Читать книгу Schneeflöckchen, Mordsglöckchen - Susanne Rüster - Страница 7
Aus Auspuffhöhe fällt ein kobaltblaues Winterlicht herab
Оглавление»Gut, dass ich Sie sehe!«
Frau Lautermüller steht kauend vor ihrer weit geöffneten Wohnung. Sie kaut immer, wenn Rita sie sieht. Kein Wunder, dass sie fast so breit ist wie die Türöffnung.
Der Terrazzoboden unter ihren Pantoletten ist noch feucht, und der Gestank von Meister Propper Bergfrühling strömt ins muffig klamme Treppenhaus. Auf halber Treppe aufwärts steht eine Bodenvase mit Ilex und Tanne. Daran hängen Sterne aus plissierter Goldfolie, wie auch am Türkranz von Frau Lautermüller.
»Tach«, sagt Rita, in jeder Hand eine Einkaufstüte, eine von Aldi, eine von Kaisers. Beide knittrig und blass aber noch brauchbar.
»Warten Sie, ich hab was für Sie!«, ruft Frau Lautermüller und verschwindet mit wogender Hüfte in ihrer Wohnung.
Blitzschnell stellt Rita die Tüten ab, fingert nach ihrem Schlüssel, schließt ihre Wohnungstür auf, will sie aufstoßen, um schnell zu entkommen, doch im selben Moment merkt sie, dass dies ein großer Fehler ist, einer, den sie sich nicht verzeihen wird, einer der Kardinalfehler ihres Lebens. Genau genommen, der zweite.
Schon ist Frau Lautermüller wieder da, einen Kranz mit Sternen aus plissierter Goldfolie in der Hand und diese Hand bereits auf der idealen Höhe, auf der Türkränze anzubringen sind, nämlich auf Augenhöhe. Den Schreck in den Knochen, baut Rita sich auf, holt Luft und bietet Frau Lautermüller frontal die aufgeblähte Brust. Vom Tempo und von der Bedeutung der Situation überrumpelt, ist sie außerstande, mit ihrer freien Hand den Türknauf hinter ihrem Rücken zu packen und ihre Wohnungstür wieder zuzuziehen. Ihre Finger zittern. Dass Frau Lautermüller ungefähr doppelt so viel wiegt wie sie, schätzt Rita. Es könnte passieren, dass diese Maschine von Frau sie gleich nach links abdrängt, und dann wäre es aus. Die Maschine wäre drin in Ritas Wohnung. Seit Ritas Einzug hier will sie das. Fünf Jahre ist es her. Oder Sechs? An Frau Lautermüllers ausgestrecktem Arm, vor Ritas Nase, baumelt das Ding. Die Sterne aus plissierter Goldfolie zittern im steifen Wind des in Zeit und Raum verirrten Bergfrühlings.
»Ist der nicht hübsch? Ich schenke so gern, wissen Sie!«
Rita geht ein wenig in die Knie, um Frau Lautermüllers Atem auszuweichen. Sie scheint mit Bergfrühling auch zu gurgeln. So wie er die Gerüche der Koch- und der Verdauungsvorgänge in ihrer Wohnung tilgt, so vielleicht auch die der Essens- und Gärungsprozesse in ihrer Mundhöhle. Ich esse so gern, wissen Sie, es schmeckt mir einfach zu gut, sagt Frau Lautermüller immer, wenn Rita ihr auf den kauenden Mund schaut, ohne ihr auf den kauenden Mund schauen zu wollen.
Sechs Jahre wohnt Rita schon hier. Doch, es sind sechs. Aus der alten Wohnung musste sie raus. Eine dumme Geschichte, eine saudumme. Billiger und größer war die alte Wohnung in Neukölln. Aber sie musste weg von da. Nach dieser Geschichte. Das sagte ihr ein Gefühl damals, und auf solche Gefühle hört sie.
Charlottenburg war weit weg. Und schick. Schlossnähe! Trotzdem gerade noch bezahlbar, weil Kaiser-Friedrich-Straße, Tiefparterre, Fenster in Auspuffhöhe.
