Читать книгу Die FROST-Chroniken 1: Krieg und Kröten - Susanne Pavlovic - Страница 6
ОглавлениеYuriko Mandorak Doragon Frost, Meister der Siegel, Krötenflüsterer, Feuerbeschwörer, Windreiter, Bezwinger der Schicksalsschlange und größtes Geschenk der Götter an die Frauen, hatte sich das Willkommen in seiner Heimatstadt ein wenig glorreicher vorgestellt.
»Frost«, sagte er. »Wie im Winter. Das kann doch nicht so schwer sein.«
Die beiden jungen Soldaten am Stadttor wechselten einen Blick.
»Nie gehört«, sagte der eine.
»Ohne Eure Bürgerpapiere können wir da wenig machen«, sagte der andere. »Außer natürlich, wie erwähnt, Euch Besucherpapiere auszustellen, für eine Verwaltungsgebühr von sieben Silberfedern.«
»Wie erwähnt, spendete ich all mein restliches Geld einer Jungfer in Not. Ein paar Wegstunden südlich. Und ich brauche keine Gästepapiere, weil ich ein Bürger dieser Stadt bin!«
Der Soldat mit dem schütteren Kinnbärtchen seufzte. »Wie war nochmal der Name?«
»Meister der Siegel bin ich, Feuerbeschwörer und Freund der Kröten, Absolvent des …«
»Nur der Name!«
»So schon mal gar nicht, junger Freund!«
Yuriko verschränkte die Arme vor der Brust und machte sich breiter und größer, als er ohnehin schon war, doch es nützte nichts. Das Kinnbärtchen ging an ihm vorbei, um den Stadtbesucher abzufertigen, der hinter Yuriko wartete. Der Kollege des Kinnbärtchens, ein schmächtiger Bursche, der in seiner Uniform geradezu versank, blieb im Durchgang stehen, die Hellebarde aufgepflanzt. Yuriko war versucht, ihn einfach aus dem Weg zu schnipsen. Er ließ es bleiben – die halbe Stadtgarde am Hals zu haben, war nicht die Form von Zuneigung, die er bevorzugte.
»Was ist das da eigentlich auf Eurer Schulter?«, fragte der Schmächtige.
»Nicht was«, korrigierte Yuriko. »Wer. Das ist Meister Padda. Eine Grünfleck-Erdspringkröte. Er ist mein Gefährte seit vielen Jahren.«
»Es gibt eine Regelung für die Einfuhr fremder Arten«, sagte der Schmächtige stirnrunzelnd. »Muss ich nachlesen. Nicht dass die uns Krankheiten einschleppt.«
»Er ist keine fremde Art! Er ist von hier, genau wie ich!«
Das Kinnbärtchen kam zurück und postierte sich neben seinem Kollegen. Yuriko setzte Padda zu Boden, streifte sich das schwere Gepäck von den Schultern, legte es auf einen Haufen am Torhaus und setzte sich daneben. Padda kletterte seinen Arm hinauf und machte es sich leise quakend in seiner Halsbeuge bequem.
»Du hast völlig recht«, murmelte Yuriko. »Schnelllebige, undankbare Zeiten sind das.«
»Ihr wollt doch nicht etwa hierbleiben?«, fragte das Kinnbärtchen stirnrunzelnd.
»Nur solange, bis Ihr Euer Problem gelöst habt«, sagte Yuriko.
»Euer Problem, nicht unseres«, sagte der Schnurrbart. Yuriko streckte demonstrativ die Beine aus, faltete die Hände über der Brust und schloss die Augen.
Die Kälte des Steins kroch durch seine Kleider. Die Uniformierten berieten leise. Von jenseits des Torhauses drangen die Geräusche der Stadt zu ihm. Pferdehufe und eisenbeschlagene Reifen auf dem Straßenpflaster, Händler, die ihre Waren anpriesen – Oliven, Fladenbrot, gegrillten Fisch, gekühlte Melone. Eine frische salzige Brise wehte vom Meer und ließ das blau-weiße zentallinische Banner über dem Tor flattern.
Jemand räusperte sich über ihm. Yuriko öffnete ein Auge.
»Vielleicht, wenn Ihr jemanden hättet, der für Euch bürgt«, sagte der Schmächtige. »Und der die Verwaltungsgebühr für Eure Besucherpapiere übernimmt. Dann könntet Ihr in die Stadt und Euch auf dem Einwohneramt um alles Nötige kümmern.«
»Seht Ihr«, sagte Yuriko. »Man muss nur wollen.«
»Wen sollen wir holen lassen?«
»Schickt einfach jemanden zur Arkania. Jeder dort kennt mich, und es wird ihnen eine Freude sein, für mich zu bürgen.«
Ein missgelaunter Wachmann, der aus dem Torhaus geholt wurde, trabte los. Zwölf Passanten, vier Fuhrwerke und eine Rotte Wollschweine später kam er zurück, ohne Geld und ohne Begleitung.
»Dauert noch einen Augenblick«, beschied er Yuriko, dann stellte er sich zu seinen Kollegen und begann, leise mit ihnen zu sprechen. Unterdrücktes Gelächter drang zu Yuriko. Blicke streiften ihn. Er lächelte freundlich zurück. Es war schön, wenn junge Menschen fröhlich waren.
Die Sonne senkte sich auf die Dächer. Padda schlief auf Yurikos Schulter. Yuriko meditierte ausgiebig über die Dehnbarkeit eines Augenblicks. Er kam zu sich, weil Padda ihm eine kühle Krötenhand ins Gesicht presste. Die Torwachen verhandelten gerade mit einer jungen Frau, die ihm entfernt bekannt vorkam. Ein hübsches Ding mit unbestreitbaren Vorzügen, die sie züchtig in Mieder und Schultertuch verpackt hatte.
Jetzt kam sie zu ihm herüber, und er wusste immer noch nicht, woher …
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte düster auf ihn hinunter.
»Meister Yuriko«, sagte sie. »Kaum wartet man fünf Jahre auf dich, schon bist du wieder zurück.«
Diese Stimme. Vorwurfsvoll mit einer Beimischung von Blecheimer. Ein wenig zu laut. Wie früher.
»Galina?«
»Gut erkannt.«
Er rappelte sich vom Boden auf. »Meine Güte, Mädchen. Du bist aber … hrm … gewachsen.« Er machte mit beiden Händen eine Geste, um anzudeuten, wo sie besonders gewachsen war, und handelte sich eine unsanfte Backpfeife ein. »Blick nach oben, Meister. Du schuldest mir sieben Silberfedern, im Übrigen. Und fünf Jahre Unterricht.«
»Jetzt lass mich doch erst mal ankommen.«
Er nahm sein Gepäck auf. Galina betrachtete ungnädig Meister Padda, der es sich auf Yurikos Schulter bequem machte und leise quakte.
»Den hast du immer noch?«
Padda fuhr die Zunge aus und leckte sich übers Auge. Yuriko fand, dem sei nichts hinzuzufügen.
Galina setzte sich in Bewegung. Ihr Rocksaum wippte bei jedem energischen Schritt. Er folgte ihr, immer noch damit beschäftigt, die wunderbaren, üppigen weiblichen Formen zu würdigen, die wie durch Zauberhand an dem ehemals dürren Mädchen gewachsen waren.
»Und?«, fragte er leichthin. »Was macht das Leben? Hast du einen Freund?«
Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu, der einen weniger unerschrockenen Mann zu Stein hätte erstarren lassen.
»Mein Leben war ziemlich mühsam die letzten Jahre, weil mir nämlich mein Lehrmeister abhandenkam. Deshalb konnte ich mich nicht zur Prüfung anmelden.«
»Bist du noch an der Arkania?«
»Ja. Als Hausmeisterin, und auch das nur, weil Onkel Danilo ein paar Beziehungen hat spielen lassen. Ich suche Schriften raus für die Herren Studenten, kümmere mich um die Beleuchtung, fege die Gänge.«
»Das ist eine ehrenwerte Beschäftigung, die jemand erfüllen muss«, sagte Yuriko und stoppte auf seinen Hacken, als sie zu ihm herumwirbelte und den Zeigefinger in seine Brust bohrte. Was war sie bezaubernd, wenn sie wütend war.
»Jemand, aber nicht ich! Ich habe mir nicht meinen Weg an die Arkania erkämpft, um dort die Hausmeisterin zu spielen! Wir hatten eine Verabredung, Meister Yuriko. Du hast ein Versprechen gegeben, und du hast es auf die abscheulichste Art und Weise gebrochen.«
Er rieb sich verlegen über den Nacken.
»Ja, weißt du, ich verstehe, dass es nicht einfach war für dich die letzten Jahre.«
»Ach! Da bin ich aber froh! Sag mir eins – wie kann man nur mal eben schnell Tabak holen gehen und fünf Jahre wegbleiben?!«
»Ich wurde vom Strom des Lebens hinweggeschwemmt.«
Sie setzte zu einer Erwiderung an, warf dann die Hände in die Luft, schnaubte wie ein Pferd, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte davon.
»He«, rief er ihr hinterher. »Wohin willst du? Ich dachte, du kommst mit mir nach Hause und hilfst mir …«
»Das kannst du vergessen!«
»… mich einzurichten? Lüften, fegen, Staub wischen?«
»Frag doch deine hässliche Kröte!«, schrie sie über die Schulter, bog in eine Seitengasse ein und war verschwunden. Yuriko ließ die irritierten Blicke der Passanten an sich abperlen.
»Hör nicht auf sie, Padda. Du bist nicht hässlich. Im Gegenteil. Die Kleine ist nur außer sich vor Wiedersehensfreude.«
Er ließ sich Zeit mit dem Heimweg. Er war vollauf damit beschäftigt, die Eindrücke seiner Heimatstadt auf sich einströmen zu lassen. Viel geändert hatte sich nicht, aber es gab so viel, woran er jahrelang nicht gedacht hatte: wie man das Meer von hier oben sehen konnte, die schwere Abendsonne wie flüssiges Gold darüber ausgeschüttet, der Horizont nebelverhangen, Schiffe mit weißen Segeln darauf wie ruhende Möwen. Wie die Quartiersfarben gleich einem Baldachin die Straßen überspannten, zusammen mit Wäsche, die quer über die Straße von Dach zu Dach aufgehängt war. Die kleinen Tavernen an den Häuserecken mit ihren einladend zur Straße geöffneten Gasträumen. Der Duft von Knoblauch und gegrilltem Fisch. Die heimische Tracht. Die Hauben der Frauen, unter denen sie ihr Haar versteckten. Die langen, raschelnden Röcke. Das Klappern ihrer Holzschuhe auf dem hellen Straßenpflaster. Nichts davon hatte er wirklich vermisst, aber jetzt war er froh, wieder hier zu sein.
Er hielt sich bergab und Richtung Stadtmitte. Er fragte sich, ob jemand in der Zwischenzeit sein Haus in Ordnung gehalten hatte. Galina vielleicht? Unwahrscheinlich. Florine?
Ach, Florine.
Er fragte sich, wie es ihr ergangen war. Für einen Augenblick hing er der Vorstellung nach, sie hätte inzwischen ihren Fehler erkannt und eine unstillbare Sehnsucht nach ihm entwickelt, dann schalt er sich einen Narren. Das Kapitel seines Lebens war abgeschlossen seit dem Tag, an dem sie sich zu diesem Langweiler Danilo bekannt hatte. Nur weil Yuriko zurück war, musste er nicht gleich wieder dem alten Wahn verfallen.
Die Bäckerei an der Straßenecke war verschwunden. Eine Buch- und Schriftenhandlung belegte stattdessen die Räumlichkeiten. Die Straße war grüner, als er sie in Erinnerung hatte – mehr Efeu an den Mauern, die Büsche hinter den weißen Mauern höher und üppiger.
Sein Haus am Ende der Straße machte nicht den Eindruck, als hätte jemand sich darum gekümmert. Das Dach hatte dunkle Flecken, die sich beim Näherkommen als zerbrochene Ziegel entpuppten. Der einst gepflegte Vorgarten war zur Wildnis emporgeschossen. Das Gartentor hing schief in den Angeln. Vor der Haustür wuchs ein Busch.
Der Blumentopf, unter dem er den Zweitschlüssel aufbewahrt hatte, war verschwunden, zusammen mit dem Zweitschlüssel. Die Haustür stand dafür einen Spalt offen und knarrte schauerlich, als er sie aufstieß.
Vorsichtig nahm er Padda von seiner Schulter und setzte ihn ab. Er stellte seinen Rucksack auf die Schwelle, und dann blieb er lange und unschlüssig stehen und beäugte das, was einmal sein Heim gewesen war.
