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1. TAG

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Wache auf, werde wach, mir Recht zu schaffen und meine Sache zu führen, mein Gott und Herr!

Psalm 35

Der französische Schnitt meines neuen Obergewandes war gewagt, fast schon unanständig. Selbst in der Einsamkeit meiner Kemenate errötete ich vor Scham, als ich zur Anprobe in das laubgrüne Leinenkleid schlüpfte, das ich nach der Beschreibung eines reisenden Händlers angefertigt hatte. »Seid versichert, diese Gewandung verwandelt jede noch so langweilige Jungfer in eine aufregende Frau. Kein Mann wird Euren Reizen widerstehen können.« Der Händler wusste, welche Argumente beim weiblichen Geschlecht verfingen. Ohne zu zögern, hatte ich ihm den Stoff abgekauft.

Ich schnappte nach Luft, als ich die seitlichen Schnürungen des Oberteils straff zusammenzog. Wie ein eingewickeltes Bündel kam ich mir vor. Kritisch beäugte ich meine ungewohnte Aufmachung – und erschrak. Bis zu den Hüften zeichnete der enge Schnitt meine Rundungen so unbarmherzig nach, dass jeder sehen konnte, was die weiten Gewänder bisher gnädig verdeckt hatten: Meine Figur war entschieden zu ausladend.

Von hoch gewachsenen, schlanken Damen schwärmten die Minnesänger in ihren Liedern. Kleine, füllige Frauen wie ich wurden hingegen nie besungen.

Was der französische Schnitt dem Oberkörper an Stoff versagte, wurde den Flügelärmeln allzu großzügig zugestanden. Knapp über dem Ellbogen liefen sie in zwei riesige trichterförmige Öffnungen aus, die bis auf den Boden herabwallten. Wie schwere Säcke lasteten sie auf meinen Unterarmen. Beim Reiten würde ich mich mit diesen Ungetümen gewiss in den Zügeln verheddern.

Missmutig zupfte ich den viel zu langen Rock zurecht, der meine Beine in üppigen Falten umbauschte. Sein Saum lauerte begierig darauf, allen Schmutz und Staub der Straßen aufzusaugen. Bereits jetzt hatten sich einige der Binsen, die den Fußboden bedeckten, darin verfangen.

Ich musste mehrere Versuche unternehmen, bis ich es endlich geschafft hatte, den Stoffgürtel so um Taille und Hüften zu schlingen, dass der Knoten direkt über dem Schritt hing. Diese höchst verführerische Trageweise hatten die Französinnen erfunden.

Als ich an mir hinuntersah, fielen mir die Ermahnungen unseres Pfarrers wieder ein. Eitelkeit war eine Todsünde, vor allem bei Frauen. »Der aufreizende Putz der Weibsleute schürt die Sinnenlust und gefährdet das Seelenheil der Männer«, schleuderte uns der Geistliche Sonntag für Sonntag in seiner Predigt entgegen.

Ich jedenfalls hatte bislang keinen Mann auch nur in die Nähe des Fegefeuers gebracht. Mir war zwar die ewige Seligkeit des Himmelreiches sicher, nicht jedoch das irdische Glück des Ehebetts. Denn wenn man von Natur aus so wenig anziehend war wie ich, fing man sich mit Sittsamkeit alleine keinen Gatten ein, zumal die meisten Kerle besser gucken als denken können. Das Leben hatte mich gelehrt, dass Männer Frauen bevorzugten, die das Hirn eines Regenwurms, die Gefügigkeit eines Lämmchens und die Schönheit eines Pfaus in sich vereinigten. Ich hingegen besaß die Sturheit eines Esels und die Attraktivität eines Suppenhuhns. Immerhin war ich mit der Klugheit einer Eule ausgestattet, manchmal eine recht nützliche Eigenschaft, auch wenn sie bei den Männern erfahrungsgemäß auf wenig Begeisterung stieß.

Es wunderte mich daher nicht, dass bisher niemand um meine Hand angehalten hatte. Doch je älter ich wurde, desto mehr sanken meine ohnehin schon geringen Chancen. Mit meinen achtzehn Lenzen wurde es allerhöchste Zeit, dem Glück auf die Sprünge zu helfen – notfalls auch mit einem unsittlichen Putz.

Die Binsen knisterten leise unter meinen Füßen, als ich an das kleine, rechteckige Fenster trat. Ich lockerte die Schnüre des neuen Gewandes, das der Händler hochtrabend »Bliaut« genannt hatte, und atmete die seidenweiche Frühlingsluft ein. Tief unter mir breitete sich endloser Wald aus, ein grün-braun schillerndes Meer, aus dem sich unsere winzige Burg wie eine steinerne Insel erhob. Ein schöner Anblick, aber ich hatte lieber Menschen als Bäume um mich.

Unsere Burgbesatzung umfasste gerade mal neun Köpfe, von denen ich mittlerweile jedes einzelne Haar kannte. Im Sommer kamen wenigstens ab und an Reisende vorbei. Aber im Winter fielen höchstens noch der Lautrer Schultheiß und sein ungehobelter Bruder bei uns ein.

Sehnsüchtig betrachtete ich die Straße, die sich durch den Wald schlängelte und vom Trifels Richtung Donnersberg führte. Ein ganzes Stück weiter nördlich – leider außerhalb meiner Sichtweite – kreuzte sie die Fernstraße, die Lothringen und das Rheinland verband.

Oftmals stand ich hier am Fenster und spielte mit dem Gedanken, meine Habseligkeiten zu packen und einfach loszuziehen. Was hatte ich denn schon von meinem Leben? Nichts als schuften, von morgens bis abends! Seit Mutter bei der Geburt meines Bruders gestorben war, hatte Vater kein einziges Mal mehr gelacht. Und weil er keinen Frohsinn mehr ertrug, gönnte er auch mir kein Vergnügen.

Wenn ich einmal im Monat den Lautrer Markt aufsuchte, kam mir das schon wie ein kleines Abenteuer vor – auch wenn der Ritt gerade mal so lange dauerte, wie eine Kohlsuppe benötigt, um gar zu werden.

Dann stand ich manchmal kurz davor, einfach nicht mehr auf die Burg zurückzukehren und sie alle sitzen zu lassen: meinen griesgrämigen Vater, die faule Magd Elsbeth, die beiden mürrischen Burgmannen Ludwig und Gero und den schweigsamen Schmied Hermann, der nie mehr als zehn Worte hintereinander von sich gab. Nur sein Eheweib, die gutmütige Köchin Gertrud, ihr kleines Töchterchen Agnes und natürlich meinen Bruder würde ich vermissen.

Doch leider war es als Frau so gut wie unmöglich, sich alleine durchzuschlagen. Binnen weniger Tage würde ich, vergewaltigt und ausgeraubt, am Straßenrand enden. Blieb nur die Heirat als einzige Lösung.

Vielleicht würde es jetzt endlich glücken. Auf der Fernstraße drängten sich heute ausnahmsweise die Menschen: Kaufleute, Bauern, Adelige, Spielleute, Bettler, Damen von der anrüchigen Zunft – alles, was sich auf zwei Beinen bewegen konnte, strebte nach Lautern.

Morgen war der große Tag. Zum ersten Mal würde Barbarossa seine neue prächtige Pfalz aufsuchen. Und jeder wollte Gewinn aus dem Aufenthalt des Kaisers schlagen.

Auch ich würde diesen Tag nicht ungenutzt lassen. Seit Wochen hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt. Mit dem Bliaut wollte ich mich für den Festschmaus herausputzen, zu dem Kaiser Friedrich alle Würdenträger aus der Gegend um Lautern eingeladen hatte. Der Herrscher brachte sein ganzes Gefolge mit, das aus mehreren Hundert Personen bestand. Darunter musste doch wenigstens ein Mann sein, dem ich gefallen würde! Ich stellte auch keine hohen Ansprüche an meinen zukünftigen Gatten. Da ich nicht so bezaubernd war wie Aphrodite, musste er auch kein Apollo sein. Vielleicht hatte ich ausnahmsweise Glück, und der Marschall, der das Gefolge auf Lautern und die umliegenden Burgen verteilte, wies uns einen netten Ministerialen zu?

Ich rief mich zur Ordnung. Was stand ich hier noch und träumte? Bis die Gäste morgen eintrafen, mussten wir die Räume herrichten und jede Menge weiße Semmeln backen. Ich hatte keine Zeit für Grübeleien.