Wenn sie nach Hause kommt, schleicht sie die Stufen hinunter, immer so leise es geht, damit Frau Lautermüller sie nicht hört. Meistens gelingt es. Doch manchmal, wenn sie aus Versehen mit dem Schlüsselbund klappert, dann geht die spiegelverkehrte Tür von gegenüber auf, und Frau Lautermüller plappert los, kommt näher und näher, und immer verhält Rita sich richtig. Goldrichtig. Sie unterbricht das Aufschließen, bleibt vor der Tür stehen, sagt Tach und schließlich, wenn Frau Lautermüllers Wortfluss verödet ist, schönen Tach noch. Dann fummelt sie so lange an ihrem Schloss, bis Frau Lautermüllers Tür zufällt. Und auch dann wartet Rita immer noch dreißig Sekunden, oder fünfzig, bis sie sicher ist, dass Frau Lautermüller nichts vergessen hat zu erwähnen und hinter ihrer Tür bleibt, freilich durch den Spion schauend, das ist Rita klar. Frau Lautermüller lauert auf jede Gelegenheit, einen Blick in Ritas Wohnung zu erhaschen. Deshalb steht in Ritas Flur in unmittelbarer Nähe der Wohnungstür nichts. Einfach nichts. Und es hängt auch kein Bild an der Wand. Rita öffnet ihre Wohnungstür nie mehr als 45 Grad. Das reicht vollkommen aus, um fix in die Wohnung zu huschen – schließlich ist Rita schlanker, wenn auch nicht jünger als Frau Lautermüller – und genau so fix die Tür zuzuwerfen, abzuschließen, zweifach plus Sicherheitsriegel. Der 45 Grad große tortenstückförmige Einblick in ihre Wohnung verrät nichts. Neutral weiß gestrichen, sauber, ordentlich. Die Wand regelmäßig nachgeweißelt, der Terrazzoboden immer geputzt, im Einblickwinkel. All die Jahre. Es sind acht, bald neun, ja, tatsächlich, bald neun. Wohin rinnt die Zeit? Und warum, bitteschön, in solch einem Tempo?
Frau Lautermüller schiebt sich vor.
»Wir wollen’s doch schön haben hier im Haus.«
Rita lässt sich nicht nach links abdrängen, kann aber nicht verhindern, dass sie unter Frau Lautermüllers Druck leicht nach rechts abdriftet, als die mit einem gezielten Griff den Türkranz mit den Sternen aus plissierter Goldfolie zur Probeansicht an Ritas Tür hält.
»Haben Sie mal eine Reißzwecke?« Frau Lauterbach zeigt lächelnd ihre Zähne und drängt weiter vorwärts. Schon muss Rita einen Schritt zurück weichen, tritt mit einem Fuß in ihren Flur, gibt der Tür mit ihrer Ferse einen Schub, und nun steht die mindestens 22 Grad offen. Panik steigt Rita vom Magen aus die Brust hoch bis in die Kehle. Hat sie sich fast neun Jahre lang verteidigt, um jetzt zu kapitulieren? Gestern noch war Rita stark, und heute schon ist ein ganzer Lebensabschnitt weg. Vorbei gerast auf Auspuffhöhe. Und sie ist schwach.
22 Grad, der spitze weiße Einblickwinkel.
Eine Reißzwecke.
»Nein«, sagt Rita.
Frau Lautermüller wird gewinnen. Sie wird nicht umkehren und diese Reißzwecke aus ihrer eigenen Wohnung holen. Würde sie das tun, so würde Rita sofort in ihrer Wohnung verschwinden. Mir ist schlecht. Mein Telefon klingelt. Ich habe Besuch von meiner kranken Mutter. Irgendein Blödsinn würde ihr einfallen, und sie würde Frau Lautermüller die Tür vor der Nase zuschlagen. Aber genau das weiß Frau Lautermüller, und deshalb drängt die weiter vorwärts mit ihrem korsettgepanzerten Busen gegen Ritas halterlosen.