Modriger Geruch schlug ihm aus dem Halbdunkel entgegen. Die schönen, hellen Bodenfliesen waren verfärbt und gesprungen. Irgendwie waren seine Möbel abhandengekommen; lediglich einige zerbrochene Stühle waren übrig. Die Treppe ins Obergeschoss sah nicht aus, als würde sie einen Mann von seinem Gewicht tragen.
Padda kroch in einen Sonnenfleck, ließ blitzschnell seine lange, bewegliche Zunge aus dem Maul hervorschnellen und angelte eine Assel zwischen den zersprungenen Fliesen hervor. Er schluckte das Insekt am Stück und blieb dann sitzen, zufrieden seinen Kehlsack aufblähend. Yuriko machte einen Schritt über ihn drüber und sah sich ratlos um.
Nein, so hatte er sich seine Rückkunft nicht im Geringsten vorgestellt.
Er durchquerte den Raum und verließ die kümmerlichen Reste seines Heims durch die Hintertür. Die hölzerne Veranda knarrte unter seinem Gewicht. Disteln streckten ihre Köpfe zwischen den Holzbalken hindurch. Er schob sich an einer mannshohen Birke vorbei, die mitten im Weg wurzelte, und betrat den Steg. Ließ den Blick schweifen. Atmete tief durch.
War endlich zu Hause.
Die Kröten gaben ein Begrüßungskonzert. Libellen, funkelnd wie Smaragde, schwebten über dem Wasser. Zarter Wind raschelte im Schilf und schickte einen Atemhauch über die stille Wasseroberfläche. Die Trauerweide, eine mächtige, knorrige Persönlichkeit, die er mit Zähnen, Klauen und Siegelzauberei gegen die Nachbarn verteidigt hatte, tauchte sachte die Blattspitzen ins Wasser und filterte die tiefe Abendsonne zu goldgrünem Flirren. Seerosen lagen still auf der Wasseroberfläche, kleine gelbe Sonnen im grün-goldenen Himmel.
Yuriko stieg aus den Stiefeln. Streifte den Mantel ab, die lange Weste, Hemd, Hosen. Ließ sich vorsichtig über den Rand des Stegs in den Teich gleiten.
Das Wasser umschloss ihn zärtlich und wusch ihm die Beschwernis der Reise ab. Er bewegte sachte die Finger und ließ das Gold des Sonnenuntergangs von seinen Fingerspitzen tropfen. Dann eine Berührung an der Schulter, er fasste vorsichtig hin und hob ein kleines Krötenmädchen aus dem Wasser, das sich mit winzigen Händen an seinen Daumen klammerte. Ihre Augen hatten die Farbe von dunklem Honig.
»Hallo, Liebchen. Wie wunderhübsch du bist.«
Sie sah ihn unverwandt an, ihr kleiner Kehlsack arbeitete. Er brachte die Hand vorsichtig auf die Wasseroberfläche, und sie blieb noch ein Weilchen auf seinem Daumen sitzen, ehe sie mit winzigem Plätschern ins Wasser hüpfte und davonschwamm.
Er bemühte sich, über seine nächsten Schritte nachzudenken. Die Arkania … sein alter Posten. Galina. Sollte er wirklich ihre Ausbildung weiterführen? Sie hatte zwei sehr überzeugende Argumente, und es war praktisch, einen Lehrling zu haben. Aber es war auch anstrengend. Sie konnte nicht einfach seinen Tee kochen und seine Stube fegen, sie erwartete Dinge von ihm. Verpflichtungen waren lästig.
Frakis. Er hatte es nicht eilig, sich ihm zu stellen. Er konnte sich ausmalen, was Frakis ihm vorhalten würde – einfach zu verschwinden und jahrelang wegzubleiben – und recht hatte er. Yuriko würde sich wappnen müssen, ehe er das aushielt.
Er aktivierte das Siegel auf seiner Brust, machte sich schwer, ließ sich auf den schlammigen Grund sinken. Saß dort, umgeben von grüngoldener Dämmerung. Keine Notwendigkeit mehr, die Lungen zum Atmen zu benutzen. Das Wasser gab ihm alles, was er brauchte. Er stellte sich vor, wie sein Körper sich an die Temperatur des Wassers anpasste. Wie Moos und zarte Fadenalgen zwischen seinen Fingern wuchsen. Wie Sonne und Mond über ihn hinwegzogen und ihn abwechselnd in Gold und Silber badeten. Er hatte nicht das Gefühl, jemals mehr Abwechslung zu benötigen als das.
Padda kam angeschwommen und setzte sich auf sein Gesicht. Das brachte ihn wieder zu sich. Der Kröter hatte recht – Yuriko hatte keine Zeit, sich drei Wochen lang auf den Grund seines Teichs zurückzuziehen. Aber da war noch etwas. Eine Anmutung von Dringlichkeit.
Yuriko stieß sich vom Grund ab und tauchte auf. Er nahm sich Padda vom Gesicht und setzte ihn auf den Steg, wo dieser sich auf seinen dünnen Krötenbeinen nach oben stelzte, als wolle er eine Grasnatter in die Flucht schlagen. Yuriko füllte seine Lungen mit Luft. Der erste Atemzug war immer der unangenehmste. Er nahm sich die Zeit, einen kleinen Molch zu befreien, der sich in der wilden Masse seiner Haare verfangen hatte. Dann stemmte er sich auf den Steg und stieg aus dem Wasser, überwand das Gefühl der Schwere und folgte Padda, der schon auf dem Weg zurück ins Haus war.
Leises Schaben und Rumoren drang zu ihm. Es kam aus dem dunklen Winkel unter der Treppe. Laub hatte sich dort angesammelt, Fetzen von Sackleinen, eine schmutzige Pferdedecke, unter der sich jetzt plötzlich etwas bewegte. Padda ging rückwärts. Yuriko zog sich eine Flammenkugel auf die Hand und ging vorwärts.
Was immer da rumorte, war zu groß, um eine Streunerkatze zu sein.
»Komm raus da, Eindringling!«, donnerte er.
Ein Gesicht erschien – helle Haut unter einer Schicht von Schmutz, graublaue Augen, ein Tuch, das die Stirn bedeckte und struppiges rötliches Haar zurückhielt. Fassungsloses Entsetzen auf dem Gesicht, möglicherweise darauf zurückzuführen, dass Yuriko mit nichts bekleidet war als Teichwasser und einer Handvoll Feuer. Er ließ das Feuer verlöschen und machte einen Schritt rückwärts.
»Hätte ich mit Besuch gerechnet, hätte ich mich passend angezogen«, sagte er. »Oder überhaupt. Aber das hier ist mein Haus, und ich habe niemanden eingeladen.«
Der ungebetene Besucher kroch unter seiner Decke hervor. Es war kaum mehr als ein Jüngling, oder ein sehr mageres Mädchen, das war unter all dem Schmutz nicht zu unterscheiden.
Yuriko streckte eine Hand aus, und der Eindringling schnellte zur Seite, rollte sich ab, kam auf die Beine, stürzte zur Vordertür und war mit einem Satz im Freien.
»Warte!«, rief Yuriko ihm hinterher, aber der ungebetene Besucher wartete nicht, sondern hechtete mit einem Sprung über das angelehnte Gartentor und verschwand in den Abendschatten zwischen den Häusern.
»Und dafür unterbreche ich mein Bad«, murmelte Yuriko. Er überlegte, ob er in den Teich zurückkehren sollte, aber die Lust war ihm vergangen, und so holte er nur seine Kleider und zog sich wieder an. Unschlüssig über seine nächsten Schritte ging er in die Hocke und untersuchte das Lager unter der Treppe. Einige Schichten aus Laub und Gras verrieten, dass der ungebetene Besucher mehr als eine Nacht hier verbracht hatte. Bei seiner plötzlichen Flucht hatte er eine Tasche zurückgelassen, schmutzig und von Mäusen angefressen. Mit spitzen Fingern zog Yuriko sie ans Licht und schüttete sie aus. Ein zahnlückiger Holzkamm, ein Säckchen mit einem Rest Salz und eines, das leer war, aber nach Seife roch. Krümelige Reste getrockneter Pflanzen, Tee vielleicht oder Heilkräuter. Kleine Münzen, schwarz vom Alter, die in der Mitte ein Loch hatten. Yuriko kannte solche Münzen. Er hatte auf der anderen Seite der Welt in einer sehr fremden Stadt damit bezahlt. Seltsam.
Ein paar Dinge des täglichen Gebrauchs. Kleidungsstücke, mürbe und durchlöchert. Mehr hatte der Fund nicht zu bieten. Yuriko räumte alles zurück in die Tasche und stellte sie unter die Treppe.
Die Sonne war untergegangen, kühle Schatten flossen ins Haus. Yuriko wurde bewusst, dass der Grund des Teiches derzeit die beste Übernachtungsmöglichkeit war, wenn er nicht das Lager unter der Treppe mit seinem ungebetenen Besucher teilen wollte. Etwas mühsam kam er vom Boden in die Höhe. Er würde alte Beziehungen spielen lassen müssen, ehe er sich heute zur Ruhe betten konnte. Oder zu Besserem.
Padda war auf dem Weg zum Teich. Yuriko ließ ihn. Der Kröter hatte sich ein bisschen Entspannung genauso verdient wie sein Meister.
In seinem Gepäck fand Yuriko ein letztes Blatt Papier, zerknittert und fleckig, aber auf die Schönheit kam es nicht an. Mit einem Rest Kohlestift malte er ein Siegel darauf, und darunter die Erklärung für zauberunkundige Neugierige: Ich bin zurück. Betritt mein Haus, und du wirst bis ans Ende deiner Tage eine Kröte statt deiner Nase im Gesicht haben.
Er sammelte Arkanum und lud das Siegel auf. Kleine goldene Funken verschmolzen mit dem Papier, dann war der Zauber vollendet. In Ermangelung anderer Möglichkeiten nahm Yuriko sein Essmesser und spießte den Zettel gut sichtbar an der Vordertür auf. Dann machte er sich auf den Weg.
Die Stadt hatte sich ihr glitzerndes Nachtgewand übergeworfen. Yuriko blieb am Saum, streifte das Blumenviertel mit seinen gelben Fahnen und roten Laternen, nahm die Abkürzung durch den Hafen, wo die Schiffe schliefen wie dunkle Drachen, und von dort aus durch stille Straßen bis in die ruhige Wohngegend am westlichen Stadtrand. Dort bezog er Posten in der alten Eiche auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Nichts hatte sich verändert. Warum auch. Wilder Wein an der Fassade, die Drillingsbirke im Garten, die leise ihre Zweige aneinander rieb, ein zarter Duft nach weißen Blumen. Goldenes Licht hinter den Fenstern im Obergeschoss. Unten war alles dunkel.
Yuriko stellte sich vor, wie er am Spalier hinaufkletterte bis auf das Vordach, sich dort hinkauerte und ans Fenster klopfte. Sie würde ihm öffnen – es gab nur einen in ihrem Leben, der durchs Fenster kam. Sie würde lachen und weinen gleichzeitig, ihn vielleicht beschimpfen, weil er so lange verschwunden gewesen war, und ihn durchs Fenster wieder in ihr Leben lassen. Er würde ihr vorsichtig die Freudentränen von den Wangen pflücken, diese süßen Lippen küssen, seine Fingerspitzen in ihr weiches Haar tauchen. Ihren Duft atmen. Und lange nichts anderes tun als das. Er würde fühlen, wie sie in seine Arme passte, wunderbar weich und rund, und er würde ihr versprechen, bei ihr zu bleiben, aufrichtig vom tiefsten Grund seiner Seele.
Aber natürlich würde nichts davon passieren. Ihr langweiliger Ehemann würde das Fenster öffnen und ihn wie einen liebeskranken Kater mit dem Besenstiel vom Vordach schubsen. Vielleicht könnte er einen Blick auf sie erhaschen, bevor er sich geschlagen gab, und es wäre bestenfalls Bedauern darin zu lesen, schlimmstenfalls Mitleid, und wenn er eines von ihr nicht wollte, dann das.
Er blieb noch eine Weile in seiner Astgabel sitzen, die Wange gegen den rauen Stamm gedrückt. Er wusste nicht mehr, was ihn zurück nach Hause gebracht hatte. Mangel an Alternativen vermutlich.
Ein nagender Schmerz saß in seiner Brust. Er rief sich selbst zur Ordnung. Yuriko Mandorak Doragon Frost, Freund der Kröten und Meister der Siegel, saß nicht in einem Baum und heulte wegen einer Frau.
