Читать книгу Schneeflöckchen, Mordsglöckchen - Susanne Rüster - Страница 9
Leckermäulchen
ОглавлениеEine Krähe kreist über dem Platz, krächzt rau in den bleigrauen Himmel, äugt nach abfallenden Leckerbissen. Zu früh noch: der Markt öffnet eben erst. Es ist Mittag, und die winterlichen Wolken türmen sich schwer über dem Schloss; in ein paar Stunden schon wird es wieder dunkel sein.
Kapuste wickelt den heiligen Josef aus: echtes Schnitzwerk aus dem Erzgebirge, feines Kunstgewerbe, nicht das billige Zeug aus Fernost. Und während er eine weitere Figur, das Jesuskind dieses Mal, aus der Ummantelung aus altem Zeitungspapier befreit, entfaltet sich Wort für Wort die grausige Nachricht vom Dezember vergangenen Jahres:
KLEINE LEONIE: GESCHÄNDET UND ERWÜRGT!
Nebenan schließt Stechow seine Süßigkeitenbude auf. Kapuste wedelt mit der Zeitung: »Morjn … haben die das Schwein damals eigentlich gefasst?«
»Nix mehr von gehört«, knurrt Stechow und fängt an, die Gläser mit den Bonbons auf dem Verkaufstresen aufzureihen.
»Eigentlich unfassbar … mitten im Park, am Nachmittag. Man denkt, da müssten die Leute doch was mitkriegen.«
Stechow poliert ein Glas mit roten Himbeerdrops. Er blickt mit zusammengekniffenen Augen hinüber zum grau verhangenen Schlossgarten.
»Denkst du? Auf jeden Fall können wir ein bisschen aufpassen. Wär’ schlimm, wenn noch mal was passiert …«
»Ich bin die Königin, und ich wohne im Schloss, und …«
»Tust du nicht!«
»Wohl!«
»Nicht!«
»Wirst ja sehen …«
»Luise, Sophie … warum streitet ihr schon wieder?«
Luise holt tief Luft. »Sophie sagt, sie ist die Königin, und dass sie im Schloss wohnt …«
Alma lächelt nachsichtig. »Sophie, du bist also die Königin? Okay. – Luise? Erinnerst du dich, wie du letzte Woche Räuberhauptfrau warst? Siehst du, deshalb darf Sophie heute auch Königin sein …«
Alma arbeitet gerne bei den Leckermäulern. Die Kinder kommen aus gut situierten Familien. Luise, Sophie, Ruben und Co.: allesamt pflegeleichter als Melanie, Vanessa, Mohammed und die anderen in der Moabiter Kita, wo Alma ihre Anstellung sehr bald gekündigt hatte.
Heute allerdings sind die Leckermäuler völlig überdreht – und Alma hat Kopfschmerzen. Wie so oft fühlt sie alle Verantwortung auf sich lasten. Karin hat ihre Tage, die ist gerade zu gar nichts zu gebrauchen, und Jens, der Zivi – gut, er bemüht sich, aber er ist oft unaufmerksam. Letzten Freitag zum Beispiel, auf dem Weg zum Spielplatz, da hat er übersehen, dass Linus und Ruben nicht zur Gruppe aufgeschlossen hatten …
Johanna zupft sie am Ärmel. »Alma, treffen wir den Weihnachtsmann?«
»Mal sehen, ich denke schon … Dreierreihe und Fertigmachen zum Abmarsch! Bruno, du hast ja noch immer nicht deine Jacke an? Karin, würdest du mal …«
»Der Weihnachtsmann kommt zu mir in mein Schloss!« kräht Sophie.
Luise tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, und Jens kann gerade noch verhindern, dass Sophie ihren rosa Lillifee-Rucksack nach Luise schleudert.
Alma zählt die Gruppe durch, tastet nach den Aspirintabletten in ihrer Manteltasche.
Kapuste und Stechow beobachten, wie sich der Schlossvorplatz allmählich mit Besuchern füllt. Die ersten Rostbratwürste werden gewendet, ein Sack Maronen wird auf auf einem heißen Ofenblech ausgeschüttet, der Weihnachtsmann zupft prüfend an seinem weißen Polyesterbart.
Kapuste streckt den Kopf zwischen seinen Krippenfiguren hervor. »Wie viele von denen sind dieses Jahr eigentlich unterwegs?«
»Voriges Jahr waren es zwei, glaub ich. Wechselschicht«, sagt Stechow.