Als ich mich auf das große Eichenholzbett setzte, dachte ich bedauernd daran, dass wir es ab morgen den Gästen zur Verfügung stellen mussten. Mühsam zwängte ich meine störrischen Locken in zwei dicke Zöpfe, die bis zu den Hüften herabhingen, und hielt mir prüfend den Handspiegel vor das Gesicht. Einmal mehr musste ich feststellen, dass mein Haar die unvorteilhafte Farbe von welken Herbstblättern hatte. Lieber nicht hingucken. Rasch legte ich den Spiegel beiseite und stülpte einen weißen Schleier über die Flechten. Sorgsam befestigte ich ihn mit einem Blechschapel.

Leider konnte ich meine Augen nicht verbergen, die aus dem sonnengebräunten Gesicht wie zwei große, pralle Erbsen hervorleuchteten. Ich wusste, dass hinter meinem Rücken über diese ungewöhnliche Farbe getuschelt wurde, die eher zu einer Katze als zu einer Frau passte.

Ich zog die Schnüre des Bliaut wieder straff und lief probeweise vom Bett zum Fenster und zurück, um mich an die neue Gewandung zu gewöhnen. In dem Bliaut hatte ich einen ganz anderen Gang, aufrechter und hoheitsvoller. Ich musste nur lernen, mit weniger Luft auszukommen. War ich in dieser Aufmachung fein genug für das morgige Festessen?

Ich blickte zweifelnd an mir herunter, als ein Entsetzensschrei die Stille zerriss. Unten im Palas klappte eine Tür zu.

Mit einem Schlag waren mein hoheitsvoller Gang und mein Bliaut vergessen. Blitzartig raffte ich den Rock, stieß die Tür auf und rannte los. In meinem Kopf hämmerte nur ein Gedanke: Meinem Brüderchen musste schon wieder etwas passiert sein! Erst im vergangenen Sommer war er vom Apfelbaum gestürzt und hatte seitdem keine Vorderzähne mehr.

Ich hastete die Treppe hinunter, vorbei am Saal, und warf einen raschen Blick in die Küche im Erdgeschoss. Aus der offenen Tür wehte der strenge Geruch nach Kohlsuppe, die in einem großen Kessel über der Feuerstelle vor sich hin köchelte. Davor lag auf dem Lehmboden der große Holzlöffel. Nur in der höchsten Not würde unsere sonst so ordentliche Köchin ihr Werkzeug derart achtlos wegwerfen. Meine Beine wurden ganz weich. Ich hatte Gertrud meinen Bruder anvertraut, damit ich in Ruhe die neue Gewandung anprobieren konnte. Ich hätte es wissen müssen. Merbodo war der schwerfälligen Köchin auf seinen flinken Beinchen entwischt.

Der Schrei war irgendwo von der Oberburg gekommen, doch woher genau? Fieberhaft überlegte ich, was Merbodo diesmal angestellt haben könnte. Bestimmt war er auf den Sandsteinfelsen geklettert. Der mächtige Beilstein reizte ihn schon seit langem. Siedend heiß fiel mir ein, was Merbodo gestern stolz verkündet hatte: »Bin jetzt stark genug, um da hochzusteigen.« Natürlich hatte ich es ihm verboten, aber was nutzten schon Ermahnungen bei einem Fünfjährigen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, einmal der mutigste Ritter des ganzen Reiches zu werden?

Ich eilte aus der Tür unseres Palas. Rasch glitt mein Blick über den Felsen, der aus der Mitte des Burghofs herauswuchs. In der Frühlingssonne erstrahlte der verwitterte Klotz in warmen Farbtönen, von hellem Ocker bis zu tiefem Rot. Doch das einzige Lebewesen, das auf dem Felsen herumkrabbelte, war eine Mauereidechse, die neben einem Büschel Tüpfelfarn hervorlugte. Ich wollte nach meinem Bruder rufen, brachte aber keinen Ton heraus.

War Merbodo womöglich in die Zisterne gefallen? Mit einem Satz war ich am Becken und spähte in die Tiefe. Nur wenig Licht fiel in den Schacht, denn er lag genau unterhalb des Felsens. Mit Mühe konnte ich erkennen, dass sich in dem trüben Wasser nichts regte.

Stand Merbodo vielleicht auf dem Söller des runden Türmchens, das auf den Beilstein gebaut war? Ich hob den Kopf und musterte jedes der kleinen Fenster und jede Zinne. Nichts.

Meine Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Wenn Merbodo tatsächlich den Beilstein bezwingen wollte, wäre er auf der westlichen Seite hochgeklettert, wo zu dieser Tageszeit niemand war, der ihm dieses Vergnügen hätte verbieten können.

Hastig umrundete ich den Felsen. Mein Blick wanderte unruhig zwischen dem Beilstein auf der linken Seite und der massiven Wehrmauer auf der rechten Seite hin und her. Im Vorüberlaufen spähte ich in das Lagerhaus, das neben dem Palas stand, und in den Verschlag, in dem ich meine Kräuter trocknete. Keine Menschenseele weit und breit.

Blieb nur noch der Bergfried. Mit zitternden Beinen schleppte ich mich das letzte Stück um den Felsen herum. Unwillkürlich krallten sich meine Finger in die Falten des weiten Rockes. Eine eiskalte Hand griff nach meinem Herzen, als ich sah, dass Gertrud, Hermann, Elsbeth und Ludwig vor dem Eingang des runden Bergfrieds standen und auf den Boden starrten. Eine unnatürliche Stille lag über dem sonst so geschäftigen Hof.

Es gab nur eine Erklärung: Merbodo war gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Er musste tot oder schwer verletzt sein. Wenn er bei Bewusstsein wäre, würde er unzweifelhaft ein lautes Heulen von sich geben. Entweder war er auf der steilen Treppe, die zum Eingang des Bergfrieds führte, ausgeglitten oder er war auf die Zinnen des Söllers gekrabbelt. Der Bergfried war vier Stockwerke hoch.

Ich stolperte auf das Grüppchen zu. Die betretenen Gesichter verstärkten meine schlimmsten Befürchtungen. Als Hermann mir den Weg frei machte, fiel mein Blick auf – Merbodo!

Quicklebendig war er! Dem Himmel sei Dank. Er stand genau vor dem Schmied, dessen mächtiger Leib ihn verdeckt hatte. An Merbodos Unterarm krallte sich die kleine Agnes mit ihren beiden Patschehändchen verzweifelt fest.

Mein Bruder drehte sich zu mir um. In seinen braunen Augen las ich die pure Abenteuerlust, während der Kleinen dicke Tränen über die Apfelwangen rollten. Merbodos kastanienfarbene Locken standen so wirr nach allen Seiten ab, als wollten sie die Luft erobern.

»Da, guck!«, krähte mein Brüderchen erfreut und deutete auf eine aufgeklappte Eichentruhe, die vor der Treppe stand. Vor Begeisterung pfiff er durch seine Zahnlücke.

Fast hätte ich erleichtert aufgelacht. Gewiss lag nur ein harmloses Amulett oder ein seltsames Werkzeug in der Truhe, und unsere abergläubischen Männer und Frauen dachten wieder einmal, der Teufel habe hier seine Zeichen hinterlassen. Seufzend glättete ich den Rock, trat an die Truhe und spähte hinein.

Entsetzt fuhr ich zurück. Ein ausgebleichter Totenschädel starrte mich aus leeren Augenhöhlen höhnisch an. Darunter lag ein Haufen bleicher Knochen, wie die sorgfältig abgenagten Überreste einer grausigen Mahlzeit. Die Truhe war ausgekleidet mit einem dunkelroten Leinentuch, das aussah, als sei es in Blut getränkt worden. Unwillkürlich bekreuzigte ich mich. War das die Truhe, nach deren Schlüssel Elsbeth heute Morgen gefragt hatte?

Langsam hob ich den Kopf.

Das Gesinde hatte sich dicht zusammengerottet. Elsbeth war noch blasser als sonst und umklammerte das Stück Eibenholz, das sie zur Abwehr des Bösen an einem Lederband um den Hals trug. In ihren hervorstehenden Augen las ich blankes Grauen.

Auch unser Wachmann erinnerte mich eher an ein verschrecktes Huhn als an einen tapferen Recken. Der sonst so draufgängerische Ludwig zupfte an seinem Vollbart herum, während er die Gürtelschnalle aufmerksam betrachtete, als habe er sie noch nie gesehen.

Als Erste fand unsere kugelige Köchin die Sprache wieder. »Ach Gott, ihr Leut«, murmelte Gertrud. In den Härchen ihres feinen Oberlippenbarts glitzerten Schweißperlen.

»Der Herr steh uns bei«, brummte Hermann, an dessen Pranke das Brecheisen kraftlos herabbaumelte. Wie immer zählte ich mit, wenn er sprach. Ganze fünf Worte hatte er von sich gegeben. Der kahle Schädel des Schmieds glänzte in der hellen Frühlingssonne wie eine Speckschwarte.