Unten auf der Straße schlurfte ein Passant vorbei. Yuriko wartete, bis er außer Sichtweite war, dann verließ er sein Versteck im Baum und machte sich auf den Weg.
Bei Galina brannte noch Licht. Er klopfte, doch niemand öffnete. Er klopfte wieder. Mit der Faust. Rief ihren Namen. So lange, bis die Nachbarn sich aus dem Fenster lehnten und unhöfliche Dinge schrien. Das verlieh der Geräuschkulisse genügend Nachdruck, und endlich öffnete sich die Tür.
»Ich brauche Geld«, sagte Yuriko statt einer Begrüßung.
»Hast du den Verstand verloren?«, schimpfte Galina. »Hier so einen Lärm zu machen! Du hast es vielleicht vergessen während deiner langen Reise, aber hierzulande klopft man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr bei alleinstehenden Frauen!«
»Du bist also alleinstehend«, sagte Yuriko. »Das tut mir aber leid. Woran liegt es? Du bist so hübsch geworden.«
»Als ob ich mein Liebesleben mit dir diskutieren würde! Auf der Türschwelle! Nach Einbruch der Dunkelheit!«
»Du kannst mich auch reinlassen.«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Galina, ich brauche wirklich Geld. Mein Haus ist nicht bewohnbar. Ich habe nichts zu essen und kein Bett zum Schlafen. Ich bin einsam. Morgen kann ich zur Bank und auf mein Vermögen zugreifen. Ich zahle dir alles zurück.«
»Als ob!«
Sie warf die Tür zu, und nur ein schneller Schritt rückwärts bewahrte seine Nase vor einem unsanften Aufprall. Er stand und starrte die Tür an, klopfte dann erneut und rief ihren Namen. Beschimpfte die Nachbarn, die ihn beschimpften. Klopfte noch ein bisschen mehr, bis die Tür sich tatsächlich wieder öffnete. Einen Spaltbreit nur, aber Galinas Hand erschien, darin ein Beutel, der erfreulich prall gefüllt war.
»Morgen bekomme ich das zurück, und die sieben Silberfedern obendrein, oder ich nehme eine Schere und verpasse dir einen Bürstenschnitt.«
Yuriko widerstand dem Impuls, schützend nach seinem Zopf zu greifen, und schnappte sich stattdessen den Beutel.
»Ich danke dir, Galina. Du rettest mir das Leben.«
»Morgen«, sagte sie durch den Spalt. »Ich mein’s ernst.«
Die Tür schloss sich. Yuriko hörte, wie Riegel vorgeschoben wurden. Das Konzert der Nachbarn verebbte. Im Schein einer Laterne zählte Yuriko das Geld. Es würde für das Nötigste reichen.
Er erwachte, weil er sehr unbequem lag. Unter ihm war kalter, harter Boden. Seine Finger ertasteten Staub und Dreck und kleine Steinchen. Trübes Tageslicht sickerte durch seine geschlossenen Augen. Er drehte den Kopf und bereute es sofort. Gütiger Krötengeist, waren das Schmerzen. Er wälzte sich herum und presste stöhnend die Hand gegen die Stirn. Übelkeit wallte in ihm auf. Er würgte, und hinter seiner Stirn explodierte ein Feuerball. Am Rande seiner Wahrnehmung drang ein schabendes Geräusch zu ihm, dann wurde er mit einem harten Gegenstand angeschubst. Er blinzelte. Ein Eimer. Bevor er Fragen stellen oder die Situation zur Gänze erfassen konnte, nutzte sein Magen die Gelegenheit und drehte sich um. Yuriko erbrach sich, bis nichts mehr kam, sank dann zurück und war sicher, dass diese Kopfschmerzen ihn umbringen würden.
Geraume Zeit später lebte er immer noch. Schmerzen und Übelkeit ebbten weit genug ab, um eine gewisse Neugier bezüglich seines Verbleibs zuzulassen.
Er erinnerte sich an Violetta und Anemone. An Wein. Viel davon. An die ungeheuer verdorbenen Dinge, die Anemone getan hatte, ohne ihr graziöses Lächeln zu verlieren. Diese Kleine, die auf den ersten Blick dahergekommen war wie die Unschuld vom Lande.
Violettas erstaunliche Zungenfertigkeit. Hm.
Die Erinnerung weckte ein müdes Echo seiner Lebensgeister.
Yuriko beschloss, sich dem Tag zu stellen wie der Held, der er war. Er öffnete ein Auge.
Zerbrochene Bodenfliesen und Dreck und altes Laub und ein schmutziger, durchgelaufener Schuh und löcherige Hosenbeine und blasse Arme, die sich um knochige Knie schlangen und ein schmutziges Gesicht mit sehr wachen, sehr klugen Augen, die nachdenklich auf ihn hinunterschauten.
Seine Nase fühlte sich seltsam an. Er schielte. Eine Kröte. Das durfte doch nicht wahr sein. In seinem Zustand einen Zauber zu wirken, war nicht ganz ohne Risiko, aber da hockte sein ungebetener Gast ihm gegenüber, und er hatte sich vielleicht schon genug zum Narren gemacht. Er konzentrierte sich, so gut es ging, und löste den Siegelzauber. Die Kröte verschwand, dem Gefühl nach zusammen mit seinem halben Gesicht, aber dann war doch glücklicherweise alles beim Alten. Yuriko atmete auf und versuchte, einen Rest Würde zusammenzukratzen.
»Du bist also immer noch hier. Oder sollte ich sagen, schon wieder? Sag, hat mein Siegelspruch an der Haustür dich nicht abgeschreckt?«
Das Wesen – ein sehr mädchenhafter junger Mann oder ein sehr burschikoses Mädchen – zeigte auf die Hintertür.
»Das leuchtet ein«, sagte Yuriko seufzend. »Aber vielleicht verrätst du mir deinen Namen, wenn du schon hier eingezogen bist.«
Der ungeladene Gast schüttelte den Kopf und zeigte auf seinen Mund.
»Du kannst nicht sprechen?«
Ein Nicken war die Antwort.
»Schreiben?«, versuchte Yuriko es weiter. »Kannst du mir deinen Namen aufschreiben?«
Der Gast hob die Schultern. Yuriko kam auf die Knie und zog sich am Treppengeländer in die Höhe, das unter der Beanspruchung bedrohlich knarrte. Sein Kopf schepperte. Er hatte keine Ahnung, wie er nach Hause gefunden hatte. Vermutlich der gleiche Instinkt, der die Kröten im Frühjahr immer zum richtigen Teich brachte. In seinen Kleidern hing der Duft nach Puder und Blütenöl.
Mit wackeligen Schritten ging er zur Tür und holte das Siegelpapier. In seiner Tasche fand er den abgebrochenen Rest eines Kohlestifts und reichte dem Mädchenjungen beides hinüber.
Das Jungenmädchen fasste den Stift wie jemand, der geübt im Schreiben war. Die Buchstaben waren angenehm regelmäßig – eindeutig die Handschrift einer gelehrten Person.
»Arkadis«, las Yuriko vor. »Das ist dein Name?«
Der Gast nickte, schüttelte dann den Kopf und zuckte mit den Schultern. Ein kleines Lächeln verlieh ihm einen Hauch von Liebreiz, und Yuriko beschloss, bis auf weiteres von einem weiblichen Wesen auszugehen. Der Name, von dem er sich zumindest darüber Aufschluss erhofft hatte, war ja sagenhaft nichtssagend.
»Gut«, sagte er. »Arkadis. Warum bist du hier? Kannst du mir das aufschreiben?«
Er zeigte auf das Papier. Gleichzeitig öffnete Arkadis den Mund und streckte die Zunge heraus.
»Oi«, sagte Yuriko verblüfft. Das Mädchen trug ein tintenschwarzes Siegel auf der Zunge. Darüber hinweg sah sie ihn ernst an. Er zwinkerte, um die Unschärfe des Weins aus dem Blick zu bekommen. Im Zentrum des Siegels befand sich die stark vereinfachte Darstellung einer Blume mit vier Blütenblättern. Umgeben und überlagert war die Blume von einer Menge wirrer Schnörkel und Striche, auf die Yuriko sich keinen Reim machen konnte.
Yuriko hatte noch nie ein solches Siegel gesehen – und noch nie jemanden, der eines, egal welches, auf der Zunge trug. Das plötzliche Bedürfnis überfiel ihn, ungehindert vom Restalkohol auf seinen Verstand zugreifen zu können.
»Warte«, sagte er. »Dauert nur einen Augenblick!«
Noch im Laufen entledigte er sich seiner Kleidung. Während er mit dem Kopf im Hemd feststeckte, kollidierte er unsanft mit der Birke, die auf dem Weg zum Teich wuchs. Er fluchte, befreite sich vom Hemd, wand sich aus den Hosen und ließ sich in den Teich fallen.
Das Wasser war noch kalt von der Nacht und presste ihm die Nebelschwaden aus dem Kopf. Die Übelkeit verging. Friede kehrte ein. Sonnenstrahlen wehten wie zarte Goldfäden zwischen den Seerosenblättern in die Tiefe. Das Siegel auf Yurikos Brust nahm die Arbeit auf. Eine dicke Krötendame paddelte nur eine Handbreit vor seinem Gesicht vorbei.
Siegel. Eine Schnörkelblume mit seltsamen Zeichen drum herum. Ach ja.
Yuriko stieß sich vom Grund ab, tauchte auf und kämpfte sich durch den ersten Atemzug. Er wischte sich Wasser aus dem Gesicht und blinzelte. Auf dem Steg kniete Arkadis und hielt ihm seine Kleider hin.
»Hetz mich nicht«, murrte Yuriko. »Man wird doch erst mal wachwerden dürfen.«
Er stemmte sich auf den Steg und rieb sich in Ermangelung eines Handtuches mit seinem Hemd trocken. Arkadis kniete vor ihm, sah ihn unverwandt an und streckte ihm die Zunge heraus. Yuriko betrachtete das Siegel genauer. Es war tätowiert oder mit arkaner Tinte angebracht – im Interesse des Mädchens hoffte Yuriko auf Letzteres. Die Blume im Zentrum konnte womöglich auch zweimal die Zahl Acht darstellen, einmal stehend, einmal liegend. Sechzehn war ein beliebter arkaner Koeffizient. Die Schnörkel gaben ihm Rätsel auf. Sie waren zu unregelmäßig, um eine Arkanschleife oder nur Zierde zu sein, zerstörten die Symmetrie und widersprachen völlig den Ordnungsregeln der Siegelkunst.
»Wo hast du das machen lassen, und warum? Was tut es? Wie soll ich dir damit helfen?«
Arkadis schloss den Mund, presste die Lippen fest aufeinander und hob die Schultern.
»Du kannst nicht sprechen«, sagte Yuriko. »Natürlich nicht. Warst du immer schon stumm oder bist du es erst, seit du das Siegel trägst?«
Kopfschütteln, Nicken.
»Erst seit dem Siegel?«
Nicken.
»Ich bleibe wohl besser bei Ja-Nein-Fragen, was?«
Flüchtiges Lächeln, Nicken. Yuriko stemmte sich in die Höhe und angelte nach seiner Hose.
»Wir brauchen Papier und Tinte für dich und Tee für mich. Ohne Tee kann ich nicht denken, und eine Antwort kann ich dir erst liefern, wenn ich die Frage kenne. Komm mit.«
Die Sonne stand viel zu hoch und schien viel zu hell. Die Stadt war viel zu laut und der Weg zur Arkania viel zu weit. Yuriko dachte an seine kühlen, schattigen Arbeitsräume, an einen Becher Tee und das Plätschern des Springbrunnens, das durch die offenen Fenster hereindrang. Galina hatte genug Zeit gehabt, die Unordnung zu beseitigen, die er womöglich bei seiner Abreise hinterlassen hatte. Er erinnerte sich nicht. Er würde in sein altes Leben steigen wie in ein Paar geschmeidige, gut eingelaufene Stiefel, und vielleicht eines Tages an Florines Tür klopfen.
Das Tor der ehrwürdigen zentallinischen Arkania zu Letis war verschlossen, wie immer. Er steckte seine Hand in das schmiedeeiserne Löwenmaul, wie immer, damit der Zauber ihn einließ, aber nichts passierte. Yuriko zog die Hand raus und steckte sie erneut zwischen die schmiedeeisernen Raubtierzähne. Ein gelbliches Flackern überlief die gläsernen, geschlitzten Raubtieraugen. Das Tor blieb verschlossen.