»Eine kleine Reißzwecke, und schon ist’s auch bei Ihnen weihnachtlich!« Frau Lautermüllers Pantolettenspitze stößt gegen die Kaiserstüte. Glas scheppert. Rita stockt der Atem. Vorsichtig nimmt sie die blasse, knittrige Tüte wieder vom Boden auf und schaut hinein.
»Oh verzeihen Sie! Hab ich was kaputt gemacht?« Auch Frau Lautermüller will ihre Nase hinein stecken.
»Nein, nichts passiert!« Rita hält die Griffe der Tüte zusammen. Noch ist nichts passiert, aber Frau Lautermüllers Drängen ist ungebrochen. Rita weicht einen Schritt zurück, ihre Kräfte lassen nach, noch einmal stößt die Ferse die Tür an. 90 Grad weit klafft der Blickwinkel.
Rita sieht, wie sich Frau Lautermüllers Pupillen weiten, wie die Kameralinsen sich öffnen, um zu erfassen, was in Ritas Flur steht, liegt, lehnt, hängt, ist.
»Ach«, sagt Frau Lautermüller.
»Tja«, sagt Rita.
Seltsam ist der Beginn der Kapitulation. Wenn der Damm bricht, wenn das erste Becken geflutet wird, breitet Ruhe sich aus.
Rita hält ihre Tüten fest und rührt sich nicht. Lüstern züngelnd überschwemmen Frau Lautermüllers Blicke Ritas Wohnung. Vom Flur aus springt die Flut getrieben von raschen Wimpernschlägen, leckt über die Zeitungsstapel, die mannshoch wie betrunken im Rahmen der Wohnzimmertür lehnen. Schnittmusterzeitungen ab 1961, Zeitschriften, aus denen noch die Strickanleitungen, Kochrezepte, Bastelideen und die Gesundheitstipps ausgeschnitten werden müssen. Weiter schwappt die Flut über den Nähmaschinentisch, auf dem die Bananenkisten stehen, in denen Rita ihre Sammlung Papprollen von Küchen- und Klopapier aufbewahrt. An voll beladenen Kleiderständern, die den Blick ins Wohnzimmer versperren, bricht sich die Flut.
»Lauter Müll!«, entfährt es Frau Lautermüller. Sie hat aufgehört zu kauen. Ihre Nase ist gerümpft, ihre Mundwinkel abwärts verzogen. Ihr Blick schweift, versucht den Flur entlang weiter ins Innere der Wohnung zu kriechen, vorsichtig durch die Lücke zwischen einem Turm Umzugskartons und einer Glasvitrine voller bunter Gläser, Vasen und Schalen. Durch die geschlossene Tür am Ende des Flurs versucht er sich zu bohren.
Müll! Keine Ahnung hat die Maschine. Vorsichtig stellt Rita ihre Tüten neben der Vitrine ab. Die Seitenwand hat einen Sprung von unten links bis oben rechts, verklebt mit braunem Band.
Mit den gespitzten Wurstfingern ihrer linken Hand nimmt Frau Lautermüller eine der nackten Klopapierrollen auf.
»Also, ich helfe gern. Wollen wir das nicht gleich mal in die blaue Tonne bringen?« An ihrer Rechten hängt irgendwie zusammenhanglos der Kranz mit den Sternen aus plissierter Goldfolie. Über die Papprollen hat sie ihn wohl vergessen. Und die Reißzwecke auch.
Seit letztem Sommer – oder war es vorletzer? – hebt Rita jede Rolle auf. Auch von öffentlichen Toiletten, wenn sie gut erhalten sind. Die lange Nacht der Museen hatte ihr die geniale Idee beschert. Im Schloss waren die Menschenmassen herumgelaufen, guckten sich alles an, aber das wirklich Interessante sahen sie nicht. Natürlich nicht. Phantasie, Vorstellungsvermögen, Sinn fürs Kreative, für die Kunst! Ist nicht jedem gegeben.
