf gefunden, weil sie zusammen mit ihrem Bruder einen Teil der Schätze, die der Irminsul von Gläubigen geschenkt worden waren, in aller Stille durch einen geheimen Fluchtgang aus der Burg hinaus und in Sicherheit geschafft hatte. Den Rest der Nacht hatte sie damit verbracht, Frí all ihren Schmuck, bis auf das Amulett, zu opfern, um den Zorn der Göttin zu besänftigen. Obwohl Ava todmüde war, kam sie nicht zur Ruhe. Sie beschloss deshalb, noch etwas Wundsalbe anzufertigen, von der man in Kriegszeiten nie genug vorrätig haben konnte.

Ihr Arbeitstisch war sauber gewischt wie immer. Sie nahm ein Messer und schnitt die Blüten von Kamille und Ringelblumen sowie die Blätter und Wurzeln von Beinwell auf einem Holzbrettchen klein. Während ihre Hände beschäftigt waren, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab.

Schuld an ihrer Unruhe war Finnian, der sie mit seiner Schilderung der Feuerqualen zutiefst erschreckt hatte. Bisher hatte sie immer geglaubt, die christliche Hölle sei nur eine Verunglimpfung von Holdas Totenreich, und deshalb hatte sie sich nicht näher damit beschäftigt. Aber was wäre, wenn Finnian doch recht hätte? Noch nie war Ava der Gedanke gekommen, dass sie nach ihrem Tod für eine Verfehlung auf ewig bestraft werden könnte, und diese Vorstellung ängstigte sie noch mehr als die Schrecken, die ihr als Lebende zustoßen mochten.

In Avas Glauben waren die Welten der Toten und der Lebenden nicht so klar voneinander geschieden. Da alle Wesen zu ein und demselben Weltenbaum gehörten, war es möglich, zwischen ihnen zu reisen, und jede Hexe beherrschte diese magische Kunst. Das Reich der Göttin Holda, die auch über die Toten wachte, bestand aus riesigen unterirdischen Hallen, in denen sich die Verstorbenen von den Anstrengungen des Lebens ausruhen konnten. Es war ein Ort des Friedens, der Wärme und der Geborgenheit, bestimmt für jene, die nicht auf dem Schlachtfeld starben. Die Krieger hingegen, die im Kampf ihr Leben ließen, wurden von den Walküren ehrenhaft nach Walhall geleitet, in Wodans Hallen, in denen sie mit üppigen Gelagen für ihren Mut belohnt wurden. Dort hielten sie sich bereit, um gemeinsam mit den Göttern in den letzten Kampf am Ende aller Tage zu ziehen.

Das Totenreich war die einzige der neun Welten, in die Ava bisher nicht gelangt war, so sehr sie sich auch bemüht hatte. Wollte Holda ihr den Zugang verwehren? Doch warum? Hing es mit dem Schicksal ihrer Eltern zusammen? Ava hatte schon viel über die Bedeutung der Runen nachgegrübelt, die in die Rückseite ihres Amuletts geritzt worden waren. Othala, die Rune, die für Verwurzelung, Heimat und Sippe stand. Dann Naudhiz, die Ava wie eine Beschwörung in höchster Not erschien, denn die Rune wurde auch benutzt, um ein Schicksal zu wenden. Und Tiwaz, das Zeichen des Kriegs- und Friedensgottes Saxnot, der von den Gläubigen oft angerufen wurde, wenn sie Gerechtigkeit erlangen wollten. Ava deutete die Runen so, dass ihre Eltern aus der Heimat vertrieben worden waren und deshalb die Götter um Beistand anflehten. Veleda hingegen hatte damals in der Quellhöhle die heiligen Zeichen als Aufforderung verstanden, den Kindern in ihrer Not beizustehen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihnen ein Heim zu geben. Erst vor Kurzem hatte Ava nach Absprache mit ihrem Bruder die Göttin Holda in einem Ritual beschworen, ihr endlich das Schicksal ihrer Eltern zu enthüllen, da sie die Ungewissheit nicht länger zu ertragen glaubte. Waren sie womöglich fränkischer Abstammung? Würde Walram im Krieg vielleicht unvermittelt einem bisher unbekannten Bruder gegenüberstehen, der auf der feindlichen Seite kämpfte? Immerhin war die Eresburg eine Grenzfeste, und eine Fränkin, die eine Geburt verheimlichen musste, würde die ungewollten Kinder am besten auf die sächsische Seite bringen. Ava fühlte sich wie ein Baum, der keine Wurzeln hatte und beim ersten Sturm umzustürzen drohte. Doch nun stand ihnen die »Windzeit« bevor, wie der Weltuntergang in einer uralten Weissagung genannt wurde, ein Orkan, der alles Vertraute hinwegfegen würde.

Und was wurde dann aus ihr, Ava? Sie hatte den schimpflichsten aller Frevel begangen und den Willen der Götter missachtet, indem sie Egbert von der Todesstrafe befreit hatte. Bisher hatte sie sich nicht die Frage gestellt, ob Menschen wie sie, die den Zorn der Götter erregt hatten, auch zu Holda gelangten wie alle anderen. War es nicht ungerecht, dass alle im Totenreich ihren Frieden fanden, gleichgültig ob sie in ihrem Leben vorwiegend Gutes oder Schlechtes begangen hatten? Doch wie konnte sie dem Schicksal entgehen, von den Göttern für immer verstoßen zu werden?

Zu ihrer Verwunderung verspürte Ava den Wunsch, mit Finnian über ihre Sorgen zu reden. Vielleicht würde dieser Mönch, der auch in Angst vor der Strafe lebte, sie besser verstehen als jemand, der ihren eigenen Glauben teilte und sich nicht solch eine schwere Schuld vorzuwerfen hatte. Oder hatte er sie angelogen, als er ihr die Schrecken der christlichen Feuerqualen ausmalte?

Sie glaubte es nicht, denn er kam ihr rein und gütig wie Balder vor, wenngleich er längst nicht so schön war wie der von allen geliebte Gott. Dennoch hatte Ava an dem Mönch Gefallen gefunden, mehr als für sie gut war. Trotz der Angst, in der er ständig zu schweben schien, ging etwas Strahlendes von ihm aus. Selbst seine Haare funkelten mit der Sonnengöttin um die Wette. Mit seinen eisblauen Augen und dem rotgelben Schopf erinnerte er sie an Frost und Feuer, die beiden Elemente, aus denen die Welt erschaffen worden war – und durch die sie auch vernichtet werden würde. Ava bewunderte Finnians Tapferkeit. Sich ohne ein Schwert in Feindesland zu begeben, würde selbst der mutigste Krieger nicht wagen. Sie zweifelte nicht daran, dass Finnian keine Waffe bei sich getragen hatte – ganz im Gegensatz zu seinem Gefährten.

Ava schüttete die Pflanzen in den Mörser und zerstieß sie mit einer Heftigkeit, die sie selber überraschte und entsetzte. Sie rief sich zur Ordnung. Damit die Pflanzengeister helfen konnten, musste sich diejenige, die sie bearbeitete, ausgeglichen fühlen und die Herstellung der Arznei mit Gebeten und Zaubersprüchen begleiten. Nur so konnten die heilenden Kräfte herausgelockt werden. Doch heute mochte Ava nichts Heiliges über die Lippen kommen, denn sie spürte immer noch die angenehme Wärme von Finnians Fingern an ihrer Brust, als wäre etwas von dem Feuer aus seinen Haaren über seine Hand in sie hineingeflossen. Sie schüttelte sich. Es war unmöglich. Weder Finnian noch Ava durften sich einem anderen körperlich hingeben. Auch war sie gewiss keine Frau nach seinem Geschmack, mit ihrem Gewand aus Tierhäuten, den offenen Haaren und der üppigen Figur. Vor allem aber diente sie jenen Göttern, die er aus tiefstem Herzen verabscheute.

Um ihre sinnlose Sehnsucht zu bekämpfen, rief sie sich alles ins Gedächtnis, was man sich in ihrer Heimat über Mönche erzählte: Sie waren nutzlos und fraßen der Landbevölkerung die Haare vom Kopf, ohne dass die Menschen, die sie ernährten, eine Gegenleistung in Form von Amuletten, Zaubertränken, Wahrsagerei oder Geburtshilfe erhielten. Dafür fertigten die Mönche allerdings wunderschöne Bücher an, die jedoch außer ihnen selbst niemand benötigte. Ein friesischer Kaufmann hatte Ava einmal eine Bibel gezeigt, die er in England erstanden hatte und die er an ein fränkisches Kloster weiterverkaufen wollte. Sie hatte die farbenprächtigen Bilder und die gleichmäßige Schrift bewundert und sich gefragt, wie die Menschen aussahen, die solche feinsinnigen Kunstwerke schufen. Nun wusste sie es. Leider.

Schluss jetzt, befahl sich Ava. Die Kräuter hatten sich in einen duftenden grünen Brei verwandelt. Hoffentlich hatten es ihr die Pflanzengeister nicht übel genommen, dass sie sie nicht mit der gewohnten Ehrfurcht behandelt hatte, dachte sie schuldbewusst. Sie entfachte ein Feuer und erhitzte Schweineschmalz in ihrem Kessel. Als es zerlaufen war, rührte sie die Kräuter hinein, wobei sie immer wieder raunte: »Dreifach vereint seid dreifach so stark! Heilt Knochen und Fleisch bis tief in das Mark!« Nachdem sich die grüne Masse verteilt hatte, zog Ava den Kessel vom Feuer und deckte ihn ab. Bis zum Morgen würde der Inhalt erkalten, dann musste sie ihn nur noch einmal kurz erwärmen, durch ein Leinentuch filtern und in Dosen füllen. Fast liebevoll betrachtete sie ihren Kessel, der sie nun schon jahrelang bei der Zauberei begleitete. Denn war es nicht Magie, wenn man Pflanzengeister beschwor und unscheinbare Kräuter in wundersam wirkende Heilmittel verwandelte? Bei der uralten Kunst des Siedens wurden im Kessel allerlei Stärkungstränke und Heilmittel, aber auch berauschende Pilzgerichte, Räucherungen und magische Mittel hergestellt, mit deren Hilfe man in andere Welten reisen konnte, um dort nach den Ursachen von Krankheiten und Nöten zu forschen und Weissagungen einzuholen.

Ava zog ihr Gewand aus, löschte das Feuer und legte sich auf ihr Lager. Lange wälzte sie sich ruhelos hin und her, doch irgendwann musste sie sich eingestehen, dass an Schlaf nicht zu denken war. Die Sonnengöttin hatte sich schon vor einer halben Ewigkeit in die Finsternis zurückgezogen, und nur ein schwacher Schimmer ihres dunklen Bruders drang wie ein einsamer Gruß durch die Ritzen der Fensterläden. Ava beschloss, sich die Beine zu vertreten und ihren Bruder aufzusuchen, um sich von den fruchtlosen Grübeleien abzulenken.

Seufzend streifte sie ihr Gewand über und schlüpfte in die weichen Ledersandalen. Sie liebte es, barfuß zu gehen und die Erde an ihrer Haut zu spüren, aber da jederzeit mit einem Angriff der Franken zu rechnen war, hatte sie sich angewöhnt, Schuhe zu tragen, um im Notfall schneller laufen zu können. Sie vermisste ihr Amulett, das sie noch nie in ihrem Leben abgelegt hatte. Vorsichtshalber hatte sie es in den Saum ihres Gewandes genäht. Sie wollte verhindern, dass die Feinde ihr das kostbare Erbstück abnahmen, das Einzige, das sie mit ihren Ahnen verband. Damit sie einen Vorwand hatte, Walram aufzusuchen, der in dieser Nacht auf dem südwestlichen Turm zusammen mit dem Bärenkrieger Bero Wache hielt, hängte sie sich einen Korb mit Brot und Braten über den Arm, als Stärkung für ihn und seinen Kameraden.

Draußen atmete Ava tief durch. Sie sog den betörenden Duft der Heckenrosen ein und den würzigen Geruch der Kräuter, die sie in ihrem Garten angepflanzt hatte. Doch als sie einen Blick nach oben warf, erschrak sie. Wie Feuerfunken fielen die Sterne vom Himmel. Ein Vorzeichen, dass sich noch in dieser Nacht etwas Unheimliches anbahnen würde? Oder nahte gar das Ende der Welt?

Ava schüttelte sich, um die Vision zu verscheuchen, dann machte sie sich auf den Weg. Mit klopfendem Herzen ging sie an den Häusern der Priester vorbei. Erstaunt sah sie, dass bei Eoba Licht brannte. Noch jemand, der nicht schlafen konnte?

Zwischen den Unterkünften derjenigen, die den Göttern dienten, und dem bebauten Teil der Burg lagerten Hunderte von Flüchtlingen auf den Wiesen. Es war tatsächlich schon tiefe Nacht, denn niemand war mehr wach und nirgendwo brannte ein Feuer. Voller Mitleid sah Ava die Menschen an, die am Wegesrand schliefen und bald auch noch das Wenige verlieren würden, das sie besaßen. Sie hoffte, dass möglichst viele von ihnen durch den Geheimgang gerettet werden konnten. Er begann im Keller des Gebäudes, das als Opferstätte und Aufbewahrungsort für die Schätze diente, die der Irminsul von Gläubigen gespendet worden waren. Es war aus Steinen erbaut worden, die man bei der Erweiterung der Drachenhöhlen gewonnen hatte. Ständig wurde es von zwei Priestern bewacht. Von dort aus führte der Fluchtweg zu den Drachenhöhlen an der Flanke des Berges. Sobald die Franken die Burg einnahmen, würde Ava die Tür zum Gang öffnen. Wie ihr Bruder besaß auch sie einen Schlüssel, der seit Kriegsausbruch stets an ihrem Gürtel hing.

Erst als sie die Wiesen durchquert hatte, wagte sie es wieder, vorsichtig einen Blick zum Himmel zu werfen. Die Sterne sahen aus wie immer: funkelnde Bergkristalle, die unerreichbar hoch am Firmament schwebten. Das entsetzliche Bild war keine Vision gewesen, sondern nur ein Schwindelanfall, den sie ihrer Müdigkeit zuschrieb.

Gleich hinter den Wiesen fing die Gasse an, in der sich der südwestliche Turm befand. Niemand lagerte dort, obwohl genügend Platz vorhanden war, denn unterhalb des Turmes stand der Pfahl, an den Egbert gefesselt war, und keiner wollte die Nacht in der Nähe eines Missetäters verbringen, der die Götter verhöhnt hatte.

Zorn wallte in Ava auf, als sie den Mönch erblickte, Zorn auf ihn, aber auch auf sich selbst. Für diesen Frevler hatte sie ihr Volk geopfert und das, was Finnian »ihr Seelenheil« nannte! Im Grunde war sie nicht mehr viel besser als Egbert: Auch sie hatte die Götter beleidigt, wenn auch ohne böse Absicht.

Wie tot hing er am Pfahl. Von den Hüften abwärts war er in ein Stück Sackleinen gehüllt, das mit Blutflecken gesprenkelt war. Seine Beine und Hände hatte man so fest an den Pfahl gefesselt, dass er nicht zu Boden fallen konnte. Mit Genugtuung sah Ava, dass seine nackten Füße schmutzbespritzt waren und Reste von faulen Zwiebeln am Sackleinen klebten. Sie hatte schon gehört, dass er von aufgebrachten Sachsen mit stinkendem Gemüse beworfen worden war. Die Turmwächter mussten aufpassen, dass niemand den Mönch umbrachte, aber sonst durfte jeder mit ihm treiben, was er wollte.

Nur in Egberts Augen glomm noch ein Hauch Leben. Sie fingen an, Funken zu sprühen, als Ava näher trat, um seinen Rücken zu betrachten, der sich in eine zu Brei geschlagene Fleischmasse verwandelt hatte. Ava erkannte darin auch Spuren von alten Wunden. Hatte man ihn im Kloster ausgepeitscht? Wurden die Mönche etwa auf diese Art gefügig gemacht? Würde das auch Finnians merkwürdige Angst erklären?

Das Brot, das sie für Walram eingepackt hatte, war frisch gebacken, und sie hoffte, dass der verführerische Duft Egbert peinigen würde. Sie schwenkte den Korb absichtlich hin und her, während sie sich umdrehte, um zum Turm zu gehen.

Plötzlich hörte sie ein Röcheln hinter sich. »Eine Teufelsdienerin bist du, genau wie deine Mutter«, brachte Egbert mühsam mit rauer Stimme hervor.

Ava schoss herum. »Was weißt du über meine Mutter? Sprich!«, rief sie in heller Aufregung.

»Ich habe dich an dem Amulett erkannt«, krächzte Egbert. »Sie trug es, als ich sie kennenlernte. Daher wusste ich gestern sofort, mit wem ich es zu tun hatte. Außerdem siehst du ihr sehr ähnlich. Schwarze Haare, blaue Augen, helle Haut. Sie gebar Zwillinge, einen Junge und ein Mädchen. Kurz nach der Geburt starb sie.«

»Und was ist mit meinem Vater?« Ava hätte den Mönch am liebsten geschüttelt.

Seine Antwort war ein höhnisches Schweigen. Wahrscheinlich wollte er sie quälen, aus Rache für die Strafe. Ava holte das lange Messer aus dem Korb hervor. Sie hatte es eingepackt, damit Walram und Bero den Braten zerschneiden konnten. Wutentbrannt hielt sie es Egbert an die Gurgel. »Sprich endlich, du stinkender Pferdeschlächter!«

»Du glaubst wohl, dass ich mich fürchte?«, zischte Egbert. »Weit gefehlt. Du kannst mir nichts anhaben. Gott will, dass ich lebe, denn ich habe noch nicht vollendet, was er mir aufgetragen hat. Wenn du mir die Kehle durchschneidest, wirst du erst recht nichts über deine Mutter erfahren. Es sieht so aus, als wäre ich der Einzige, der dir etwas sagen kann.«

Mit den Andeutungen über ihre Herkunft rächte er sich an ihr. Er konnte sich denken, dass die Ungewissheit sie quälte. Sie wusste, dass er sie hasste, weil er ihr die Schuld an seinen Schmerzen und seiner Erniedrigung gab. Dabei hatte sie ihm sogar das Leben gerettet. Aber das durfte sie niemandem anvertrauen. Sie hätte platzen können, so viele Fragen hatten sich seit Jahren in ihr angestaut! Da stand er, der Mann, der ihr endlich sagen konnte, von wem sie und ihr Bruder abstammten, und weigerte sich, ihr Auskunft zu geben! Nun hätte sie ihm doch gerne die Kehle aufgeschlitzt und wonnevoll zugesehen, wie er verblutete! Aber er hatte recht: Sie würde sich damit nur selber bestrafen.

Mehr würde sie in dieser Nacht aus Egbert nicht herausbekommen. Resigniert ließ Ava das Messer sinken und legte es wieder in den Korb. Aber irgendwann würde sie ihn zum Sprechen bringen, das schwor sie sich. Jeder Mensch hatte einen wunden Punkt, und sie würde seinen auch noch herausfinden. Und selbst wenn er auf ewig schweigen würde, so hatte sie doch zumindest einen Ansatzpunkt für ihre Suche. Wenn der Krieg vorbei war, würde sie auf den Spuren von Egberts Leben wandeln und dann gewiss auf Menschen stoßen, die ihr weiterhelfen konnten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er ihre Mutter tatsächlich gekannt hatte. Ava packte den Henkel ihres Korbes fester und stolzierte auf den Wachturm zu.

»Tue Buße und weihe dich dem Herrn!«, rief Egbert ihr hinterher. »Eines Tages gehörst du ihm, und bis dahin solltest du alle deine unzähligen Sünden bereut haben.«

Mit zitternden Beinen erklomm Ava die steile Leiter, die zum überdachten Ausguck des Turmes führte. Walram war allein. Immer noch völlig durcheinander, erzählte sie ihrem Bruder, was Egbert gesagt hatte.

Walram starrte sie ungläubig an. »Woher will er denn unsere Mutter kennen?«, fragte er, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte.

Sie stellte den Korb ab, setzte sich auf den Boden und kauerte sich zusammen. »Vielleicht aus seiner Jugend, bevor er Mönch wurde. Oder aus dem Kloster. Friedeslar ist nicht weit von der sächsischen Grenze entfernt. Ich werde Finnian über seinen Begleiter aushorchen.«

»Egbert ist Franke«, stellte Walram fest. »Glaubst du, wir gehören vielleicht auch zu diesem Volk?«

Ava zuckte die Achseln. »Ganz gewiss waren unsere Eltern keine Christen, denn sonst hätten sie uns nicht solch ein Amulett mitgegeben.«

»Das kann auch jemand anderes getan haben. Ein Anhänger unseres Glaubens, der uns den christlichen Eltern entreißen wollte.« Walram trat an die Brüstung und schaute in die Finsternis hinaus. »Nichts als Fragen, unser ganzes Leben lang. Wann werden wir endlich einmal Antworten bekommen?«

Ava erhob sich. »Vielleicht schon gleich. Das Ritual, das ich neulich durchgeführt habe, um Klarheit über unsere Herkunft zu erlangen, scheint zu wirken. Ist das nicht ein Hoffnungsschimmer in all der Not? Ich werde Finnian sofort aufsuchen, auch wenn er bestimmt tief und fest schläft. Vielleicht hat Egbert ihm etwas über unsere Eltern anvertraut. Ich halte es keinen Augenblick länger aus.« Sie gab ihrem Bruder einen Abschiedskuss auf die Wange. »Solltet ihr nicht zu zweit die Wache halten?«

»Ich weiß auch nicht, wo Bero bleibt«, erwiderte Walram. »Er müsste eigentlich längst da sein. Wahrscheinlich hat er verschlafen. In den letzten Tagen hat er sich verausgabt, trotz seiner Bärenkräfte wird er sehr müde sein. Aber ich kann den Turm nicht unbewacht lassen, sonst würde ich Bero abholen.«

»Ich werde bei ihm anklopfen«, versprach Ava. Dann sah sie ihren Bruder liebevoll an. »Pass auf dich auf«, ermahnte sie ihn überflüssigerweise.