»Seltsam«, murmelte Yuriko. Arkadis betätigte einstweilen den schweren Klopfer in der Mitte des Schwanenwappens und löste damit den Gong in der Eingangshalle aus. Yuriko gab dem Löwenkopf eine letzte Chance und zog gerade noch die Finger heraus, als das Gebiss zuschnappte. Die Glasaugen leuchteten in bösartigem Rot.
»Lass mich rein!«, schimpfte Yuriko. »Ich bin Yuriko Mandorak Doragon Frost, Zirkelmeister für Siegelkunde an dieser Arkania! Außerdem Inhaber des siebten Arkanen Gradienten, Freund der Kröten und Geißel der Schicksalsschlange, Jungfrauenbeschützer, Windreiter und Feuerbeschwörer! Mich hier auf der Straße stehenzulassen wie einen Bittsteller ist unerhört!«
Arkadis zog ihn am Ärmel und deutete zwischen den Gitterstäben hindurch. Den Weg entlang kam ein junger Skolar, an dessen Gürtel Schlüssel klingelten. Er schob sich seine Augengläser auf dem dünnen Nasenrücken nach oben und musterte Yuriko neugierig.
»Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«
»Du kannst mir das Tor öffnen, ist das so schwer zu erkennen? Der blöde Löwenkopf hat offenbar vergessen, wer ich bin.«
»Und das wäre …?«
»Was wäre was?«
»Ihr seid wer?«
Arkadis verdrehte die Augen und ließ den Kopf gegen die Gitterstäbe sinken.
»Yuriko Mandorak Doragon Frost bin ich, Feuerbändiger, Krötenfreund, Bezwinger der Schicksalsschlange, Reisender auf den Sieben Meeren, vom zarten Geschlecht verehrt und … au!«
Arkadis hatte ihm einen unsanften Stoß gegen die Schulter versetzt.
»Zirkelmeister für Siegelkunde«, kürzte Yuriko ab. Die Stimmung verging ihm ohnehin gerade.
»An welcher Arkania?«, erkundigte sich der Skolar.
»An dieser hier!«, polterte Yuriko. »Was ist das denn für eine Frage!«
»Das kann nicht sein. Siegelmeister ist Ksantho Malrandir Kraka. Seit Jahren schon. Seit der vorherige …« Der Skolar unterbrach sich, als die Erkenntnis ihn traf. »Ihr seid der Vorgänger, der sich in Luft aufgelöst hat! Yuriko Frost!«
»Yuriko Mandorak Doragon Frost«, sagte Yuriko würdevoll. »Und ich habe mich nicht in Luft aufgelöst. Die Wellen des Schicksals haben mich hinweggeschwemmt.«
Arkadis machte eine ungeduldige Geste, und endlich fuddelte der Skolar den passenden Schlüssel vom Ring und öffnete das Tor.
»Ksantho Kraka«, murmelte Yuriko, während er dem Skolar durch den weitläufigen Garten zum Haus folgte. »Der miese kleine Emporkömmling. Na, das werden wir gleich haben.«
Gleich war, wie sich herausstellte, ein dehnbarer Begriff. Yurikos erster Weg führte ihn in seine Arbeitsräume – seine ehemaligen, wie nicht zu übersehen war. Das Mobiliar war vollständig erneuert. Es herrschte makellose Ordnung. Der Siegelmeister unterrichtete gerade, wie Yuriko im Vorzimmer beschieden wurde. Sogar die Assistentin hatte man ausgetauscht. Wo einst eine füllige Rothaarige gewusst hatte, wie das männliche Auge zu erfreuen war, führte nun eine reiz- und alterslose Schreiberin das Regiment. Ihre Stimme bohrte sich unangenehm in Yurikos Ohren, während er noch unter der Tür stand und sein ehemaliges Büro betrachtete. Alles, was an früher erinnerte, war der Blick aus dem Fenster.
»Was erdreistet Ihr Euch, hier einzudringen?«, schimpfte die Vorzimmerfrau. »Wer seid Ihr überhaupt?« Arkadis schüttete den Kopf und streckte beschwörend die Hände aus.
»Yuriko Frost«, sagte Yuriko in einer seltenen Anwandlung, sich kurz zu fassen. »Dein neuer Dienstherr. Und du bist bis morgen entweder jung und hübsch oder entlassen.«
Der Schreiberin blieb der Mund offenstehen. Yuriko drehte sich auf dem Absatz um und rauschte davon. Dieses Problem musste er an höchster Stelle lösen.
Eine Stunde später hatte sich gar nichts gelöst. Arkadis immer noch im Schlepptau, hatte Yuriko es immerhin bewerkstelligt, zum Arkanen Großmeister vorgelassen zu werden – oder sich selbst vorzulassen, er war da nicht kleinlich. Seine alte Stellung hatte er deshalb noch lange nicht zurück – nur die glaubwürdige Versicherung, die Welt hätte sich ohne ihn weitergedreht und man sei allgemein sehr zufrieden mit Meister Kraka. Man würde Yuriko aber immerhin gestatten, die Bibliothek und den Lesesaal zu nutzen. Aus Verbundenheit und der alten Zeiten wegen.
Yuriko schritt von dannen. Er brauchte all seine Kraft, um sich die Aura des stolzen Schwans zu geben und nicht die des gerupften Hahns, der er war. Im Säulengang, am Rande des Innenhofes, ließ er sich auf eine steinerne Bank sinken. Arkadis, die ihm folgte wie ein Schatten, setzte sich neben ihn. Dass sie nicht sprach, hatte auch seine Vorteile.
Yuriko schloss die Augen. Die Blätter der tausendjährigen Prantane im Innenhof raschelten im Wind. Aus den umliegenden Räumen waren gedämpfte Stimmen zu hören. Es war unfassbar, dass er ab sofort kein Teil mehr von alledem sein sollte.
Und wie es schien, war er Teil von überhaupt nichts. Wie sollte er seinen Lebensunterhalt decken? Yuriko Mandorak Doragon Frost der Legendäre konnte sich ja wohl kaum als einfacher Siegelschreiber verdingen. Er musste dringend zur Bank und nach seinem Vermögen schauen. Sein Haus instand setzen, vielleicht Schülerinnen zur Ausbildung bei sich aufnehmen. Aus gutem Hause, mit reichen Eltern, die sich die intensive Einzelbetreuung etwas kosten lassen würden. Blond vielleicht.
Oder er schrieb seine Reiseerinnerungen nieder und wurde als Schriftsteller reich und berühmt.
Er seufzte schwer. So reizvoll beide Lebensentwürfe waren, so ließ sich doch bei keinem davon Arbeit gänzlich vermeiden. Und Arbeit verdarb den Charakter.
Er kramte in seinen Manteltaschen und förderte einige wenige Eiserne zutage, die er Arkadis in die Hand drückte.
»Mach dich nützlich und geh Tee holen. Den Säulengang bis zum Ende, Treppe runter, dann links.«
Sie – oder er – das Licht nahm ihr gerade jeden weiblichen Liebreiz – sah ihn befremdet an. Er schob sie – oder ihn – von der Bank und wedelte mit den Händen, als wolle er Tauben verscheuchen.
»Nun mach schon!«
Ein spöttisches Lächeln zupfte an ihren – oder seinen – Mundwinkeln, dann drehte Arkadis sich um und ging in die angewiesene Richtung davon. Er sah ihr nach. Das Bewegungsmuster war weiblich – die Art, die Füße schmal zu setzen, der Hüftschwung – gleichzeitig war da kaum etwas, das man als Hüfte bezeichnen konnte. Lange muskulöse Beine wie die eines Jünglings und eine Art, die schmalen Schultern zu straffen, die nicht zu einer Frau passte.
Vielleicht würde er ihr – oder ihm – erlauben, in seinem Teich zu baden, und sich auf die Lauer legen. Jeder war doch das eine oder das andere.
Schritte näherten sich. Jemand blieb hinter ihm stehen. Ein energischer Griff nach seiner Schulter. Blecheimerstimme.
»Meister Yuri. Wie schön. Du kommst vorbei, um mir mein Geld zu geben.«
»Ich kam vorbei, um mein Wirken an dieser ehrwürdigen Stätte wiederaufzunehmen«, sagte Yuriko. »Nur um zu erfahren, dass man mich vollständig aus dem Bildungsbetrieb entfernt hat. Ich bin noch dabei, diese Schmach zu verarbeiten.«
Er wagte einen Blick über die Schulter. Galina stützte sich auf einen Besen. Um die Mitte hatte sie eine fleckige Schürze gewickelt. Ihr Gesicht war gerötet, verschwitzte Haarsträhnen hingen ihr in die Stirn.
»Du hast nicht ernsthaft damit gerechnet, dass deine alte Anstellung noch frei ist«, sagte sie. »Ksantho Malrandir Kraka hat übernommen, sobald du weg warst. Erst vertretungsweise, aber dann sehr schnell dauerhaft.«
»Er hat nur drauf gewartet, die kleine Aaskrähe.«
Galina nickte düster. »Seine erste Amtshandlung war, mein Lehrverhältnis zu kündigen. Sagte, eine so untalentierte Schülerin sei unter seiner Würde.«
»Na ja, hätte damals nicht deine Tante ein gutes Wort für dich eingelegt, oder fünf …«
»Sag es nicht!«
»Ich habe tatsächlich noch nie eine so untalentierte Zauberin gesehen wie dich. Und ich habe viele gesehen.«
Galina umklammerte den Besen. »Du hast es gesagt.«
»Weil’s wahr ist.«
»Weißt du, was noch wahr ist? Du bist ein lüsterner, fauler, alter Sack ohne jedes Verantwortungsgefühl! Du denkst den ganzen Tag an nichts anderes als ans Vö-«
»Oi!«
»Du bist der schlechteste Lehrmeister, den man sich vorstellen kann!«
»Du bist die schlechteste Schülerin, die man sich vorstellen kann!«
Galina ließ sich neben Yuriko auf die Bank fallen.
»Und jetzt«, sagte sie leise.
»Keine Ahnung«, sagte Yuriko. »Mir fällt schon was ein. Hast du Geld? Ich brauche ein Frühstück, das aus mehr besteht als nur Tee.«
»Das ist nicht dein Ernst. Ich habe dir gestern mein ganzes Erspartes gegeben! Wo hast du es?«
»Das war dein ganzes Erspartes?«
»Ich bin Hausmeisterin! Was zahlen die mir wohl, hm?«
Yuriko seufzte schwer. »Du bekommst es zurück, sobald ich auf der Bank war. Und ich nehme deine Ausbildung wieder auf, wenn du es wünschst. Deiner Tante zuliebe. Wie geht es ihr im Übrigen?«
»Du warst noch nicht bei ihr?«
»Hrm … nein.«
»Du warst vor ihrem Haus, aber du hast dich nicht getraut zu klopfen.«
»Es steht einer jungen Frau gar nicht gut zu Gesicht, so neunmalklug zu sein.«
»Um dich zu durchschauen, reicht es, wenn man nicht komplett dämlich ist. Geh sie besuchen. Ich bin sicher, sie freut sich.«
Arkadis kam zurück und erlöste Yuriko von dem Thema. Sie trug einen Teebecher vor sich her, aus dem es dampfte. Sehnsüchtig streckte Yuriko die Hand danach aus. Arkadis setzte sich, zog die Augenbrauen hoch und führte den Becher zum Mund. Yuriko ließ die Hand sinken.
»Und wer ist das?«, erkundigte sich Galina und beugte sich vor, um Arkadis zu mustern. »Du hast nicht etwa einen neuen Lehrling in Dienst genommen?«
»Nein. Ich habe sie unter meiner Treppe gefunden. Ihr Name ist Arkadis, und sie spricht nicht.«
»Oh.« Galina streckte Arkadis an Yuriko vorbei die Hand hin. »Hallo, ich bin Galina. Meister Yuris Schülerin.«
Arkadis legte ein wenig Wärme in ihr Lächeln und ergriff die dargebotene Hand. Yuriko wollte einstweilen den Teebecher an sich bringen, aber Arkadis hielt ihn außerhalb seiner Reichweite. Yuriko zog ein Gesicht, aber es blieb unbeachtet.
Arkadis sah Galina an, zeigte zwischen sich und Yuriko hin und her und streckte dann Galina die Zunge heraus. Galinas Augen wurden groß. »Das ist ja höchst spannend«, sagte sie. »So etwas hab ich ja noch nie gesehen. Gibt es schon eine Theorie? Woher, weshalb, wie? Hängt die Stummheit mit dem Siegel zusammen?«
Arkadis nickte.