Ich musste das Gesinde beruhigen – aber wie? Am liebsten hätte ich mich jetzt in meine Kemenate verkrochen und die Bettdecke über den Kopf gezogen.

Erleichtert vernahm ich Vaters feste Schritte hinter mir. Genau im richtigen Augenblick war er von der Überprüfung der Fernstraße zurückgekehrt, wo er zusammen mit den Männern des Schultheißen Zölle eingetrieben hatte. Bereitwillig machte ich ihm Platz. Sollte er sich doch mit dem Problem herumschlagen. Bestimmt würde er die richtigen Worte finden und das Geheimnis aufklären.

Vaters Spitzbart zuckte heftig beim Anblick der Knochen. Er fuhr sich mit den Fingern durch das kinnlange Haar und zog die üppig wuchernden Augenbrauen zusammen. Dann straffte er die Schultern. »Was ist passiert?«

Aufgeregt schnatterte Elsbeth drauflos: »Im Bergfried wollten wir die Waffenkammer ausräumen, um Platz für das Gepäck der kaiserlichen Gäste zu schaffen. Hermann hat mir dabei geholfen. Da wir die Truhe für die Gäste gut gebrauchen können, haben wir sie in den Hof gebracht. Dummerweise war sie aber fest verschlossen, und kein Mensch weiß, wo der Schlüssel ist.«

Hermann umklammerte das Brecheisen mit beiden Pranken und trat vor. »Ich sollte sie aufbrechen und ein neues Schloss einbauen. Und dann ...« Die Stimme versagte ihm. Elf Worte! So viel hatte er noch nie geredet. Die ungewohnte Geschwätzigkeit offenbarte mir das ganze Ausmaß seiner Fassungslosigkeit.

»Hermann hat so laut geschrien, dass ich von der Leiter gefallen bin«, krächzte Elsbeth. »Ich habe mir die Knie aufgeschürft.« Mitleid heischend blickte sie in die Runde, aber ihr ständiges Gejammer wurde schon lange nicht mehr von uns beachtet.

»Wo kommt die Truhe her?«, wollte Vater wissen. »Ich habe sie noch nie gesehen.«

Erstaunt sah ich ihn an. »Weißt du das denn nicht mehr? Sie stand in unserer Kemenate, als wir auf der Burg eintrafen. Wir haben uns doch noch so geärgert, dass wir den Schlüssel nicht finden konnten. Ich habe sie erst mal in die hinterste Ecke der Waffenkammer schaffen lassen. Und, ehrlich gesagt, habe ich das unnütze Ding dann vergessen.«

»Die Truhe gehörte also dem früheren Herrn dieser Burg«, stellte Vater fest. »Dann ist die Sache ja klar. Der Lothar soll ein recht wilder Geselle gewesen sein. Es passt zu allem, was ich von ihm gehört habe, dass er so eine gruselige Vorliebe hatte.«

»O nein, Herr«, widersprach Elsbeth energisch. »Am Tag Eurer Ankunft steckte der Schlüssel noch im Schloss, wie es sich gehört. Nach Lothars Tod habe ich seine Kleider ausgeräumt, die Truhe gründlich geputzt und sogar noch den Schlüssel poliert. Damit Ihr alles schön sauber vorfindet. Morgens hatte ich einen letzten Blick in die Kemenate geworfen, und nachmittags seid Ihr eingetroffen. Lothar war zwar ein wenig. … äh ... verschroben, aber er hat die Knochen nicht in die Truhe gelegt. Das kann ich bezeugen.«

Ratlos sah ich Vater an, aber er bemerkte meinen Blick nicht und starrte in die Truhe. Ganz blass war er geworden. Keine Frage, wir hatten jetzt ein handfestes Problem. Womöglich gerieten wir sogar selbst in Verdacht. Immerhin hatte die Truhe in unserer Kemenate gestanden. Wenn wir die Herkunft der Knochen nicht aufklären konnten, würden die Gerüchte wie Unkraut wuchern. Manchen Einheimischen war unsere Burg ohnehin nicht ganz geheuer, denn Lothar war ein Trinker gewesen, der im Suff Möbelstücke zertrümmert und auf dem Söller unflätige Lieder gegrölt hatte. Das Gesinde hatte aufgeatmet, als er schon nach wenigen Jahren vom Schlag getroffen und nach einem letzten lauten Aufbrüllen verstorben war.

Da Vater weiter schwieg, ergriff ich das Wort. »Irgendjemand hat also vor unserer Ankunft, zwischen dem Morgen und dem Nachmittag, die Truhe verschlossen und den Schlüssel mitgenommen. Waren in dieser Zeit Gäste auf der Burg?«

Gertrud zog die Stirn kraus. »Ein Pfaffe war da«, erinnerte sie sich. »Er war auf der Reise in seine neue Pfarrei in Lothringen. Gegen Mittag traf er ein und bat um ein Mahl. Ich mochte es ihm nicht abschlagen, weil ich dachte, so ein Geistlicher, der eigentlich enthaltsam leben soll, würde bestimmt nicht viel essen. Aber anschließend habe ich mich ganz schön geärgert, denn er hat die Hälfte der Fleischpasteten weggefuttert, die ich für Euer Willkommensmahl zubereitet hatte.«

Vielleicht konnten wir die Knochen dem Pfarrer in die Schuhe schieben? Hoffnungsvoll hakte ich nach: »Weißt du noch, wie er hieß und wo er hinwollte?«

Gertrud schüttelte den Kopf. »Er hat keinen Namen genannt, und ich muss gestehen, ich habe ihn auch nicht danach gefragt. An dem Tag war ich viel zu sehr damit beschäftigt, das Festessen für Euch vorzubereiten. Ich habe mir besondere Mühe gegeben, damit es Euch schmeckt und Ihr mich als Köchin behaltet.« Ihre prallen Wangen röteten sich. »Aber ich erinnere mich, dass er ein ungewöhnlich großes Bündel dabeihatte. Da waren bestimmt die Knochen drin!«

Mochte das Gesinde ruhig glauben, dass der namenlose Pfarrer der Übeltäter war, dann gab es wenigstens keinen Ärger auf der Burg. Aber ich wusste genau, dass der Pfaffe unschuldig war. Am Abend unseres Einzugs hatte ich die Truhe ans Fenster gerückt, weil ich sie mit einer Haarnadel öffnen wollte und dafür mehr Licht brauchte. Damals war die Truhe unzweifelhaft leer gewesen, denn in ihr hatte sich nichts bewegt, als ich sie verschoben hatte. Die Knochen hätten sicherlich laut gerumpelt. Also hatte irgendjemand erst nach unserer Ankunft die Truhe mit dem makabren Inhalt gefüllt.

Ich musste mir letzte Gewissheit verschaffen. Ich trat näher an die Truhe und tat so, als ob ich versehentlich mit dem Fuß gegen sie stieß. Wie erwartet, klapperten die Knochen. Elsbeth kreischte los.

Ich zuckte erschrocken zusammen. »Halt’s Maul!«, entfuhr es mir wider Willen. Ich schämte mich für meine Unbeherrschtheit. Aber schon an ruhigen Tagen betrachtete ich Elsbeths Anwesenheit auf unserer Burg als Buße für meine Sünden.

Alles blickte auf Vater. Von ihm wurde eine Entscheidung verlangt, was wir mit den Knochen tun sollten. Schließlich war er der Burgherr. Aber er schien uns gar nicht wahrzunehmen. Wie versteinert stand er mit hängenden Schultern neben der Truhe. Was war bloß mit ihm los? Er behielt doch sonst immer in brenzligen Situationen die Ruhe. Ich beschloss, erst einmal die Gebeine näher zu untersuchen, und beugte mich zur Truhe hinunter.

Die Knochen lagen kreuz und quer durcheinander, als habe sie jemand achtlos hineingeworfen. Es mussten Hunderte sein: Haufen von Knöchelchen, die nicht größer als Geldstücke waren, gebogene Rippen, lange Schenkel, unförmige Gebilde, die wie versteinerte Teigklumpen aussahen, und bizarre Wirbel. Ein besonders merkwürdiger Knochen, der oben breit und unten schmal war, besaß acht Löcher, auf jeder Seite vier. An welcher Stelle des Körpers er sich wohl befand? In einem schalenartig geformten, großen Knochen – einer Hüfte? – lag ein kleines buntes Abzeichen. Ich unterdrückte meinen Ekel und zog es hervor, sorgsam darauf bedacht, keinen Teil des zerlegten Skeletts zu berühren.