Walram grinste schwach. »Keine Sorge. Wann auch immer die Franken unsere Burg einnehmen, heute Nacht wird es nicht sein. Wir haben es ihnen ganz schön gegeben. Wie geprügelte Hunde sind sie davongeschlichen. Der lange Marsch dürfte ihnen noch in den Knochen stecken. Du kannst also beruhigt schlafen.« Er zwinkerte ihr zu. »Auf unseren Pferdemörder werde ich ein Auge haben. Es wäre allzu schade, wenn ihn jemand erschlägt. Vielleicht bekommen wir doch etwas aus ihm heraus.«

Ava sah sich noch einmal um, bevor sie die Leiter hinunterstieg. Walram lehnte breitbeinig an der Brüstung, der Sax hing wie immer an seinem Gürtel, der Bogen stand griffbereit neben ihm, und das Alarmhorn baumelte an einem Band von der Decke herunter.

Vom oberen Ende der Gasse erklangen feste Schritte. Das musste Bero sein, der inzwischen wach geworden war. Dann brauchte sie bei ihm nicht mehr vorbeizugehen. Alles war in bester Ordnung. Trotzdem plagte sie seit dem Schwindelanfall vor ihrem Haus eine schlimme Vorahnung. Aber bestimmt hatte ihr Bruder recht: Die Franken würden ganz sicher nicht in dieser Nacht angreifen.

* * *

Nachdenklich packte Walram den Korb aus. Er war froh, dass seine Schwester an eine kleine Stärkung gedacht hatte, denn Roswitha hatte es versäumt, die Magd mit dem Abendessen zu ihm zu schicken, wie sie es sonst zu tun pflegte, wenn er Nachtwache hielt. War seine Frau immer noch wütend?

Unten schwang die Tür knarrend auf. Das war wohl Bero, der endlich gekommen war! Die Sprossen der Leiter ächzten, als sich der Bärenkrieger an den Aufstieg machte. Walram schnitt sich eine Scheibe vom Braten ab, legte das Messer auf den Boden und fing an zu kauen.

Doch schon der erste Bissen blieb ihm im Halse stecken. Ungläubig starrte Walram seinen ärgsten Feind an, dessen breit grinsendes Gesicht in der Öffnung auftauchte, die auf den Ausguck führte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Gerade erst hatte Ava ihn verlassen, hoffentlich war sie Gibicho nicht in die Arme gelaufen.

Gibicho erklomm die letzten Sprossen der Leiter und hievte seinen mächtigen Körper auf den Ausguck. »Ich dachte, wir zwei machen es uns mal gemütlich heute Nacht.« Er sah außerordentlich zufrieden aus.

Gibicho war der Letzte, mit dem Walram Nachtwache halten wollte. Da er selber die Einteilungen vornahm, hatte er immer darauf geachtet, ihm aus dem Weg zu gehen. Hastig würgte er den Bissen hinunter. »Bero ist für den Dienst mit mir vorgesehen. Und du sollst den Nordwestturm hüten.«

»Ich habe deinem Freund gesagt, ich würde jemand anderen finden, der an seiner Stelle die Nachtwache übernimmt. Er sah ziemlich müde aus und ist auf meinen Vorschlag gleich eingegangen. Und auf dem Nordwestturm ist alles in bester Ordnung.« Gibicho stellte sich neben Walram an die Brüstung und legte die fast tellergroßen Hände gelassen auf das Geländer. »Kein Franke in Sicht. Alles ruhig draußen«, stellte er fest. »Umso mehr Zeit haben wir für uns.«

Er wandte sich um, riss blitzschnell das Alarmhorn ab und warf es in die Tiefe, ehe Walram ihn daran hindern konnte. »Ich habe unten den Riegel vorgelegt, damit wir ungestört sind«, raunte er Walram zu. »Du kannst schreien, aber glaube mir, in der Burg schlafen alle tief und fest, und Egbert wird dir wohl kaum zu Hilfe eilen können.«

»Ich werde nicht schreien«, erwiderte Walram voller Verachtung. »Das habe ich nicht nötig. Mit dir werde ich schon allein fertig.« Er zog seinen Sax aus der Scheide.

Genüsslich tat Gibicho es ihm gleich. Er sah aus wie ein Jäger, der kurz davor war, ein lange gesuchtes Wild zu erlegen. Aber er schien es nicht eilig zu haben, sich auf Walram zu stürzen, ganz so, als wolle er die Vorfreude noch ein wenig auskosten in dem sicheren Wissen, dass seine Beute ihm ohnedies nicht entkommen konnte. »Tja, das hast du nun davon, dass du immer darauf bestehst, mit gutem Beispiel voranzugehen und selber Wache zu halten«, höhnte Gibicho. »Solch ein niederer Dienst ist eines Gaufürsten unwürdig! Und mich wirst du auch nie wieder dazu abkommandieren, einen Turm zu hüten, als wäre ich ein gewöhnlicher Krieger!«

Lauernd beobachtete Walram ihn. Nur weil Gibicho größer und kräftiger war als er, fühlte er sich in Sicherheit. Das war sein Vorteil, den er unbedingt ausnutzen musste. »Wenn du mich tötest, kommst du in Schwierigkeiten«, bemerkte er. »Jeder wird dich sofort verdächtigen, denn es ist kaum glaubhaft, dass ein Franke es geschafft hat, in den Wachturm einzudringen.«

»Wie rührend, dass du dir kurz vor dem Tod ausgerechnet um mich Gedanken machst!«, spottete Gibicho. »Aber keine Sorge, ich habe mir alles gut überlegt.«

Plötzlich machte er einen Ausfallschritt. Walram sprang zurück, aber sein Feind, der die längeren Beine hatte, war sofort bei ihm und wollte ihm den Sax auf den Kopf schmettern. Gerade noch rechtzeitig konnte Walram sich wegducken. Von unten holte er mit dem Sax aus, um seinen Gegner damit seitlich zu treffen.

Aber Gibicho lachte nur und wich geschickt aus.

In diesem Augenblick zerriss das Tuten des Alarmhorns die Stille. Die Franken! Sie griffen an! Merkwürdigerweise war das Signal von der nördlichen Seite gekommen, nicht von der südlichen, die am leichtesten zugänglich war. Was hatte das zu bedeuten? Und wo war Ava?

Der Turmwächter blies erneut, dreimal kurz hintereinander – das vereinbarte Signal, wenn der Feind in der Burg war.

»Und du hast geglaubt, kein Franke könnte die Burg stürmen. Tja, so kann man sich irren, mein Freundchen.« Gibicho hetzte Walram mit gezielten Hieben vor sich her. Inzwischen tutete das Alarmhorn fast ununterbrochen. Walram ahnte, was sein Gegner vorhatte: Er wollte ihn zur Öffnung treiben, die sich in der Mitte des Turms befand, und ihn von dort die steile Leiter hinunterstoßen, damit er sich entweder gleich das Genick brach oder zumindest benommen unten liegen blieb, sodass er ihn in aller Ruhe erschlagen konnte.

Doch Walram war vor Gibicho auf dem Turm gewesen und wollte diesen Vorteil geschickt ausnutzen. Als er Avas Korb erreichte, ließ er sich von Gibicho seine Waffe aus der Hand schlagen, obwohl er sie hätte halten können. Je mehr sein Gegner sich in Sicherheit wiegte, desto leichter würde er ihn überrumpeln können. Grinsend schubste Gibicho den Sax mit dem Fuß zur Seite.

Walram stolperte absichtlich und fiel zu Boden. Dann langte er unauffällig hinter den Korb und tastete nach dem Messer, mit dem er den Braten geschnitten hatte. Er bezweifelte, dass Gibicho es gesehen hatte, denn das Mondlicht drang nur schwach bis zur Mitte des Turms. Bevor sein Gegner zuschlagen konnte, hatte Walram sich blitzschnell aufgebäumt und ihm die Spitze der Waffe ins linke Auge gestoßen.

Aufbrüllend ließ Gibicho den Sax fallen. Flink wie ein Wiesel rappelte Walram sich hoch, hastete zur rettenden Öffnung und kroch die Sprossenleiter hinunter. Als er das zweite Stockwerk erreichte, hörte er von draußen fremde Stimmen. Die Feinde! Fußtritte hämmerten gegen die Tür. Er saß in der Falle.

* * *

Ava hatte Finnians Verschlag schon fast erreicht, als sie das Alarmhorn hörte. Es kam vom nördlichen Turm, der in der Nähe der Irminsul stand. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fuhr der Schrecken in Avas Leib. Griffen die Franken so bald schon wieder an? Und warum ausgerechnet im Dunkeln und an der Nordseite?

Sie musste sofort zur Irminsul! Sonst würde sie die Götter noch mehr erzürnen, denn Frí hatte sie ermahnt, das Heiligtum zu hüten. Ava lief an Finnians Gefängnis vorbei, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Wieder erklang das Alarmhorn, dreimal hintereinander, dann eine kurze Unterbrechung, und schließlich wurde es fast ununterbrochen geblasen. Auch der letzte Kampf der Götter würde durch ein Horn angekündigt werden, um Wodans Krieger zusammenzurufen. War die Zeit etwa schon gekommen?

Die Menschen, die auf der Wiese geschlafen hatten, schreckten hoch.

»Was ist denn los?«

»Die Franken greifen an!«

»Mitten in der Nacht?«

Einer nach dem anderen sprang hoch und raffte sein Bündel zusammen.

Fränkische Krieger stürzten von Norden her auf die Wiesen zu, mit riesigen Schwertern und Fackeln in den Händen. Panik brach aus, Frauen und Kinder kreischten, und die meisten Flüchtlinge rannten blindlings in alle Richtungen davon. Doch nicht jeder suchte sein Heil in der Flucht. Zwei alte Weiber, die an einem Zaun lehnten, kauerten sich aneinander und versteckten sich unter einem zerschlissenen Mantel. Ein Mann schleppte seine hochschwangere Frau hinter ein Gebüsch.

Nur wenige sächsische Krieger stellten sich den Feinden in den Weg, denn der größte Teil des eigenen Heeres schlief in der Nähe des Südwalles.

Avas Entsetzen war schließlich doch stärker als der Ruf der Göttin. Nichts wie weg! Sie machte kehrt, um den Feinden zu entkommen, und bog in die nächste Gasse ein, die zum Südwall führte. Der Weg zur Irminsul war ohnedies durch die Franken und die wild gewordene Menge versperrt. Ava konnte sich nur noch langsam durch die Menschenmasse schieben. Oft stieß sie mit jemandem zusammen, sodass sich ihr Leib anfühlte, als bestünde er nur noch aus blauen Flecken.

Das Tuten des Alarmhorns brach unvermittelt ab. War der Turmwächter überwältigt worden?

Aus den Häusern hörte Ava verschlafene Stimmen. »Donnerkeil, wo ist mein Sax?«, fluchte der sonst so gelassene Bero. Hatte er doch verschlafen? Aber wessen Schritte hatte sie dann am Südwestturm gehört? Der Bogenschütze Folcbraht schrie sein Weib an: »Mach Licht, aber schnell!« Ein Sachse, den Ava nicht kannte, kam in Hosen und mit nacktem Oberkörper aus Folcbrahts Haus und rannte Richtung Südwall. Sein Helm saß schief. Die Lanze stieß er so wütend nach vorn, als stünde ein Franke vor ihm.

Doch auch in diese Gasse drangen die Feinde ungehindert vor. Mit Sicherheit waren sie auf dem Weg zum Burgtor, um ihr Heer hereinzulassen. Erstaunt stellte Ava fest, dass die Kleidung der Männer nass war. Einer von ihnen setzte das erste Haus in Brand, auf das sie stießen – genau so, wie sie es in ihrer Vision gesehen hatte. Das Feuer sollte dazu dienen, Panik zu schüren, die Menschen zur Flucht zu bewegen und die Kampfkraft der sächsischen Krieger, die in der Überzahl waren, zu lähmen. Ava hatte deshalb durch ihren Bruder anordnen lassen, dass in unregelmäßigen Abständen Gräben ausgehoben wurden, damit das Feuer keine Nahrung fand und die Brände auf kleine Flächen begrenzt blieben. Außerdem war brackiges Flusswasser auf den Berg geschafft worden. Zum Glück war es windstill. Dennoch beschwor sie, während sie weiterlief, sicherheitshalber wieder und wieder die Kraft der Wasserrune Laguz, um das Schlimmste zu verhüten, und rief Wodan an, den Herrn über alle Elemente, seine schützende Hand über den Berg zu halten. Die wenigen Männer, die es wagten, sich den Kriegern mit bloßen Fäusten in den Weg zu stellen, wurden von den feindlichen Schwertern gemäht, als wären sie reife Ähren, die der Sense zum Opfer fielen. Ava versuchte, ihre Ohren vor den Schreien der Sterbenden zu verschließen, die so gar nichts Menschliches mehr an sich hatten. Sie mischten sich in das klägliche Blöken des Viehs, das in dem brennenden Wohnstallhaus eingesperrt war.

Keine gnädige Dunkelheit verbarg die Schrecken, im Gegenteil: Es war so hell, als wäre der Weltenbrand ausgebrochen. Und wenn er es nicht war, was konnte noch schlimmer sein als dieses Abschlachten wehrloser Menschen? Bedrohlich wie Feuerriesen erschienen Ava die Franken, die gekommen waren, um den Tod zu bringen und die Welt in Schutt und Asche zu legen. Noch waren die Feinde ein Stück von ihr entfernt, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sie eingeholt hatten. Hoffentlich konnten sich Oswin und Sonnhild retten. Und Walram erst! Und Finnian! Könnte sie doch nur allen helfen!

Besonders schlimm stand es um den Mönch, denn er war eingeschlossen und konnte nicht fliehen. Hatten die Götter ihr nicht durch die Runen mitgeteilt, dass die Sachsen ihn unbehelligt ziehen lassen sollten? Unwillkürlich wandte Ava den Kopf und spähte zwischen den Häusern hindurch in die Richtung, in der sich Finnians Verschlag befinden musste. Ihr Herzschlag setzte aus. Genau an dieser Stelle stieg eine Rauchsäule empor! Sie musste nach dem Gefangenen sehen und sich vergewissern, dass der Wächter ihn rechtzeitig frei gelassen hatte. Er würde Finnian wohl kaum verbrennen lassen. Oder doch? Bei ihrem letzten Gespräch am Abend hatte er sich sehr abfällig, fast schon hasserfüllt, über Christen und besonders über Mönche geäußert. Hätte sie doch nur gleich nach Finnian gesehen, anstatt Richtung Irminsul zu hetzen!

Die Angst um Finnian verlieh Ava neue Kraft, und sie drängte sich rücksichtslos durch die Menge, ihre Fäuste wie Saxe schwingend, bis sie den Rand des Weges erreichte. Dann rannte sie zwischen zwei Häusern hindurch. Es war der kürzeste Weg zum Verschlag. Die Gärten, die zwischen den Häusern lagen, waren menschenleer, da die Flüchtlinge nach Süden drängten, möglichst weit weg von den angreifenden Feinden und hin zu den eigenen Kriegern, die sie hoffentlich beschützen würden. Mit zitternden Knien stolperte Ava vorwärts, zertrampelte Kohlköpfe und Kräuterbeete, schwang sich über niedrige Zäune, stapfte durch ein leeres Regenauffangbecken und gelangte endlich wieder auf die Gasse, an deren oberem Ende sich Finnians Verschlag befand. Geschafft! Weit und breit war kein Franke zu sehen, nur verzweifelte Flüchtlinge, die zwischen den Häusern und Gärten hindurch zum Ostwall strebten, der sich hinter der Gasse befand. Die Feinde waren auf diesem Weg wohl schneller vorangekommen und hatten gewiss schon den Südwall erreicht.

Nachdem Ava um die Ecke gebogen war, sah sie mit Entsetzen, dass die Tür des Verschlags geschlossen war. Niemand, der Hals über Kopf flüchtete, würde hinter sich zusperren. Wieder und wieder brüllte sie Finnians Namen, während sie auf sein Gefängnis zustürzte, dessen hintere Wand brannte.

Als sie endlich den Verschlag erreichte, musste sie sich zwingen, ihre Hand ruhig zu halten, während sie den Riegel beiseiteschob. Sie wollte die Tür öffnen, doch eine schwere Last drückte von der anderen Seite dagegen. Das war bestimmt Finnian, der sich möglichst weit weg vom Feuer geflüchtet hatte. Auch auf die Gefahr hin, ihn zu verletzen – Ava blieb nichts anderes übrig, als gegen die Tür zu treten. Sie schwang ein Stück auf, gerade so weit, dass Ava sich durch den Spalt quetschen konnte.

Der Verschlag war von dichtem Qualm erfüllt, sodass sie Finnian nur mit Mühe erkennen konnte. Wie sie vermutet hatte, lag er hinter der Tür, die Nase dicht an die untere Kante gepresst, als habe er versucht, ein wenig Luft zu schöpfen, bevor er bewusstlos wurde. Bei allen Göttern, hoffentlich war er nicht tot!

Ava unterdrückte den Wunsch, den Mönch sofort zu untersuchen, um festzustellen, wie es um ihn stand. Wichtiger war es, ihn und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Aus der Flammenwand schossen Feuerschlangen hervor, um sie mit ihren Zungen zu vergiften. Blitze zuckten durch ihren Kopf. Es knackte bedrohlich, lange würde das Gebäude nicht mehr standhalten. Noch nie in ihrem Leben war ihr so heiß gewesen. Ihre Augen schmerzten, als hielte jemand ein Blendeisen dicht davor. Beim Atmen hatte sie das Gefühl, Feuer in ihre Lungen zu saugen. Die Flammen leckten schon am Dach. Ava griff Finnian unter die Arme und zerrte ihn zur Seite.

Sie zuckte zusammen, als ein Brett in der hinteren Ecke vom Dach auf den Boden krachte, nur wenige Fußlängen von ihr entfernt, und ließ Finnian vor Schreck zu Boden fallen. Von Panik erfüllt, stieß sie die Tür weit auf. Sie fühlte sich so schwach, dass es ihr nur mit größter Mühe gelang, den Mönch wieder zu packen. Beinahe wäre er ihren zitternden Händen entglitten, aber sie biss die Zähne zusammen und schleifte ihn durch die Tür.

Begierig sog sie die Luft ein, als sie mit Finnian das Freie erreichte. Die Gasse war mittlerweile menschenleer, die Menschen hatten wohl schon den Ostwall erreicht. Kaum hatte sie ihre schwere Last wenige Schritte weit geschleppt, da stürzte der Verschlag mit einem lauten Poltern in sich zusammen. Unwillkürlich schrie sie auf. Wenn sie nicht gekommen wäre, dann hätte Finnian jetzt mitten in diesem riesigen Scheiterhaufen gelegen.

Wohin mit ihm? Wenn er den Sachsen in die Hände fiel, würden sie womöglich ihre Wut über das Eindringen der Franken an ihm auslassen. Fieberhaft dachte Ava nach. Der Obst- und Gemüsegarten, der gleich um die Ecke lag, war die Rettung! Hier würden die Krieger wohl keine Verwüstungen anrichten, denn die riesige Armee brauchte Verpflegung. Und wenn die Franken dort einen Mönch entdeckten, würden sie sich um ihn kümmern, schließlich stand er auf ihrer Seite.

Mit letzter Kraft zerrte sie ihn dorthin. Der Garten war von einem mannshohen Zaun umgeben und mit einem Schloss versehen, damit die Menge ihn nicht plündern konnte. Während der Belagerung mussten die Nahrungsmittel streng zugeteilt werden. Da Walram seiner Schwester mehr traute als seiner Frau, hatte er Ava den Schlüssel gegeben. Sie trug ihn ständig bei sich. Hastig riss sie die Schnüre des Beutels auf und durchwühlte den Inhalt, während sie sich immer wieder nach allen Seiten umblickte. Aber niemand war zu sehen. Wahrscheinlich waren noch nicht genügend Franken auf dem Burggelände, um alle Wege zu kontrollieren. Sie öffnete das Tor, schleppte den Mönch hinter den nächsten Apfelbaum, der hinter dem Zaun stand, und sperrte wieder zu. Den Schlüssel ließ sie in ihrer Eile stecken.

Das Schlimmste war geschafft. Aufatmend kniete sie neben Finnian nieder, um ihn zu untersuchen. Sein Gesicht war rußverschmiert, die Haare klebten am Kopf und auf den Wangen hatte er Schrammen. Größere Verletzungen konnte sie nicht entdecken.