Die Prismen der Kristalllüster funkelten. Das sahen sie. Was sie nicht sahen, das waren die Aufhängungen. Und darauf kommt es an. Sie begriffen nicht, dass ihre lächerlichen Kronleuchterimitationen zu Hause niemals eine Wirkung wie die Lüster im Schloss Charlottenburg erzielen können, egal wie viele Prismen sie haben, und egal wie teuer sie sind, weil sie nämlich an geschmacklosen Messingketten baumeln. Die Aufhängungen der Schloss-Lüster aber sind kaschiert mit Brokatstoffen, mit Seidenkordeln, mit Quasten, farblich abgestimmt auf die Tapeten, die Fauteuils, die Recamieren, die Teppiche. Das ist der Kniff, der Perfektion ausmacht! Einen der uniformierten Aufpasser hatte Rita einfach gefragt, und er hatte geplaudert und sie durch die Säle geführt.
Seit Jahren hatte sie kein so anregendes Gespräch mehr geführt.
Die Stangen, an denen die Lüster hängen, stecken in Papprollen, und die werden mit Schaumstoff, Krepppapier und Klebeband umwickelt, bevor die letzte, die schöne Hülle darum drapiert wird. Oben, dort wo die Aufhängung den Plafond touchiert, hat die Rolle einen größeren Durchmesser, öffnet sich trichterförmig. Um diesen Trichter, der die gewaltigen Deckenhaken und die Trauben von Lüsterklemmen kaschiert, wird Seidenkordel gewickelt. Was für ein Gespräch! Weiter abwärts führt ein Schlauch aus Brokatstoff. Gerafft, gebauscht, gefaltet oder spiralförmig gedreht. Spiralförmig gedreht, das ist Können! Als gelernte Schneiderin, zumindest sechs Monate lang gelernte – oder waren es nur fünf? – durchschaute Rita die Sache schnell.
Am unteren Ende schließlich, dort, wo sich die Arme des Leuchters spreizen, wo wiederum voluminöser Kabelsalat versteckt werden muss, da lässt eine üppige Quaste ihre tausend bronzefarbenen, goldenen oder jadegrünen Fäden über die hier umgekehrt trichterförmig geweitete Papprolle rieseln. Ein perfekter Übergang von Aufhängung zu Lampe.
Rita wird ein paar Prototypen herstellen, einen in Cremefarben, einen in Bleu und vielleicht einen in Altrosé oder Silbergrau. Ab Hundertfünfzig Euro – Obergrenze offen – wird sie ihre maßgeschneiderten Lüsteraufhängungen verkaufen, je nach Größe und Ausführung. Und zwar auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloss.
In drei Jahren wird sie reich sein. Vielleicht in fünf. Reich mit Einundsechzig. O.K. Ein Wohnzimmer mit richtig aufgehängtem Kristalllüster wird sie bewohnen. Die Glasvitrine wird eine neue Scheibe haben, und darin aufbewahrt werden nur noch makellose Gläser, Vasen und Schalen aus Bleikristall und Muranoglas. Keine angeschlagenen.
Abends, wenn die bunten Lichter des Schlosses angehen, betreibt Rita Weihnachtsmarktforschung. Sie träumt, sie frohlockt. Ihr Produkt ist einzigartig. Ein neues Produkt aus dem Nichts. Von Null auf Hundert! Weil sie das Geheimnis der Papprollen kennt! Nächstes Jahr im Advent wird sie es lancieren. Das ist der Plan. Die Standgebühr wird teuer, aber sie wird sie bezahlen können, wenn sie bis dahin fleißig Klamotten verkauft. Kleider aus den 50er, 60er und 70er Jahren, vier Ständer voll stehen in ihrem Wohnzimmer bereit. Mit Hilfe der Schnittmuster der Jahrgänge 1961 bis 1969 wird sie exquisite Stücke daraus schneidern auf ihrer Singernähmaschine. Oder auf der Pfaff. Eine wird es tun.
»Wissen Sie, ich helfe gern!« Siegessicher steht Frau Lautermüller mit ihren Pantoletten mitten im gefluteten Becken. »Und die alten Zeitungen nehmen wir auch gleich mit. Wenn man erst mal anfängt, geht es ganz fix, das Aufräumen! Sie werden sehen, es kann richtig Spaß machen!« Frau Lautermüllers Gesichtszüge haben sich aufgehellt.