Erstaunt betrachtete ich einen bunt bemalten Zinnanhänger, der die Form eines Hahnes hatte. Ein Glücksbringer, den man mit einer Nadel an der Kleidung befestigen konnte. Der Hahn hatte ein prächtiges Gefieder, das in Gelb, Rot, Blau und Grün leuchtete. Ich hielt meinen Fund für alle sichtbar in die Höhe.

Die Umstehenden schüttelten verdutzt die Köpfe. Agnes riss ihre Rehaugen weit auf. »O wie schön«, murmelte sie verzückt. Merbodo trat unruhig von einem Bein auf das andere, ein Zeichen dafür, dass er gleich irgendetwas anstellen würde.

Vaters Schultern sackten noch ein Stück tiefer hinab. Ärger stieg in mir hoch. Er ließ mich jetzt ganz alleine mit dem Problem. Warum sagte er denn nicht endlich etwas? Wir beide hatten wahrlich schon Schlimmeres gesehen als ein paar Knochen.

»Wer legt denn solch ein buntes Teil zu einem Skelett?«, murmelte Ludwig und wühlte so heftig in seinem Bart, als könne er darin die Antwort finden. Hermann zuckte ratlos die Achseln.

Gertrud fasste sich ein Herz und spähte in die Truhe. »Die Knochen sind makellos rein, ohne Brandspuren. Und der Totenschädel ist auch nicht eingedrückt. Das Fleisch wurde wahrscheinlich abgelöst. Anschließend wurden die Gebeine sorgfältig ausgekocht.« Sie stellte es so nüchtern fest, als würde es sich um die Zubereitung einer Mahlzeit handeln.

Merbodo hielt es jetzt nicht mehr an seinem Platz. Er schleifte Agnes hinter sich her zur Truhe und musterte die Gebeine mit dem Interesse eines Kindes, das sich fragt, ob sie als Spielzeug taugen. Seine rechte Hand zuckte kurz, dann schoss sie pfeilschnell vor und packte den Totenschädel. Ehe ich ihm Einhalt gebieten konnte, warf er den Kopf von einer Hand in die andere, als wäre er ein Ball. Agnes quiekte entsetzt auf. Dann flüchtete sie zu ihrer Mutter und vergrub den Kopf in Gertruds Schürze.

»Was machst du denn da, du dummer Junge«, schimpfte Elsbeth. »Sei bloß vorsichtig, am Ende sind die Knochen kostbare Reliquien!«

Verärgert nahm ich Merbodo den Schädel aus der Hand und legte ihn in die Truhe zurück. Missmutig schürzte er die Lippen.

»Welche Heiligen sollte es hier schon geben?«, spottete Ludwig. Und auch die anderen blickten skeptisch drein.

Aber ich gab nicht so schnell auf. Elsbeths Vermutung war unsere Rettung. Besser der Glaube an eine Heilige als Gerüchte um Leichenschändung, teuflische Praktiken oder gar einen Mord. Ich beschloss, die Flucht nach vorne anzutreten. Streng blickte ich Ludwig an. »Kennst du etwa die heilige Lutrina nicht?«, sagte ich herablassend. »Diese edle Dame lebte zur Zeit der Christenverfolgung in Trier, wo Tausende von Menschen den Märtyrertod starben. Lutrina suchte Schutz in unseren einsamen Wäldern. Sie hat auch die Siedlung Lautern gegründet. Das hat mir unser Pfarrer erzählt.«

Ehrfürchtiges Raunen. Vater hob den Kopf ein wenig in die Höhe. Immer noch sah er durch uns hindurch, aber seine Gesichtsfarbe wechselte von leichenblass zu sahneweiß mit einer Spur von Rosa.

Auch Elsbeth ließ nicht locker. »Immerhin hat ein Geistlicher die Knochen mitgebracht«, gab sie zu bedenken. »Mit der Bitte um ein Mahl hat uns der Pfarrer auf die Probe gestellt. Und weil wir ihn so barmherzig gespeist haben, wie es redlichen Christen zukommt, fand er wohl, dass die Burg der rechte Ort für seine Heilige ist.«

»Und warum hat der gute Mann die selige Lutrina nicht mit in seine eigene Gemeinde genommen?«, wandte Ludwig ein.

»Was soll ein echtes Lautrer Weib in der Fremde?«, erwiderte ich. »Sie gehört hierher, wo man sie kennt und versteht.«

Ludwig starrte verdrießlich auf die Truhe. »Der Pfarrer hätte uns wenigstens mitteilen können, was für eine edle Dame er uns hinterlässt, anstatt sie uns so klammheimlich anzudrehen.«

Auch auf diesen Einwand fiel mir eine Entgegnung ein. »Vielleicht hat sie ihm in einer Vision mitgeteilt, dass sie im Stillen ruhen möchte. Sie will nichts Besonderes sein, sondern einfach eine von uns.«

»Wir können die heilige Lutrina doch nicht in dieser schäbigen Truhe vermodern lassen«, widersprach Elsbeth entrüstet. »Nein, wir sollten ihr zu Ehren eine prächtige Burgkapelle bauen.«

Vaters Kopf schnellte in die Höhe. Entsetzen zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Elsbeth bemerkte es nicht. »Von nah und fern werden die Pilger herbeiströmen«, schwärmte sie. An dem gierigen Glitzern in ihren Augen erkannte ich, dass sie hoffte, eine ergiebig sprudelnde Goldquelle entdeckt zu haben.

Die Pilger würden Andenken kaufen und sich gegen klingende Münze bewirten lassen. Die Magd hatte einen Sinn fürs Praktische. Vor meinem inneren Auge verwandelte sich unsere Burg in einen belebten Wallfahrtsort. Ich erwärmte mich immer mehr für die Idee. Mit einer ordentlichen Mitgift wurde ich gewiss leichter einen Ehemann finden. Vielleicht nahm mich auch einer der Pilger mit sich? Und selbst wenn ich bis an mein Lebensende als Jungfer auf dieser Burg ausharren musste, würde ich mich zumindest nie wieder langweilen.

Ehrfürchtig schaute Elsbeth zu dem Felsen hoch. »Lutrina wurde an der falschen Stelle begraben. Deshalb teilte sie dem Pfarrer in einer Vision mit, dass sie auf den Beilstein zurückwollte. Denn hier oben, auf dem sicheren Felsen, fand sie Zuflucht vor ihren Verfolgern. Wir leben auf geheiligtem Boden.«

Ich staunte über Elsbeths blühende Fantasie. Wenn es darum ging, Lösungen für alltägliche Probleme auf unserer Burg zu finden, war sie nicht annähernd so erfinderisch.

Aber Ludwig war immer noch nicht überzeugt. »Und was, bitte schön, hat die selige Lutrina mit einem Hahn zu schaffen? Dieser bunte Zinnanhänger ist nicht gerade die passende Grabbeigabe für eine Heilige.«

Auch wenn Vater bei dem Gedanken an Reliquienverehrung auf unserer Burg sichtlich schauderte – ich legte mich für Lutrina ins Zeug. »Beim ersten Lichtstrahl kündigt der Hahn uns jeden Morgen einen neuen Tag an. Deshalb ist er das Symbol für die Auferstehung der frommen Christen beim Jüngsten Gericht«, erwiderte ich.

Im Stillen beschloss ich, der wahren Herkunft der Knochen unauffällig auf den Grund zu gehen. Die Knochen konnten nur von einem Burgbewohner in die Truhe gelegt worden sein, und das gefiel mir ganz und gar nicht. Wer von ihnen mochte etwas zu verbergen haben? Und welche Rolle spielte der Zinnanhänger? Im Volk waren diese Glücksbringer sehr beliebt. In der Regel waren sie von einfacher Machart und unbemalt. Noch nie hatte ich einen derart schön gestalteten Anhänger gesehen. Gewiss war er eine Auftragsarbeit und keine gewöhnliche Ware, wie sie zu Dutzenden auf dem Markt feilgeboten wurde. Verstohlen ließ ich den Anhänger in der Stofffülle meines linken Ärmels verschwinden. Er konnte sich bei den Nachforschungen als nützlich erweisen.

Gegenüber dem Gesinde gab ich mir Mühe, gelassen zu wirken. »Bringt die Truhe wieder in den Bergfried«, trug ich Hermann und Elsbeth auf. »Am besten stellt ihr sie unter die Treppe, wo sie niemand bemerken wird. Wenn die Gäste abgereist sind und der Trubel vorbei ist, werden wir den armen Arnold fragen, wie wir Lutrina angemessen ehren können. Der fromme Einsiedler ist selbst schon fast so etwas wie ein Heiliger. Daher wird er mit Sicherheit Rat wissen.«

Folgsamer als üblich setzte sich Elsbeth in Bewegung. Mit bedauerndem Blick sah mein Brüderchen zu, wie Hermann die Truhe zuklappte und das aufregende Spielzeug verschwand. Dann packte Merbodo Agnes an ihrem dicken braunen Zopf und zog sie von Gertruds Schürze weg. Fügsam ließ sie sich zu ihrer Spielecke neben dem Bergfried schleifen. Gertrud watschelte zur Küche, während Ludwig wieder zum Burgtor zurückging.