Ava legte ihr Ohr auf sein Herz. Mit Erleichterung vernahm sie ein schwaches Schlagen. Er lebte! Aber wie lange noch? Der Qualm musste ihm die Luft zum Atmen genommen haben, schlimmstenfalls – aber daran mochte sie gar nicht denken – war seine Lunge verätzt. Sie hätte ihm gerne mit etwas Erde die Rune Fehu auf die Stirn gezeichnet, um seine Lebensenergie zu stärken. Sie überlegte, ob sie die Göttin Eir, die eine erfahrene Heilerin war, um Hilfe bitten sollte, aber vielleicht standen die Götter einem Christen nicht bei. Doch sie konnte nicht untätig warten, bis er womöglich starb. Vielleicht würde sein Gott ihn ins Leben zurückholen. Um Finnians Hals hing ein Lederband mit einem schlichten Holzkreuz. Vorsichtig stützte sie seinen Kopf, nahm ihm die Kette ab und legte ihm die Hände auf den Bauch. Seine Finger waren so zartgliedrig wie bei einem Knaben. Gewiss hatten sie noch nie eine Waffe oder eine Sense geschwungen, aber sie schienen wie geschaffen dafür, eine dieser Schreibfedern zu halten, die die Franken benutzten. Andächtig schob sie ihm die Kette zwischen die Hände.

Wenig später flatterten seine Augenlider. Erleichtert beugte sich Ava zu ihm hinunter. »Wo bin ich?«, fragte er verwirrt. Dann weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Weiche von mir! Um Himmels willen, was hast du mit mir vor?« Er versuchte, den Oberkörper aufzurichten.

War das der Dank dafür, dass sie ihr eigenes Leben riskiert hatte, um seines zu retten? Ava drückte ihn auf die Erde zurück. »Der Verschlag hat gebrannt, und ich habe dich herausgeholt. Das ist alles.« Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie gekränkt war.

»Ach ja, das Feuer. Danke«, sagte er matt. Trotzdem sah er sie unbehaglich an.

Es verletzte sie, dass er sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlte. Für wen hielt er sie eigentlich? Für eine Wilde? Oder ein sittenloses Weib? Und hatte er, wo er gerade dem Tode entronnen war, keine größeren Sorgen als die Nähe einer Frau? »Ich werde dich nicht verführen«, sagte sie spöttischer als beabsichtigt. »Ebenso wie du bin ich zur Keuschheit verpflichtet.«

»Was ist passiert?«, fragte er mit schwacher Stimme.

»Die Franken sind in der Burg. Dass du um ein Haar gestorben wärst, hast du deinen Christen zu verdanken. Sie haben die Häuser angezündet. Versteht ihr das unter Nächstenliebe?« Ohne seine Antwort abzuwarten, erhob sie sich. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Die Weisung der Runen, Finnian unbehelligt ziehen zu lassen, hatte sie befolgt. Er war frei und konnte gehen, wohin er wollte. Im Gegensatz zu ihr. Sie strich ihr Gewand glatt. »Die Göttin ruft mich zur Irminsul.«

»Was willst du denn da?« Hatte sie Angst aus seiner Stimme gehört?

»Hast du nicht selbst gesagt, dass man einem göttlichen Befehl gehorchen muss?«, gab sie zurück.

»Aber doch nicht jetzt!«, rief er aus. Als sie sich zum Gehen wandte, griff er nach ihrem Bein, umklammerte den Fußknöchel und riss sie zu Boden.

Eben noch hatte er schwach wie ein Sterbender dagelegen, doch plötzlich war er von neuer Kraft erfüllt. Er kniete sich auf ihr nieder und drückte ihre Arme fest an den Boden. Solche Stärke hätte sie ihm gar nicht zugetraut. »Notfalls zwinge ich dich zu deinem Glück«, stieß er schwer atmend hervor.

Sie strampelte mit den Beinen, um sich zu befreien. Finnian legte sich auf sie. Sein hässliches Weibergewand scheuerte an ihren nackten Armen. Seine Haut roch salzig wie das weite Meer, über das er gereist war.

Sie öffnete den Mund, um ihn anzufauchen. Aber Finnian war schneller. Er presste seinen Mund auf ihre Lippen, um den Wutschrei zu ersticken. Es kam so überraschend, dass sie ihren Kopf liegenließ, anstatt ihn zur Seite zu drehen, und unwillkürlich die Augen schloss. Seine Lippen waren zart und weich wie die Blüten der Weidenkätzchen. Keiner von ihnen regte sich. Es war, als hielten sie beide den Atem an, gleichermaßen erschrocken und verblüfft über das, was sie taten. Ava wusste, sie hätte sich wehren müssen, aber sie schaffte es nicht, auch nur ein Fingerglied zu bewegen. Schließlich öffnete sie zaghaft die Augenlider. Unverwandt starrte Finnian sie an, in seinem Blick las sie Unglauben und Schuldbewusstsein, aber er nahm seine Lippen nicht von ihren.

Doch dann vernahm Ava wieder die Stimme der Göttin: »Hüte die Irminsul!« Hatte sie sich die Ermahnung nur eingebildet oder hatte Frí tatsächlich noch einmal mit ihr gesprochen? Es war einerlei. Ava musste Finnian überlisten. Ruckartig drehte sie ihren Kopf zur Seite und biss ihn in die Wange. Er brüllte auf und ließ sie los. Wie eine Schlange wand sie sich unter seinem Körper hervor. Dann sprang sie auf und lief davon.

»Du bist von Sinnen!«, schimpfte er hinter ihr her.

Sein Frauenkleid raschelte. Wahrscheinlich erhob er sich. Sie hörte, wie er lostapste, und dann ertönte ein lautes Plumpsen. »Verdammt!«. Sie wusste zwar nicht, was verdammt genau bedeutete, aber der fränkische Fluch klang unanständig. Sie drehte sich um. Finnian war über eine Wurzel des Baumes gestolpert und rieb sich den Knöchel.

Sie hatte schon viel zu viel Zeit mit ihm vergeudet. Sie stürzte zum Tor, schloss es hastig auf und eilte hinaus.

* * *

Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Walram Panik. Wie eine heiße Welle durchflutete sie seinen Körper und lähmte ihn. Er kannte natürlich Angst, und das war auch gut so, denn sie schärfte seine Sinne, machte ihn hellwach und verhinderte, dass er sich unnötig in Gefahr begab. Aber Panik war nicht nur ein sinnloses Gefühl, sondern ein tödliches Gift. Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, würde er abgeschlachtet werden wie ein hilfloses Tier, entweder von den Franken, die unten gegen die Tür hämmerten, oder von Gibicho, der oben vor Schmerz brüllte. Walram konnte noch nicht einmal ehrenhaft im Kampf sterben, denn sein Sax lag auf dem Ausguck, in Gibichos Reichweite.

Er stand reglos im zweiten Stockwerk des Turmes und bemühte sich, seine Panik niederzukämpfen. Es fiel ihm schwer, klar zu denken. Er musste sich zwingen, die beiden Möglichkeiten, die ihm blieben, gegeneinander abzuwägen. Auf dem Ausguck lagen zwar Waffen – sein Sax, ein Bogen und ein Köcher voller Pfeile – aber auch dort war er nicht sicher, denn früher oder später würden die Franken es schaffen, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Außerdem war Gibicho trotz seiner schweren Verletzung nicht zu unterschätzen. Wahrscheinlich würde er Walram gar nicht erst zu sich hinauflassen, sondern den Zugang blockieren. Seine Wut würde sich vervielfacht haben und mochte ihm sogar über seine augenblickliche Schwäche hinweghelfen. Unten an der Tür hingegen würde Walram den Franken in die Hände fallen. Er fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Wild, das nur noch die Wahl hatte, von welchem der beiden Jäger es sich töten lassen wollte.

Das Tuten des Alarmhorns brach abrupt ab. Der Turmwächter musste überwältigt worden sein. Dasselbe Schicksal würde auch Walram gleich ereilen, falls ihm nicht etwas einfiel. »Ergebt euch!«, schrie jemand durch die Tür.

Wie auf Kommando hörte Gibicho endlich mit seinem Gebrüll auf. »Wenn ihr mit erhobenen Händen und ohne Waffen herauskommt, lassen wir euch am Leben!«, riefen die Franken. Aber weshalb wollten sie die Turmhüter verschonen? Walram vermutete, dass sie wichtige Informationen aus ihnen herauspressen wollten. Außerdem mochte es sich für sie im Verlauf des Krieges noch als nützlich erweisen, Geiseln zu haben, und wer einen Turm bewachte, war ohne Zweifel ein erfahrener und damit wertvoller Krieger.

Auf dem Ausguck rappelte sich Gibicho ächzend hoch. »Ich ergebe mich!«, brüllte er. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde er die Leiter heruntersteigen. Gehetzt blickte Walram sich um. Sein Blick fiel auf das kleine Fenster, das durch einen Laden verschlossen war. Ja, natürlich, das war seine Rettung! Warum hatte er denn nicht gleich daran gedacht? Das Fenster zeigte zwar zum steilen Abhang, weil es dazu dienen sollte, die von unten heranstürmenden Feinde mit Pfeilen zu beschießen, aber es war seine einzige Möglichkeit, den Turm zu verlassen.

Er stieß den Laden auf. Die Münzen und Schlüssel in seinem Beutel klirrten, als er sich durch das Fenster quetschte. Zum Glück hatte Walram es schon als Kind geliebt, Felsen, Bäume und sogar Dächer zu erklimmen, und dank dieser Übung würde es für ihn ein Leichtes sein, an den Verstrebungen des Holzturms hinunterzuklettern. Inständig hoffte er, dass ihn am Abhang kein Franke erwischte.

Das Ächzen der Leiter verriet ihm, dass Gibicho sich auf den Weg nach unten gemacht hatte. Walrams Hände waren schweißnass, und beinahe wäre er an den Balken abgeglitten, als er mit dem Abstieg begann.

Er hing schon über den Palisaden, da hörte er, wie eine Sprosse entzwei brach. Sein Erzfeind war im zweiten Stock angelangt. »Wo steckst du, du Schwein?«, fauchte er. »Ich weiß genau, dass du hier irgendwo bist. Zeig dich, du Feigling!« Mit schweren Schritten tapste er umher.

Walram drückte sich möglichst eng an die Wand. Nur mit den Fußspitzen berührte er den Querbalken, der ein kleines Stück herausragte. Mit der einen Hand krallte er sich an dem Balken fest, der von links oben nach rechts unten verlief, und mit der anderen Hand am Mittelpfosten. Das Holz war zum Glück rau und daher griffig. Wie eine Eidechse, die an der Wand klebte, kam er sich vor. Vorsichtig riskierte er einen Blick in die Höhe. Gibichos schmerzverzerrtes Gesicht tauchte im Fensterrahmen auf. Mit einer Hand hielt er das linke Auge zu. Das ganze Gesicht, der Bart und der obere Teil der teuren Leinentunika waren blutverschmiert. »Na warte, wir kriegen dich noch!«, rief Gibicho ihm höhnisch zu. Dann wandte er sich vom Fenster ab und stampfte zur Leiter zurück.

Verzagt betrachtete Walram die Palisaden, die auf dem Wall errichtet worden waren, um die Burgbewohner zu schützen. Nun behinderten sie ihn. Die Pfähle waren oben angespitzt, damit kein Feind darüber hinweggelangen konnte. Hinter ihnen fiel der Abhang steil ab. Wenn er sprang, konnte er sich das Genick brechen.

Walram hörte, wie Gibicho hinunterkletterte. Bald würde er unten sein, und dann würde er die Franken hereinlassen und ihnen verraten, wo sie den Gaufürsten finden konnten.

Walram hatte keine Wahl. Lieber wollte er ehrenvoll sterben und mit ein bisschen Glück sogar nach Walhall gelangen als den Franken in die Hände fallen. Er schloss die Augen, damit er den schwindelerregenden Abgrund nicht sehen musste, gab sich einen Ruck und sprang über die Palisaden hinweg.

Er landete auf den Beinen, verlor das Gleichgewicht und kippte vornüber. Gerade noch rechtzeitig konnte er den Kopf einziehen, aber er schlug hart mit Schultern und Rücken auf dem Boden auf und rollte wie ein Rad den Abhang hinunter. Sein Beutel klirrte dabei so laut, dass Walram dachte, ihm müssten die Ohren platzen.

Schließlich blieb er in einer kleinen Mulde liegen. Sein ganzer Körper schmerzte, als habe man ihn gesteinigt. Vom Eresberg drangen Kampfgebrüll, die Schreie Sterbender und das Blöken hilfloser Tiere zu ihm herunter. Er musste so schnell wie möglich verschwinden. Nur mit Mühe unterdrückte Walram ein Ächzen, als er sich aufrappelte. Um ihn herum drehte sich alles. Besorgt tastete er nach dem Beutel, aber die Schnüre, die ihn zusammenhielten, hatten sich nicht gelockert.

Ein Pfeil sauste zischend auf ihn zu. Instinktiv blickte Walram nach oben und wich dem tödlichen Geschoss aus. Immer noch benommen und schwindlig, schwankte er so schnell wie möglich vorwärts, den Abhang entlang. Wenn er doch bloß einen Schild gehabt hätte! Ein zweiter Pfeil verfehlte ihn um Haaresbreite. Walram duckte sich und hob seinen rechten Arm schützend über den Kopf. Er hörte, wie hinter ihm noch weitere Pfeile auf den Boden fielen, dann kehrte Ruhe ein. Die Franken hatten anscheinend aufgegeben.

Als er vom Wachturm aus nicht mehr gesehen werden konnte, atmete er auf und gönnte sich einen Augenblick des Triumphes. Er hatte Gibicho und die Franken ausgetrickst. Mit großer Erleichterung stellte er fest, dass ihn an dieser Seite des Berges keine feindlichen Krieger erwarteten. Walram vermutete, dass König Karl seine Männer zum Burgtor und aus unerfindlichen Gründen zum Nordhang geschickt hatte.

Nun musste er nur noch unbeschadet zu den Drachenhöhlen gelangen. Dann würde er von dort über den Geheimgang mühelos in die Burg eindringen und seinen Männern im Kampf beistehen. Wie gut, dass er den Schlüssel in weiser Voraussicht stets bei sich trug. Zufrieden machte Walram die Schnüre des Beutels auf. Wieder und wieder wühlte er darin herum, aber den eisernen Schlüssel zum Geheimgang konnte er nicht finden. Er setzte sich auf den Boden und packte alles aus, was sich im Beutel befand. Erst als er die letzte Münze auf den Boden gelegt hatte, konnte er es glauben: Der Schlüssel zum Geheimgang war weg. Nun wusste er, wie die Franken ungesehen in die Burg gelangt waren. Doch welcher elende Verräter hatte ihm den Schlüssel gestohlen?

* * *

Finnian wählte den Weg, der am Ostwall entlangführte, zwischen den Flüchtenden hindurch, denn in der Menge fühlte er sich sicherer. Er wollte zur Irminsul, die Menschen aber strebten zu den Rändern des Berges und drückten gegen ihn, sodass er sich vorkam wie ein Ruderer, der quer zur Strömung paddelt. Er hatte schon zahlreiche Stöße einstecken müssen, und seine Rippen fühlten sich an, als müssten sie jeden Augenblick auseinanderbrechen. Doch er hinkte entschlossen weiter, obwohl er immer noch benommen war und sein Knöchel schmerzte. Er zwang sich, nicht in die Gesichter der Flüchtenden zu sehen, denn sonst würde er vom Mitleid niedergedrückt werden, und dabei brauchte er all seine Kraft, um durchzukommen. Um Finnian herum herrschte ohrenbetäubender Lärm: Frauen schrien vor Angst, Kinder weinten, das Vieh blökte und muhte, und aus den Gassen erscholl Kampfgebrüll.

Wie er es erwartet hatte, waren die Flüchtenden so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie keinen Blick an ihn verschwendeten. Obwohl er mit seinem Habit und seiner Tonsur für alle sichtbar ein Christ und damit auch ein Feind war, wurde er nur als lästiges Hindernis wahrgenommen, das auf dem Weg zu den Wällen lag und beiseitegedrängt werden musste. Als Mönch war Finnian es gewohnt, dass man ihm ehrfürchtig den Platz frei machte. Deshalb hatte er fast verlernt, wie man seine Ellenbogen gebrauchte. Aber nur fast. Die christlichen Tugenden der Demut und Sanftmut waren vergessen. Finnian dachte nicht daran, auch noch die andere Wange hinzuhalten, und bahnte sich mit kräftigen Stößen seinen Weg durch die Menge.

Denn es ging darum, Ava zu finden, bevor sie dem Feind in die Hände fiel. Bisher war Finnian keinem fränkischen Krieger begegnet, wahrscheinlich waren sie auf diesen Teil des Berges noch nicht vorgedrungen. Das Tuten des Alarmhorns war von Norden gekommen, und Finnian vermutete, dass sich die Franken zunächst darauf konzentrierten, zum Tor zu gelangen, um Nachschub an Kriegern hereinzulassen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die gesamte Eresburg beherrschen würden.

Das war auch den Flüchtenden klar, die verzweifelt versuchten, über die Wälle zu gelangen. Die Anlagen, die eigentlich zu ihrem Schutz errichtet worden waren, hatten sich in Kerkermauern verwandelt. Die kräftigsten Männer standen unterhalb der Wälle und versuchten, Frauen und Kinder über die Palisaden zu heben, ohne dass diese von den spitzen Pfählen durchbohrt wurden.

Den bebauten Teil des Eresberges hatte Finnian hinter sich gelassen. Der Brandgeruch verfolgte ihn, er drang bis zu den Wiesen und Weiden, die zwischen der Irminsul im Norden und den Wohnhäusern im Süden lagen. Feuer – bis an sein Lebensende würde er den Geruch nicht mehr mit Wärme und Essen, sondern mit einer tödlichen Bedrohung gleichsetzen. Seine Lungen fühlten sich immer noch so wund an, als habe jemand ein ätzendes Gift hineingegossen.

Er atmete erleichtert auf, als er den Hain erreichte, der sich südlich an die Irminsul schmiegte. Weit und breit war kein Mensch mehr zu sehen, und die Eichen verströmten einen wohltuend frischen Geruch. Erschöpft blieb er stehen, um Atem zu holen und seinen schmerzenden Knöchel zu reiben. Bewundernd sah er sich um. Sanftes Mondlicht umfloss die mächtigen Stämme, die vom hohen Alter der Bäume kündeten. Vor mehreren Hundert Jahren mussten sie angepflanzt worden sein, und vielleicht hatten sie sogar schon den Römern getrotzt. Doch dann gefror ihm das Blut in den Adern. Bei allen Heiligen, von den Zweigen hingen Knochen herab! Waren sie Überreste der Menschenopfer, die die Heiden ihren Götzen zu bringen pflegten?

Finnian hörte das lang gezogene Brüllen eines Säuglings, das jäh erstarb. Dann ertönte der Schmerzensschrei einer Frau, wahrscheinlich der Mutter. Sofort raffte er die Tunika und hetzte in die Richtung, in der sich die beiden Opfer befinden mussten.

Er brauchte nicht lange zu suchen. Ein Krieger stand breitbeinig vor einer jungen Frau, die auf dem Boden kauerte. Klein und mager wie sie war, musste sie für den Mann ein gefundenes Fressen sein. Aus dem dunklen Haarkranz, den sie wie eine Krone auf dem Haupt trug, hatten sich einzelne Strähnen gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Mit beiden Armen drückte sie einen Säugling an ihre Brust. Finnians Herzschlag setzte aus. Das Köpfchen des Kindes war zerschmettert. »Haltet ein, in Christi Namen!«, schrie Finnian und rannte auf den Krieger zu.

Der Mann fuhr herum, ein blutbesudeltes Schwert in der Hand. »Mönchlein, du störst«, zischte er und richtete die Waffe auf Finnian. »Lass mich meine Arbeit machen und hau ab! Wenn wir mit den Sachsen fertig sind, dürft ihr Mönche hier eure Kirche errichten und fromme Gebete sprechen. Aber jetzt verzieh dich!«

Finnian blieb stehen. Seine Knie waren so weich, als wären sie aus Mus. »Wenn Ihr der Frau etwas antut, landet Ihr dafür in der Hölle«, wandte er ein. Inständig hoffte er, dass der Krieger nicht hörte, wie sehr seine Stimme zitterte.

Die Augen des Franken verengten sich. »Ich will jetzt meinen Spaß, klar? Schließlich habe ich ihn mir reichlich verdient.« Er schubste Finnian so lässig zur Seite, als wäre dieser ein schwacher Knabe. Dann steckte er sein Schwert in die Scheide und nestelte an seiner Kleidung.

Finnian erspähte einen Stein, der so groß war wie ein Fuß und eine scharfe Spitze aufwies. »Ich werde für den Erfolg Eurer Kämpfe beten«, sagte er salbungsvoll und trat ein Stück zurück, ganz so, als wollte er gehen.

Der Krieger hatte sich schon halb entblößt. »Gut so, Mönchlein, endlich hast du’s begriffen.«

O ja, Finnian hatte begriffen, und wie! Der Zorn verlieh ihm eine ungeheure Kraft, die ihn selbst überraschte. Er griff nach dem Stein und hieb ihn mit aller Macht dem Krieger von hinten auf den Schädel, mit der spitzen Kante nach vorne. Lautlos sank der Mann zu Boden. Aus seinem hellen Schopf sickerte ein Blutrinnsal.

Mit gebrochenen Augen starrte die Frau ihren Retter an. Dann senkte sie den Kopf und blickte auf ihr Kind. Mit Klagelauten, die keiner menschlichen Stimme ähnelten, wiegte sie es hin und her.

»Du musst schnell weg, ehe der Krieger wieder zu sich kommt«, drängte Finnian.