»Woher kommst du, Arkadis?«
Arkadis machte eine weite Bewegung mit beiden Armen, deutete dann Wellenbewegungen an und hielt sich die Hand über die Augen, als würde sie einen Horizont absuchen.
»Von weither?«, vermutete Galina. »Abrantes?« Arkadis zögerte, schüttelte dann den Kopf und deutete auf ihre Füße.
»Du bist zu Fuß …? Nein. Übers Meer? Aus dem Süden?«
Arkadis nickte.
»Wie schön, dass ihr euch so gut versteht«, sagte Yuriko. »Weißt du was, Galina, nimm sie doch mit in die Bibliothek. Zeichne das Siegel ab, sei sorgfältig dabei! Achte auf die Details! Und such schon mal Literatur raus. Alistis Ryu hat ein Kapitel über fernländische Siegelkunst, wenn ich mich recht erinnere. Wir brauchen jedenfalls das Formenregister. In Osses Siegelkunde kannst du auch nachsehen.«
»Während du in der Zwischenzeit die Füße hochlegst?«
»Während ich zur Bank gehe und meine Finanzen regele.«
»Damit kann ich leben. Kommst du mit, Arkadis?«
Arkadis folgte Galina bereitwillig. Den Tee nahm sie mit, dafür ließ Galina den Besen da. Ohne Tee und ohne Frühstück saß Yuriko noch eine Weile in der Sonne, bis Padda auf seiner Schulter unruhig wurde. Ohne genau zu wissen, was der Kröter wollte, setzte Yuriko sich in Bewegung.
Ob sich seine Rückkunft schon bis in den Keller der Arkania herumgesprochen hatte? Und wenn ja, war das gut oder schlecht? Yuriko fühlte sich zart besaitet. Schon die Vorstellung, von Frakis kühl abgewiesen zu werden, schnürte ihm die Luft ab. Vielleicht konnte Galina vorfühlen gehen. Es musste doch irgendjemanden in dieser Stadt geben, der sich freute, dass er wieder da war.
Durch die sonnigen Straßen schlenderte er hinüber zur zentallinischen Königsbank, einem imposanten mehrstöckigen Gebäude, errichtet aus riesigen hellen Steinquadern. Über dem säulengestützten Eingang breitete der Königsschwan seine Flügel aus. Im Inneren herrschte andächtige Stille. Yurikos Schritte verhallten in dem hohen Gewölbe.
Ein blasser Glatzkopf in einer Robe, die schlichte Eleganz verriet, nahm ihn in Empfang und erinnerte sich tatsächlich an ihn.
»Ich lasse die Bücher heraussuchen«, bot er an. »Einen Becher Tee für die Wartezeit?«
Yuriko akzeptierte eine Spur zu dankbar. Padda turnte ihm zwischen Kragen und Haaransatz herum, und er nahm den Kröter auf die Hand und stellte sich mit ihm in einen Sonnenfleck. Padda sah ihn unverwandt an, und Yuriko versenkte sich in der reglosen Tiefe seiner bernsteinfarbenen Augen und zuckte zusammen, als der Angestellte ihm den Tee hinhielt.
Er hatte den Becher noch nicht geleert, als der Glatzkopf zurückkam und verkündete, es sei nun alles bereit. Er schielte auf Yurikos Hände, aber der war nicht bereit, sich von Padda oder dem Teebecher zu trennen und nahm stoisch beides mit in den kleinen Besprechungsraum, wo der Kollege des Glatzkopfes bereits wartete. Man begrüßte sich mit einer förmlichen kleinen Verbeugung, dann nahm Yuriko am Tisch Platz und bekam ein mächtiges Buch vorgelegt, in dem mit säuberlicher Schrift sein Name vermerkt war, darunter einige Zahlen. Die sich summierten zu einem Betrag, der klein war. Sehr klein. So klein, dass man sich einen netten Abend davon machen konnte, mehr nicht.
»Es muss ein Irrtum vorliegen«, sagte Yuriko. »Als ich zuletzt diese Bücher studiert habe, war ich ein vermögender Mann.«
»Ihr könnt ganz beruhigt sein dahingehend, dass ein Irrtum vollständig ausgeschlossen ist«, sagte der Angestellte. »Ihr wurdet vorigen Sommer nach Ablauf der üblichen Fristen offiziell für tot erklärt. Das restliche Vermögen wurde eingezogen und, wie üblich, zum einen Teil dem Königreich zur Verfügung gestellt, für wohltätige Zwecke, zum anderen Teil für den Aufrechterhalt der Bank und ihrer Liegenschaften verwendet. Es blieben lediglich die Zinsen der vergangenen Jahre stehen. Wie das Gesetz es bestimmt, und abzüglich einer Verwaltungsgebühr.«
»Ich bin aber nicht tot«, sagte Yuriko verblüfft. »Sehe ich für Euch etwa tot aus? Das ist sehr wohl ein Irrtum, ein gewaltiger!«
»Niemand bestreitet, dass Ihr am Leben seid«, sagte der Angestellte. »Aber die Frist von fünfzig Monden verstrich, ohne dass uns ein Beweis Eurer Lebendigkeit erbracht werden konnte.«
»Ich bin hier! Ich bin lebendig! Ich will mein Geld zurück!«
»Lautstärke ändert nichts an den Tatsachen«, sagte der Angestellte ungerührt. »Ich kann Euch die fünf Silberfedern, drei Eiserne auszahlen lassen, wenn Ihr wünscht. Und Ihr seid herzlich eingeladen, ein neues Konto zu eröffnen, sobald Ihr wieder zu Geld gekommen seid.«
»Zuerst will ich mein altes zurück!«
»Auch die wiederholte Bekanntgabe von Forderungen ändert nichts an den Tatsachen.«
Yuriko sprang auf. Padda strampelte in seiner Hand, und er mühte sich, den Griff zu lockern und den Kröter sanft auf seiner Schulter abzusetzen.
»Und was sieht das Gesetz für Fälle vor, in denen jemand von den Toten wiederkehrt«, knirschte er.
»Ihr seid ja nicht von den Toten wiedergekehrt, sondern Eurer eigenen Aussage nach nie tot gewesen«, sagte der Bankangestellte kühl. »Allein richten sich die Regularien nicht um Euren tatsächlichen Leibeszustand, sondern um die eindeutige, nachweisliche Definition desselben.«
»Mein Leibeszustand ist wütend, und deiner ist gleich Kopfschmerz, mein Freund!«
Der Angestellte glitt mit einer geschmeidigen Bewegung zur Tür und öffnete sie. Durch den Türspalt sah Yuriko Bewegung. Rüstungsteile schimmerten matt.
»Meister Frost möchte gehen«, sagte der Angestellte.
»Meister Frost möchte sein Geld!«, röhrte Yuriko. »Und den Leuten mal ordentlich die Meinung sagen, die sich so eine Bullenscheiße ausdenken!«
Er holte sich einen faustgroßen Feuerball auf die Hand und machte einen Schritt in Richtung Tür. Weiter kam er nicht. Ein unsichtbares, tonnenschweres Gewicht hielt seine Füße auf den polierten Bodenplatten fest. Er ruderte um sein Gleichgewicht. Der Feuerball verlosch. Er sah auf und in das Gesicht eines jungen Zauberers, der zwischen den beiden Bewaffneten stand und gerade die Handzeichen des Mühlsteinzaubers abschloss.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Yuriko. »Du wagst es, mich zu verzaubern? Weißt du denn nicht, wer ich bin?«
»Ihr seid Yuriko Mandorak Frost, Salamander und Meister der Siegel«, sagte der junge Zauberer mit schwankender Stimme.
»Ich kann dich eindampfen, dass nichts mehr an dich erinnert als ein verschmorter Fleck auf dem Boden!«
»Und ich hoffe sehr, dass Ihr das nicht tun werdet, aus unbedachter Wut heraus«, flehte der Zauberer. »Nur des Geldes wegen.«
»Mein Geld! Meine Existenz! Meine Zukunft!«
»Ich komme hier nur meinen Verpflichtungen nach, Meister. Ich habe eine Familie zu ernähren.«
Mit arkanen Fingern betastete Yuriko das Spruchgewebe. Es war ganz ordentlich. Der arme Junge konnte ja nichts dafür, dass er es mit Yuriko dem Legendären zu tun hatte. Yuriko war kurz davor, das Spruchgewebe zu zerreißen und einfach zu gehen, doch er besann sich eines anderen. Wenn er das tat, würde man den Jungen für unfähig halten und hinauswerfen.
Yuriko seufzte.
»Löse den Mühlstein, Herr Kollege. Ich verspreche, mich zu benehmen.«
Der junge Zauberer zögerte, kam dann aber der Aufforderung nach. Das Gewicht an Yurikos Füßen verschwand. Der Zauberer sah aus, als würde er ganz ohne Yurikos Zutun allein vor Angst in seinen Stiefeln sterben. Yuriko trank seinen Teebecher leer und rückte sich Padda auf der Schulter zurecht.
»Besitz macht ohnehin unfrei«, verkündete er würdevoll und schritt von dannen.
***
Auf dem Weg zurück zur Arkania versuchte er, einen Plan zu fassen, doch der Weg war zu kurz und seine Lage zu verzwickt. Zumindest ließ der Löwenkopf ihn ein. Er wanderte durch den weitläufigen Garten, immer noch auf der Suche nach einer rettenden Idee. Es war Mittagspause; Gruppen von Schülern schwärmten über das Gelände, fachsimpelten, steckten im Gehen die Nase in Bücher oder saßen auf der Wiese und aßen zu Mittag. Sie grüßten ihn ehrerbietig, wo er auf sie traf, mit der höflichen Distanz, die man einem Fremden entgegenbrachte. Er kannte keines der Gesichter.
Kein Geld, kein Zuhause, keine Anstellung. Sein Ruf war in Vergessenheit geraten, und nicht mal Violetta war noch die Gleiche.
Er versuchte, nicht an Violetta zu denken. Eine wie sie konnte er sich auf absehbare Zeit nicht mehr leisten. Sofort rammte ihn die Sehnsucht. Ihr Duft. Oh. Blütenöl und Puder. Ihr weicher, runder Körper. Der unschuldige Schalk in ihrem schönen Gesicht, während ihre Finger die unanständigsten Dinge taten.
Kein Geld, kein Zuhause, keine Anstellung, keine Liebe, keine Frauen. Alle Krötengeister, er war so einsam. Er verfluchte den Tag, an dem er beschlossen hatte, heimzukehren. Er hätte bei Mio bleiben sollen, falls das ihr Name gewesen war, der schwarzhaarigen Schönheit aus dem Land hinter den Mandelbäumen. Auf eine Art hatten sie sich sehr gut verstanden.
Der Gedanke an Florine hatte den Ausschlag gegeben. Doch Florine war so unerreichbar wie eh und je. Dass kein Kontinent mehr zwischen ihnen lag, änderte nichts.
Keine Liebe. Das war vermutlich das Schlimmste von allem.
Er fand Galina und Arkadis in der Bibliothek, verschanzt hinter einem Stapel von Büchern. Galina war noch mit der Reinzeichnung des Siegels beschäftigt, während Arkadis sich in eine abgegriffene Abschrift von Das siebte Siegel vertieft hatte. Yuriko zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen, dass das Holz krachte. Galina streckte die flache Hand nach ihm aus, ohne aufzusehen.
»Nichts«, sagte er. »Vergiss es. Die Bank hat mich für tot erklären lassen. Mein gesamtes Vermögen beläuft sich auf fünf Silberfedern, drei Eiserne, und die hab ich mir nicht auszahlen lassen, weil ich sonst vielleicht doch noch jemanden dort eingeäschert hätte.«
»Guter Scherz«, sagte Galina. »Jetzt rück das Geld raus.«
»Dazu müsste ich erst die Bank überfallen. Der Gedanke ist verlockend, aber ich würde doch gerne zuerst deine Tante sehen, bevor ich Hals über Kopf aus der Stadt fliehe.«
Galina sah von ihrer Zeichnung auf. Ihre Augen waren riesig und rund wie Seerosenblätter.
»Kein Scherz?«, sagte sie.
»Kein Scherz«, sagte Yuriko.
»Du bist ein toter Mann«, sagte Galina.
»Meine Leiche an die Forschung zu verkaufen bringt dir nicht mehr als ein paar Silberfedern.«
»Aber warum?«
»Weil ich nicht mehr jung und nicht vollständig gut erhalten bin und um die Leibesmitte herum nicht mehr ganz stromlinienförmig. Das mindert den Wert.«
»Warum ist mein Geld weg?«, schrie sie ihn an. »Warum bin ich so blöd und springe immer wieder für dich ein? Warum glaube ich immer noch, dass du zu irgendetwas gut bist?«
»Hör auf, dich anzuhören, als wären wir ein Ehepaar! Das ist ja gruselig!«
»Leise!«, rief jemand zwischen den Regalen. »Dies ist ein Ort der Gelehrsamkeit, kein Fischmarkt!«
Galina sprang auf, griff sich Yuriko und zerrte ihn in die Höhe.