Kapuste wirft dem rot kostümierten jungen Mann einem kritischen Blick zu. »Den da hab’ ich hier noch nie gesehen!«
Stechow hört nicht mehr hin, er hat einen Kunden zu bedienen – eine kleine Hand mit einem Fünfzig-Cent-Stück streckt sich über den Tresen nach oben. »Einmal von den blauen …«
Stechow beugt sich zu dem Knirps nach vorne. »Gibt’s nur tütenweise, junger Mann«, sagt er.
»Für einen halben Euro, bitte … «
Stechow bemüht sich freundlich zu bleiben. »Ab hundert Gramm zu dreifuffzig.«
»Und die gelben mit den blauen Streifen?«
»Auch dreifuffzig. Genau wie die Himbeer, die Pfefferminz, die Anis … Weißt du, was? Frag deine Mutti, und dann komm wieder!« Es ist immer das gleiche. Und wenn man nicht aufpasst wie ein Luchs, machen manche sogar lange Finger …
Die weiteren Verkaufsverhandlungen gehen in Geschrei unter, eine Kitagruppe hat die Budenstraße gestürmt. Stechow reibt sich die klammen Hände: Natürlich, als erstes entdecken die Kleinen den Weihnachtsmann, aber später werden ihnen die bunten Bonbons ins Auge stechen. Potentielle Kundschaft.
»Ich will zur Engelsmühle!«
»Wo sind die Rentiere?«
»Trinkst du auch Kinderpunsch, Alma?«
Almas Kopf dröhnt. Angesichts der Überflutung buntweihnachtlicher Reize brüllen die Kids aufgeregt durcheinander, sind kaum unter Kontrolle zu halten. Und jetzt fängt auch noch die Blechbläsergruppe mit ihrem scheppernden Platzkonzert an. Ihr Kiiinderlein, kooommet …
Alma wirft einen Blick auf die Uhr des blau illuminierten Schlossturms: kurz nach halb vier. In einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Herr Hardenberg, der Vater von Sophie, will seine Tochter um vier abholen; freundlicherweise hat er angeboten, auch einige andere aus der Gruppe nach Hause zu fahren. Vielleicht können Karin und Jens die übrigen Kinder alleine zurückbringen, und Alma kann früher Schluss machen. Die Kopfschmerzen sind kaum auszuhalten, hoffentlich ist da keine Grippe im Anzug …
Beim Elterncafé haben sich mehrere Mütter gegen den Besuch des Weihnachtsmarkts ausgesprochen, sich aber nicht durchsetzen können – zu Almas Bedauern. Übereinstimmung hat allerdings darüber geherrscht, dass der Ausflug vor Einbruch der Dunkelheit beendet sein müsse. Natürlich ist es von niemand ausgesprochen worden, doch Alma ist sicher, alle haben an den entsetzlichen Vorfall vom letzten Jahr gedacht. Wie war der Name der armen Kleinen? Leonie?
Almas wachsamer Blick schweift über die Gruppe: Johanna, Linus, Sophie, Bruno …
»Der Weihnachtsmann!«, schreit Luise, und schon hängt sie am Rockzipfel des Rotgewandeten.
Jetzt gibt es auch für den Rest der Gruppe kein Halten mehr.
»Weihnachtsmann! Weihnachtsmann! Kommst du mit mir auf mein Schloss?« – Sophie natürlich.
Der junge Mann verteilt Süßigkeiten aus einem Jutesack. Er streicht Luise über die dunklen Locken. Karin und Jens lächeln, doch Almas Argusaugen beobachten die Situation kritisch. Muss der Weihnachtsmann die Kinder unbedingt anfassen? Sie klatscht in die Hände und ruft: »Wer hat Lust auf Bio-Bratwurst?«
»Ist das ein Rentier?«
»Das ist ein Esel. Der gehört neben den Ochsen in den Stall«, erklärt Kapuste geduldig und stellt die Schnitzfigur vorsichtig zurück an ihren Platz.
»Ich weiß«, erwidert Luise selbstbewusst. »Zusammen mit den heiligen drei Königen.«
»Na ja, die kommen erst etwas später dazu …«
Stechow lauscht gerührt der Unterhaltung zwischen seinem Budennachbarn und der Kleinen mit den schwarzen Locken. In dem Alter sind sie noch für die Weihnachtsgeschichte zu begeistern, später zählen nur noch die Geschenke. Er greift in das Glas mit Honigdrops und reicht dem Mädchen lächelnd eine Handvoll hinüber – von denen hat er etliche Kilo, außerdem gehen die dieses Jahr sowieso nicht so gut. »Du bist doch nicht etwa ganz alleine hier, oder?«
»Alle Leckermäuler sind hier«, antwortet Luise und stopft sich mehrere Bonbons auf einmal in den Mund. »Außer Ruben – der hat die Krippe!«
»Du meinst die Grippe!« berichtigt Stechow.