Die Frau verstummte. Finnian trat auf sie zu und beugte sich zu ihr hinunter. Sie schaukelte weiter ihr Kind, als säße sie mit ihm zu Hause auf der Bank. Behutsam legte er ihr die Hand auf den Arm, drückte ihn ein wenig hinunter und nahm ihr das tote Kind ab, das in ein einfaches Leinenhemdchen gehüllt war. Zu seiner Überraschung ließ sie es geschehen.

»Ich werde dein Kind zur ewigen Ruhe betten«, sagte Finnian sanft. »Nimm die Richtung, aus der ich gekommen bin, dann wirst du auf Flüchtlinge treffen. Gewiss wird man dir über die Palisaden helfen.«

Sie starrte auf ihre leeren Arme, die wie sinnlose Anhängsel von ihren Schultern herabbaumelten. Finnian half ihr hoch, dann beugte er sich über den bewusstlosen Krieger, zog das Schwert aus der Scheide und drückte es ihr in die rechte Hand. Sie schwankte von dem Gewicht der Waffe.

»Beeile dich!«, drängte Finnian. »Das Schwert wird dich schützen.« Er streichelte den leblosen Körper des Säuglings, um der Mutter zu zeigen, dass ihr Kind bei ihm gut aufgehoben sei.

Doch die Frau blickte nicht auf. Mit schleppenden Schritten machte sie sich auf den Weg, das Schwert, das ihr fast bis zur Hüfte reichte, ließ sie neben sich herschleifen.

Zumindest das Leben dieser Frau hatte er vorläufig retten können, aber wie erging es Ava? Sie musste schon längst an der Irminsul sein, falls sie nicht auch unterwegs einem Krieger vor das Schwert geraten war. Finnian machte sich wieder auf die Suche nach ihr. Er barg die Leiche an seiner Brust und versuchte, nicht auf das zerschmetterte Köpfchen zu schauen. Die Sinnlosigkeit der Tat machte ihn fassungslos. Warum brachte jemand einen Säugling um, der nichts, aber auch gar nichts hatte tun können, das eine solche Bestrafung rechtfertigte? Je länger er den noch warmen, weichen Körper trug, desto mehr hatte er das Gefühl, sich soeben mit einer tödlichen Seuche angesteckt zu haben, als habe ihn ein Pesthauch getroffen. Sein Leib schien mit einem Mal voller Gift zu sein, das durch seine Adern jagte, sein Herz zum Rasen brachte, seine Eingeweide aufwühlte, seinen Verstand auflöste und seine Hände zucken ließ. Er stellte sich vor, wie er dem brutalen Krieger wieder und wieder den Stein über den Schädel hieb, bis dieser wie eine überreife Frucht platzte. Der Gedanke verschaffte Finnian ein wenig Erleichterung. Er drehte sich um und ging den Weg zurück. Plötzlich hielt er inne. Der Schmerz musste Hass sein, etwas, das er in seinem beschaulichen Klosterleben noch nie zuvor hatte empfinden müssen. Um ein Haar hätte er sogar Ava vergessen, weil er Rache nehmen wollte an dem Krieger, anstatt darauf zu vertrauen, dass Gott, der Herr und Richter über alle Welt, zu gegebener Zeit Gerechtigkeit üben würde. Doch die himmlische Bestrafung hatte, wie Finnian fand, zwei Nachteile: Sie würde voraussichtlich viel zu spät stattfinden, und weder er noch die Mutter des toten Kindes würden sie miterleben können. Dennoch machte der Mönch beschämt kehrt und hielt Ausschau nach einem geeigneten Platz, an dem er das Kind ablegen konnte. Es zu begraben, war keine Zeit, aber er wollte wenigstens dafür sorgen, dass es gut gebettet war. Das war er der Mutter schuldig.

Eine kleine bemooste Mulde schien ihm genau der richtige Ort zu sein. Er kniete nieder und legte das Kind hinein. Obwohl es ihn danach drängte, Ava zu suchen, nahm er sich die Zeit für ein Gebet, denn er durfte seine christlichen Pflichten nicht vernachlässigen. Mit gepresster Stimme sprach er einen Segen und flehte Gott an, sich um die Seele des Säuglings zu kümmern und dessen Mutter zu beschützen. Auch wenn es ein heidnisches Kind war, würde Jesus in seiner Güte es gewiss nicht abweisen. Dann küsste Finnian die Händchen des Säuglings und strich ihm sanft über den Bauch, so wie es die Mutter zum Abschied getan haben würde. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge gewesen war, denn von dem Kopf war nichts als ein blutiger Klumpen Fleisch übrig geblieben.

»Der Herr geleite dich in ein besseres Leben«, murmelte Finnian, während er Zweige und altes Laub über den Säugling häufte, bis nur noch das, was einmal der Kopf gewesen war, unbedeckt war. Dann setzte er aus zwei kleinen Zweigen ein Kreuz zusammen und legte es auf dem Leib des Kindes ab. Finnian segnete den Leichnam ein letztes Mal, dann erhob er sich und eilte davon.

Er hatte nur noch einen Wunsch: Er wollte sich vergewissern, dass Ava nicht dasselbe Schicksal erlitten hatte wie das Kind. Der Biss in seiner Wange schmerzte wie eine in Fleisch gebrannte Mahnung, dass er sie retten musste. Seine Lippen, die auf ihren gelegen hatten, kribbelten immer noch, aber es war ein angenehmes Gefühl, vergleichbar dem Prickeln, das die Haut überzog, wenn man aus der Kälte kam und sich am Feuer wärmen konnte.

Finnian war erst wenige Schritte gelaufen, da hörte er raue Männerstimmen und – er konnte es kaum glauben – befreites Gelächter. Beides kam aus der Richtung, in der die Irminsul liegen musste. Vorsichtig pirschte er sich näher heran und spähte durch das dichte Gebüsch. Was er sah, ließ ihn erstarren.

Zu Füßen der Irminsul lagen fünf sächsische Krieger und ein heidnischer Priester, denen man die Kehle durchgeschnitten hatte. Hinter der Umzäunung, die das Heiligtum umgab, am Rande des Hains, erhob sich ein mit Säulen prachtvoll geschmücktes Steinhaus, wahrscheinlich der Ort, an dem die Kultgegenstände und die Spenden der Gläubigen aufbewahrt wurden. Ein Krieger nach dem anderen trat daraus hervor. Davor entdeckte Finnian zwei weitere tote Priester. Mehrere Franken standen im Kreis beisammen, scherzend und strahlend, als wären sie auf einer Hochzeitsfeier. Wurde man als Krieger so gefühllos, dass man noch nicht einmal Respekt vor den Toten hatte? Und was mochten solche Kerle wohl erst mit Ava anstellen, wenn sie ihnen in die Hände fiel?

Wieder und wieder suchte Finnian die Umgebung mit den Augen ab, aber er konnte sie nirgends entdecken. War sie schon auf dem Weg zu ihrem Heiligtum den Kriegern in die Hände gefallen, oder versteckte sie sich im Hain? Und wie sollte er sie bloß finden? Er stand noch unschlüssig im Gebüsch, als sich die Frage, was er tun sollte, binnen eines Augenblicks entschied. Der Krieger, der das Kind ermordet hatte, wankte, nicht weit von Finnian entfernt, aus dem Hain heraus, beide Hände an seinen Kopf gepresst.

Der Mönch konnte nichts weiter tun, als schleunigst zu verschwinden, bevor auch ihm am Ende die Kehle durchgeschnitten wurde. Er beschloss, sich zum Tor durchzuschlagen, das bestimmt schon in der Hand der Franken war, und von dort aus in das königliche Lager zurückzukehren. Unterwegs würde er weiter nach Ava Ausschau halten.

* * *

Die Flüchtlinge hatten sich unter einer mächtigen Esche versammelt, als suchten sie in dem Baum einen Ersatz für die verlorene Irminsul. Schweigend saßen sie im Kreis. Grau und leer waren ihre Gesichter, und selbst der Priester Eoba konnte ihnen keinen neuen Mut einflößen. Welchen Trost sollte ihnen der Glaube an Wodan, Donar, Saxnot, Frí und die anderen Götter spenden, wo sie doch so viele Verluste zu beklagen hatten?

Fünfzig Menschen, die den Westhang hinuntergelaufen waren, hatte Walram in das Versteck führen können, das er mit seiner Schwester ausgewählt und mit allem Notwendigen ausgestattet hatte: Wasser, Essen, Met, Heilmittel, Verbandszeug, Waffen, Decken, Pferde, Runen und natürlich ein Teil des Schatzes der Irminsul. Der Zufluchtsort lag mitten im undurchdringlichen Wald, kein noch so schmaler Pfad führte dorthin. Niemand würde sich auf den Biestenberg wagen, denn er wurde nicht ohne Grund so genannt, stand er doch in dem Ruf, dass dort besonders wilde Tiere lebten. Die wilden Tiere, die den Eresberg erobert hatten, waren jedoch weitaus schlimmer, und wenigstens vor denen waren die Flüchtlinge in Sicherheit. In dem Versteck konnten sie so lange bleiben, bis Karl mitsamt seinen Kriegern wieder abzog. Sie hatten überlebt, doch zu welchem Preis! Jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Eltern waren im Gedränge von ihren Kindern getrennt worden, Mann und Frau hatten sich aus den Augen verloren, Geschwister waren auseinandergerissen worden, Mädchen riefen schluchzend nach ihrer besten Freundin, und einige Flüchtlinge beklagten den Verlust ihrer Eltern, die zu schwach gewesen waren, um über die Palisaden zu klettern. Nicht wenige hatten sogar mit ansehen müssen, wie der Mensch, den sie am meisten liebten, umgebracht worden war.

Wie Liebhild. Ihre Augen erinnerten Walram an die eines angeschossenen Rehs. Die Erklärung lag auf der Hand: Ihre Tochter war nicht bei ihr. Auf dem rostroten Leinenkleid, das Roswitha ihr geschenkt hatte, damit sie kein Ungeziefer in ihrem Haus verbreitete, hatte sich direkt über dem Herzen ein großer Blutfleck gebildet. Sie selbst war unverletzt, aber ihre unsichtbare Wunde schien umso schlimmer zu schmerzen. Kein einziges Wort kam über ihre Lippen.

Walram führte Liebhild an den Rand einer Lichtung, ein Stück entfernt von den anderen Flüchtlingen. Er nahm an, dass sie Ruhe brauchte. Willenlos ließ sie sich von ihm auf einen Felsbrocken setzen. Als Walram ihr nach Erscheinen der Sonnengöttin ein wenig Essen brachte, saß sie noch genauso da, wie er sie verlassen hatte: stumm und reglos, als wolle sie mit dem Stein verschmelzen. Er stellte die Schüssel mit dem Brot und den Becher Met ab, dann ließ er sich zu ihren Füßen nieder. Sie war die letzte Hoffnung für ihn zu erfahren, wie es seiner Familie ging. Keiner der anderen Flüchtlinge hatte ihm Auskunft geben können.

Doch erst als die Strahlen der Sonnengöttin die Erde leicht erwärmten, fing sie an zu reden, einzelne Worte zunächst, und dann plötzlich sprudelte es aus ihr heraus. Sie habe sich in den Hain geflüchtet, um sich in der Finsternis zwischen den Bäumen zu verstecken. Dort sei ihr ein fränkischer Krieger begegnet. Er habe ihr kleines Mädchen erschlagen, und dann, als er sie schänden wollte, habe ein Mönch sie gerettet.

Sie erzählte das alles mit seltsam trockener Stimme, ohne jede Träne. Walram wäre am liebsten sofort losgezogen, um den Krieger, der ihr dieses Leid zugefügt hatte, eigenhändig zu erschlagen. Sie musste dasselbe empfinden wie er: eine schmerzende Leere, als sei ihr Körper entzweigeschnitten worden. Ein Säugling war immer noch Teil des mütterlichen Leibes, und Zwillinge, die gemeinsam im Bauch der Mutter herangewachsen und ihr ganzes Leben lang zusammen gewesen waren, bildeten eine Einheit, die man nicht einfach trennen konnte. Er tröstete sich damit, dass er es gespürt hätte, wenn Ava tot wäre, denn sie beide waren aus einem Fleisch. Auch um seine Zieheltern, seine Frau und seinen besten Freund Bero machte er sich große Sorgen. Die schrecklichsten Bilder kreisten unaufhörlich in seinem Kopf herum.

Er brauchte Klarheit, aber er musste sich gedulden. Schweigend saß er zu Liebhilds Füßen und ließ sie reden. Auf diese Weise konnte sie ihr Leid wenigstens ein bisschen bewältigen. Sie erzählte ihm von der schweren Geburt, als sie schon damit gerechnet hatte, bald in Holdas Reich zu sein, und wie dankbar sie seiner Schwester Ava für die Rettung war. Sie schilderte das Glücksgefühl, das sie durchströmt hatte, als sie zum ersten Mal das Neugeborene in den Armen hielt, von dem strahlenden Lächeln der kleinen Ava, ihrem fröhlichen Quieken, wenn sie gebadet wurde, und dem Lallen, über das sie nicht mehr hinausgekommen war.

»Weißt du eigentlich, was aus meiner Schwester geworden ist?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Er räusperte sich. »Hast du Roswitha gesehen?«

Sie sah ihn teilnahmsvoll an. »Ich würde Euch gerne helfen, Herr, aber sie war schon weg, als Eure Eltern und ich durch das Alarmhorn aus dem Schlaf schreckten.«

»Sie war weg?«, echote er ungläubig.

Liebhild nickte. »Ihr Fenster stand offen, und ihr Bett war leer.«

Wo mochte Roswitha hingegangen sein? Ein Verdacht stieg in ihm auf. Hatte sie womöglich einen Liebhaber? Er verscheuchte diesen Gedanken sofort wieder. Roswitha war launisch, gewiss, aber sie war nicht treulos. Und auch nicht dumm. Denn ehebrecherische Frauen wurden bei den Sachsen mit dem Tod bestraft. Gewiss gab es einen anderen Grund dafür, dass sie nicht in ihrem Bett gewesen war. »Vielleicht konnte sie nicht schlafen und ist deshalb noch etwas an die frische Luft gegangen. Sie wollte eure Nachtruhe nicht stören und hat sich durch das enge Fenster gezwängt, anstatt den bequemen Weg durch die Tür zu nehmen.«

»So muss es gewesen sein«, stimmte Liebhild ihm zu. Aber an ihrem Blick sah er, was sie wirklich dachte: Dass Roswitha die Allerletzte wäre, die auf andere Menschen Rücksicht nahm. Schon gar nicht auf die ungeliebten Schwiegereltern und die beiden verhassten Flüchtlinge. Walram starrte auf die alten Lederschuhe, die Roswitha Liebhild geschenkt hatte, weil sie sich durch das ständige Klappern der Holzpantinen belästigt fühlte. Das Kleid und die Schuhe waren die letzte Verbindung zu seiner Ehefrau.

»Wie ging es dann weiter?«, fragte er. »Was ist aus meinen Zieheltern geworden?«

Zum ersten Mal griff Liebhild nach dem Becher Met und trank langsam einen Schluck. Ungeduldig wartete Walram auf ihre Antwort. »Sie sind im Haus geblieben«, sagte sie schließlich, während ihre dünnen Finger den Becher umkrallten. »Das Alarmhorn tutete ununterbrochen, und ich konnte vom oberen Ende der Gasse schon Kampfgebrüll hören. Ich habe auf sie eingeredet, dass wir gemeinsam fliehen, aber sie haben sich geweigert, das Haus zu verlassen. Drinnen sei es für sie am sichersten, haben sie gemeint. Sie waren überzeugt davon, dass Ihr und Eure Krieger die Franken im Handumdrehen besiegt, Herr. Doch als ich durch das Fenster geschaut habe, fiel mir auf, dass einige Häuser brannten. Ich habe Angst bekommen und bin einfach weggerannt. Ich wollte mich zum Hain retten, aber dann ...« Nun liefen ihr doch Tränen über die Wangen. »Es tut mir so leid, Herr, dass ich Eure Zieheltern im Stich gelassen habe«, fügte sie mit brüchiger Stimme hinzu. »Ich habe alles falsch gemacht. Wer weiß, ob meine Kleine noch leben würde, wenn ich bei ihnen geblieben wäre.«

»Mach dir keine Vorwürfe«, erwiderte er tröstend, während er ihre Tränen mit dem Ärmel abtupfte. »Niemand weiß, welche Entscheidung in dieser Nacht die richtige war. Wir alle haben getan, was wir konnten, auch wenn es nicht gereicht hat.«

Schweigend saßen sie noch eine Weile beisammen. Wieder stürzten auf Walram die schlimmsten Bilder ein. Ava, die von einem Franken erschlagen wurde, Sonnhild und Oswin, die bei lebendigem Leib im Haus verbrannten, Roswitha, die wieder und wieder vergewaltigt wurde, Bero, der im Kampf gegen eine Übermacht von Franken fiel ... Warum kamen sie nicht in das Versteck? Seine Zieheltern und sein Freund wussten schließlich davon, sodass sie sich im Notfall wiederfinden konnten. Nur Roswitha hatte er auf Avas eindringlichste Mahnung hin nichts davon erzählt, obwohl er es nur zu gern getan hätte. Die Schuldgefühle erdrückten ihn, nicht nur wegen seiner Angehörigen, sondern auch, weil mit dem Fall der Eresburg für den fränkischen König der Weg ins Landesinnere frei war. Schließlich hielt Walram es nicht mehr aus. Wenn er weiterhin grübelnd sitzen blieb, würde er noch den Verstand verlieren. Außerdem musste er nach den Flüchtlingen sehen. Er hatte Eoba schon viel zu lange mit ihnen allein gelassen. Er stand auf. »Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Liebhild reagierte nicht, als er sie verließ. Sie war wieder in ihrem Leid versunken und schien um sich herum nichts wahrzunehmen. Er sah sich noch einmal nach ihr um, bevor er in das Dickicht eintauchte. Mit beiden Händen umklammerte sie den Metbecher, ohne auf die Tränen zu achten, die ihr von den Wangen tropften. Die Nomen hatten ihr übel mitgespielt in ihrem Leben, und das hatte sie nicht verdient. In der kurzen Zeit, die sie in Walrams Haus gewohnt hatte, waren sie und ihre Ava ihm ans Herz gewachsen, denn ihre Sanftmut und Freundlichkeit waren Balsam auf seiner durch endlose Ehekräche wund geriebenen Seele.

Als er zu den anderen zurückkehrte, wartete jedoch eine große Freude auf ihn. Bero war zu ihnen gestoßen. Er drückte Walram so fest an sich, dass dieser meinte, in dem dicken Bart, der fast die gesamte Brust seines Freundes überwucherte, ersticken zu müssen.

Bero war der größte Mann, den Walram je gesehen hatte, und sogar noch ein gutes Stück höher und breiter als Gibicho. Doch es lag nicht nur an seiner riesenhaften Gestalt, dass so mancher Feind schon beim bloßen Anblick die Flucht ergriff. Bero trug seinen Namen nicht ohne Grund. Er gehörte zu den Bärenkriegern, einer angeblich unverwundbaren Gruppe von Kämpfern, die sich Wodan geweiht hatten. Sie aßen rohes Fleisch, tranken heißes Blut und waren für ihre Wut berühmt, die ihnen gewaltige Kräfte verlieh. Walram allerdings wusste, dass sein Freund sich vor der Jagd und dem Kampf mit einem besonderen Kräutermet und Pilzgerichten in einen Rausch versetzte, der ihn schier unbesiegbar machte. So manchen Auerochsen hatte er in diesem Zustand erlegt. Die Hörner der gewaltigen Tiere benutzte er als Trinkgefäße, deren Ränder er in Silber einfassen ließ. Wer ihn zum ersten Mal flüchtig sah, mochte ihn leicht für einen Bären halten, denn er war am ganzen Körper von so dunklem Haar bedeckt, dass es wie ein Fell wirkte. Lediglich an den Wangen und an der Stirn, auf der Nase und auf den Handinnenflächen war glatte, sonnengebräunte Haut zu sehen. Das zottelige Haupthaar reichte ihm bis auf die Schultern. Unter dem Bart versteckt hingen Bärenzähne, die Bero stets an einem Lederband um den Hals trug. Seine Kleidung war ganz aus Bärenfellen gefertigt. Seine Augen waren dunkelbraun, doch wer es wagte, länger in sie hineinzuschauen, entdeckte nur Gutmütigkeit darin. So unbarmherzig sich Bero im Kampf zeigte, so zahm war er im Umgang mit seinen Freunden.

»Wie schön, dass du unversehrt bist!«, stellte Walram voller Dankbarkeit fest. Immerhin quälte ihn nun eine große Sorge weniger.

»Niemand kann einen Bärenkrieger töten, und so ein Drecksfranke schon mal gar nicht!«, dröhnte Bero. »Mindestens fünfzig von diesen verfluchten Kerlen habe ich mit meinem Sax zerhauen, aber wir konnten die Burg nicht halten.« Walram verspürte einen Stich, als er hörte, wie tapfer Bero sich geschlagen hatte, während er sich in der verhängnisvollen Nacht nur um die Flüchtlinge gekümmert hatte. Ohne Waffe hatte Walram hilflos zusehen müssen, wie die Feinde durch das Tor ins Innere der Burg geströmt waren.

»Eoba hat mir schon berichtet, dass die Franken durch den Geheimgang eingedrungen sind«, bemerkte Bero. »Doch wie sind sie dort hineingekommen?«

Walram zog ihn ein Stück zur Seite, weg von den Flüchtlingen. »Mein Schlüssel zum Geheimgang ist weg«, gestand er mit gedämpfter Stimme.