Dieses Zeug aus Ritas Jugendzeit verkauft sich phantastisch über Ebay. Wenn sie den Computer auf hundert – oder tausend? – Megabite aufrüstet, dürfte es kein Problem mehr sein, das Internet des Nachbarhauses anzuzapfen. Ersatzteile aus insgesamt sechs oder sieben PCs liegen im Schlafzimmer bereit.
»Wirklich! Richtig Spaß!« Frau Lautermüller stößt mit ihrem Bauch an die Bananenkisten, mit ihrem Hintern an die Zeitungsstapel. Jetzt bemerkt sie den Kranz mit den Sternen aus plissierter Goldfolie in ihrer Hand. Sie dreht sich einmal um sich selbst, findet keine Ablagefläche. Die Sache mit der Reißzwecke hat sie wohl aufgegeben. Sie hängt den Kranz an die Türklinke. Von innen. Dann schließt sie Ritas Wohnungstür. Von innen. Klack.
In Neukölln kannte Rita mal eine, die sich ihre Freundin nannte. Auch die hatte ihr angeboten, mit anzupacken beim Aufräumen. Lange Gespräche hatte diese Freundin mit ihr geführt. Termine bei einer Therapeutin wollte sie ihr sogar verschaffen. Die Freundschaft zerbrach.
Frau Lautermüller greift nach den Zeitungen.
»Halt!«
Der Kampf entbrennt. Rita packt zu. Frau Lautermüller taumelt, fängt sich, gibt Rita einen kräftigen Schubs, die rudert mit den Armen, tritt rückwärts, stößt gegen die Kaiserstüte, heraus purzelt ein kobaltblauer Römerkelch und zerschellt.
Heute Morgen, wie jeden Morgen seit dem ersten Advent, hat Rita in den Müllcontainern des Weihnachtsmarktes einiges Brauchbares gefunden. Und dann der Höhepunkt: Ein vollkommen intakter kobaltblauer Bleikristallrömer. Ein Omen. Sie wird reich sein.
Ein helles Klingen. Ein schmerzvolles Klirren. Zerbrochen ist das Omen. Der Kelch, der Stiel, der Fuß, alles kullert über den Terrazzoboden unter Niveau der Kaiser-Friedrich-Straße. Unterhalb Aufpuffhöhe. Rita überlegt, mit welcher der Scherben sie sich die Pulsadern aufschneiden könnte.
»Oh, das tut mir leid!« Frau Lautermüller nutzt den Moment der Schwäche. »Handfeger? Schaufel? In der Küche?«
Das sind keine Fragen, das ist der Schlachtruf, mit dem sie die Tür zur Küche aufstößt und so mit ihrem Blick das nächste Becken flutet. Stapel von schmutzigem und sauberem Geschirr, Töpfen und Pfannen, Packungen Fertigklöße und Kartoffelpüree, Brillenetuis, Schuhe, Haarbürsten, aufgetürmte Blumentöpfe, hingeworfene Putzlumpen, Polycolor-Tuben und Computerteile. Ja, sie muss diese Computerteile zu den anderen Computerteilen ins Schlafzimmer räumen. Und sie muss die Ruhe bewahren. Nichts Wichtigeres gibt es jetzt zu tun. Kardinalfehler sind nur mit Ruhe zu korrigieren. Wenn überhaupt.
»Ist nicht schlimm, Frau Lautermüller«, betet sie vor sich hin. »Ist nicht schlimm. Scherben bringen Glück. Schaufel und Besen? Ja, natürlich.« Sie schlüpft durch die Küchentür, vorbei an Frau Lautermüller, die starr steht vor dieser Offenbarung. Flink schiebt Rita dies und das beiseite, öffnet einen von drei Backöfen und fischt Handfeger und Schaufel heraus. Im Flur geht sie auf die Knie und fegt die Scherben zusammen. Fegt und fegt, fast blind vom feuchten Schleier vor ihren Augen.