»Und wo sind die anderen Leckermäuler?«, fragt Kapuste. »Sicher vermissen sie dich schon … «
»Die essen Wurst. Ich nicht. Ich bin Vegetarierin!«
In diesem Augenblick taucht Jens auf. »Luise, kommst du? Wir warten alle auf dich …«
Linus hustet heftig. Alma klopft ihm auf den Rücken. Linus beginnt zu keuchen, japst nach Luft – und Alma entdeckt den angebissenen Lebkuchen zwischen seinen Fingern. »Linus! Um Himmels willen, woher hast du das? Du weißt doch, dass Nüsse für dich … Karin! Hast du Linus’ Medikamente dabei?«
Karin kramt in ihrem Rucksack nach dem Antihistamin. Zum Glück ist Alma abgelenkt und hat nichts von Luises kurzzeitigem Verschwinden mitbekommen, denkt sie.
Linus’ Anfall ist abgeklungen. Die Kleinen haben ihre Bratwürste verdrückt, und Alma drängt zum Weitergehen. Sie beginnt durchzuzählen: Luise, Johanna, Linus, Bruno … Wo ist Sophie? Zum Kuckuck, da passt man eine Sekunde nicht auf …
»Sophie? Sophiiie!«
Drei Erzieheraugenpaare schweifen suchend über den Platz.
Almas Stimme überschlägt sich: »Wo habt ihr sie zuletzt gesehen?«
»Keine Panik jetzt«, versucht Jens Alma zu beruhigen. »Sie kann nicht weit sein …«
»Ich erinnere mich, dass sie unbedingt noch mal zum Weihnachtsmann wollte«, sagt Karin vorsichtig.
Almas Kopf wirbelt herum. »Zum Weihnachtsmann? Wo ist der verdammte Weihnachtsmann jetzt?«
Der Markt ist inzwischen voll von Menschen, in dem Gedränge keine Spur von Sophie oder dem Weihnachtsmann.
Almas Handy schrillt. »Ja, hallo?«
Hardenberg. Ausgerechnet jetzt. »Alma? Kann es sein, dass Sophie im Park herumläuft … zusammen mit so einem Nikolaus-Typen?«
Scheiße. Wie wird sie das nur erklären? »Jens, kommst du bitte mit mir? Karin, ich verlasse mich darauf, dass du dich mit den Kindern keinen Millimeter von der Stelle bewegst, okay?«
Sie schieben sich zwischen den Menschen durch Richtung Schlossgarten, Alma presst das Handy ans Ohr. »Herr Hardenberg, wo haben Sie sie gesehen? Ich meine, wo sind Sophie und der Weihnachtsmann in den Park rein?«
»Bei der Orangerie – ich kann sie jetzt nirgendwo mehr sehen … «
Alma und Jens biegen ab zur Orangerie; sie können Hardenberg jetzt schon am Eingang stehen sehen. Der Schlossgarten liegt ausgestorben in der Dämmerung. Gleich wird es dunkel sein …
Alma denkt: Weiter hinten, am Teich, haben sie das Mädchen letztes Jahr gefunden, am frühen Abend. Sie war noch nicht lange tot. In den Zeitungen stand, dass sie gerade mal eine Stunde vermisst wurde.
»Alma, was ist hier los? Irgendwas stimmt da doch nicht!«, poltert Hardenberg. »Und wo sind die anderen?«
»Wir haben Sophie kurz aus den Augen verloren«, versucht Jens zu erklären.
»Sie haben was? Wollen sie sagen, es war überhaupt nicht abgestimmt, dass Sophie mit diesem Nikolaus …?«
»Herr Hardenberg, bitte, wir …« Alma ist schweißgebadet.
Hardenberg sprintet los, hinein in die Parkanlage – Alma und Jens hinterher. Der hart gefrorene Weg schlängelt sich zwischen abgedeckten Rabatten zum Teich hin.
Nach etwa zweihundert Metern stolpert Hardenberg über einen Gegenstand. Er hebt ihn auf, starrt entsetzt.
Ein rosa Lillifee-Rucksack.
Bitte, lass es nicht zu spät sein, fleht Alma innerlich.