Bero blickte ihn entsetzt an. »Ein Verräter! Wer ist der verfluchte Kerl? Sag’s mir und ich zermalme seinen Schädel!«

Walram war erleichtert, dass sein Freund ihm keine Vorwürfe machte. Das tat er selber schon zur Genüge, auch wenn er mit aller gebotenen Sorgfalt auf den Schlüssel aufgepasst hatte. »Es gibt eigentlich nicht viele Möglichkeiten. Klar ist, dass Gibicho mit den Franken gemeinsame Sache macht. Er sollte auf dem Nordwestturm Wache halten und damit hätte er sehen müssen, wie die Franken zu den Drachenhöhlen geschlichen sind. Ich vermute, dass sie sich dem Berg von der anderen Seite der Diemel her genähert haben, im Schutz des dichten Waldes. Dann müssen sie durch den Fluss geschwommen sein. Wären die Feinde vom Süden gekommen, hätte ich sie entdeckt.« Walram berichtete seinem Freund von dem Kampf gegen Gibicho und erwähnte auch Avas Weissagung.

Bero ballte die Fäuste. »Wir werden die Burg zurückerobern! Und dann nehmen wir blutige Rache an dem, der uns verraten hat! Mit Avas Hilfe sind wir doppelt so stark. Wo steckt sie eigentlich?«

»Wenn ich das nur wüsste!«, antwortete Walram bedrückt.

»Wir finden sie«, versprach Bero ohne Zögern. »Und Roswitha auch.«

Walram blickte ihn dankbar an. »Ich habe schon einen Plan. Um ihn auszuführen, brauchen wir noch einen dritten Mann, und den werden wir uns heute Nacht holen.« Er verspürte Gewissensbisse, weil er daran dachte, dass es eigentlich seine Pflicht wäre, so schnell wie möglich dem Herzog der Engern Bericht zu erstatten und ihm zur Seite zu stehen. Doch wie sollte er kämpfen, wenn die Sorge um seine Angehörigen die Schwerthand lähmte? Und wer würde sie befreien, falls er im Krieg fallen sollte?

Insgeheim bedauerte Walram auch, dass er Liebhild nicht mitnehmen konnte, aber so schwach, wie sie war, würde sie die Gruppe nur unnötig behindern.

Bero senkte den Kopf. »Da ist noch etwas«, sagte er zögernd. »Ich habe eine sehr schlechte Nachricht für dich. Ich bin an deinem Haus vorbeigekommen, und da habe ich gesehen, dass deine Zieheltern tot waren. Es tut mir leid, Walram.«

* * *

Wie ein Bettler hockte Finnian im Staub, ohne sich darum zu kümmern, dass sein Habit dadurch noch dreckiger wurde, als es ohnehin schon war. Er hatte sich dort hingesetzt, wo der Weg von der Eresburg auf das fränkische Lager traf, um nur ja der Erste zu sein, dem die zurückkehrenden Krieger und Gefangenen begegnen würden. Denn obwohl er sich auf der Eresburg gründlich umgeschaut hatte, war Ava nirgends zu finden gewesen.

Finnian fand es beruhigend, dass er einen gut gesicherten Platz in seinem Rücken hatte, zu dem er rasch flüchten konnte, sollten wider Erwarten plötzlich sächsische Horden auftauchen, um ihre Schwertgenossen zu rächen. Noch beruhigender aber wirkten die alltäglichen Geräusche auf ihn, die davon kündeten, dass das Leben trotz aller Schrecken weiterging: das Klappern von Geschirr, das gedämpfte Murmeln der Männer, die gebellten Befehle und der andächtige Gesang der Mönche.

Finnian rührte sich nicht von der Stelle. Während er beobachtete, wie die Rauchfahne über der Eresburg immer dünner wurde, hatte er viel Zeit zum Nachdenken, fast schon zu viel. In der vergangenen Nacht hatte er mehr Grauen erlebt, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben ertragen mussten. Noch immer verfolgten ihn die gebrochenen Augen der unglücklichen Mutter, deren Kind im Hain erschlagen worden war. Noch immer hörte er die spitzen Schreie einer jungen Sächsin, als ein Franke ihr Gewand mit dem Schwert zerschnitten hatte. Noch immer spürte er die brennende Hitze seines Verschlags, aus dem er nur dank Ava entkommen war. Und immer wieder sah er Unmengen von Leichen vor sich: im Kampf gefallene sächsische Krieger, schwangere Frauen mit aufgeschlitzten Bäuchen, die verkohlten Überreste eines Menschen, abgehackte Beine und Arme. Eine Frau hatte er retten können, nur eine einzige! Finnian fühlte sich schuldig, weil er nicht mehr Menschen geholfen hatte, aber die Übermacht der siegestrunkenen Franken war erdrückend gewesen. Und sie hatten sich in solch einem Blutrausch befunden, dass jeder Appell an ihre Menschlichkeit und selbst jede Mahnung vor der ewigen Hölle von vornherein aussichtslos gewesen wären. Selbst Herkules hätte ihrer Raserei keinen Einhalt gebieten können. Dieser Krieg verhöhnte alle Werte des Christentums. So rettete man keine Seelen, sondern verlor sie für immer.

Beschämt musste Finnian sich eingestehen, welch schrecklichem Irrtum er erlegen war. Da die Sachsen bei den Franken als wild und ehrlos galten, war er überzeugt gewesen, seine selbstsüchtigen Wünsche mit einem gottgefälligen Werk verbinden zu können, als er sich dem Heer anschloss, das die teuflische Gefahr ein für alle Mal beseitigen sollte. Schreckliche Geschichten erzählte man sich über die Heiden: Sie würden Menschen opfern und kleine Kinder schlachten, um sie ihren Götzen darzubieten. Seit vielen Generationen schon warteten die Christen darauf, dass die Sachsen freiwillig den einzig wahren Glauben annehmen würden, doch verstockt, wie die Heiden waren, widersetzten sie sich jeder friedlichen Mission. War es nicht die Pflicht eines frommen Mannes, ihnen notfalls mit einem starken Heer im Rücken die Frohe Botschaft zu predigen, damit ihnen die ewige Hölle erspart blieb? Schließlich gab es kein Heil außerhalb der christlichen Kirche. Und war Karl nicht der gesalbte und damit von Gottes Gnaden eingesetzte König? Egbert und Finnian waren beileibe nicht die einzigen Mönche, die den Kriegszug begleiteten. Ganze Scharen frommer Männer hatten sich aufgemacht, um die Sachsen zu bekehren und die ersten Kirchen zu errichten.

Doch seit seiner Gefangennahme plagten Finnian ernsthafte Zweifel, denn die Sachsen wirkten keineswegs wild und ehrlos. Egbert und er waren noch glimpflich davongekommen, wenn man bedachte, welche Bluttat sein Gefährte begangen hatte. Stattdessen hatte Ava Finnian sogar das Leben gerettet und ihr eigenes dafür riskiert.

Was hatte sie über Finnian verkündet bei ihrem Runenritual? Er sei gekommen, um die Sachsen nur mit Worten von seinem Anliegen zu überzeugen. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Die betrübliche andere Hälfte der Wahrheit war, dass Finnian aus einem einzigen Grund seine Angst überwunden und die tollkühne Reise in den Diemelgau unternommen hatte: Getrieben von einem sündhaft gierigen Wissensdurst, wollte er an den Hof des fränkischen Königs gelangen, und dazu musste er als Erstes die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen des Herrschers gewinnen. Denn Karl hatte schon kurz nach seiner Krönung erklärt, er wolle Gelehrte um sich scharen und umfassende Bildungsreformen durchführen, vor allem im Klerus, dessen Kenntnisse erschreckend lückenhaft seien, sodass viele Geistliche ihre Aufgaben nicht wirklich erfüllen könnten. Gewiss konnte er einen klugen Kopf wie Finnian dazu gut gebrauchen, zumal englische Gelehrte auf dem Festland ein hohes Ansehen genossen.

Und Finnian war in den Sieben Freien Künsten ausgebildet worden. Trotzdem hätte er liebend gerne noch mehr Wissen angehäuft, allein, es bot sich in seinem Kloster keine Gelegenheit dazu. Und dabei hatte er nur deshalb, in der Hoffnung auf lebenslanges Lernen und Forschen, dem weltlichen Leben entsagt. Doch er war in das Skriptorium verbannt worden, wo er Tag für Tag, Stunde für Stunde, mit seiner gestochen scharfen Schrift Bücher abschreiben musste, deren Inhalt er längst kannte. Selbst die Würde eines Diakons, des untersten Ranges in der kirchlichen Hierarchie, war Finnian von seinem Abt verwehrt worden mit der Begründung, es mangele ihm an Demut. Am liebsten hätte er an der Kathedralschule von Eoforwic gedient, der berühmtesten Bildungsstätte des Abendlandes, die auch die umfangreichste Bibliothek ihr Eigen nannte. Doch auch dorthin ließ ihn sein widerborstiger Abt nicht gehen, weil Finnian mit seiner Schreibkunst und seinen ausgezeichneten lateinischen Sprachkenntnissen im Skriptorium unentbehrlich war. Jede Nacht im Traum waren die Mauern des Klosters ein Stück näher an Finnian herangerückt, bis er fürchtete, von ihnen zerquetscht zu werden. Als er glaubte, das trockene Hüsteln seines Pultnachbarn, das allmorgendliche Jammern seines Schlafnachbarn über einen juckenden Zeh und das schiefe Singen seines Chornachbarn keinen einzigen Tag länger ertragen zu können, hatte er seinem Abt vorgelogen, einen Ruf Gottes erhalten zu haben, der ihn als Missionsprediger zu den Sachsen schickte. Gottes Befehl war der einzige Befehl, dem sich auch ein halsstarriger Abt nicht widersetzen konnte. Und so war Finnian endlich aufgebrochen, nur von einem Wunsch beseelt: sich möglichst schnell einen sicheren und warmen Platz am Hofe des fränkischen Herrschers zu erobern, wo er gewiss mit vielen hochgelehrten Männern diskutieren und jede Menge interessanter Bücher lesen konnte!

Am Anfang war ihm der Zufall zu Hilfe gekommen. Gleich nachdem er die Missionsschule von Ultra Traiectum absolviert und sich auf die Reise nach Sachsen begeben hatte, war die Kunde vom Feldzug des Königs an sein Ohr gedrungen, und er hatte sich umgehend dem Heer angeschlossen. Doch als sich herausstellte, dass es für einen einfachen Mönch nahezu unmöglich war, Karl persönlich kennenzulernen, war er auf die tollkühne Idee verfallen, mit Egbert nach Sachsen zu gehen, in der verzweifelten Hoffnung, den König auf sich aufmerksam zu machen.

Aber nach dieser entsetzlichen Nacht wollte Finnian nur eines: zurück in sein Kloster, dessen Frieden er für so gering erachtet hatte. Im Kampf zwischen seinen beiden hervorstechendsten Eigenschaften, die leider so gegensätzlich waren, dass sie nie zu einer Einheit zusammenwachsen würden – der Neugier, die ihn in die Welt hinaustrieb, und der Ängstlichkeit, die ihn zurückhielt – hatte die Ängstlichkeit endgültig gesiegt. Aber vorher musste er Ava retten.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Finnian endlich das erlösende Stampfen der herannahenden Krieger vernahm. Er sprang auf und trat unruhig von einem Bein aufs andere, obwohl seine Knochen schmerzten, als hätten sich die erlittenen Schrecken in sie hineingebrannt.

Vorneweg ritt der strahlende Sieger, jener König, an dessen Hof Finnian um jeden Preis hatte gelangen wollen und den er nun zum ersten Mal leibhaftig sah. Wie es dem Herrscher des größten abendländischen Reiches gebührte, verneigte Finnian sich, als Karl an ihm vorüberritt. Der König trug die gleiche fränkische Tracht wie seine Untertanen. Die Hosen waren aus schlichtem Leinen, und der blaue Umhang hätte genauso gut einem reichen Bauern gehören können. Karls Unterschenkel waren mit Bändern umwickelt, und die Füße steckten in derben Stiefeln. Auch die Brünne und den Helm konnte man eher zweckmäßig als prächtig nennen. Das Wehrgehänge und der Griff des Schwertes waren mit Silber beschlagen. Aufsehen erregend war einzig das goldene Kapselreliquiar, das der König um den Hals trug. Der mit Perlen und Edelsteinen geschmückte Anhänger enthielt, wie Finnian gehört hatte, einen Splitter vom Kreuz Christi, den Karl nie ablegte, damit er der göttlichen Gnade stets teilhaftig war. Nur zu gerne hätte der Mönch die Hand ausgestreckt, um voller Andacht den Anhänger zu berühren. Noch nie war er seinem Herrn Jesus Christus so nahe gewesen.

Doch Finnian hielt nicht nur wegen der Reliquie den Atem an. Der König besaß eine starke Ausstrahlungskraft, die den Mönch sofort in Bann schlug. Karl war so groß, dass er fast jeden in seiner Umgebung überragen musste. Hoch zu Ross, in blinkender Ausrüstung, wirkte der König wie ein unbezwingbarer Herrscher. So wie ihn hatte Finnian sich immer den sagenhaften Siegfried vorgestellt. Karls äußere Erscheinung drückte Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit aus: das starke Kinn, der runde Schädel, die vollen Lippen, die etwas zu lange Nase und der Stiernacken. Sein kräftiger Körper schien wie geschaffen für die fast unmenschlichen Anforderungen des Königsamtes. Seit er vor vier Jahren gekrönt worden war, zog er rastlos durch sein riesiges Reich, um überall nach dem Rechten zu sehen. Finnian verstand nicht, wie ein Mensch dieses anstrengende Leben aushalten konnte, ohne dauerhaften Schaden zu erleiden, aber Karl schien vor Kraft zu strotzen. Die Wangen waren gut durchblutet, er hatte eine gesunde Hautfarbe, und seine großen Augen leuchteten. Der fränkische Schnauzbart hing zu beiden Seiten vom Mund hinunter, aber unter dem Helm lugte kein einziges Haar hervor. Finnian hatte schon gehört, dass der König das dunkle Haar kurz trug, um sich von der fast schon weiblichen Frisur der merowingischen Könige abzusetzen, die vor seinem Geschlecht regiert hatten.

Finnian konnte seinen Blick nicht von Karl losreißen. Nichts trübte die gute Laune des Herrschers, obwohl auch er gewiss so manchen Mann getötet hatte in der vergangenen Nacht. Er schien keine Gewissensbisse zu kennen. Finnian schüttelte den Kopf über sich. Wie töricht war er doch gewesen, als er geglaubt hatte, er könne seinen himmlischen Herrscher so einfach gegen einen irdischen eintauschen!

Hinter dem König ritt das engste Gefolge, das aus erschöpften, aber glücklich aussehenden Kriegern bestand. Bange wartete Finnian, bis auch sie vorbeigezogen waren. Gleichzeitig hoffte und fürchtete er, Ava zu sehen. War sie nicht dabei, dann war sie entweder geflohen – oder sie war tot.

Doch als Nächstes erblickte er nur Schätze, unnützen, schnöden Mammon. Krieger schleppten aufgeklappte Truhen voller glitzernder Armreifen, Ringe, Ketten, Ohrgehänge, Dolche, Kelche und Schalen. Ein angetrunkener Franke tänzelte die Straße entlang, über und über mit Gold- und Silberketten behängt. »Wir haben ihn! Den Schatz der Irminsul!«, grölte er.

Ein anderer zeigte dem Krieger, der neben ihm herging, einen edelsteinverzierten Sax. »Schau dir die Waffe an, sie ist besser als unsere«, bemerkte er staunend.

»Und das will etwas heißen«, sagte sein Begleiter und nahm ihm den Sax ab. »Fränkische Waffen sind hoch geschätzt. Wir verkaufen sie bis in die nordischen Länder, nach England und sogar nach Arabien.«

Ein Krieger, dessen Umhang mit einer Kreuzfibel zusammengehalten wurde, wandte sich Finnian zu. »Wir haben unsere Arbeit getan, Bruder«, rief er ihm zu. »Gott war auf unserer Seite. Jetzt könnt Ihr Mönche mit Eurem heiligen Werk beginnen.«

Endlos viele Reiter zogen vorüber. Nur wenige von ihnen waren verletzt, sie schienen mit den überrumpelten Sachsen leichtes Spiel gehabt zu haben. Irgendwann hielt Finnian es nicht mehr aus und lief dem Ende des Trosses entgegen, bis er die Gefangenen entdeckte, die sich auf der staubigen Straße dahinschleppten, bewacht von blutbesudelten Kriegern. Frauen, Männer und arbeitsfähige Kinder, allesamt gefesselt und starr zu Boden blickend. Es waren erschreckend viele, mehrere Hundert auf jeden Fall.

Finnian blieb stehen und suchte die Reihen fieberhaft ab. Da war sie! Sie lebte! Ava bemerkte ihn nicht, denn sie redete leise auf eine weinende Frau ein, die nur mühsam hinkend vorankam. Er suchte nach Anzeichen von Verletzungen bei der Seherin, doch er konnte keine finden und schickte ein kurzes Dankgebet gen Himmel. Sie war blass, und die ungekämmten Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, aber äußerlich war sie unversehrt. An ihrem Gewand fehlten ein paar Federn, doch die mochte sie auch bei seiner Rettung verloren haben.

Und nun musste er sie retten. Er folgte dem Tross bis zu einer umzäunten Weide, in die man die Gefangenen mit barschen Worten hineintrieb. Wie eine riesige Herde Kühe wurden sie zusammengepfercht. Finnian verlor Ava aus den Augen. Er musste sich etwas einfallen lassen, um sie zu befreien, doch was?

In Gedanken versunken, machte er sich auf die Suche nach jemandem, den er kannte, und begegnete bald schon einem entsetzlich zugerichteten, aber verzückt dreinblickenden Egbert, der erklärte, er habe in der Einsamkeit dem Herrn für die wundersame Errettung durch die fränkischen Krieger gedankt. In einer herrlichen Vision sei ihm daraufhin die Jungfrau Maria erschienen.

Während Egberts Wunden versorgt wurden, suchte Finnian ihre bescheidene Habe, die sie anderen Mönchen anvertraut hatten, und baute das kleine Zelt auf. Es bestand nur aus einigen Pfosten und ungefärbten Leinenbahnen. Ununterbrochen grübelte er, bis er vor lauter Nachdenken Kopfschmerzen bekam. Die umzäunte Weide, auf der man die Gefangenen untergebracht hatte, war viel zu gut bewacht, als dass er Ava hätte befreien können. Er beschloss, sich zunächst ein wenig umzuhören, und erfuhr zu seiner größten Erleichterung, dass der Gaufürst den Feinden entkommen war. König Karl hatte ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, weil er ihn unbedingt gefangen nehmen wollte. Walram war frei – das war immerhin eine gute Nachricht, über die Ava sich sehr freuen würde, vorausgesetzt, Finnian schaffte es, mit ihr zu sprechen. Außerdem erzählte man sich, die Eresburg sei durch Verrat in die Hände der Franken gelangt. Irgendjemand habe dem König den Schlüssel zu einem Geheimgang übergeben. Aber erst gegen Mittag machte die für Finnian bedeutsamste Neuigkeit die Runde: Wenn sich die Seherin taufen ließ und sich dem fränkischen König unterwarf, würde sie freigelassen werden. Das habe Karl ihr zugesichert. Er ging davon aus, dass sie, die zu den obersten Glaubenshütern der Engern zählte, als Vorbild diente und auf den Herzog einwirken konnte. Ließe sich der Herzog taufen, müssten ihm seine Untergebenen folgen. So war es bisher immer gewesen.

Doch wie hatte Ava sich entschieden? Finnian war sich ziemlich sicher, dass sie ihrem Götzendienst niemals abschwören würde. Dennoch musste er alles versuchen und seine ganze Beredsamkeit aufwenden, um sie von den Vorzügen des christlichen Glaubens zu überzeugen. In den vergangenen Tagen hatte Gott schon so viele Wunder gewirkt, vielleicht würde er auch das Herz einer Heidin für das Evangelium öffnen.

Kurz nachdem Egbert in sein Zelt zurückgekehrt war, verschwand er wieder, um an dem Schrein zu beten, der die Überreste jenes Mantels enthielt, den der heilige Martin mit einem Frierenden geteilt hatte. Der fränkische König hatte angeordnet, dass die kostbare Reliquie immer mitgenommen wurde, ins Kriegslager genauso wie in eine Pfalz.

Finnian ließ sich die Gelegenheit, ohne Egberts strenge Aufsicht seine eigenen Pläne verfolgen zu können, nicht entgehen. Aber dafür musste er sich zuerst ordentlich herrichten. Er wechselte das Habit und wischte sich den Schmutz von Gesicht und Händen. Wasser gab es leider nicht, da im ganzen Lager wegen der anhaltenden Trockenheit großer Mangel herrschte. Dann ging Finnian unverzüglich zum Aufseher der Gefangenen und bat darum, Ava in das Zelt zu bringen, das er sich mit Egbert teilte. Sein vertrauenerweckendes Habit bewirkte, dass der Aufseher ohne Zögern nickte. Es schnitt Finnian ins Herz, als er sah, dass die Franken keinerlei Anstalten trafen, ihre Gefangenen besser unterzubringen. Die Sachsen waren doch kein Vieh, das man Hitze und Kälte wehrlos aussetzen konnte! Hoffentlich traf Ava die richtige Entscheidung, dann würde ihr all das und noch viel Schlimmeres erspart bleiben.