»Haare«, ächzte der. »Au! Haare!«
»Du kannst froh sein, dass ich dich nicht packe, wo’s noch mehr wehtut«, knurrte Galina, ließ aber immerhin seinen Zopf los und stieß ihn vor sich her zur Tür. Yuriko streckte hilfesuchend eine Hand nach Arkadis aus, aber die sah ihm nur erstaunt hinterher.
Mit forschem Schritt und eisernem Griff um sein Handgelenk brachte Galina Yuriko in die zentrale Eingangshalle und vor ein Anschlagsbrett, das dicht an dicht mit Zetteln bestückt war.
»Geh arbeiten«, sagte sie.
»Huh«, sagte Yuriko, noch immer damit beschäftigt, seine empfindlichen Haarwurzeln zu massieren. »Was …?«
»Such dir was aus, nimm den Zettel mit, erledige, was draufsteht und lass dich in der Poststelle auszahlen. Oder, nein. Ich sage der Poststelle Bescheid, dass sie mir direkt das Geld geben.«
Weniger aus Interesse, sondern eher, weil er nicht nicht lesen konnte, überflog Yuriko die Angebote.
Eine entlaufene Katze finden und nach Hause bringen.
Ein Dutzend sehr seltene, sehr giftige Heideröhrlinge pflücken.
Eine Rattenplage beheben – Ratten, so groß wie Wollschweine
Eine Hochzeitsgesellschaft mit verblüffenden Zaubereien unterhalten.
Die Entlohnung, die man für diese entbehrungsreiche Arbeit zu erwarten hatte, war lächerlich gering.
»Das ist ja Sklaverei«, sagte Yuriko. »Zu meiner Zeit gab’s das aber nicht.«
»O doch«, sagte Galina. »Das Brett gab es schon immer. Es ist dir nur nie aufgefallen, weil es ja mit Arbeit zu tun hat.«
»Galina, ich werde sicher nicht wie ein Jungstudent irgendwelche entlaufenen Katzen suchen. Es muss einen anderen Weg geben.«
»Bitte sehr«, sagte sie und stemmte kämpferisch die Fäuste in die Seiten. »Nur zu.«
»Was ist denn mit Arkadis´ Siegel? Hast du schon etwas herausgefunden?«
»Ist das der Versuch eines Themawechsels, oder willst du sie zu Geld machen?«
»Es ist der Versuch, in alle Richtungen zu denken.«
»Ich hab’s abgezeichnet, aber es sagt mir nichts. Du musst es dir selbst ansehen.«
Yuriko nickte. Im Gehen nahm er noch den Zettel von der Hochzeit mit und den von der entlaufenen Katze. Der Tee in der Bank war das Einzige, was er heute in den Magen bekommen hatte, und er fühlte sich schon ganz schwach.
Galinas Zeichnung war beinahe fertig. Sorgfältig mit Tinte auf hellem Papier aufgetragen, sah das Siegel sehr viel arkaner aus als in der irritierenden Umgebung von Arkadis´ Gesicht. Yuriko fügte letzte Kleinigkeiten hinzu und vertiefte sich dann in den Anblick. Die doppelte Acht war das Hauptelement. Sie kanalisierte das Arkanum, da war er ziemlich sicher. Aber diese seltsamen, unsymmetrischen, wirren Schnörkel?
Konnte das Schrift sein?
Er nahm ein neues Stück Papier und malte das Siegel ab, ließ aber die Doppelacht weg. Die Zeichen sahen immer noch aus, als wäre ein betrunkenes Huhn übers Papier geeiert.
Er hob den Blick. Arkadis und Galina sahen ihn erwartungsvoll an.
»Hetzt mich nicht«, sagte er. »Arkadis – du musst mir alles aufschreiben, was du darüber weißt. Wer es angebracht hat, und wo, und warum. Was sich bei dir verändert hat, seit du es trägst.«
Er schob ihr Papier und Stift hinüber. Sie setzte an, doch ehe sie das erste Wort niedergeschrieben hatte, wurde sie von einer unsichtbaren Kraft nach vorne gedrückt. Sie krümmte sich über dem Tisch, atmete gepresst, ballte die Hände zu Fäusten. Der Stift zerbrach zwischen ihren Fingern. Yuriko und Galina sprangen erschrocken auf. Galina war schneller bei Arkadis, fasste sie um die Schultern und sprach erschrocken auf sie ein. Arkadis kippte steif wie eine Puppe vom Stuhl. Blut lief ihr aus dem Mundwinkel. Yuriko stand hilflos und schaute auf die krampfende Arkadis hinunter. Rund um ihn wurden Studenten aufmerksam und näherten sich neugierig.
»Fallsucht«, murmelte einer schaudernd.
»Götterfluch«, vermutete ein anderer.
»Verzieht euch«, knurrte Yuriko. »Hier gibt’s nichts zu sehen. Einer von euch kann rennen und einen Arzt holen. Na los!«
Einer der Studenten trabte davon. Yuriko steckte die Zeichnungen ein, bückte sich dann zu Arkadis und hob sie hoch. Sie zitterte und krampfte in seinen Armen weiter, während er sie nach draußen in die Sonne trug und sie ins Gras legte. Galina folgte.
Es dauerte, bis Arkadis langsam ruhiger wurde. Ihr Atem ging mühsam, aber immerhin atmete sie. Inzwischen war sie ohnmächtig.
»Was war das denn«, flüsterte Galina erschüttert. »Fallsucht? Wirklich?«
»Nein«, sagte Yuriko düster. »Ich fürchte, ich bin schuld. Ich habe den Siegelfluch ausgelöst, indem ich sie bat, mir aufzuschreiben, was sie weiß. Der gleiche Zauber, der sie am Sprechen hindert, hindert sie auch am Schreiben.«
»Aber hat er dir nicht seinen Namen aufgeschrieben?«
»Vielleicht war der Name harmlos genug.«
Galina ließ sich neben Arkadis ins Gras plumpsen und tupfte ihr – ihm – mit dem Ärmel die Stirn ab.
»Wir werden alles selbst herausfinden müssen«, sagte Yuriko. »Fangen wir doch damit an, zu klären, ob wir Mann oder Weib vor uns haben.« Er streckte die Hand nach Arkadis´ Hosenbund aus und bekam von Galina empfindlich auf die Finger.
»Eine ohnmächtige Person befingern, so weit kommt’s noch!«, schimpfte sie. »Du schreckst doch vor nichts zurück!«
»Wär’s ein Kerl, wäre ich schnell fertig mit Befingern«, sagte Yuriko ungnädig. »Und wär’s ein Weib, würde sie sich vielleicht nicht mal beschweren.«
»Du bist widerlich.«
»So harte Worte aus so einem hübschen Mund. Pass auf. Du versuchst, etwas über das Blumensymbol in der Mitte herauszufinden. Ich kümmere mich um die seltsamen Zeichen. Ich halte sie für Schrift, aber ich weiß nicht, welche. Immerhin habe ich jemanden, den ich fragen kann. Wenn er mich nicht in die sieben verfluchten Abgründe jagt. Sei so gut und mach eine zweite Reinzeichnung, ja?«
»Warum?«
»Na, damit jeder von uns eine bei sich tragen kann.«
»Ich meinte, warum hilfst du ihm? Er wird dich kaum bezahlen können.«
Yuriko sah auf Arkadis hinunter.
»Sie war unter meiner Treppe. Sie hat dort wer weiß wie lange auf mich gewartet. Ich meine, sie hätte zu Kraka gehen können, oder? Hat sie aber nicht getan. Sie hat ein Problem, und sie kann nicht mal drüber sprechen, und ich bin der Mensch, den sie sich als ihren Retter ausgesucht hat. Reicht das nicht?«
»Bei jedem anderen schon, aber bei dir habe ich Zweifel.«
Yuriko holte die Zeichnung aus der Tasche und hielt sie Galina hin. »Mach dich an die Arbeit.«
Galina zog widerstrebend ab. Bis der Arzt eintraf, war Arkadis wieder wach, wenn auch sehr benommen, und Yuriko hatte sich eine Geschichte rund um eine arkane Entladung zurechtgelegt. Glücklicherweise sah der Arzt keine Notwendigkeit, sich die Zunge zeigen zu lassen, sondern beschränkte sich darauf, Puls und Herzschlag zu kontrollieren und mit einem kleinen arkanen Licht in Arkadis´ Augen zu leuchten. Was auch immer er dort zu sehen bekam, stellte ihn wohl zufrieden, denn er empfahl nicht mehr als einige Tage Bettruhe für die Patientin und mehr Achtsamkeit beim Zaubern. Dann hielt er Yuriko die offene Hand hin, doch der schickte ihn nachdrücklich zur Poststelle weiter.
Arkadis hatte sich während der kurzen Diskussion ums Geld in den Schatten der Prantane zurückgezogen. Dort saß sie an den Stamm gelehnt, neugierig beäugt von den Studenten ringsum, reichlich fremdartig in ihren ärmlichen Gewändern, und massierte sich die Waden.
Yuriko ging neben ihr in die Hocke. Sie sah auf, den Tränen nahe.
»Gütiger Krötengeist, Mädchen«, sagte er erschrocken. »Es ist doch noch viel zu früh, um zu verzweifeln. Ich finde dir eine Lösung, versprochen. Du musst nur ein bisschen Geduld haben.«
Sie nickte, zog die Schultern gerade und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Wie sie so die Zähne aufeinanderpresste, sah sie doch wieder nicht aus wie ein Mädchen.
»Wollen wir es mit Ja-Nein-Fragen versuchen?«, schlug Yuriko vor, doch Arkadis streckte die Hände aus und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein? Zu schmerzhaft? Kann ich verstehen. Und wenn das Siegel etwas taugt, lässt es sich auch nicht so leicht überlisten. Aber mach dir keine Sorgen, ja? Ich habe noch nicht mal richtig angefangen, daran zu arbeiten.«
»Was hauptsächlich daran liegt, dass du nicht weißt, was Arbeit ist.« Ah. Galina, der wandelnde Liebreiz. Sie hielt ihm die Abschrift des Siegels hin und beugte sich dann zu Arkadis.
»Geht es dir wieder besser?«
Arkadis zog ein Gesicht und kippte die Hand hin und her.
»Du Ärmster«, sagte Galina mitfühlend. »Brauchst du etwas? Tee?«
Arkadis schüttelte den Kopf. Yuriko stemmte sich vom Boden in die Höhe.
»Ich gehe etwas ausforschen«, sagte er. »Kann dauern. Galina, du bleibst an dem Symbol in der Mitte dran. Später könnt ihr dann in meinem Haus ein wenig Ordnung machen. Soweit möglich. Ich erwarte keine Wunder.«
»Dir ist aber klar, dass ich meine Verpflichtungen an der Arkania habe?«, murrte Galina, und er schlug ihr ermunternd auf die Schulter.
»Jemand, der so fleißig ist wie du, kann das schaffen.«
Die Abteilung »Geschichte der Zauberei« war immer noch im Keller. Aus alter Gewohnheit zog Yuriko den Kopf ein, als er von der letzten Treppenstufe durch den niedrigen Torbogen trat. Arkane Lichter schwebten unter der Decke und erhellten den Gang. Niemand war hier unterwegs. Zaubereigeschichte war mit Abstand das unbeliebteste Fach bei den Studenten, und Frakis tat anscheinend immer noch alles dafür, damit das so blieb. An den Türen zu den Archiven vorbei ging Yuriko nach hinten durch und klopfte an der letzten Tür.
»Das wurde aber auch Zeit.«
Die vertraute Stimme, raschelnd wie altes Pergament. Keine spürbare Tötungsabsicht, aber dann wiederum war Frakis ja immer sehr beherrscht – bis auf, wenn er es nicht war, und dann konnte man sich warm anziehen.
Yuroko schob die Tür auf und trat ein.
»Nichts anfassen«, kam die Stimme wieder zu ihm. »Keine Feuerzauber. Und wehe, du lässt deinen Kröter frei herumlaufen.«
»Frakis Winterkind Fyr. Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Yuriko pflückte den schmalen Mann zwischen zwei Regalen voller Schriftrollen und schloss ihn in eine innige Bärenumarmung, die der Andere nach kurzer Starre und im Rahmen seiner eingeschränkten Kräfte erwiderte. Erleichterung rauschte durch Yuriko wie eine Feuersbrunst.