Nur Vater blieb wie angewurzelt stehen und stierte vor sich hin. So still und ratlos hatte ich ihn noch nie erlebt. Dabei hatte ich die heikle Situation doch ganz gut in den Griff gekriegt, fand ich. Oder war er verärgert, weil ich mich eingemischt und für die Reliquien ausgesprochen hatte?

Ich wollte ihn gerade darauf ansprechen, als mich das Knarren des schweren Burgtores aufhorchen ließ. Kurz darauf bimmelte es leise. Welcher Gast brachte denn Glöckchen mit?

Über dem steilen Abhang, der von der Unterburg zu unserem hoch gelegenen Burghof führte, wippten Gänsefedern auf und ab. Sie gehörten zu einer Kappe, die in allen Farben des Regenbogens schillerte. Darunter zeigte sich ein vor Schmutz starrendes Männergesicht, das von schwarzen Locken umrahmt wurde. Dunkle Augen strahlten uns erwartungsvoll entgegen. Über dem gelben Umhang hing ein Rebec, das den Gast als Spielmann auswies. Auf dem Rücken trug er eine mit weißen Linien und Kreisen bemalte Holzscheibe. Wozu sie wohl nütze war? Der Rock, der seinen abgemagerten Körper umschlotterte, war auf der einen Seite rot und auf der anderen weiß. Ein Schellengürtel hielt die Lumpen zusammen. Meine Augen weiteten sich, als ich die grünen Beinlinge sah. Was für eine aufreizende Farbzusammenstellung! Solch ein schriller Zugvogel war mir noch nicht untergekommen.

Mühsam stakste der Spielmann den Abhang hoch. Eigentlich mussten bald die Füße zu sehen sein, aber immer noch hörten die Beine nicht auf. Ich staunte. Wie lang war denn dieser Kerl? Endlich erschienen die hochgebogenen Spitzen viel zu enger, abgetragener Schnabelschuhe, an denen Glöckchen klingelten. Als der Sänger mehrere Schritte von uns entfernt auf dem Burghof stehen blieb, musste ich den Kopf recken, um sein Gesicht erkennen zu können.

Es erinnerte mich an einen Fuchs: Die hohe Stirn, die breiten Wangenknochen, die nach unten hin schmaler wurden, und das mit dunklen Bartstoppeln übersäte Kinn bildeten ein längliches Dreieck. Die feine Nase bog sich am Ende keck nach oben. Der Mund war viel zu groß geraten, fand ich, aber die Lippen waren voll und schön geschwungen. Ich verfing mich in seinen Augen, die tiefschwarz und unergründlich waren wie der Nachthimmel. Es blitzte in ihnen auf, als der Sänger meinen forschenden Blick bemerkte. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, als er mich, amüsiert grinsend, nun seinerseits von Kopf bis Fuß musterte und vor allem das enge Oberteil entschieden zu lange betrachtete.

Mit einer eleganten Handbewegung lüpfte der Spielmann die Kappe. »Seid gegrüßt von Trushard Scharfzunge aus Köln!” Samtweich und voll klang die Stimme. Sie hatte mehr Kraft, als man in dem schmalen Körper vermuten würde. Unverkennbar war der rheinische Singsang, der die Wörter wie Bälle auf und ab hüpfen ließ.

»Spielleute und Lumpen wachsen auf einem Stumpen!” Elsbeth lachte spöttisch. Der Sänger zuckte zusammen, als habe man ihm eine Ohrfeige versetzt, aber er schwieg. Ich schaute zum Bergfried hinüber. Elsbeth stand oben auf der Treppe zum Eingang, die Hände in die Hüften gestemmt. Konnte die Magd nicht ein Mal ihr dummes Maul halten?

Trushard Scharfzunge warf einen Blick zurück zum Tor, als wolle er seine Fluchtmöglichkeiten überprüfen.

Ich wusste, was jetzt kommen würde. Vater würde auch diesen Spielmann abweisen, so wie er bisher jeden Gaukler, der es gewagt hatte, an unser Burgtor zu klopfen, ohne Zögern fortgejagt hatte. Wie erwartet trat er ganz dicht neben mich. »Ich dulde kein Gesindel auf meiner Burg. Scher dich davon«, stieß er schwer atmend hervor.

Trushards Adamsapfel hüpfte auf und ab. Das Leuchten in seinem Gesicht erlosch so abrupt wie bei einer Kerze, die ausgeblasen wird. Widerspruchslos wandte er sich zum Gehen.

Über die Schulter warf er mir einen Abschiedsblick zu. In seinen dunklen Pupillen las ich Enttäuschung – und eine magische Verheißung, wie das Funkeln des unendlichen Sternenhimmels. Seine Augen waren Fenster, die mir einen winzigen Ausschnitt zeigten von einer unbekannten, aber aufregenden Welt. Ich konnte mich von ihnen nicht losreißen, wollte sie festhalten, nur ein bisschen noch, um ihr Geheimnis zu ergründen ..., und plötzlich hörte ich mich sagen: »Ihr könnt bleiben.«

Ein Strahlen breitete sich auf Trushards Gesicht aus. Es entschädigte mich für den schmerzhaften Griff, mit dem Vater mein Handgelenk packte. Ich erschrak über mich selber. Noch nie hatte ich seinen Anordnungen offen widersprochen. Vater lief rot an und öffnete den Mund.

Ehe er mich zurechtweisen konnte, fügte ich hastig hinzu: »Vater, sieh doch, wie ausgehungert der Spielmann ist. Erinnerst du dich noch an die Predigt des Pfarrers vom letzten Sonntag? Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan. Das wird Jesus sagen beim Jüngsten Gericht, wenn wir uns um den Spielmann kümmern.«

Ich schüttelte Vaters Hand ab. »Meinst du nicht, es ist an der Zeit, dass du dich wieder auf zur Fernstraße machst?«, fragte ich honigsüß. »Denk an die Zölle.« Ohne Vaters wütendes Gesicht zu beachten, winkte ich Trushard zu mir heran.

Zögernd trat er näher. Er ging so vorsichtig, als glitte er über die zerbrechliche Eisschicht eines zugefrorenen Weihers. Den Oberkörper hielt er merkwürdig steif. Als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war, verschlug mir sein Gestank den Atem. Er roch so stechend wie ein ungelüfteter Schweinestall.

Ich wich zurück und rümpfte angewidert die Nase. »Ihr seid ein wahrhaft atemberaubender Mann«, presste ich hervor und wedelte mir mit der rechten Hand frische Luft zu. »Bevor Ihr auch nur einen einzigen Bissen zu essen bekommt, werdet Ihr ein Bad nehmen. Ich dulde keine Läuseschleudern auf meiner Burg.« Ich rief laut zu Elsbeth hoch: »Bring einen Zuber mit heißem Wasser in die Kemenate!«

Die Magd setzte wieder ihren aufsässigen Blick auf, den sie mir jedes Mal zuwarf, wenn sie keine Lust zum Arbeiten verspürte – und das war eigentlich immer der Fall. Sie öffnete den Mund, als ob sie protestieren wollte, doch dann klappte sie ihn wortlos wieder zu und schlurfte mürrisch die Treppe hinunter.

»Eure Burg verbreitet auch nicht gerade den Duft eines Rosengartens«, stellte Trushard fest. »Die Ausdünstungen Eures Viehs und die Dämpfe Eures gewaltigen Misthaufens haben mir den Weg gewiesen, schon lange bevor der Bergfried zu sehen war.«

Ich bereute den schwachen Augenblick, in dem ich entschieden hatte, diesen unverschämten Stinkmolch aufzunehmen. »Seit Ihr hier seid, ist die Burg mindestens drei Wegbiegungen früher zu riechen«, gab ich scharf zurück.

Inzwischen hatten auch die Kinder mitbekommen, dass wir einen aufregenden Gast hatten. In scharfem Galopp preschte Merbodo auf seinem Steckenpferd heran. »Warten«, rief Agnes und wackelte auf ihren kurzen Beinchen schwerfällig hinterher. Einen halben Schritt von dem Spielmann entfernt, bremste Merbodo abrupt ab und sprang von seinem hölzernen Ross. Unbeeindruckt von dem Höllengestank, packte er Trushard fest an der Hand und wollte ihn fortzerren.