»Sie brauchen Hilfe«, sagt Frau Lautermüller und bringt den letzten Damm zum brechen. Rita entfährt ein tiefes Schluchzen. Tränen tropfen auf die Schaufel mit den Scherben.
»Ja. Ich brauche Hilfe. Ja! Ja! Ja!«
Ihr schmaler Rücken zuckt in kurzen Stößen.
»Kommen Sie.« Frau Lautermüller packt sie vorsichtig bei den Schultern, nichts Drängendes ist mehr da. Über die Schaufel mit den Scherben gebeugt, lässt Rita sich in ihr Schlafzimmer führen und auf ihr Bett setzen, pfeifend auf alle Flutwellen. Frau Lautermüller greift nach der Schaufel mit den Scherben. Rita dreht sich weg, legt die Schaufel aufs Kopfkissen, den Stiel festhaltend, bettet ihren Kopf daneben und bleibt mit angezogenen Knien liegen.
»Machen Sie ruhig einen kleinen Mittagschlaf.« Frau Lautermüller deckt sie zu.
Rita hebt noch einmal matt den Kopf. »Wollen Sie mir wirklich helfen?«
»Aber ja! Gern! Am besten, wir fangen in der Küche an. Gleich nachher.«
Rita schüttelt den Kopf. »Morgen, Frau Lautermüller, morgen.«
»Also gut, aber früh. Da ist man noch frisch. Da geht einem alles leichter von der Hand.« Frau Lautermüller tätschelt Ritas mahagonirotes Haar, das am Ansatz den gleichen Grauton wie ihres hat. Drei Monate hat Rita nicht nachgefärbt. Oder sind es vier?
Unter halb geschlossen Lidern, durch die Scherben hindurch schaut Rita zum Fenster. Aus Auspuffhöhe fällt ein kobaltblaues Winterlicht zu ihr herunter.
Sie hört, wie Frau Lautermüller ihre Wohnungstür, die sie vor ein paar Minuten – dreizehn oder fünfzehn – von innen geschlossen hat, wieder öffnet und von außen schließt. Leise.
Bald darauf hört Rita ein zartes, ein beinahe liebevolles Hämmern. Es ist das Einhämmern von Reißzwecken, an denen Weihnachtskränze an Türen aufgehängt werden.
Es ist schon fast dunkel, als Rita bei Frau Lautermüller klingelt. Das einzige Mal seit ihrem Einzug vor fast neun Jahren.
Kauend öffnet Frau Lautermüller. Lächelnd schaut Rita auf den kauenden Mund mit den tiefen Mundwinkelfurchen und überreicht Frau Lautermüller eine Buttercremetorte mit Blaubeerfüllung.
»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!« Frau Lautermüller verschlingt die Torte mit ihrem Blick, in dem dieses ungebrochene Flutlicht leuchtet.
»Doch, absolut nötig. Ohne Sie hätte ich aufgegeben. Das ist mein Dankeschön.«
Frau Lautermüller wischt sich eine Träne aus dem speckigen Augenwinkel.
»Auch für den schönen Weihnachtskranz.« Rita wendet sich zum Gehen, dann dreht sie sich noch einmal um. »Morgen früh?« Sie zwinkert Frau Lautermüller zu.
»Ich bringe den General Bergfrühling mit! Sie werden sehen, wir drei schaffen das.« Frau Lautermüller zwinkert zurück.
Der General. Rita hätte schwören können, dass es Meister Propper ist.
Wir schaffen das. Das hatte die Freundin damals auch gesagt, und dann zerbrach die Freundschaft. Genau gesagt, der Schädel der Freundin, als ein Schlag ihn traf.
Zurück in ihrer Wohnung wäscht Rita die Backform ab und die Schüsseln mit den fetten Buttercremeresten. Den Rest Schmutzgeschirr rührt sie nicht an. Nur den Steinmörser nimmt sie sich noch vor. Vorsichtig spült sie ihn aus, sorgfältig, lässt viele Liter Wasser darüber laufen, bis keine Spur mehr übrig ist vom fein gemahlenen Staub von kobaltblauem Bleikristallglas.