Finnian eilte zurück zu seiner Unterkunft und sank auf die Knie. Er versuchte, sich auf das Gebet zu konzentrieren, aber immer wieder spürte er Avas weiche Lippen auf seinem Mund. Hilfe suchend griff er nach dem Holzkreuz, das er stets um den Hals trug. Doch in diesem Augenblick fiel ihm wieder ein, dass er es im Gemüsegarten verloren hatte. Als er die Schritte zweier Menschen hörte, die schweren eines Mannes und die leichten einer Frau, musste er sich zwingen, auf den Knien liegen zu bleiben. Schließlich wollte er einen würdigen Anblick bieten, wenn sie sein Zelt betrat, denn es ging immerhin darum, sie zu der einzig wahren Religion zu bekehren.

Ein Wachmann schlug den Vorhang beiseite und meldete: »Die Gefangene ist da. Ich bleibe vor dem Zelt stehen.« Dann schubste er Ava hinein.

Ohne sie anzusehen, erhob sich Finnian, strich sein Habit glatt und wandte sich langsam zu ihr um. Sein Herz klopfte unangenehm stark gegen die Rippen, und er musste sich dazu zwingen, nach außen hin ruhig zu erscheinen. Schließlich suchte er ihren Blick, doch sie erwiderte ihn mit Eiseskälte.

Er atmete auf, als er feststellte, dass sie auch aus der Nähe betrachtet äußerlich unversehrt war. Nur ihre Augen waren gerötet. Auf den Wangen, die vorgestern noch so rosig wie Frühlingsblüten gewesen waren, zeigten sich rote Flecken. Die Hände hatte man ihr auf dem Rücken zusammengebunden. Doch trotz oder wegen ihrer Hilflosigkeit hatte sie den Kopf hoch erhoben und das Kinn vorgereckt.

Wie sollte er anfangen? Eine Predigt würde nichts nützen. Für die Schönheiten von Gottes Wort war sie taub, aber vielleicht war sie vernünftigen Argumenten zugänglich. Er beschloss, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Ich habe gehört, was der König dir angeboten hat. Du wirst freigelassen, wenn du dich taufen lässt.«

Ihr Gesicht blieb starr.

Finnian versuchte noch einmal, an ihre Vernunft zu appellieren. »Bekenne dich zu unserem Glauben, dann bist du gerettet«, sagte er eindringlich. »Andernfalls wirst du verkauft.«

Endlich öffnete Ava den Mund. »Das hat mir der König auch schon gesagt. Doch wohin soll ich gehen, wenn ich frei bin?«, fragte sie bitter. »Zu den Engern zurück, die mich verstoßen werden, weil ich eine Verräterin bin? Herzog Brun wird mich zu Recht fortschicken, wenn er hört, dass ich mich wie ein Feigling benommen habe.«

Finnian trat von einem Fuß auf den anderen. »Du könntest in ein Kloster eintreten«, bemerkte er zögernd. »Dort kannst du dich der Pflege eines Kräutergartens widmen und dich um die Kranken kümmern. Das hast du als Seherin doch auch getan, oder?«

»Was für Aussichten!«, sagte Ava spöttisch. »Für immer eingeschlossen zu sein in einem Kloster. Ich muss den Wald um mich haben und die heiligen Bäume, sonst vertrockne ich wie eine Pflanze, die nicht gegossen wird. Nein, vielen Dank, ins Kloster gehe ich nicht. Eher sterbe ich.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und sie machte einen Schritt auf Finnian zu. »Weißt du, was aus meinem Zwillingsbruder geworden ist?«, fragte sie leise. Von ihrer Kleidung ging nur noch ein schwacher Kräuterduft aus.

Finnian überfiel ein heftiger Schwindel, als er in ihre blauen Augen sah, die vor Traurigkeit ganz dunkel geworden waren. Auch er senkte die Stimme. »Walram ist entkommen«, raunte er ihr zu, damit der Wachmann vor dem Zelt nicht mithörte. »Aber der König hat ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, weil er ihn unbedingt gefangen nehmen will.«

Erleichtert seufzte Ava auf. »Mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Den Göttern sei Dank, dass wenigstens er sich retten konnte.« Sie straffte ihre Schultern. »Er wird unserem Glauben und unserem Volk die Treue halten, genauso wie ich.«

Bei dem Gedanken, dass Ava wie eine Ware auf dem Sklavenmarkt zum Verkauf feilgeboten würde, stieg Übelkeit in Finnian auf. Er packte sie am Oberarm und sah sie eindringlich an. »Sei doch vernünftig!«, redete er auf sie ein. »Willst du etwa für den Rest deines Lebens auf dem Acker schuften? Du bist die schwere Arbeit doch gar nicht gewöhnt! Schon nach wenigen Jahren wirst du an Entkräftung sterben.«

Ava hielt seinem Blick stand. »Du hast gesagt, dass man den göttlichen Geboten folgen soll, nicht wahr? Nun, auch wir Sachsen tun das.«

»Aber eure Götter gibt es doch gar nicht!«, rief Finnian aus. »Wodan, Donar, Saxnot, Frí, Holda und wie sie alle heißen, sind nur Erfindungen eurer Ahnen. Allein der Christengott ist wahrhaftig und allmächtig!«

Avas Blick wurde wieder eisig. »Unsere Götter gibt es sehr wohl. Schon oft habe ich ihre Nähe gespürt und ihren Ruf vernommen. Ich glaube nicht an sie, ich weiß, dass es sie gibt, weil ich ihre Macht am eigenen Leibe erfahren habe! Und deshalb wird mich nichts von ihnen trennen.«

Sie hatte ihm. das Leben gerettet, da konnte er doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie sie in ihr Unglück rannte! Wenn er bloß mehr Zeit hätte, dann würde er sie Schritt für Schritt zum Christentum führen. Denn wie konnte sie innerhalb eines einzigen Gespräches all das aufgeben, woran sie ihr ganzes Leben lang geglaubt hatte? Und vielleicht – ein neuer Gedanke durchzuckte ihn – war sie nur deshalb gefangen genommen worden, weil sie kostbare Zeit damit verbracht hatte, ihn, Finnian, aus dem brennenden Verschlag zu befreien, anstatt sich selber in Sicherheit zu bringen. Er überlegte, ob er sie unter der Zeltwand durchschlüpfen lassen sollte, aber in ihrer Kleidung war sie so auffällig wie ein Pfau. Sie würde nicht weit kommen, ohne entdeckt zu werden. Es sei denn, sie sähe aus wie ein Mönch. Finnian würde ihr sein zweites Habit geben. Ihr Gesicht konnte sie in der Kapuze der Kukulle verbergen. Wenn der Wachmann ihre Flucht entdeckte, würde Finnian einfach behaupten, sie habe ihn getreten, er sei zu Boden gestürzt und auf den Kopf gefallen. Während er ohnmächtig dagelegen habe, habe sie wahrscheinlich ihre Fesseln an der scharfen Kante der Reisetruhe aufgeschnitten, seinen Habit gestohlen und sei dann fortgelaufen.

Ava sah ihn erstaunt an, als er noch dichter an sie herantrat. Er hielt den Mund an ihr Ohr, um ihr seinen Plan mitzuteilen, doch vor lauter Eifer und Verzweiflung hörte er die Schritte, die näher kamen, erst, als es schon zu spät war. Zwar ließ er sofort ihren Arm los, zog den Kopf weg und trat ein Stück zurück, aber Egbert stand schon breitbeinig im Zelteingang.

Finnian fühlte sich, als habe man ihn bei einer Todsünde ertappt. Verschämt senkte er den Blick und sah, dass Ava die Füße auseinanderstellte, als wolle sie Halt gewinnen. In den offenen Sandalen krümmte sie die Zehen nach unten – wie ein Baum, der Wurzeln in den Boden treibt, um dem Sturm standhalten zu können.

»Sieh an, da ist ja die verstockte Heidin, die meine Auspeitschung befohlen hat!«, sagte Egbert kalt.

»Der König hat angeboten, ihr die Freiheit zu schenken, wenn sie sich taufen lässt«, erklärte Finnian.

»So, so, der König interessiert sich also für sie«, murmelte Egbert. Es klang bedauernd.

»Sie ist immerhin die oberste Hüterin ihres Glaubens«, betonte Finnian.

»Nun, meine Tochter, bereust du endlich deine Sünden?«, fragte Egbert in scharfem Ton.

»In unserem Glauben gibt es keine Sünden, also kann ich auch keine bereuen«, antwortete Ava steif.

Finnian wagte es, wieder die Augen zu heben. Egbert setzte ein nachsichtiges Lächeln auf, wie ein besorgter Vater, der mit seinem Kinde sprach. »Das ist ja deine schlimmste Sünde, dass du dir deiner Verfehlungen noch nicht einmal bewusst bist. Du verharrst in der Finsternis einer Religion, die ganz auf das irdische Leben fixiert ist. Lass dich zum Licht des christlichen Glaubens führen! Dann ist dir der Himmel sicher.«

»Ich habe schon von eurem Himmel gehört«, bemerkte Ava. »Gelangen auch all jene Menschen dorthin, die mir lieb und teuer sind?«

»Natürlich nicht, wenn sie im falschen Glauben verharren«, erklärte Egbert.

Ava blickte ihm stolz in die Augen. Ihre ganze Haltung zeigte ihren unbedingten Willen, sich nicht brechen zu lassen. Immer stärker erinnerte sie Finnian an einen Baum, der sich dem Sturm entgegenstemmt. »Dann will ich auch nicht in euren sogenannten Himmel«, verkündete sie.

Sie redete sich um Kopf und Kragen. »Du weißt doch, was dir andernfalls droht!«, warf Finnian hastig ein. »In der Hölle, über die wir schon gesprochen haben, wirst du geschmort und gebraten. Auf ewig.«

»Lieber mit meinen Angehörigen im Feuer als allein im Himmel«, erklärte Ava mit fester Stimme. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht von ihrer Ansicht abrücken würde. Zumindest vorerst nicht. Finnian wandte sich an seinen Gefährten. »Lass sie in Ruhe, Egbert«, sagte er. »Vielleicht sieht sie klarer, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hat.«

»Hat dir die Schlange den Kopf verdreht?«, fragte Egbert in lateinischer Sprache zurück, damit Ava ihn nicht verstehen konnte. »Wolltest du sie eben küssen?«

Finnian spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Diese verräterische Röte!

Egberts Augen glitzerten. »Ich habe also recht«, fuhr er in der Sprache der Gelehrten fort. »Nun, du musst dir deswegen keine Vorwürfe machen. Diese heidnischen Hexen verstehen es, sich die Männer mit Liebestränken gefügig zu machen. Hat sie dir das Essen gebracht, als du im Verschlag warst?«

Finnian nickte widerwillig. »Aber ich habe es nicht angerührt«, antwortete er auf Lateinisch.

Egbert sah ihn mitleidig an. »Dann war das Gift im Wasser. Trinken musstest du ja schließlich bei der Hitze. Diese Zaubertränke sind geschmacklos. Während du dich erfrischst, lässt du das Verderben in deinen Körper und in deine Seele, ohne es zu merken.«

Finnian mochte es kaum glauben, aber ein kleiner böser Zweifel nistete sich in seinem Kopf ein und wurde immer stärker, je länger er darüber nachdachte. Er fühlte sich wie ein Seil, an dem von beiden Seiten kräftig gezogen wurde. Doch welche Richtung würde den Sieg davontragen? Er vermied es, Ava anzusehen, während er sich die letzten Tage in Erinnerung rief. Die Zaubertränke würden sein merkwürdiges Verhalten erklären. Selbst als Heranwachsender hatte er sich nicht sonderlich stark für Frauen interessiert, und auch als Mönch war es ihm nicht schwergefallen, enthaltsam zu leben. Seine ganze Liebe hatte schon immer den Büchern gegolten und nicht dem weiblichen Geschlecht. Erst nachdem er Ava begegnet war, hatte er die teuflische Begierde zum ersten Mal in seinem Leib verspürt. Und nach jedem weiteren Zusammentreffen mit ihr war es schlimmer geworden. Egbert mochte durchaus recht haben. Sie hatte ihn bewusst gelockt, durch ihre aufreizende Art, durch die unanständige Aufmachung, durch den betäubenden Duft ihrer Zauberpflanzen, der sich in ihrem Kleid verfangen hatte, und schließlich, um den endgültigen Sieg über ihn herbeizuführen, durch Zaubertränke. Womöglich hatte sie ihm auch etwas Gefährliches eingeflößt, als er nach dem Brand für einige Zeit bewusstlos gewesen war. War es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet sie ihn gerettet hatte, obwohl sie nichts von Christen hielt? Er war nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen, als er im Gemüsegarten wieder zu sich gekommen war. Was war bloß in ihn gefahren, als er sich auf sie gelegt hatte, nur um sie davon abzuhalten, in ihr wahrscheinlich wohl verdientes Unglück zu rennen? Und dann hatte er sogar – bei der Erinnerung wurde ihm ganz heiß – seine Lippen auf die ihren gelegt, damit sie nicht schreien konnte! Ausgerechnet er, der bisher der keuscheste aller keuschen Mönche gewesen war!

Egbert beobachtete ihn lauernd. »Sie ist heimtückisch und kalt wie die Schlange, die Adam und Eva im Paradies verführt hat«, raunte er Finnian zu. »Nur wer mit dem Satan selbst im Bunde ist, kann so gefühllos sein. Schau sie dir an! Siehst du nicht, wie kühl ihr Blick ist? Wo bleiben die Tränen, die man von einer Frau in ihrer Lage erwartet? Nicht das geringste Zeichen von Angst zeigt sie. Woher nimmt sie die Kraft, trotz ihres elenden Schicksals so standhaft zu sein, zumal Weiber von Natur aus schwach sind? Da es keine heidnischen Götter gibt, kann es nur der Teufel selbst sein, der ihr diese übermenschliche Stärke verleiht. Und hat sie auch nur einmal Dankbarkeit gezeigt für unsere Versuche, sie zu retten?« In der Tat, Ava könnte sich ruhig ein wenig dankbarer zeigen, das fand auch Finnian. Immerhin setzte er viel für sie aufs Spiel. Er hatte sie in sein Zelt kommen lassen, um sie zu retten, und mit welcher Kälte hatte sie reagiert!

Egbert setzte nach: »Welch größeren Triumph könnte es für eine Heidin geben, als einen frommen Mann zur Todsünde zu verführen und allen Ungläubigen zu zeigen, wie wenig fest er im Glauben steht? Einzig deshalb hat sie dich im Gegensatz zu mir vor einer Strafe bewahrt. Sie hat deine Schwäche gespürt und ausgenutzt.« Egbert trat so nah an Finnian heran, dass dieser den säuerlichen Atem seines Gefährten riechen konnte. »Aber ich kann dich stark machen. Sei unbesorgt, ich bewahre dein Geheimnis und werde dir dabei helfen, deine Seele zu läutern. Vertrau mir. Noch heute Abend fange ich mit der Heilung an. Aber als Erstes muss dieses Geschwür ein für alle Mal aus deinem Leben entfernt werden.«

Während Finnian immer noch keinen klaren Gedanken fassen konnte, rief Egbert den Wachmann ins Zelt. »Es ist sinnlos«, sagte er zu ihm, nun wieder in Fränkisch. »Die Gefangene will sich nicht taufen lassen. Wer nicht hören will, muss fühlen. Wir werden ihr eine letzte Lektion erteilen, die sie niemals vergessen wird, und danach kann sie der Sklavenhändler haben.«

Ohne ein Wort des Abschieds ließ Finnian Ava gehen. Schuldbewusst sah er ihr nach, wie sie erhobenen Hauptes aus dem Zelt schritt, aber sofort tadelte er sich für sein weiches Gemüt. Es konnte gar nicht anders sein, Egbert musste die Wahrheit gesagt haben. Welchen Grund sollte er haben, seinen Mitbruder in die Irre zu führen? Nein, sie war wirklich ein Geschwür, das sich in ihm eingenistet hatte. Doch trotzdem schmerzte ihn der Gedanke, dass ihr die Sklaverei bevorstand.

* * *

Die Eresburg kam Ava wie ein erlegtes Wild vor, das bis auf die Knochen abgenagt worden war. Die Gebäude standen zwar noch, aber sie waren leer. Kein Kinderlachen schallte aus ihnen hervor, niemand sang ein Lied bei der Arbeit, und keine Frau klapperte mit Geschirr.

Die Stille wurde nur vom leisen Klirren der Eisenkette, mit der Avas Füße gefesselt waren, und dem Ächzen der Karren, auf denen die Leichen und der Schutt weggeschafft wurden, unterbrochen. Für die Aufräumarbeiten hatte der König eine Schar von Kriegern und Knechten als vorläufige Burgbesatzung auf dem Eresberg zurückgelassen, bis er selber am nächsten Tag in der Feste einziehen würde, um der Zerstörung des heiligen Hains beizuwohnen. Bis dahin mussten die gröbsten Verwüstungen und vor allem die Leichen beseitigt werden. Wegen der Seuchengefahr wurden sie vor der Burg auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt. Der Gestank nach versengtem Menschenfleisch hing überall in der Luft.

War der Schrecken wirklich erst in der vergangenen Nacht hereingebrochen? Konnte eine Welt durch eine einzige Orkanböe verweht werden und einer ganz neuen Platz machen? War dies wirklich noch dieselbe Eresburg, in der Ava aufgewachsen war und die sie so gut kannte wie sich selbst?

Lautlos wie eine Giftschlange, die sich an ihr Opfer heranschlich, wand sich die kleine Gruppe, die aus den wichtigsten fränkischen Adeligen und Geistlichen bestand, durch die Burganlage zur Irminsul. Nachdem drei Priester getötet worden waren und Eoba verschwunden war, blieb nur Ava als Glaubenshüterin übrig. Die Christen wollten sie und damit zugleich alle Engern demütigen, indem sie sie zwangen, der Zerstörung dessen beizuwohnen, was für sie das Heiligste in dieser Menschenwelt war.

An der Spitze der Gruppe schritt Egbert mit einem großen goldenen Kreuz in den Händen, das im Sonnenschein glühte. Als Märtyrer, der auf der Eresburg für den christlichen Glauben sein Blut vergossen hatte, stand ihm das Recht zu, die Gruppe anzuführen. Trotz seiner Wunden hielt er sich aufrecht, und nur an seinem steifen Gang konnte man erkennen, dass er verletzt war. Gleich hinter ihm folgte der König, der so groß und kräftig wie ein Sachse war. Dann kamen die geistlichen und weltlichen Würdenträger und ganz am Schluss Ava. Zwei Krieger und ein Bogenschütze begleiteten die Gefangene. Als ob sie mit der schweren Fußkette hätte flüchten können! Das Eisen scheuerte die nackten Knöchel so wund, dass Ava nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Sie sehnte sich nach einem kühlen Bad, um den Schweiß abzuspülen, und nach einem Kamm, um die Haare in Ordnung zu bringen. Aber das alles war so unerreichbar wie die Sonnengöttin, die unbarmherzig vom Himmel herabglühte, obwohl sich der Nachmittag seinem Ende zuneigte. Während des langen Marsches zum Sklavenmarkt würde Ava noch schmutziger werden, ihre Haare würden verfilzen und sie würde stinken wie ein Stück Vieh. Genau das war sie nun auch: ein Tier in Menschengestalt, dem die Franken jegliche Würde absprachen. Kühen machte es nichts aus, Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt zu sein, vor aller Augen die Notdurft zu verrichten und sich nicht waschen zu können. Auch Ava würde sich als Sklavin künftig daran gewöhnen müssen, selbst ihre einfachsten Bedürfnisse nicht mehr stillen zu können. Denn nie würde sie das Angebot des Königs annehmen! Nicht einen Augenblick lang hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, die Götter zu verraten.

Seit die Franken sie an der Irminsul abgefangen und zusammen mit einigen anderen Frauen in den Keller unter dem Heiligtum geworfen hatten, empfand Ava merkwürdigerweise keine Angst, sondern nur eine unaussprechliche Wut auf die Feinde und auf denjenigen, der sein eigenes Volk ins Unglück gestürzt hatte. Ava verstand nun die Warnung der Göttin, dass jemand von den Engem die Verantwortung für den Fall der Burg tragen würde. Nicht sie, die Seherin, war schuld, sondern ein Verräter. Ohne sächsische Hilfe wären die Franken nicht ungehindert zu den Drachenhöhlen gelangt. Außerdem musste ihnen irgendjemand von dem Geheimgang erzählt und den Schlüssel ausgehändigt haben.

Diese Wut hielt Ava aufrecht. Sie verlieh ihr auch die Kraft, sich in den Eisenketten weiterzuschleppen, obwohl die Fessel bei jedem Schritt wie ein Messer in ihr Fleisch schnitt. Doch noch peinigender als die körperlichen Schmerzen war der Anblick der zerstörten Burg.

Als sie die Gasse erreichten, in der Walram gewohnt hatte, atmete sie auf. Nur die Häuser am oberen Ende waren vom Feuer zerstört worden, aber bis zum Haus ihres Bruders, das weitab von allen anderen stand, war es nicht mehr vorgedrungen. Die Krüge mit den roten Heckenrosen lagen zerbrochen auf dem Boden, und die Haustür stand weit offen. Ava konnte nicht umhin, einen letzten Blick hineinzuwerfen. Doch was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: ein nacktes Frauenbein, an dem der Fuß fehlte. Es waren nur zwei Schritte zur Tür. Ava brauchte Gewissheit. Bevor die Krieger sie zurückhalten konnten, schlurfte sie eilends zum Haus.