»Wir sollten die hübsche junge Dame nicht vergessen«, entgegnete der Gaukler gelassen und lächelte Agnes zu, die sich schnaufend herankämpfte. Er streckte ihr die freie Hand entgegen und ließ sich willig von den beiden Kindern wie eine Trophäe zum Palas schleppen. Ich spürte, wie sich feindselige Blicke in unsere Rücken bohrten, als wir den Burghof überquerten.

»Hau bloß schnell wieder ab, du Knochenpoet«, zischte Elsbeth dem Spielmann zu, als sie mit dem Eimer in der Hand an uns vorbei zur Zisterne lief.

Erschrocken musterte ich Trushard, aber seiner undurchdringlichen Miene konnte ich nicht entnehmen, ob ihn die Bemerkung getroffen hatte. Ich versuchte, ihn mit einer Plauderei abzulenken, und deutete auf das Sandsteinmassiv. »Unsere Burg ist nach diesem Felsen benannt, der die Form eines Beils hat. Man erzählt sich, der Teufel höchstpersönlich habe den Beilstein geschaffen.« Lauernd sah ich den Sänger von der Seite an. Die meisten Gäste fuhren erschrocken zusammen, wenn ich den Satan erwähnte, und bekreuzigten sich hastig.

»Der Teufel kann überhaupt nichts erschaffen, er kann nur zerstören«, erwiderte Trushard und zuckte die Achseln. Er strahlte mich mit seinen Nachthimmelaugen an. »Ich schulde Euch Dank für Eure Gastfreundschaft. Ich hoffe nur, Ihr bekommt meinetwegen keinen Ärger.«

Diesen raffinierten Blick hatte er bestimmt schon tausendfach eingesetzt, um die Herzen der Damen zu erweichen. Bei mir hatte es ja auch bestens geklappt. Gewiss war Trushard wie alle Spielmänner ein sittenloser Strolch, der Frauen reihenweise die Unschuld raubte.

Für mein Wohlergehen war es besser, wenn ich ihm nicht zu tief in die Augen sah. Verlegen starrte ich auf meine Fußspitzen. »Macht Euch keine Gedanken.« Ich vergrub die Hände in den Flügelärmeln und krallte sie um den Zinnanhänger. Hastig suchte ich nach einem unverfänglichen Thema. »Unsere Burg besteht aus der Oberburg, hier auf dem Felsen, und der Unterburg, die sich von Osten her halbmondförmig an den Beilstein schmiegt«, plapperte ich und versuchte, dabei möglichst munter zu klingen. »Ein runder Turm, in dem sich eine Treppe befindet, verbindet beide Teile.«

»Wir wohnen unten«, piepste Agnes. »Und die Magd auch.« Sie zupfte Trushard so heftig an dem zerschlissenen Umhang, dass ich fürchtete, der Stoff würde auseinander fallen. Wider Erwarten überstand er die derbe Behandlung unversehrt. »Nachher zeig ich dir unser Haus«, kündigte Agnes in einem Tonfall an, als gewähre sie dem Fremden eine unendliche Gnade.

»Und wir wohnen hier! Im Palas«, lispelte Merbodo und entblößte beim Sprechen die große Zahnlücke. Ich würde mich nie an den Anblick seines Greisenmundes gewöhnen.

»Der frühere Burgherr lebte im Bergfried«, erklärte ich. »Aber da war es viel zu zugig. Deshalb haben wir den Palas errichtet. Jetzt wohnen unsere beiden Burgmannen im Bergfried.«

Um Trushards Mundwinkel zuckte es verräterisch. Ich ahnte weshalb: Palas war ein allzu vornehmer Begriff für das schlichte Fachwerkgebäude, das eher an ein Bauernhaus erinnerte als an die Unterkunft eines Reichsministerialen.

»Und im ersten Stockwerk ist gewiss der große Saal, in dem Ihr Eure Gäste empfangt und festlich tafelt?«, fragte Trushard spöttisch und zeigte mit seinem dreckigen Zeigefinger nach oben.

Vater hatte Recht gehabt, wie immer. Wir hätten diese Elendsgestalt wegschicken sollen. Bis ich vor dem Jüngsten Gericht stand, hätte es noch viele andere Gelegenheiten gegeben, um gute Werke zu tun und meine unsterbliche Seele zu retten. »Im Bergfried haben wir auch ein großes Verlies. Da kommen besonders unverschämte Gäste hinein«, erwiderte ich patzig. »Geht schon mal vor. Ich hole derweil ein Getränk, mit dem Ihr Eure edle Kehle befeuchten könnt.«

Während die anderen nach oben polterten, schnappte ich mir in der Küche einen Krug Kräuterbier und teilte Gertrud seufzend mit, dass wir einen weiteren Esser auf der Burg hatten. »Mach dich auf etwas gefasst«, warnte ich sie. »Der Kerl ist ausgehungert wie ein Bettler und dreist wie ein Räuber.«

Verärgert über mich selbst, stapfte ich die Treppe zur Kemenate hoch. Seit Wochen schon gab es für uns nichts als diese widerliche Kohlsuppe zu essen, weil wir alle Leckereien für die Gäste aufsparen mussten. Und jetzt hatte ich mir auch noch einen gefräßigen Gaukler aufgehalst, nur weil mich seine Augen verwirrt hatten. Magische Verheißung, pah! Eine leere Speisekammer hatte mir sein gieriger Blick verheißen, sonst nichts! Aber mit meiner Gefühlsduselei war es jetzt vorbei. Gott hatte uns Frauen den Verstand geschenkt, damit wir die Männer austricksen konnten, denn Kaiser und Kirche erlaubten ihnen leider, mit uns zu machen, was sie wollten. Deshalb mussten wir immer ein klein bisschen gewitzter sein als sie.

In der Kemenate hatte Elsbeth schon den Zuber aufgestellt. Ich versteckte den Zinnanhänger in unserer großen Eichentruhe und ging zu den Gästen hinunter. Der »große Saal«, wie Trushard ihn genannt hatte, war der einzige Raum in unserer bescheidenen Burg, der wenigstens ein bisschen vorzeigbar war. Ungezählte Winterabende hatte ich damit verbracht, Wandbehänge zu weben, um die Kälte der Mauern abzuhalten und einen Hauch von Farbe in den rauchgeschwärzten Raum zu zaubern. Ich bedauerte, dass ich keine weißen Leinentücher besaß, um die grob gezimmerten Holzböcke und Bretter zu verdecken, auf denen wir zu tafeln pflegten, aber mein Brüderchen hätte den teuren Stoff schon beim ersten Essen mit Flecken ruiniert. Immerhin lagen Kissen auf den Bänken, und ich sorgte auch dafür, dass die Binsen auf dem Boden regelmäßig ausgetauscht wurden, bevor sie anfingen zu muffen. Durch die schmalen Fenster fiel Sonnenlicht herein, das jedoch um diese Jahreszeit noch viel zu schwach war, um den Saal mit Wärme zu erfüllen.

Trushard und Merbodo hatten sich auf der Holzbank vor dem Kaminfeuer niedergelassen. Agnes kauerte zu ihren Füßen und drehte die Glöckchen, die an den Schnabelschuhen hingen, zwischen ihren speckigen Fingerchen versonnen hin und her. Ich reichte Trushard einen Becher Bier und setzte mich in gebührendem Abstand zu ihm auf die Bank. Um den Hals trug der Sänger ein Lederband mit einem kleinen Kreuz, das aus einem Knochen geschnitzt war. Trushard leerte den Becher in einem Zug. Ich stand auf und schenkte nach. Dankbar lächelte er mich an.

»Ein Rätsel, ein Rätsel«, befahl Merbodo und zupfte den Sänger ungeduldig am zerschlissenen Rock.

Trushard musste nicht lange überlegen. »Was gehört euch, aber die anderen benutzen es häufiger als ihr?«

Ich kannte die Lösung, hielt mich aber zurück, um den Kindern den Spaß nicht zu verderben. In Agnes’ Augen blitzte es auf. »Mein Name!«

»Richtig«, lobte der Sänger. »Und wie heißt die kluge Dame, die das Rätsel so schnell gelöst hat?«

Lauthals posaunte sie ihn heraus und fügte hinzu: »Ich bin die Tochter des Schmieds. Mein Vater macht die schönsten Schwerter in ganz Lautern.« Ihr Vollmondgesicht leuchtete vor Stolz.