Sie hasten weiter zum Teich. Im Halbdunkel, beim Mausoleum, entdecken sie sie endlich.
Sophie zerrt an der Hand des Weihnachtsmannes, offenbar versucht sie sich loszureißen …
»Sophie!« kreischt Alma.
»Lass sofort das Kind los, du Schwein!« Hardenberg prescht nach vorne.
Der Weihnachtsmann taumelt ein paar Meter zurück – und rennt los.
Alma schließt die verwirrte Sophie in die Arme. »Hat er dir was getan?«
Sophie entwindet sich Almas Umklammerung. »Weihnachtsmann!«, ruft sie, »bleib hier, du hast doch noch gar nicht mein Schloss gesehen!«
Aber der Weihnachtsmann hat Reißaus genommen, zurück zum Markt. Womöglich hofft er, im Getümmel untertauchen zu können, Hardenberg und Jens jedoch sind ihm dicht auf den Fersen.
Am Stand mit den gerösteten Maronen lehnt sich der Weihnachtsmann schwer atmend gegen die Holzbalustrade. Da packen ihn Hardenbergs Hände am roten Kapuzenkragen. Der Weihnachtsmann versucht sich zu befreien, zerrt in die eine Richtung, Hardenberg in die andere. Die Kragennaht reißt, und der Weihnachtsmann stürzt vornüber – mit dem Gesicht auf das Blech mit den brutzelnden Maronen. Der Gestank verschmorten Polyesters und verbrannter Haut mischt sich mit vorweihnachtlichen Düften.
Um den Maronenstand hat sich eine Traube von Schaulustigen gebildet.
Kapuste hat bereits die Sanitäter alarmiert.
Die Maronenverkäuferin streichelt dem am Boden hockenden jungen Mann im Weihnachtsmannkostüm mitfühlend die Hand. Er wimmert vor Schmerzen.
Hardenberg ist kreidebleich. Er telefoniert, eingekeilt zwischen zwei Männern vom Wachschutz, mit seinem Rechtsanwalt.
Jens kaut betreten an den Fingernägeln.
»Sophie, bist du ganz sicher, dass der Weihnachtsmann dich nicht irgendwo angefasst hat, wo du es nicht möchtest?«, fragt Alma zum wiederholten Mal.
Sophie stampft mit dem Fuß auf den Boden auf. »Ich wollte dem Weihnachtsmann mein Königinschloss zeigen, aber er hat gesagt, er muss mich zurückbringen. Und jetzt sind seine Augen ganz verbrannt, und er kann mein Schloss gar nicht mehr sehen!«
Alma zerrt Sophie schnell weg vom Maronenstand, hinüber zur Wurstbude, wo Karin mit den anderen Kindern wartet.
»Warum hat Sophies Papa den Weihnachtsmann gehauen?«, fragt Linus vorwurfsvoll.
Alma stöhnt und reibt sich die Schläfen. Sie befürchtet, sie wird heute noch später als sonst nach Hause kommen.
Ein Weihnachtsbaum nach dem anderen erlischt. Fast alle Verkaufsstände und Zelte sind verrammelt, Kapuste hat seinen Krippenfigurenladen bereits vor einer Stunde dichtgemacht.
An den Mülleimern tobt der allabendliche Krieg zwischen Krähen und den Möwen vom nahen Kanal um übrig gebliebene Leckerbissen.
Stechow schließt seine Bude ab. Ein Wachmann patrouilliert vorbei, Stechow nickt ihm freundlich zu.
Die Temperatur ist unter null gesunken, es wird eine eiskalte Nacht werden.
Trotzdem schwitzt Stechow.
Die hübschen schwarzen Löckchen … er kriegt sie gar nicht mehr aus dem Kopf. Je länger er an die Kleine denkt, desto heißer wird ihm.
Luischen Leckermäulchen … wie werden wir es uns schmecken lassen!
Er schlendert zum Auto – gemächlich – aber sein Herz pocht wild vor Aufregung. Morgen ist seine Frau für das Geschäft zuständig. Er wird genügend Zeit haben, den Kinderladen unter die Lupe zu nehmen. Er muss die Umgebung auskundschaften, passende Gelegenheiten eruieren …
Dieses Jahr hat es nicht wieder im Schlossgarten passieren dürfen, das ist Stechow rechtzeitig klar geworden; der Zwischenfall mit dem Weihnachtsmann hat ihn bestärkt, besonders vorsichtig zu sein. Obwohl er sich heute nur schwer hatte zurückhalten können …