Mit zerschmettertem Schädel lag Sonnhild neben der Feuerstelle. Die Fibel und die Bernsteinkette, die sie immer zu tragen pflegte, waren weg. Das hochgerutschte Gewand gab den Blick auf die Beine frei. Der linke Fuß war abgehackt und in die Feuerstelle geworfen worden. Auf der gepolsterten Bank lag Oswin, sein Bauch war aufgeschlitzt, als wäre er ein Schwein, das geschlachtet worden war. Doch ehe Ava recht begriff, was sie da sah, war schon ein Krieger bei ihr und riss sie zurück in die Reihe.

Während sie weitertaumelte, zuckten Bilder wie Blitze durch ihren Kopf: Sonnhild, die an Avas Bett wachte, als diese kurz vor der Geschlechtsreife an einem hohen Fieber erkrankte ... Oswin, der Walram und ihr das Reiten beibrachte ... das Mittwinterfest, als die Zwillinge sechzehn Jahre alt waren. Oswin und Sonnhild hatten Walram die Nachahmung von Avas Amulett geschenkt und ihr selbst das erste Gewand aus Tierhäuten als Zeichen ihrer neuen Würde als Seherin. Sie waren die besten Eltern gewesen, die sie sich hatte wünschen können.

Und nun würden sie noch nicht einmal ein anständiges Begräbnis erhalten, sondern wie Vieh, das von einer Seuche befallen war, hastig verbrannt werden.

Weiter nördlich hatte das Feuer arg gewütet. Von manchen Gebäuden war nur ein Haufen Asche übrig geblieben. Viele waren Ruinen, die ihr Innerstes offen zeigten: zertrümmertes Geschirr, umgestoßene Bänke, zerhackte Webstühle, geplünderte Truhen und zerfetzte Gewänder. Da und dort ragten geschwärzte Pfosten einsam empor. Ava versuchte, nicht daran zu denken, was sich in der letzten Nacht abgespielt haben mochte. Jedes Haus erzählte eine Geschichte, aber sie verschloss die Ohren davor.

Sie schleppte sich über Wiesen und Weiden bis hin zu dem Weg, an dem sie gewohnt hatte. Ihr Rosenstrauch war zerhackt worden; wie große Blutstropfen lagen die abgerissenen roten Blüten auf den zertrampelten Kräuterbeeten. Als sie an ihrer Hütte vorbeiging, konnte sie einen letzten Blick hineinwerfen. Ihre Felle, Gewänder und Pelze waren zerfetzt, die getrockneten Kräuterbüschel platt getreten, die Töpfchen mit den Salben zerschlagen, ihr Kessel war verbogen, und überall lagen ihre heiligen Runenstäbchen herum, als wären sie billiges Kinderspielzeug. Ihr Eschenholzstab, mit dem sie unzählige magische Handlungen vollbracht hatte, war zerbrochen und vor ihrer Türschwelle wie ein christliches Kreuz zusammengelegt worden.

Nach allem, was sie erlebt hatte, wunderte Ava sich nicht mehr darüber, dass Egbert und die Franken in den Hain so selbstverständlich hineingingen, als wäre er irgendein Waldstück. Nur sie selbst verhielt sich den Göttern gegenüber angemessen: Als Einzige war sie gefesselt und durfte damit den Hain betreten. Nach der Gluthitze, die in den fast baumlosen Gassen und auf den Wiesen und Weiden geherrscht hatte, empfing sie dort angenehmer Schatten. Der schwirrende Gesang eines Waldlaubsängers und das lang gedehnte Flöten der Gartengrasmücke schienen ihr wie der tröstliche Zuspruch von Freunden. Doch vom Heiligtum her drangen dumpfe Schläge zu ihr herüber – wahrscheinlich Äxte, die Holz bearbeiteten.

Mit jedem Schritt fiel es ihr schwerer, sich weiterzuschleppen, denn sie wusste, welcher Anblick sie erwartete. Als sie auf die Wiese trat, in deren Mitte die Irminsul stand, hielt sie den Atem an. Knechte hackten mit Äxten auf die heilige Säule ein, hielten aber sofort inne, als die Gruppe erschien. Schweiß glänzte auf ihren entblößten Oberkörpern. Sie hatten schon tiefe Kerben in den Stamm gehauen, die wie klaffende Wunden aussahen. Aber die Irminsul reckte ihre beiden Arme immer noch trotzig in den gleißend blauen Himmel.

Egbert hob das Kreuz in die Höhe und sagte etwas in einer Sprache, die Ava nicht verstand. Dann bedeutete er den Arbeitern fortzufahren. Mit doppeltem Eifer machten sie weiter. Ava war den Göttern dankbar, dass auch heute wieder herrliches Wetter war, denn so würde sie das Heiligtum in seiner ganzen Pracht als letzte Erinnerung mit sich nehmen.

Ava fühlte sich, als träfe jeder Axthieb auch ihr eigenes Herz. Das Fällen der Irminsul rief ihr die Rune Naudhiz ins Gedächtnis, die auf der Rückseite ihres Amuletts eingeritzt war. Auch sie ähnelte einem Baumstamm, der in der Mitte durch einen langen Keil gespalten wurde. Wie ein schiefes Kreuz wirkte sie. Warum sahen die Götter der Zerstörung ihres Allerheiligsten tatenlos zu? Und warum hatte Frí Ava befohlen, die Irminsul zu hüten, obwohl deren Fall sowieso unausweichlich war? Hatte sie damit einen Hinweis geben wollen, an welcher Stelle die Franken in die Burg eindringen würden? Warum nur hatte die Göttin Ava solch eine rätselhafte Prophezeiung zukommen lassen, anstatt ihr unmissverständlich zu erklären, was genau zu tun war?

Die Schatten wurden länger, während die Gruppe den Knechten schweigend zusah. Ein leises Knarren kündigte das Ende des Heiligtums an. Mit jedem Augenblick wurde es lauter, und schließlich ertönte ein gewaltiges Ächzen, in dem sich die Todesseufzer aller Menschen, die bei der Einnahme der Eresburg umgekommen waren, zu vereinigen schienen, als trüge die Irminsul das ganze Leid ihres Volkes. Mit diesem letzten Schmerzenslaut sank sie zu Boden. Die Erde bebte, als der Stamm aufprallte, und eine Staubwolke hüllte die Irminsul wie ein Leichentuch ein. Wenn die Esche fiel, war der Tag des Weltuntergangs gekommen, hieß es. Wider besseres Wissen erwartete Ava, dass der Himmel einstürzte und sie alle unter sich begrub.

Nachdem sich der Staub gelegt hatte, gab er den Blick frei auf das zerstörte Heiligtum. Die Irminsul lag da, aller Kraft beraubt. Sie erinnerte Ava an Sonnhilds Leichnam: verstümmelt, zerhackt und ausgeblutet. Die Zerstörung des Allerheiligsten, das die Engere besaßen, war unverzeihlich. Niemals konnten sie das widerstandslos hinnehmen. Jetzt war klar: Dieser Krieg würde mit unerbittlicher Härte und unstillbarem Hass geführt werden. Dreißig lange Jahre.

Die Franken applaudierten. Triumphierend reckte Egbert das Kreuz in die Höhe. »Der Herr ist mit uns«, verkündete er. »Er hat uns heute ein Wunder gesandt, um uns im Glauben zu stärken und sein Wohlgefallen über die Eroberung dieser heidnischen Brutstätte kundzutun.« Egbert wartete, bis sich das Raunen gelegt hatte, dann sprach er weiter. »Wie ihr wisst, sind alle Quellen und Brunnen weit und breit ausgetrocknet. Wenn das fränkische Heer morgen in die Eresburg einzieht, hätte es dort kein Wasser vorgefunden, da es seit Langem nicht mehr geregnet hat. Aber damit Gottes Streiter nicht länger von Durst gequält werden, hat uns Gott in seiner unendlichen Güte Linderung geschickt. Der König sandte einige seiner Männer aus, um Wasser aufzutreiben, und als sie einen ausgetrockneten Bachlauf erreichten, quoll plötzlich ein großer Schwall Wasser daraus hervor. Unter großem Jubel haben sie sich daran erquickt. Das Wasser wird für die nächsten Tage reichen. Dem Herrn sei Lob und Dank. Wir haben das wundersame Gewässer Königsborn getauft.«

Von wegen Wunder, dachte Ava verbittert. Dass sich der christliche Priester nicht schämte, die Wahrheit derart dreist zu verzerren! Die Quelle, die das angebliche Wunder bewirkt haben sollte, kannte jeder Einheimische. Selbst in dieser trockenen Zeit führte sie noch Wasser. Sie war ein bisschen versteckt, befand sich aber in der Nähe der Eresburg. Vermutlich hatten Karls Krieger einen Gefangenen gezwungen, ihnen zu verraten, wo es Wasser gab.

Mit wehendem Mantel trat der König an Egberts Seite. »Dem allmächtigen Herrn zu Ehren werde ich aus dem Holz der Irminsul genau dort, wo zuvor der schändliche Götzenpfahl gestanden hat, eine Kirche errichten lassen«, kündigte er unter großem Beifall an.

Ava vernahm es voller Entsetzen. Unsere Götter sind so freiheitsliebend wie wir, dachte sie. Wir sperren sie nicht in steinerne Gefängnisse ein, die die Christen Kirchen nennen. Nur das Universum selbst ist ein würdiger Ort für die Götter. Und deshalb werden wir die Kirche wieder zerstören, sobald wir die Eresburg zurückerobert haben.

* * *

Als Junge hatte Finnian einmal zu viel von dem Wein getrunken, den ein Mitbruder aus der Klosterküche entwendet hatte. Den wunderbaren Rausch hatte er am nächsten Tag mit einem höllisch schmerzenden Kopf teuer bezahlen müssen. So ähnlich fühlte er sich jetzt, nur dass ihm das Herz schmerzte statt des Kopfes. Und auch sein geschundener Rücken erinnerte ihn an seine Torheit. Auf Egberts Anraten hin hatte er ihn mit der Geißel bearbeitet, um die Gefühle für Ava aus seinem Körper zu vertreiben. Die starken Schmerzen sollten die Begierde bezwingen und ihn daran gemahnen, in Zukunft der weiblichen Gefahr gegenüber wachsamer zu sein. Doch stattdessen hatten sie Finnians Leid verdoppelt: Zu der Sehnsucht nach Ava kam die Marter hinzu. Außerdem hatte Egbert ihm strengstes Fasten auferlegt: Nur noch montags und donnerstags durfte Finnian Nahrung zu sich nehmen. Da er ohnedies seit Tagen nichts mehr gegessen hatte, fühlte er sich ziemlich schwach. Während der Gefangenschaft hatte er freiwillig auf das Essen verzichtet, seit der Rückkehr ins Lager hatte er aus lauter Sorge um Ava keinen Bissen herunterbekommen, und nun durfte er außer Wasser nichts mehr zu sich nehmen, weil es Sonnabend war. Mit jeder Stunde, in der Finnian Ava nicht sehen konnte und sie in Gefangenschaft wusste, wurde es schlimmer. Erst am Mittag hatte er sie zum letzten Mal gesehen, nun dämmerte es, und er sehnte sich schon nach ihr, als sei er seit Jahren von ihr getrennt. Wann würde der Liebestrank endlich aufhören zu wirken?

Finnian schleppte sich zu der Reliquie des heiligen Martin, um dort auf Egberts Anraten hin die Nachtwache zu halten und für Erlösung aus seiner Seelenpein zu beten. Hinter ihm erklangen Schritte, und gleich darauf tauchte ein Mönch an seiner Seite auf. »Sei gegrüßt, Bruder Finnian.«

Erst nachdem er den Gruß des Fremden erwidert hatte, fiel Finnian auf, dass der Mönch Sächsisch gesprochen hatte. Ein Neubekehrter? Und woher kannte er seinen Namen?

Finnian blickte zur Seite und erschrak. Unter der Kapuze der Kukulle blinzelten ihn zwei leuchtend blaue Augen an. Ava! Wie war sie freigekommen? Doch dann erkannte er seinen Irrtum. Es war nicht Ava, sondern ihr Zwillingsbruder Walram, der sich mitten in das Lager der Feinde gewagt hatte. Finnian wollte schreien, aber da spürte er schon die Spitze einer Waffe in seiner Seite.

Walram grinste. »Die weiten Ärmel eures Überwurfs sind hervorragend dazu geeignet, einen Dolch zu verstecken.« Er verstärkte den Druck der Spitze. »Du kommst jetzt mit mir. Wir beide haben etwas zu besprechen. Keine Sorge, ich krümme dir kein Haar, wenn du dich benimmst. Aber wehe, du schreist! Und jetzt gehst du gemeinsam mit mir zum Rand des Lagers zurück.«

»Nicht so schnell«, protestierte Finnian, als Walram einen forschen Schritt anschlug. »Mein Rücken ist blutig, und ich habe seit Tagen nichts, gegessen.«

Walram ging langsamer. »Was haben die Franken mit dir angestellt?«, fragte er teilnahmsvoll.

Finnian wollte nicht darauf antworten und stellte eine Gegenfrage: »Wo hast du das Habit her?«

Walram lachte leise. »Erkennst du es nicht wieder? Es stammt von deinem Gefährten Egbert. Wir mussten ihn leider ausziehen, um ihn bestrafen zu können. Nun, wie findest du mich als Mönch? Täuschend echt, nicht wahr? Unter der Kapuze sieht mein geschorener Vorderkopf wie eine Tonsur aus.«

Wider Willen bewunderte Finnian Walram für den Mut, sich mitten unter die Feinde zu wagen. Der Mönch beruhigte sich allmählich. Die Sachsen hatten ihn gut behandelt, und er glaubte Walrams Versicherung, dass ihm nichts passieren werde. Dennoch hielt er nach jemandem Ausschau, den er kannte und dem er unbemerkt ein Zeichen geben konnte, zum Beispiel durch einen für Walrams Ohren harmlos klingenden lateinischen Zuruf. Doch ihnen begegneten nur einzelne müde Krieger, die sich eilig in ihre Zelte begaben. Walram hatte den Zeitpunkt geschickt gewählt: Nach der durchkämpften Nacht waren die Franken erschöpft und würden nicht auf einen frommen Bruder achtgeben.

Walram schlug einen schmalen Pfad ein, der nach Finnians Ansicht viel zu weit vom sicheren Lager wegführte. Mit jedem Schritt sackte sein Magen ein Stück tiefer ab. Schließlich blieb Walram stehen und riss sich aufatmend die Kapuze vom Kopf. »Die Wirkung eures Habits ist wirklich unglaublich. Niemand im Lager hat auf mich geachtet.« Er schob den Dolch in den Ärmel. Dann wandte er sich an Finnian. »Wo sind meine Schwester und meine Frau? Sag schon, was ist aus ihnen geworden?«

Wieder hatte Finnian das Gefühl, in Avas Gesicht zu blicken, als er Walram ansah. »Was aus deiner Frau geworden ist, weiß ich nicht. Deine Schwester wird in die Sklaverei verkauft. Ein Händler zieht übermorgen früh mit den Gefangenen los.« Der Gedanke daran schmerzte ihn immer noch so, als würde er selber ihr Leid ertragen. Warum nur hatte die Geißelung nicht geholfen?

Walram ballte die Fäuste. »Übermorgen früh, sagst du? Kann ich Ava vorher befreien?«

»Schlag dir das aus dem Kopf«, erwiderte Finnian. »Die Gefangenen sind viel zu gut bewacht. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich sie schon längst herausgeholt.« Ehe Finnian die Worte zurückhalten konnte, waren sie von seiner Zunge geschlüpft. Er biss sich auf die Lippen.

»Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann«, sagte Walram warmherzig. »Wir müssen ihr hinterherreisen.«

»Das wäre glatter Selbstmord. Du bist der meistgesuchte Sachse. Der König hat ein hohes Kopfgeld auf dich ausgesetzt.« Erst jetzt begriff Finnian, was Walram gesagt hatte. »Wen bitte meinst du mit wir

»Du, mein Schwertgenosse Bero und ich«, sagte Walram, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass Finnian mitkam.

Walrams Dreistigkeit machte Finnian fassungslos. »Wie bitte? O nein! Egbert wird nach mir suchen lassen.«

Im Schein der untergehenden Sonne sah er Walrams breites Grinsen. »Im Krieg kann so ein Mönchlein wie du leicht verloren gehen. Immerhin sind die sächsischen Wälder tief und voller Raubtiere. Und voller Sachsen, die nach Rache dürsten. Niemand wird sich also wundern, wenn du für einige Zeit fort bist und nach einer wundersamen Rettung, die dein allmächtiger Gott bewirkt hat, wieder auftauchst. Vielleicht wirst du sogar heiliggesprochen. Würde dich das nicht freuen, wenn noch Jahrhunderte nach deinem Tod Menschen an deinem Schrein beten und dich gegen Kopfschmerzen anrufen? Was kann sich ein frommer Christ Schöneres wünschen?«

Finnian konnte immer noch nicht glauben, was Walram plante. »Warum willst du ausgerechnet mich mitnehmen?«

»Damit ich unverdächtiger bin«, antwortete Walram. »Wer hält mich schon für einen Feind, wenn ich von einem echten Mönch begleitet werde? Außerdem bist du mit den Gepflogenheiten der Franken vertraut und kennst einen Teil ihres Wegenetzes.«

Finnian kehrte gemächlich um und schlenderte auf dem Feldweg entlang, der zum Lager zurückführte. In der Ferne schimmerten die Lichter der Feuerstellen und Fackeln verheißungsvoll. Fieberhaft überlegte er. Wie konnte er Walram loswerden, ohne sein Leben zu riskieren? »Hast du überhaupt Geld?«, wandte er ein. »Die Reise ist teuer. Unterkünfte, Essen, Trinken, Pferde ...«

»Wir haben einen Teil des Schatzes der Irminsul rechtzeitig wegschaffen können«, erwiderte Walram. Lässig zog er seinen Dolch wieder aus dem Ärmel. In der blutroten Abendsonne funkelte die Waffe unheilvoll. »Pass mal auf, du Möhrenkopf, meine Schwester hat dir das Leben gerettet. Ohne ihre Anordnung, zuerst die Runen zu befragen, hätten euch die Dorfbewohner gleich totgeschlagen. Und es gab eine Menge Stimmen, die euch beide, hm, sagen wir mal, nachdrücklich befragen wollten, um Näheres über die Truppen Karls zu erfahren. Dass du noch alle deine Knochen hast, verdankst du Ava. Du bist ihr deshalb etwas schuldig.«

»Einer gottlosen Heidin bin ich nichts schuldig!«, brauste Finnian auf.

Walram zielte mit dem Dolch auf Finnian. »Sieh dich vor, was du sagst! Ich kenne keine frommere Frau als sie. Nur weil sie nicht deinem Christus dient, ist sie noch lange nicht gottlos!«

Walram hatte nicht ganz Unrecht, wie Finnian sich eingestehen musste. Sogar zwei Mal hatte Ava ihm das Leben gerettet. Aber er würde nicht mit ihrem Zwillingsbruder gehen – niemals! Er musste Ava aus seinem Leben reißen. Immerhin hatte sie ihm einen Zaubertrank eingeflößt. Ein weiterer guter Einwand fiel ihm ein. »Ich habe Beständigkeit des Ortes gelobt, ich kann nicht einfach gehen, wohin ich will, denn sonst werde ich nach meinem Tod von Gott bestraft.«

Walram stach ihm die Spitze des Dolches vorsichtig in die Seite. »Betrachte es doch einmal von einer anderen Seite. Ich verschleppe dich, und dagegen bist du machtlos. Das wird auch dein Gott einsehen. Ich rede mit ihm.« Er zog seine Waffe zurück, packte den Mönch an den Schultern und drehte ihn um. »Du läufst in die falsche Richtung, mein Freund.«

Finnian suchte fieberhaft nach weiteren Argumenten, während er sich widerwillig wieder vom Lager entfernte. So langsam wie nur möglich schlich er dahin. »Hast du keine Angst, dass ich dich bei der erstbesten Gelegenheit verraten könnte?«, fragte er.

»Die Runen haben gesagt, dass du friedfertig bist, und die Runen lügen nicht«, antwortete Walram. »Meine Schwester war von deinem guten Charakter überzeugt. Außerdem kannst du dir sicher sein, dass ich es schaffen werde, meinen Häschern zu entkommen. Ich werde nicht ohne Grund von den Franken als gefährlich bezeichnet. Deshalb wirst du, Finnian, mir nicht entwischen. In jedem Kloster werde ich dich finden und Rache üben. Doch ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird. Du machst dir doch auch Sorgen um meine Schwester also gib dir einen Ruck und komm freiwillig mit!«

Finnian beschloss, Walram die Augen über Ava zu öffnen. »Deine Schwester hat mir einen Liebestrank eingeflößt, um mich gefügig zu machen.«

Walram starrte ihn verblüfft an. »Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt?«

Finnian verlangsamte den Schritt noch mehr. »Ich spüre die Wirkung des Tranks am eigenen Leib.«

»Du hast da eine kahle Stelle mitten in deinem Schopf«, stellte Walram sachlich fest. »Durch dieses Loch muss dein Verstand entwichen sein. Meine Schwester hat solche zweifelhaften Mittelchen gar nicht nötig. Ihr bloßer Anblick ist der stärkste Zaubertrank, den es gibt. Du bist nicht der Erste, der sich in sie verliebt, und bestimmt nicht der Letzte.« Er schluckte. »Sie mag dich wirklich, das habe ich gespürt. Unter der Tünche deines fanatischen Glaubens steckt ein feiner Kerl. Das hat sie gemerkt, und sie kennt sich mit Menschen aus.«

»Auch Egbert kennt sich mit Menschen aus, und er ist überzeugt davon, dass Ava mir einen unheilvollen Trank eingeflößt hat«, erwiderte Finnian hitzig.