Mein Brüderchen musste natürlich noch eins draufsetzen. »Pah, das ist doch gar nichts«, sagte er wegwerfend. »Mein Vater ist ein Dienstmann des Kaisers, ein wichtiger Minischtaler.«

»Ein Ministerialer«, verbesserte ich, aber mein Bruder rief schon wieder ungeduldig dazwischen: »Ich heiße Merbodo, genau wie mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater!« Er sprudelte vor Mitteilungsfreude über. »Wir haben Knochen gefunden. In einer Truhe! War ganz schön aufregend. Am besten hat mir der Totenschädel gefallen.« Begeistert pfiff er durch die Zahnlücke.

»So, so, und von wem stammen die Knochen?« Trushard zog amüsiert die Augenbrauen hoch und nahm einen Schluck Bier. Misstrauisch sah ich, wie er sich am Kopf kratzte. Hatte er Läuse?

Ehe ich es recht bedacht hatte, entfuhr mir eine wenig zart fühlende Bemerkung: »Die Gebeine sind die Überreste eines Spielmanns, der sich geweigert hat zu baden.«

Trushard lachte laut auf. Um seine Augen bildeten sich feine Fältchen. »Eure Zunge ist mindestens so scharf wie meine. Aber keine Sorge, ich werde schon in Euren Zuber schlüpfen.«

»Wofür schleppt Ihr eigentlich die schwere Holzscheibe mit Euch herum?«, lenkte ich von den Knochen ab.

»Ich spiele nicht nur Rebec und singe, sondern beherrsche auch die Kunst des Messerwerfens«, antwortete Trushard und grinste, als ich erschrocken zusammenzuckte. Wen hatte ich da bloß in unsere Burg gelassen?

»Zeigen!«, forderte Merbodo und stampfte mit seinem stämmigen Beinchen auf.

»Es würde zu lange dauern, die Scheibe aufzuhängen. Aber heute Abend beweise ich dir, dass ich den winzigen roten Punkt in der Mitte der Holzscheibe treffe. Und jetzt trage ich euch ein Lied vor. Mir ist gerade etwas sehr Passendes eingefallen.«

Trushard stellte den Becher zur Seite. Als er das Rebec hochhob, um es auf seine Knie zu stellen, verzog er leicht die Mundwinkel. Nachdenklich zupfte er die Saiten seines Instruments, dann lachte er leise auf. Seine schwarzen Augen funkelten mich spöttisch an. »Ich habe eine ganz besondere Komposition für Euch.«

Seufzend zupfte ich die Flügelärmel zurecht, denn von Trushards Darbietung erwartete ich nur das Allerschlimmste. Wer so abgemagert war wie er, musste als Künstler ein Versager sein. Entweder konnte er keinen einzigen Ton vernünftig halten, oder sein Rebec quietschte unerträglich, oder er würde schwachsinnige Reime von sich geben, so ähnlich wie »In der warmen Maiensonne gab ich mich hin der Liebeswonne ...«.

Hoffentlich sang er wenigstens nichts Unanständiges, sonst würde mein Brüderchen schlimme neue Wörter lernen, die er womöglich freudestrahlend vor den kaiserlichen Gästen zum Besten geben würde. Resigniert verbarg ich meine Hände in den weiten Ärmeln und harrte der musikalischen Folter, der ich nicht entrinnen konnte.

Trushard klemmte sich die schulterlangen Locken hinter die Ohren. Der Bogen wirbelte in irrer Geschwindigkeit über die Saiten. Der Spielmann schien mit dem Instrument zu verschmelzen. Bald konnte ich kaum noch unterscheiden, wo der Bogen aufhörte und wo die Hand begann. Der linke Fuß wippte auf und nieder, das schwungvolle Bimmeln der Glöckchen begleitete sein Spiel. Beim ersten Takt horchte ich auf, beim zweiten schlug mein Herz schneller, und beim dritten klopften meine Füße wie von selbst den Rhythmus mit.

Als Trushard mit dem Gesang einsetzte, leuchtete sein Gesicht auf, und er wurde ein wenig langsamer. Seine warme Stimme erfüllte den Raum, trug in jeden Winkel, bis hoch unter die Holzbalken an der Decke, und hauchte dem klammen Gemäuer Leben ein. Eine Gänsehaut lief über meinen Rücken.

Trushard sang von dem Leid eines fahrenden Gauklers, der zu einer schönen, aber grausamen Jungfrau auf die Burg kam. Mit dem Messer in der Hand zwang sie ihn in einen Badezuber, der mit eiskaltem Wasser gefüllt war. Mit angewidertem Gesicht schilderte er, wie die stinkende Seife in seinen Augen stach, und klagte, die Jungfer schrubbe seinen zarten Körper mit der harten Bürste so derb, als putze sie eine Rübe.

Trushard ahmte meine Stimme nach und sah mich dabei herausfordernd an:

Wer Läuse hat, darf hier nicht bleiben,

erst muss er sich ganz sauber reiben.

Ist er dann piekfein und reinlich,

bin ich mit Speis und Trank nicht kleinlich!

Er konnte es einfach nicht lassen, sich mit seiner wahrhaft scharfen Zunge über mich lustig zu machen! Aber wie war ihm bloß so schnell der Text eingefallen? In meinen Beinen zuckte es, mich hielt es nicht mehr auf der Bank. Ich stand auf, zog die Kinder hoch und tanzte mit ihnen im Reigen durch den Saal.

Als Trushard nach verschiedenen Zugaben das Rebec beiseite legte, klatschten die Kinder begeistert. Eines musste ich ihm lassen: Der Spielmann verstand viel von seiner Kunst. Bei seiner Darbietung hatte sich der heruntergekommene Vagabund in einen Seelenfischer verwandelt und uns mit einem Netz voll berauschender Klänge eingefangen. Umso mehr erstaunte mich, dass er sich mit seinen Fähigkeiten so schlecht ernähren konnte.

»Tragt das Lied von der grausamen Jungfrau bloß nicht heute Abend vor«, warnte ich ihn. »Ihr untergrabt meine Bemühungen, diese Burg sauber zu halten. Hier gibt es einige Leute, die das Waschen scheuen wie der Teufel das Weihwasser.«

Elsbeths mürrisches Gesicht tauchte im Türrahmen auf. »Das Bad ist fertig«, meldete sie.

»Auf geht’s!« Energisch stand ich auf. Den Reinigungsvorgang würde ich höchstpersönlich überwachen, um sicher zu gehen, dass Trushard auch jedes noch so winzige Fleckchen Haut wirklich säuberte. Im Kampf gegen den allgegenwärtigen Dreck und Gestank kannte ich kein Erbarmen. Ich fühlte mich wie ein weiblicher Ritter, der sich auf einem Kreuzzug befand, um – ausgerüstet mit Besen und Putzlappen – Heerscharen von Läusen, Wanzen und Flöhen unerbittlich zu vernichten. Meine schärfste Waffe war jedoch das Wasser. Zügig schritt ich voran, hinter mir bimmelte es folgsam.

Aus dem hölzernen Zuber, der vor dem großen Bett stand, stieg heißer Dampf empor. Gebieterisch deutete ich darauf. »Zieht Euch aus, und dann nichts wie rein mit Euch!« Spitz fügte ich hinzu: »Zumindest über kaltes Wasser werdet Ihr Euch bei uns nicht beklagen müssen.«

Trushard wurde rot. Langsam stieg er aus seinen Schnabelschuhen, dann zögerte er.

Ich amüsierte mich über seine Verlegenheit. »Ihr seid ja schamhafter als eine alte Jungfer. Gäste beim Baden zu bedienen gehört zu meinen Pflichten als Burgherrin. Stellt Euch nicht so an! Seid Ihr etwa noch nie in einer öffentlichen Badestube gewesen? Aber ich drehe mich um, keine Sorge.«

Hinter meinem Rücken fiel die Kleidung raschelnd zu Boden. »Fertig«, tönte es aus dem Dampf hervor. Trushard hatte sich größte Mühe gegeben, seinen baumlangen Körper in den Zuber zu zwängen. Aber die fest zusammengepressten Beine, die er mit den Armen an den Oberkörper drückte, ragten wie aufgestellte Lanzen in die Höhe. Ohne die Kleidung war von ihm nicht mehr viel übrig geblieben. Ich verstand jetzt, warum er sich so geniert hatte.

Mit spitzen Fingern hangelte ich nach Trushards schweißgetränkten Stofffetzen, die mit einer schmierigen Schicht überzogen waren. Bestimmt steckten sie voller Ungeziefer. Selbst durch hartnäckigstes Schrubben würde Elsbeth diese Lumpen nicht mehr sauber bekommen. Angeekelt warf ich sie in den Kamin.