»Wie geht es dir? Was hast du gemacht all die Jahre?«, fragte er begeistert. Frakis hüstelte leise, was Yuriko vermutlich daran gemahnen sollte, dass Rippen auch brechen konnten. Yuriko entließ ihn aus seinen Armen.
»Das sollte ich eher dich fragen«, sagte Frakis. »Wo warst du?«
»Nur ein Spielball zwischen den Göttern und der geheimen Kraft, die sich Zufall nennt.«
Frakis schob sich die Augengläser den Nasenrücken hinauf. Das schneeweiße Haar fiel ihm immer noch wie ein Vorhang ums Gesicht, und wie immer war er so blass, dass er geradezu durchscheinend wirkte.
»Im Land hinter den Mandelbäumen«, sagte Yuriko. »Auf der südlichen Landmasse. In Ländern, für die wir keine Namen haben. Es ist eine Geschichte für viele lange Abende, falls du sie hören willst.«
»Ich bin nicht sicher. Das meiste davon werden Frauengeschichten sein.«
»Die dich nach wie vor nicht interessieren.«
Frakis verzog den Mund, was sich mit viel gutem Willen als Lächeln deuten ließ. »Keiner von uns hat sich wesentlich geändert, wie mir scheint.«
»Du – du bist nicht böse, dass ich mich einfach so in Luft aufgelöst habe? Ich wollte das nicht. Ich habe nur einer jungen Dame mit einem schweren Handkarren geholfen, und dann ergab eines das Andere und plötzlich war ich auf einem Schiff.«
»Ich bin nicht böse. Nicht mehr. Ich bin froh, dass du noch am Leben bist. Und dass du nicht auf zauberische Weise an den Ort zurückgebracht wurdest, von dem du vor Jahren kamst. Wie ein Elf, dessen Zeit unter den Sterblichen abgelaufen ist.«
»Kein Elf. Obwohl ich womöglich sogar welche gesehen habe. Großartige Geschichte, muss ich dir erzählen. Fast keine Frauen drin. Also, schon, aber alle zu mager. Aber zuerst brauche ich deine Hilfe.« Yuriko holte die Zeichnung aus der Tasche und hielt sie ihm hin. Frakis nahm sie entgegen, warf einen Blick darauf, nahm den Zettel dann mit unter eine arkane Lichtinsel und beugte sich darüber.
»Hast du das von deiner Reise mitgebracht?«
»Nein. Tatsächlich hat es in meinem Haus auf mich gewartet. Es ist auf der Zunge einer jungen Frau tätowiert. Zumindest gehe ich davon aus, dass es eine Frau ist.«
Frakis warf Yuriko einen verwunderten Blick über die Schulter zu, versenkte sich aber gleich wieder in die Betrachtung des Siegels.
»Dieses ganze wirre Zeug«, sagte Yuriko. »Ist das Schrift? Wenn ja, was für eine und was sagt sie?«
»Wenn ja, dann eine alte«, murmelte Frakis. »Eine Wortzeichenschrift vielleicht. Aber es gibt unüberschaubar viele Wortzeichenschriften und ihre Vorläufer und Mischformen. Es wird dauern, bis ich die Probe richtig zugeordnet habe. Wenn es mir überhaupt gelingt. Was weißt du noch über dieses Siegel?«
»Nichts. Die Trägerin unterliegt einem Bann. Sie kann keine Informationen darüber weitergeben. Aber von Form und Aufbau her würde ich meinen, es soll etwas einsperren, nicht etwas aussperren.«
»Keine Information über Zweck und Wirkung?«
»Nein. Aber sie wird wohl darunter leiden, sonst hätte sie mich nicht aufgesucht.«
Frakis drehte den Zettel und fuhr mit den Fingerspitzen den Rand des Siegels nach.
»Wenn es wirklich Schrift ist, muss ich das Original sehen«, sagte er. »Jeder kleine Winkel, jeder Haken kann von Bedeutung sein. Sofern man solche Kleinigkeiten überhaupt auf eine Zunge tätowieren kann. Wenn das Original schon unsauber ist, wird es schwer.«
»Wäre es unsauber, würde es nicht tun, was es soll«, gab Yuriko zu bedenken.
»Und woher weißt du, ob es tut, was es soll, wenn du mit dem Siegelträger nicht sprechen kannst?«
»Da hast du recht«, sagte Yuriko betroffen. »Da gibt es nur eines. Ich brauche diese Katze.«
»Wie bitte?«
»Idee!«, rief Yuriko über die Schulter und war schon unter der Tür. »Muss los! Wende dich an Galina, sie weiß Bescheid! Und lass uns heute Abend einen trinken gehen, oder fünf!«
Als Galina sich wieder bei ihm blicken ließ, war ihm alles andere als nach Feiern zumute. Seine Hände und Unterarme waren blutig verkratzt, und seine Haare hatten genug Katzenfell absorbiert, um ihn in drei Wochen noch zum Niesen zu bringen. Einigermaßen fassungslos starrte Galina auf die Katze hinunter, die mittels eines Körperklammer-Siegels auf der Bank fixiert war. Die Sonne ging bereits unter, das Licht wurde schlecht. Padda saß nahebei und ließ sich sein Missfallen deutlich anmerken.
»Mein Lehrmeister läuft über den Campus und sucht Studenten, die ihm eine Katze rasieren«, sagte Galina. »Ist dir klar, was das bedeutet?«
»Die Hilfsbereitschaft der Jugend lässt schlagartig nach, wenn man sie nicht bezahlen kann«, sagte Yuriko finster und verglich ein letztes Mal seine Zeichnung mit dem Siegel, das er auf den rasierten Bauch der Katze aufgetragen hatte.
»Es bedeutet, dass sie dich spätestens jetzt für irre halten! Und was ist überhaupt mit der armen Katze?«
»Keine Sorge, die gebe ich zurück, sobald ich fertig bin.«
Yuriko sammelte Arkanum in den Fingerspitzen. Es fühlte sich seltsam an, ein Siegel zu aktivieren, ohne seinen Sinn und Zweck zu kennen zu haben. Er wusste nicht einmal, ob es funktionierte. Es war wie Worte in einer fremden Sprache nachzuplappern, ohne die Bedeutung zu kennen.
Er ließ Arkanum auf das Siegel tropfen. Die körpergeklammerte Katze rührte sich nicht. Das Arkanum wurde sofort in die Mitte gezogen und verschwand im Zentrum der Blüte. Yuriko ließ Arkanum nachfließen, und es nahm den gleichen Weg.
»Interessant«, sagte er nachdenklich.
Er sah die Katze an. Die Katze sah ihn an. Er kontrollierte den Arkanfluss. Die Katze war dicht.
»Willst du mich eigentlich absichtlich dumm halten?«, beschwerte sich Galina. Yuriko seufzte.
»Ich habe die Katze mit Arkanum aufgeladen. Was passiert, wenn natürliche Wesen mit Arkanum in Berührung kommen?«
»Äh – nichts?«
»Genauer!«
»Es fließt einfach durch sie hindurch. Wie durch jede Materie. Sie bemerken es nicht mal.«
»Richtig. Dieses Siegel – dessen Wirkweise ich immer noch nur zum Teil verstehe, wohlgemerkt – hat aus der Katze einen Arkanspeicher gemacht. Ich habe sie aufgeladen, und sie hat nichts davon wieder verloren.«
Vorsichtig beäugte Galina die Katze. »Das heißt … Arkadis ist ein menschlicher Arkanspeicher? Ist so etwas möglich?«
Grübelnd wickelte Yuriko sich seinen Zopf um die Hand.
»Alle Zauberer sind Arkanspeicher«, sagte er. »Nur keine sonderlich ergiebigen. Wenn ich zaubere, ziehe ich Arkanum aus der Umgebung, und dann gibt es diesen winzigen Augenblick, wenn es schon in mir ist, kurz bevor ich den Zauber werfe. Eigentlich ist es eins. Ziehen – werfen. Vielleicht ermöglicht das Siegel das Ziehen, verhindert aber das Werfen.«
»Dann wäre Arkadis ein verhinderter Zauberer«, überlegte Galina. »Ein mächtiger Zauberer, vermutlich, mit mächtigen Feinden.«
»Wenn das Schule macht, können wir alle einpacken«, sagte Yuriko schaudernd. »Du darfst niemandem etwas erzählen, hörst du?«
Galina nickte. Yuriko nahm die bereitgelegte Wasserflasche und entkorkte sie.
»Bevor du fragst«, sagte er. »Ich wasche das Siegel ab, dann lasse ich die Katze frei. Die Vorführung ist hiermit beendet.«
Vorsichtig tröpfelte er Wasser auf das Siegel. Die Tinte verlief, dicke dunkle Tropfen rannen den rasierten Bauch der Katze hinunter.
Die Katze erzitterte. Krämpfe durchliefen sie, und sie fuhr die Krallen aus.
»Huch«, sagte Yuriko erstaunt. Die Körperklammer verlor ihre Wirkung, und er wusste nicht, warum. Er wollte das geklebte Klammersiegel schon abziehen, ließ es dann aber an Ort und Stelle und machte einen großen Schritt rückwärts. Die Katze hatte Risse bekommen, aus denen es blau leuchtete.
»Nicht gut«, sagte Yuriko. »Nicht gut!«
Er packte Galina, die erschrocken quiekte, und stieß sie beiseite. Dann traf ihn die arkane Entladung.
Die arkane Kraft riss ihn beinahe auseinander. Blitze zuckten vor seinen Augen. Es roch verschmort. Er blies eine Feuerlohe in den Himmel, um das Arkanum loszuwerden, ehe es ihn umbrachte, es war zu viel auf einmal, scharfkantig und bitter und auf eine erschreckende Art lebendig.
Dann war es vorbei. Er lag auf dem Boden, keuchend und benommen, und jemand rüttelte ihn an der Schulter.
»Meister Yuri?«
»Ich sterbe«, murmelte er. »Lass mich zurück.«
»Nicht, solange du Schulden bei mir hast«, sagte Galina pragmatisch und half ihm zum Sitzen. Die Schmerzen ließen nach. Arkane Irrlichter geisterten durch seine Haare.
Er blinzelte.
Galina und Padda waren unversehrt, was man von der Katze nicht behaupten konnte.
»Was für eine Sauerei.«
»Das arme Tier«, jammerte Galina. »Du Unmensch!«
»Danke, dass du mich gerettet hast, Yuri«, murmelte Yuriko. »Du bist ein Held, Yuri. Hättest du nicht all das Arkanum gezogen, wäre ich jetzt ein menschliches Grillhähnchen.«
»Danke, dass du – was auch immer getan hast«, sagte Galina. »Was ist eigentlich passiert?«
»Die Katze hat sich schlagartig entladen. Das habe ich nicht kommen sehen – ich dachte, das Arkanum versickert einfach. Wie bei jeder normalen Katze. Und das Arkanum, was rauskam, war anders als das, was ich eingefüllt habe. Irgendwie … wütend.«
»Arkanum hat keine Gefühle.«
»Ich weiß. Ich kann’s nicht anders beschreiben.«
Yuriko rappelte sich auf und kam schwankend zum Stehen. Er fühlte sich, als wäre eine Horde Wollschweine über ihn hinweggetrampelt.
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, umrundete Galina die Bank, auf der wohl geraume Zeit niemand mehr sitzen würde.
»Wir werden jedenfalls nicht versuchen, Arkadis´ Siegel zu lösen«, sagte Yuriko. »Wenn schon das bisschen Arkanum in der Katze eine solche Entladung verursacht, kann man vermutlich mit Arkadis ganz Letis in die Luft jagen. Wo ist sie eigentlich?«
»Ich habe ihn in der Bibliothek zurückgelassen«, sagte Galina. »Als ich hörte, du würdest jemanden suchen, der dir eine Katze rasiert. Ich denke, er wird irgendwann im Laufe des Abends unter deine Treppe zurückkehren. Er hat für ein paar Studenten Abschriften angefertigt und dafür ein paar Eiserne bekommen, aber um bei dir auszuziehen, wird es wohl nicht reichen.«
»Für mich ist sie immer noch ein Weib. Nur damit du’s weißt.«
»So verzweifelt, dass du in hübschen jungen Männern Frauen siehst? Oder einfach nur altersblind?«
»Weder das eine noch das andere. Hast du etwas zu essen zu Hause? Ich bin kurz vor dem Hungertod.«
Galina klopfte ihm höchst unbotmäßig auf den Bauch. »Das glaube ich nicht, Meister. Aber von mir aus. Weil du mich so heldenhaft vor der Entladung gerettet hast.«
»Mein Heldenmut ist erst vergolten, wenn du mir nach dem Essen noch ein Bad richtest.«
»Wenn man dir den kleinen Finger gibt.«
»Wie groß ist dein Zuber? Baden mit Gesellschaft würde meinem Heldenmut angemessen schmeicheln.«
»Nicht mal, wenn du mich vor einer Herde Drachen gerettet hättest.«
Yuriko seufzte. Was für eine Verschwendung zweier wunderbarer Vorzüge, aber mit nichts anderem hatte er gerechnet. Er wandte sich gerade zum Gehen, als Galina ihn beim Ärmel nahm.