»Soll ich dir mal was über deinen Gefährten verraten?« Walram erzählte ihm, was Egbert zu Ava gesagt hatte, als er am Pfahl hing. »Begreifst du denn nicht?«, sagte er eindringlich. »Er hasst Frauen, warum auch immer.«

Finnian hatte wieder das Gefühl, ein Seil zu sein, an dem von beiden Seiten gezogen wurde. Wer log ihn an – Egbert oder Walram? Nachdenklich schlurfte er weiter, während Walram an seiner Seite schwieg. Auch Finnian war schon aufgefallen, dass Egbert von Frauen nicht viel hielt. Nur die allerkeuschesten Nonnen fanden Gnade vor seinen Augen. Ava hatte Finnian zweimal das Leben gerettet, wohingegen Egbert die Pferde bestialisch erstochen hatte. Finnian schwankte noch, wem er Glauben schenken sollte, als Walram nachsetzte. »Hast du denn kein Herz?« Seit er Ava kannte, spürte Finnian die Stelle überdeutlich und äußerst schmerzhaft.

Walram bohrte weiter: »Mein Freund Bero hat mir erzählt, was die Franken in ihrem Blutrausch mit meinen Zieheltern angestellt haben. Sie sind tot, erschlagen, zerhackt und aufgeschlitzt. Soll ich jetzt auch noch meine Schwester verlieren? Ihr Mönche seid doch der Nächstenliebe verpflichtet, hilf mir, dass ich wenigstens sie retten kann! Kannst du es mit deinem christlichen Gewissen vereinbaren, dass sich Ava als Sklavin einem Herrn unterwerfen und ihm in jeder Hinsicht zu Diensten sein muss? Auch mit ihrem Körper?« Finnian sah ihn entsetzt an. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

Walram blieb stehen. »Pass mal auf, du Leuchtkopf, es mag ja sein, dass dein ganzes Feuer in die Haare gestiegen ist, aber bei anderen Männern brennt es auch in den Lenden. Und wenn die Ava auf dem Sklavenmarkt sehen ... Meine Schwester ist sehr, sehr schön! Du glaubst doch nicht etwa, dass sie gekauft werden wird, um ein Haus zu putzen oder einen Acker zu bestellen?« Bei dem Gedanken wurde Finnian schlecht.

Walram musste ihm seine Gefühle angesehen haben, denn er trieb den Stachel noch tiefer in die Wunde. »Und vielleicht muss sie nicht nur einem Herrn dienen, sondern jeden Tag mehreren Männern. Womöglich gerät sie sogar in ein Lusthaus ...«

Nur das nicht. »Hör auf!«, rief Finnian. »Ich komme freiwillig mit, ja, ja! In Christi Namen!«

Walram strahlte ihn an. »Genau das wollte ich hören. Hast du eine Ahnung, wohin der Sklavenhändler mit seinen Gefangenen ziehen wird?«

Finnian überlegte kurz. »Ich schätze, er wird den Weg zum großen Sklavenmarkt in Virodunum wählen. Am schnellsten und sichersten erreicht er sein Ziel, wenn er über die Wagenstraße nach Mogontia und von dort aus über Mettis zieht. Er würde damit zum Teil denselben Weg nehmen, auf dem ich hergekommen bin.«

»Wir werden übermorgen früh beobachten, welche Richtung sie einschlagen«, erklärte Walram. »Bis dahin verstecken wir uns im Wald. Mit den Pferden sind wir um ein Vielfaches schneller als die Sklaven zu Fuß und werden sie mit Leichtigkeit einholen. Es ist unverdächtiger, wenn wir erst auf fränkischem Gebiet zu ihnen stoßen. Wir können die Zeit nutzen und einen kleinen Abstecher nach Friedeslar machen.«

Finnian sah ihn von der Seite an. »Willst du dort Erkundigungen über Egbert und deine Mutter einziehen?«

Walram nickte. »Außerdem muss ich mir in einem größeren Ort noch einen Schlapphut kaufen, den ich tief ins Gesicht ziehen kann, damit man die Ähnlichkeit mit meiner Schwester nicht sieht.« Aufmunternd schlug er Finnian auf die Schulter. »Bero wartet im Wald mit drei Pferden auf uns. Du wirst sehen, spätestens in ein paar Wochen bist du zurück. Wenn wir erst Ava haben, liefere ich dich unversehrt bei deinen Leuten ab. Ich bin ein Mann von Ehre, du kannst meinem Wort trauen.«

Er ging los, auf den Wald zu, der wie eine dunkle Mauer vor ihnen aufragte. Finnian wurde es angst und bange bei der Vorstellung, dort ganz allein in den Fängen von zwei kampferprobten Sachsen zu sein. Aber nicht nur deshalb war ihm unwohl. Immerhin hatte er Keuschheit gelobt, und sich auf die Suche nach einem Weibsbild zu machen, das dazu noch Götzen anbetete, behagte ihm gar nicht. Er beruhigte sein Gewissen damit, dass er sie ja nicht heiraten, sondern nur retten wollte. Machte sich in dem biblischen Gleichnis von dem verlorenen Schaf nicht auch ein Mann, der hundert Schafe besaß, auf die Suche nach dem einen, das sich verirrt hatte? Beging Finnian folglich nicht eine gute Tat, wenn er Ava in die Herde holte?

Aber für sein Seelenheil war es gar nicht förderlich, wenn er in Avas Nähe weilte. Am liebsten hätte er ganz laut »Verdammt!« gebrüllt.

Walram und Finnian waren nicht mehr weit vom Waldrand entfernt. Aus dem Dunkel löste sich ein kleiner, schmaler Schatten. Wer konnte das sein? Bero war gewiss ein kräftiger Mann. Mit einem flauen Gefühl im Magen beobachtete Finnian, wie der Schatten näher kam. Walram hob den Dolch und schlich lauernd weiter. Als das dunkle Wesen nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war, erkannte Finnian die Frau, die er in der vergangenen Nacht gerettet hatte.

Walram blieb abrupt stehen. »Was machst du denn hier, Liebhild?«

»Ich will gemeinsam mit euch Ava befreien«, antwortete sie schüchtern. »Ich habe ohnedies kein Zuhause mehr. Und seid ihr nicht viel unverdächtiger, wenn ihr mit einer Frau reist?« Sie setzte ein Lächeln auf, das Finnian nicht recht zu deuten wusste. »Was gibt es Harmloseres als ein frommes christliches Ehepaar, das von einem Knecht und seinem Hausgeistlichen begleitet wird?«

* * *

Warum nur waren die Nornen so ungerecht? Obwohl Walram und Ava von äußerst zweifelhafter Herkunft waren, hatten sie es viel weiter gebracht als Gibicho, der eine lange Reihe ehrwürdiger Ahnen vorweisen konnte. Und dann hatte Walram auch noch eine der schönsten Frauen aus der Gegend geheiratet, während er, Gibicho, trotz seines erheblich besseren Aussehens keine passende Ehefrau fand.

Doch sein langes Warten hatte sich gelohnt. Es war ein Triumph für Gibicho gewesen, als er Roswitha zum ersten Mal verführt hatte, und ein noch größerer Triumph, als er es sogar geschafft hatte, ihrer Beziehung Dauer und Tiefe zu verleihen. Zwar liebte er sie nicht, aber sie war genau die richtige Gattin für ihn: heißblütig im Bett und kaltblütig, wenn es um Besitz und Macht ging. Und sie gehörte Walram. Auch deshalb wollte er sie heiraten. Richtig lieben konnte er sowieso nicht. Er vermutete, dass viele Menschen dieses Gefühl nur vortäuschten. Denn war man sich nicht immer selbst der Nächste? Wer liebte, beging Dummheiten, und Gibicho war klug. Obwohl ... Manchmal beneidete er Walram um dessen Fähigkeit, dieses seltene und anscheinend sehr schöne Gefühl empfinden zu können.

Vielleicht würde es sich aber auch im Laufe der Ehe einstellen. Sobald genügend Zeit nach Walrams Flucht verstrichen war, wollten Gibicho und Roswitha heiraten. Da sie keine Kinder hatte, würde sie behaupten, Walram habe sich geweigert, Nachwuchs zu zeugen. Nach christlichem Recht konnte sie dann geschieden werden. Obwohl Gibicho viel lieber wirkungsvoll nachgeholfen hätte, um Roswitha möglichst schnell zu heiraten, indem er sie zur Witwe machte. Doch es war nahezu unmöglich, den Gaufürsten, der jeden Schlupfwinkel in den sächsischen Wäldern kannte, aufzuspüren.

Aber wenigstens lag Gibicho in Walrams Gästebett, genoss die Annehmlichkeiten seines Gästehauses, aß von seinem Teller und trank aus seinem Becher. Nur wenige Schritte entfernt schlief der fränkische König in Walrams Hallenhaus, das Roswitha für ihn hergerichtet hatte. Es hätte Gibichos allergrößter Triumph werden können. Doch ihm war eher nach Brüllen als nach Feiern zumute. Dieses Ziehen und Brennen in seiner linken Gesichtshälfte machte ihn verrückt. »Ich werde ihn kriegen, das elende Schwein!« Gibicho ballte die Fäuste, dann heulte er auf. »Diese gottverfluchten Schmerzen!«

»Vergiss nicht, du bist jetzt getauft. Verwende also nicht den Namen unseres neuen, ach so geliebten Herrn für einen Fluch!« Roswitha beugte sich über ihn und tupfte ihm mit einem wassergetränkten Leinentuch den Schweiß von der Stirn. Der König hatte ihr zugestanden, dass sie nach seiner Abreise ihr Haus wieder beziehen durfte, als Belohnung dafür, dass sie ihm den Schlüssel zum Geheimgang übergeben hatte. Bis dahin lebte sie in dem Gästehaus. Ganz allein. Denn nicht nur ihr Mann, sondern auch ihr Gesinde war verschollen.

Ebenso wie Roswitha durfte Gibicho, der mit ihr den Verrat geplant und durchgeführt hatte, dank königlicher Erlaubnis alle seine Güter behalten. Außerdem waren beide mit einer Schatzkiste von der Irminsul entlohnt worden.

In dieser Nacht war er heimlich zu ihr gekommen, weil sie einiges unter drei Augen zu besprechen hatten. Sie mussten nun nicht mehr ganz so vorsichtig sein wie früher, denn Ehebruch war bei den Franken kein todeswürdiges Vergehen.

Gibicho ächzte. Die Stelle, an der früher sein linkes Auge gewesen war, pochte ununterbrochen, und der Verband klebte fest. Der Arzt des Königs hatte ihm versichert, dass die Wunde bald vollständig verheilen würde. Doch nie wieder würde Gibicho auf der linken Seite etwas sehen können. Sie war dunkel und blind für immer. Selbst wenn die Sonne schien, würde er zum Teil im Schatten leben. Und er war sichtbar verstümmelt, würde mit einer Augenklappe herumlaufen müssen, damit die Menschen bei seinem Anblick nicht erschraken. »Ich will mein Auge zurück!«, brüllte er.

»Liebster, du musst dich damit abfinden, dass es zerstört ist. Aber unser Einsatz hat sich gelohnt. Wir haben alles behalten, während unser Zwillingspärchen alles verloren hat. Und darüber hinaus haben wir sogar noch einen satten Gewinn gemacht.« Roswitha legte den Leinenlappen zur Seite, schnürte ihren neu erworbenen Geldbeutel auf und ließ genießerisch die rechte Hand durch die Münzen gleiten. »Wie gut, dass ich Ava und Walram auf dem Turm belauscht habe«, sinnierte sie. »Als Ava drängte, dass sie ihn sofort allein sprechen müsste, war mir klar, dass es um etwas Wichtiges ging. Ihre Visionen haben noch nie getrogen. Früher oder später hätte Karl die Burg sowieso eingenommen. Wir beide haben nur dafür gesorgt, dass auf fränkischer Seite weniger Menschen gestorben sind.« Sie lachte. »Walram hat einen so tiefen Schlaf, dass er gar nicht gemerkt hat, wie ich ihm den Schlüssel für den Geheimgang gestohlen habe.«

»Aber es war mutig von dir, dich nachts allein auf den Weg ins feindliche Lager zu machen«, warf Gibicho ein. »Die Franken hätten dich auch gefangen nehmen können. Ich habe mir Sorgen gemacht, nachdem ich dir geholfen hatte, dich vom Nordwestturm abzuseilen.«

Roswitha zuckte die Achseln. »Eine Frau ist viel unverdächtiger als ein Mann. Deshalb war es schon gut, dass ich gegangen bin und nicht du.«

Gibicho ächzte. »Fanden es die Franken nicht merkwürdig, dass sich ausgerechnet die Frau des Gaufürsten ergibt?«

»Ich habe ihnen erzählt, Walram würde mich vom christlichen Glauben abhalten und mich zwingen, weiterhin den alten Göttern zu dienen. Diese Notlage haben die Mönche, die den König beraten, sofort verstanden. Sie fanden es äußerst löblich, dass ich solchen Eifer zeigte, zu ihrem Gott zu kommen. Außerdem war die Ware, die ich anzubieten hatte, viel zu verführerisch.« Sie lächelte Gibicho aufmunternd an. »Wir werden Walram erwischen, verlass dich drauf. Und dann kannst du Rache nehmen für das, was er dir angetan hat.«

Gibicho stöhnte. »Wenn ich nur wüsste, wie ich den Schweinehund kriegen kann ...«

Roswitha nahm ein Goldstück heraus und liebkoste es mit ihren Fingern. »Wo Ava ist, ist auch Walram. Und da wir wissen, wo sie steckt, brauchen wir nur zu warten, bis ihr Brüderchen dort aufkreuzt.«

»Ins Lager wird er sich wohl kaum trauen«, antwortete Gibicho zweifelnd. Wie gewohnt griff er nach seiner Kette, aber statt Donars Hammer baumelte nun ein goldenes Kreuz daran, das ihm der König zur Taufe geschenkt hatte. Ein Gott, der sich demütigen und hinrichten ließ – wie erbärmlich! Mit diesem Jammerlappen von Jesus hatte er einen schlechten Tausch gemacht. Und dann war auch noch alles, was am meisten Vergnügen bereitete, im neuen Glauben verboten. Mit einer Frau zu schlafen, war nur innerhalb der Ehe gestattet, und dann auch bloß an genau festgelegten, viel zu wenigen Tagen im Jahr. Selbst Fleisch durfte man nicht immer essen, wann man wollte. »Fasten« nannten die Christen das! Stattdessen sollte man jeden Sonntag in die Kirche gehen und regelmäßig beichten. So etwas konnten sich auch nur Mönche ausdenken, die so etwas wie menschliche Wallache waren, wie Gibicho fand. Sein alter Glaube war viel lustiger gewesen, mit fröhlichen Festen, die regelmäßig in Besäufnisse ausgeartet waren. Nein, das Christentum war keine Religion für echte Männer. Aber sie war die Religion der künftigen Machthaber im südlichen Sachsen, denn die Engern konnten dem starken Heer der Franken nichts Gleichwertiges entgegensetzen. Und deshalb würde Gibicho nach außen hin so tun, als ob er ein guter Christ wäre. Was er in seinem Bett trieb, würde kein Priester je erfahren.

Roswitha beugte sich über Gibicho. »Seit gestern wird der rothaarige Mönch vermisst, der angeklagt war, unsere Pferde getötet zu haben. Er wurde zuletzt in der Gesellschaft eines Bruders gesehen, der sich merkwürdigerweise trotz des warmen Hochsommerabends im Lager nur mit Kapuze gezeigt hat. Ich glaube, das war mein Mann, der sich mitten unter die Feinde gewagt hat.«

Der Anblick von Roswithas prallen Brüsten, die so dicht über seinem Gesicht schwebten, machte Gibicho schwindlig vor Verlangen.

Sie spielte mit den Schnüren, die ihr Gewand über dem Busen zusammenhielten. »Ich habe mich ein wenig umgehört. Ava war bei Finnian im Zelt, und er hat sich heftig für sie eingesetzt.«

»Dir entgeht auch nichts«, antwortete Gibicho. »Und du glaubst also, dass er sich mit Walram auf die Suche nach Ava machen wird?«

»So ist es.« Sie lächelte ihn triumphierend an.

Gibicho war noch nicht überzeugt. »Ein Mönch, der mit einem ungetauften Sachsen gemeinsame Sache macht, das ist sehr merkwürdig.«

»Ava ist schön und übt eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf Männer aus«, erwiderte Roswitha. »Bestimmt ist er ihr verfallen.«

»Mir gefallen blonde Frauen noch besser als schwarzhaarige«, stellte Gibicho fest. »Walram hat dich nicht so gewürdigt, wie du es verdienst.«

»König Karl hat einen Franken zum Befehlshaber der Burg ernannt und auch einen Franken zum Stellvertreter«, erzählte Roswitha unvermittelt, ohne auf seine Schmeichelei einzugehen. »Ja, was hast du denn erwartet?«, fragte sie, als sie seinen erzürnten Blick auffing. »Wir Sachsen haben die Franken oft genug hereingelegt. Aber sei sicher, deine Zeit kommt noch. Beweise ihnen, dass sie dir trauen können, dann werden sie dich zum Gaufürsten bestimmen. Bring ihnen Walrams Kopf.«

Sie hatte recht, wie immer. Und überhaupt: Was sollte er auf dieser Burg, wo sich jetzt hochmütige Franken breitmachten und Walrams Platz einnahmen? Nicht noch einmal wollte er ohnmächtig dabei zusehen, wie ihm die Butter vom Brot genommen wurde. Er würde Walrams Kopf erbeuten – und dann mit Roswitha neu anfangen.

»Ich habe ein Heilmittel gegen deine Schmerzen.« Roswitha legte ihm das Goldstück in die Hand.

»Ich weiß ein besseres Heilmittel.« Gibicho steckte ihr die Münze in den Ausschnitt und ließ seine Hände über ihre Brüste gleiten. Das Verlangen nach ihr überrollte ihn wie eine Sturmflut. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, zog die Schnüre auf und öffnete ihr Gewand. Das Goldstück fiel auf seinen Oberkörper, aber er beachtete es nicht. Mit bebenden Händen umfasste er Roswithas Brüste, die sie ihm bereitwillig entgegenreckte. Sie waren weich, warm, pulsierend. Roswitha war eine Göttin, die fleischgewordene Frí.

Sie schloss die Augen und kniete sich über ihn. »Auch ich ersehne nichts mehr als Walrams Tod. Dann könnte ich dich heiraten. Endlich.« Sie rutschte ein Stück tiefer, bis sie auf seinen Oberschenkeln saß, zog die Decke von seinem Unterkörper und betrachtete bewundernd sein Glied. »Du bist wenigstens ein richtiger Mann.«

»Ava wird morgen mit dem Sklaventross aufbrechen.« Er seufzte. »Ich kann unmöglich allein auf die Suche nach Walram gehen.«

Roswitha streifte ihr Gewand über den Kopf. »Das musst du gar nicht. Wenn du schön brav bei Ava bleibst, wird er von selber zu dir kommen.«

Er weidete sich am Anblick ihres üppigen Körpers, der die höchsten Wonnen versprach. »Wir könnten Ava kaufen, sie als Sklavin halten und auf ihren Bruder warten.«

Roswitha schüttelte den Kopf. »Hierher wird er sich wohl kaum wagen. Aber ein Stück entfernt von Sachsen, wo ihn niemand kennt, wird er sich zeigen.«

»Ich könnte den Tross als Aufseher begleiten«, meinte Gibicho nachdenklich.

»Für einen kräftigen Kerl wie dich sind sie dankbar. Du musst dich allerdings noch vor dem Morgengrauen ins Lager begeben und dich dem Sklavenhändler vorstellen, bevor sie aufbrechen.« Roswitha ließ ihre Hände über seinen muskulösen Oberkörper gleiten, klaubte das Goldstück auf und legte es zur Seite. »Walram wird sein Schwesterchen gewiss nicht allzu lange in euren Fängen lassen. Im Handumdrehen bist du zurück. Und dann geht für uns das Leben erst richtig los. Wir werden es noch weit bringen im fränkischen Großreich. König Karl braucht jeden Sachsen, der zu ihm hält. Er wird nicht vergessen, dass er nur dank unserer Hilfe die Eresburg einnehmen und die Irminsul zerstören konnte.«

Der Gedanke, sich vorübergehend als Sklavenaufseher zu verdingen, gefiel Gibicho immer besser. Solange er Walram nicht hatte, konnte er sich an Ava schadlos halten. Sie würde ihm ausgeliefert sein mit Haut und Haar. Schon allein die Vorstellung, was er mit ihr anstellen würde, war wie Balsam auf seiner Wunde.

Er war so erregt, dass er nicht mehr länger warten konnte. »Die Christen würden sagen, wir begehen eine Sünde«, stellte er grinsend fest, während er seine Geliebte auf sich zog.

»Ich hoffe, du wirst sie nicht in der Beichte erwähnen.« Roswitha rieb sich an ihm. »Auch Wodan hat nur ein Auge«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Betrachte deine Wunde als Zeichen dafür, dass er dich erwählt hat. Wir sind Frí und Wodan. Niemand kann uns aufhalten.«

Das Amulett der Seherin

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