»Um Himmels willen, was macht Ihr da! Das war meine einzige Kleidung. Soll ich etwa nackt herumlaufen?« Entsetzt machte der Spielmann Anstalten, aus dem Zuber zu klettern. Schwungvoll drückte ich ihn wieder hinein. »Ich schenke Euch abgelegte Kleidung von meinem Vater. Diese miefigen Fetzen wären ohnehin bald auseinander gefallen.«

Seufzend klappte ich unsere Eichentruhe auf. Mein schwacher Augenblick kam mich teuer zu stehen. Allmählich war mir im Himmelreich ein Ehrenplatz sicher. Aber nachdem der Spielmann nun mal hier war, musste ich aufpassen, dass er kein Ungeziefer einschleppte. Da war es immer noch besser, ich opferte den Stoff, aus dem ich eigentlich Kleidung für meinen Bruder schneidern wollte. Ich holte einen grünen Rock aus Leinen, ein weißes Hemd, ein Paar dunkelbraune Beinlinge und einen braunen Wollumhang aus der Truhe. »Seht her, das ist auch viel wärmer. Die Sachen sind zwar zu kurz für Euch, aber ich werde sie mit bunten Borten verlängern und passende Flicken aufnähen. Dann habt Ihr wieder eine echte Spielmannskleidung. Ihr mögt es doch ohnehin auffallend.«

Trushards Augen weiteten sich vor Überraschung. »Ihr seid sehr großzügig. Danke.«

Aus der Truhe nahm ich unser einziges Seifenstück. Trushard hatte sich in seinem Lied zu Recht über stinkende Seife beklagt, denn sie verströmte den penetrant ranzigen Geruch von Hammelfett und Rebenasche. Um ihn wenigstens ein bisschen abzumildern, schüttete ich getrocknete Kamillen- und Ringelblumenblüten in den Zuber. Besorgt dachte ich an die knappen Wasservorräte in unserer Zisterne. Seit Wochen schon hatte es nicht mehr geregnet, jeder Tropfen war kostbar geworden.

Ich setzte mich auf den Hocker vor dem Zuber und schob meine lästigen Flügelärmel hoch, damit sie nicht ins Wasser fielen. Trushard hatte inzwischen seinen Kopf untergetaucht und gesäubert. Ohne die Dreckschicht schimmerte die Haut bronzefarben wie bei einem Südländer. In den dunklen Bartstoppeln glitzerten Wassertropfen. Die vollen Lippen hatte Trushard fest zusammengepresst. Fast ängstlich musterte er mich. Was hatte er nur? Eben war er noch frech gewesen. So schlimm war Baden nun wirklich nicht.

Gerade schickte ich mich an, Trushard den Kopf zu waschen, als ich die Narben auf seinem Rücken entdeckte. Die Seife glitt mir aus der Hand und platschte ins Wasser. Fassungslos starrte ich die Striemen an.

Der Rücken sah aus, als wäre er von einer Egge aufgerissen worden. In den kaum verheilten Wunden, die sich wie tiefe Ackerfurchen von der Hüfte bis zu den Schultern hochzogen, war die Haut dünn und rosig wie bei einem Neugeborenen. Kein Wunder, dass er sich bewegte, als habe er einen Stock verschluckt. Behutsam fuhr ich mit den Fingerspitzen über das Narbengeflecht. »Herr im Himmel, wer hat Euch denn so zugerichtet?«

Selbst unter meiner sanften Berührung zuckte Trushard vor Schmerz zusammen. »Ein kleines Andenken an einen besonders großzügigen Gastgeber. Mit den Prügeln war er äußerst freigebig, mit dem verdienten Lohn leider nicht.«

Mitfühlend musterte ich ihn, während er den Kopf senkte, um nach der Seife zu suchen. »Erzählt Ihr mir davon?«

Er fischte die Seife aus dem Wasser und reichte sie mir. »Es war kurz nach der Schneeschmelze«, begann er. »Ich bot meine Künste einem reichen Burgherrn an, der Angehörige des kaiserlichen Hofes zu Besuch hatte. Beim Abendessen sollte ich für Zerstreuung sorgen. Um mich für den Auftritt angemessen auszustatten, lieh mir der Gastgeber einige Kleidungsstücke. Für meine Darbietung heimste ich viel Beifall ein. Alles lief bestens.«

Mit kreisenden Bewegungen massierte ich die Seife in seine Kopfhaut. Ungeziefer konnte ich nicht ertasten. Trotzdem würde ich ihn nachher mit dem Läusekamm bearbeiten. »Und dann?«

Trushard griff sich eine Kamillenblüte. »Als ich den Saal verlassen wollte, rempelte mich ein sturzbetrunkener Höfling an und verschüttete einen ganzen Becher Rotwein auf dem kostbaren Rock. Der Burgherr geriet in Wut und ließ mich ins Verlies werfen.«

Ich konnte mir den Rest zusammenreimen. »Ihr wurdet ausgepeitscht?«

»Er legte sogar selbst Hand an. Auch seine Männer machten sich einen Spaß daraus, mich immer wieder zu verprügeln. Als sie mich endlich nach Tagen aus dem Kerker ließen, war ich am ganzen Körper grün und blau. Ich hatte gebrochene Rippen und hohes Fieber.« Trushard presste die Hand über der Blüte zusammen und zerquetschte sie.

Ich goss vorsichtig heißes Wasser über seinen Kopf und spülte die Seife ab. »Ihr habt viel mitgemacht.«

»Wochenlang konnte ich nicht auftreten und brauchte meine ganzen bescheidenen Geldvorräte auf. Sogar mein Maultier musste ich verkaufen.« Trushard stockte und atmete tief durch. »Immer noch schmerzt jede winzige Bewegung. Es fühlt sich an, als habe jemand ein brennendes Netz über meinen Rücken gespannt.« Resigniert setzte er hinzu: »Der Bader, der mich behandelt hat, meinte, die Beschwerden würden von Jahr zu Jahr besser werden.«

Betroffen hatte ich gelauscht. Aber in mir regten sich leise Zweifel. Hatte Trushard die Wahrheit erzählt? Oder waren die Prügel die wohlverdiente Strafe für ein Vergehen gewesen? Jeder wusste, dass Spielleute Lügner und Betrüger waren. »Warum habt Ihr den Burgherrn nicht zur Rechenschaft gezogen?« Ich reichte ihm ein Leinentuch und drehte mein Gesicht diskret zur Seite.

Kleine Wassertropfen spritzten auf meine Hände, als Trushard aus dem Zuber stieg. »Wir Spielleute sind rechtlos. Jeder kann uns Gewalt antun, ohne eine Strafe befürchten zu müssen.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. Er schluckte. »Dabei war dieser Wibald wirklich reich. Ihr hättet den Festsaal sehen sollen, alles voll mit teuren Teppichen und Silberleuchtern!«

Ich horchte auf. Wibald – der Name versetzte mir einen Stich. »Wie hieß der Burgherr denn genau?«

Ich hörte das Rascheln von Kleidung. »Wibald vom Turme«, nuschelte Trushard unter dem Obergewand, das er sich über den Kopf zog.

Ich hielt den Atem an. Wie grelle Blitze durchzuckten mich die Erinnerungen. Ein feistes Gesicht mit einem zufriedenen Grinsen. Das Schluchzen meiner Schwester – dann ihr erschöpftes Verstummen. Ihr leerer Blick, der durch uns hindurchsah.

Ahnungslos fuhr der Sänger fort: »Er ist einer der engsten Berater des Kaisers und soll sich seit geraumer Zeit in seinem Gefolge befinden. Wenn ich morgen beim Fest in den Straßen das Volk unterhalte, muss ich aufpassen, dass ich ihm nicht über den Weg laufe. Ich brauche die Einnahmen dringend, sonst würde ich es gar nicht riskieren, den Schuft wiederzusehen. Aber bei solchen Feierlichkeiten sitzt den meisten Menschen der Geldbeutel locker. Das ist auch der Grund, weshalb ich hergekommen bin.«

Wibald – hier in Lautern? Hatte ich richtig gehört? In meinen Ohren brauste es. Meine Hände krallten sich am Rand des Zubers fest. Mir wurde übel.

»Ist Euch nicht gut?« Trushards besorgtes Gesicht tauchte plötzlich ganz dicht vor meinen Augen auf.

»Alles in Ordnung«, brachte ich mühsam hervor. »Ich habe nur ein wenig Bauchgrimmen. Bitte entschuldigt mich jetzt.« Ich raffte das Gewand und floh aus der Kemenate. Ich schaffte es gerade noch bis zum heimlichen Gemach, dann erbrach ich mich so heftig, als könnte ich mit den üblen Magensäften auch die quälenden Erinnerungen loswerden.

Der Knochenpoet

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