»Wer beseitigt die Sauerei?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er großzügig. »Ich höre, die haben hier eine sehr fähige Hausmeisterin.«
***
Am gleichen Abend kauerte er in seinen besten Kleidern und frisch rasiert auf einem Vordach. Dachziegel knirschten unter seinen Stiefelsohlen. Eine Nachtigall sang im Flieder. Er sah hinunter auf das schmale Büchlein in seinen Händen. Allein die Geste verlieh dem langweiligen Danilo das Recht, ihn zum Zweikampf zu fordern. Was er sich natürlich niemals trauen würde, der blasse Schreiberling.
Yuriko ließ den Kopf nach hinten gegen die Fassade sinken. Er schielte auf seine Schulter, aber Padda war viel zu interessiert an den Nachtfaltern, die vor dem erleuchteten Fenster schwirrten, um der Seelenpein seines menschlichen Gefährten Beachtung zu schenken. Yuriko fand, die Kröten hatten das gut geregelt. Sie hüpften einmal im Jahr in ihren angestammten Teich, klammerten sich an das erstbeste Weibchen, hatten ihren Spaß und vergaßen einander wieder. Sie saßen nicht am späten Abend auf Vordächern und starben schier vor Angst.
Er fuhr die Hand aus, zog sie wieder ein. Lauschte der Nachtigall. Versuchte, sich zu entscheiden – klopfen oder nicht, aber jedenfalls musste er runter von diesem Dach, seine Knie gaben gerade den Geist auf.
Er versuchte, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Atmete in seine Mitte, stellte sich Sonnenstrahlen auf glitzerndem Wasser vor, raschelndes Schilf, glatte, sattgrüne Seerosenblätter. Wurde langsam ruhiger.
Fiel fast vom Dach vor Schreck, als plötzlich neben ihm das Fenster aufging.
»Jetzt komm schon rein, ehe die Nachbarn dich sehen.«
Ihre Stimme. Er räusperte an seiner herum, fand keine Worte, gehorchte stumm. Kletterte durch das Fenster in ihre Stube, kam ungeschickt auf die Füße. Merkte selbst, dass er sie anstarrte wie der alte Trottel, der er war, aber sie war so schön, seine Erinnerung war ihr nicht gerecht geworden, er hatte den zarten Schwung ihrer Lippen vergessen und den warmen Schimmer in ihren Augen. Sie trug das Haar unbedeckt und zu einem lockeren Zopf geflochten, und seine Fingerspitzen kribbelten, weil er so dringend die welligen Strähnen berühren wollte, die sich um ihre Ohren ringelten.
Sie stand, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte ihn wie er sie.
»Du weißt also immer noch nicht, wie man eine Tür benutzt«, sagte sie.
Er nickte. Sie machte einen Schritt an ihm vorbei und schloss das Fenster. Er fing einen Hauch ihres Duftes auf und ertrank in einer Flut von Erinnerungen.
»Fünf Jahre«, sagte sie. »Du hättest dich wenigstens verabschieden können. Oder von unterwegs mal schreiben.«
»Hab ich«, krächzte er. »Nur nie abgeschickt.«
»So. Und wo warst du?«
»Überall dort, wohin die wilden Schicksalswinde mich geblasen haben.«
Er war froh, dass seine Stimme ihm wieder gehorchte, auch wenn seine Worte ihr nicht mehr als ein spöttisches Lächeln entlockten. Er hielt ihr das Buch hin. Sie nahm es entgegen, blätterte hinein, ihr Lächeln verlor den Spott.
»Was ist das?«, fragte sie erstaunt.
»Poesie aus dem Land hinter den Mandelbäumen.«
»Du warst wirklich weit weg.«
»Und in Gedanken immer bei dir.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Meistens. Sehr, sehr oft. Häufiger, als meinem Seelenheil zuträglich war.«
Ihre Fingerspitzen strichen über das feine weiße Papier, die spinnenhaften fremden Schriftzeichen auf der linken Buchseite, seine eigene regelmäßige Schrift auf der rechten.
»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.«
»Wäre es das denn gewesen? Ein Verlust?«
»Ach, Yuri.«
Er klemmte die Daumen in den Gürtel. Er war so kurz davor, ihr Gesicht zu umfassen, sich zu ihr hinunter zu beugen, sie einzuhüllen und zu umschlingen und zu küssen, diese weichen Wangen, die zarten Lippen, die winzigen Fältchen rund um ihre strahlenden Augen. Seine Hände in ihrem Haar zu vergraben. Er tat nichts davon. Er hielt Abstand, mehr als eine Armlänge.
»Wie waren deine Jahre, Florine? Wie geht es Danilo und den Kindern?«
Sie drückte das Büchlein an sich, sah an ihm vorbei.
»Elspe hat sich letztes Jahr bekannt. Zu einem sehr netten jungen Mann. Ein Kräutermischer mit eigenem Laden in der Altstadt.«
»Tatsächlich«, sagte Yuriko erstaunt. »Wie schnell die erwachsen werden. Und? Bist du schon Großmutter?«
»Noch nicht. Aber bald, nehme ich an. Tiril ist Küchenmeister in der Blauen Traube, seit drei Jahren. Er hat sich schnell hochgearbeitet. Wo er doch immer so träge war.«
»Essen müssen die Leute immer«, sagte Yuriko. Etwas stimmte nicht mit Florine. Sie wirkte traurig.
»Und du?«, fragte er behutsam. »Was ist mit dir?«
»Was soll sein?« Ihre Stimme zitterte kaum merklich. »Ich lebe das Leben, das mir bestimmt ist. So gut ich kann.« Sie stockte. »Danilo hat mich verlassen«, sagte sie dann. »Letztes Jahr. Er hat eine Jüngere, drüben in Castra.«
Die Kunde sank in ihn, gemächlich, entfaltete Wirkung, riss ihm Bilder vor das innere Auge.
»Ich bringe ihn um«, sagte Yuriko. »Ich verkohle ihn, wo er steht, und aus seiner Asche presse ich einen Diamanten und schenke ihn dir.«
»Das ist lieb«, sagte Florine und lächelte schwach. »Und sehr merkwürdig. Aber nein. Es würde nichts ändern – ich wäre danach immer noch die Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde.«
Er schwieg. In seinem Inneren erhob sich ein Jubelgesang, und er liebte sie genug, um sich dafür zu schämen.
»Er war sehr rücksichtsvoll«, sagte Florine mit schmaler Stimme. »Ich durfte das Haus behalten. Ich habe überlegt, wegzugehen, aber wohin, ohne Mann? Und die Kinder brauchen mich hier. Und Galina. Verliert ihre Eltern, verliert ihren Lehrmeister, das arme Mädchen, sie sollte nicht auch noch ihre Tante verlieren.«
Yuriko beschloss, den Vorwurf zu überhören, er konnte sich nicht um alles gleichzeitig kümmern.
»Aber warum? Der kleine, blasse Wurm! Warum hat er dir das angetan?«
»In den Papieren steht, ich sei meinen ehelichen Pflichten nicht nachgekommen. Ich sei widerborstig gewesen und ihm nicht zu Willen. Aber ich glaube, ich habe ihm einfach nur nicht den Gefallen getan, für immer jung zu bleiben.«
»Was für ein dummer, hohler, ahnungsloser, grausamer, gemeiner Mensch. Und ich dachte immer, dass er so ein Langweiler war, sei das Schlimmste an ihm.«
»Sprich nicht so über ihn. Ich habe ihm fast dreißig Jahre meines Lebens gewidmet. Das soll nicht völlig umsonst gewesen sein.«
»Ich habe dir damals schon gesagt …«
Sie sah ihn scharf an.
Sein Mund schnappte zu.
»Du warst gerade fünf Jahre wie vom Erdboden verschluckt, Yuri. Du bist mir nicht gerade ein leuchtendes Vorbild männlicher Zuverlässigkeit.«
Er starrte auf seine staubigen Stiefelspitzen. Erschauerte, als er ihre leichte Hand auf der Schulter spürte.
»Es war meine Entscheidung, ihn zu wählen«, sagte sie. »Ich hätte mit dir durchbrennen können. Du hast es mir oft genug angeboten. Und wir wissen nicht, was passiert wäre, wenn wir’s getan hätten. Aber ich habe entschieden und muss nun mit den Konsequenzen leben.«
»Ich bin noch immer frei, falls du diesen Punkt überdenken möchtest.«
Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Na ja. Doch. Mutmaßlich. Also, es gibt diese junge Schönheit im Land hinter den Mandelbäumen, zu der ich mich vielleicht versehentlich bekannt habe, aber das ist so weit weg und …«
»Yuriko Mandorak Frost!«
»Ich verstand die Landessprache nicht! Sie hielten ein feierliches Ritual, und dann war ich plötzlich allein mit ihr und dann hat sie sich ausgezogen und, na, egal, jedenfalls bin ich sicher, dass, was auch immer es war, nach zentallinischem Recht nicht als Ehe gilt!«
»Ist das deine Vorstellung davon, wie man sich einer Frau zu nähern hat? Du steigst zum Fenster ein und überfällst sie mit unsittlichen Anträgen?«
»Zum unsittlichen Teil wäre ich erst noch gekommen.«
Sie warf die Hände in die Luft. »Du hast dich wirklich überhaupt nicht verändert.«
»Ich kann«, sagte er und hörte selbst die verzweifelte Hoffnung in seiner Stimme. »Flori, ich kann genau der Mann sein, den du dir wünschst.«
»Yuri. Ach, Yuri.«
»Sag das nicht immer, ich bitte dich.«
Sie wandte sich ab. Das Büchlein hielt sie gegen die Brust gedrückt. Das Kerzenlicht ließ feine silbrige Strähnen in ihrem rotbraunen Haar glitzern wie Raureif auf Herbstlaub. Keine Zwanzigjährige konnte so schön sein.
»Ich gebe zu, ich bin mit der Tür ins Haus gefallen«, sagte Yuriko. »Mit dem Fenster, aber egal. Ich dachte, ich sehe dich kurz, wechsele zwei Worte mit dir, tu dann so, als hätte ich Angst vor deinem Ehemann, und lasse mich rausschmeißen. Ich hatte ja keine Ahnung.
Und – du weißt, ich rede nach dem Herzen, wenn ich so überrascht bin. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht überfallen.«
»Es braucht dir nicht leidzutun«, sagte sie mit der Andeutung eines Lächelns. »Das war mehr menschliche Wärme, als ich in den letzten fünf Jahren erfahren habe.«
»Geh mit mir aus«, bat er. »Nicht hier, wo sich alle das Maul zerreißen. Wir fahren rüber nach Ferrandina. Niemand kennt uns dort. Essen, Musik, ein bisschen Tanzen, nur du und ich. Wie damals, als wir jung waren.«
»Und dann?«
»Dann sehen wir weiter.«
»Waren wir jemals jung, Yuri? Ich fühle mich, als wäre ich schon alt auf die Welt gekommen.«
Seine Arme waren so schmerzhaft leer ohne sie. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich unmerklich zurück, und er ließ die Hand wieder sinken.
»Du musst jetzt gehen«, sagte sie.
»Ja«, sagte er. »Gut. Also, nicht gut, aber … ja.«
Sie öffnete ihm das Fenster, und er setzte sich aufs Fensterbrett und schwang die Beine nach draußen.
»Pass auf, dass die Nachbarn dich nicht sehen«, sagte sie.
»Du hast im Übrigen nicht nein gesagt. Heißt das, du gehst mit mir aus?«
Sie schob ihn vom Fensterbrett. Ihre Berührung lief ihm als heißer Schauer den ganzen Rücken hinunter. Dachziegel wackelten, als er sein Gewicht drauf brachte. Er hielt sich am Fensterkreuz und warf einen Blick über die Schulter. Sie lächelte.
»Ich überleg’s mir.«