Читать книгу Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an - Susanne Rüster - Страница 7

Blutperlen

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Für Marie

Theodor Berger sprang aus der Straßenbahn und hastete, den Hut tief ins Gesicht gezogen, über den Potsdamer Platz. Das Gewusel von Fuhrwerken, Autobussen und Menschen machte es ihm schwer, voranzukommen. Mehr als einmal lief er Gefahr, auf dem eisigen Untergrund auszurutschen und lang hinzuschlagen.

„Verfluchtes Weihnachten!“ Er drängte sich zwischen einigen Kindern hindurch, die mit großen Augen und offenen Mündern vor einem ausladenden Schaufenster standen. „Als wäre die Stadt nicht schon überfüllt genug!“

Der Himmel gab weiche, pudrige Schneeflocken frei und hüllte das weihnachtlich funkelnde Berlin des Jahres 1923 in helle Kristalle.

Theodor Berger konnte Weihnachten nicht leiden. Es war jedes Jahr dasselbe: Kaum hatte er seinen Weihnachtsurlaub vor der Polizeidirektion durchgeboxt und den ganzen unleidlichen Papierkram erledigt, um dem Dienst für einige erholsame Tage den Rücken zu kehren, fand man garantiert irgendwo in seinem Berliner Gebiet eine Leiche. Berger verzog die Mundwinkel. Wenn es nicht so traurig wäre, dann hätte ihn die Tatsache, dass es ihm dieses Jahr wieder so ergangen war, zum Lachen gereizt. Doch momentan war ihm absolut nicht zum Lachen zumute. Er vergrub die Hände in den Taschen seines dunklen Mantels und schlug den Weg zum Tiergarten ein. Eisig pfiff der Dezemberwind um die Häuserecken und schien in den letzten Tagen des Jahres noch einmal mit aller Gewalt seine Macht demonstrieren zu wollen.

Der Tiergarten aber lag wie mit Puderzucker überzogen da, eine stille Oase im hektischen Trubel der Stadt. Am See schließlich erreichte Berger den abgesperrten Tatort. Seine Kollegen, Doktor Hegmanns und Lichtenberg, waren bereits da. Hinter ihnen untersuchte Obmüller, der zuständige Arzt, einen halb abgedeckten Körper. Theodor Berger sah zwei lange Frauenbeine in zerrissenen Seidenstrümpfen unter einem weißen Laken hervorschauen. Seine Miene verfinsterte sich. Triebtäter verbreiteten sich zu einer wahren Plage. Er wandte sich an die Kollegen.

„Also, was gibt’s?“

„Theo, wirklich, tut mir leid, dass wir dich rufen mussten, schon wieder, ich meine, wo du doch Urlaub hast.“ Lichtenbergs Gesicht wirkte noch zerknirschter und faltiger, als es ohnehin immer schon war, und Doktor Hegmanns zuckte zur Begleitung nur hilflos mit den kantigen Schultern.

„Was gibt es?“ Ihm stand der Sinn nicht nach langen Plaudereien. Die ganze unrühmliche Angelegenheit gehörte schnellstens vom eisigen Tiergarten ins warme Büro verlegt.

Doktor Hegmanns zückte seinen Notizblock.

„Die Leiche ist eine junge Frau. Keine Papiere, dafür haben wir eine Theaterkarte bei ihr gefunden. Todeszeitpunkt wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden.“

Berger runzelte die Stirn. Keine Papiere. Wunderbar. Ohne ein weiteres Wort trat er an die Leiche heran. Obmüller blickte von seiner Untersuchung auf.

„Theodor, schön dich zu sehen. Wird doch langsam zu einer netten Tradition, wir alle hier, an Weihnachten.“

„Ja, zauberhaft“, entgegnete Berger, ohne die Miene zu verziehen. „Ich finde es auch wundervoll, deine glockenklare Engelsstimme zu hören.“ Er musterte die Leiche. „Todesursache?“

Obmüller zog das Laken zurück und Berger konnte einen Blick auf das Opfer werfen. Den Hals der jungen Frau zierten dunkle Hämatome.

Obmüller deutete auf die Perlenkette, die neben der Frau im Schnee lag.

„Sie wurde erwürgt, wahrscheinlich mit ihrer eigenen Kette. Man muss zugeben, exzellent verarbeitet, jede schlechtere wäre wohl bei derart viel Zug gerissen.“

„Sie wird sich wohl kaum zu der Qualitätsware gratulieren, schätze ich“, murmelte Berger und hockte sich neben die Leiche. Die junge Frau war höchstens 20 Jahre alt. Irritierend hob sich das Tiefrot der geschminkten Lippen gegen das kalkweiße Gesicht ab. Die dunkel verschatteten Augen blickten ins Leere. Das schwarze Seidenkleid war, wie die Strümpfe, zerrissen. Es musste einen heftigen Kampf gegeben haben. Berger spürte ein Zucken in seinem Kopf wie ein Blitz. Er wandte sich ab und atmete tief durch. Seit einiger Zeit verkraftete er es nicht mehr gut, an Tatorten zu sein. Immer öfter wurde er die Bilder im Kopf nicht mehr los. Bilder von erwürgten, erdolchten, geschändeten Frauenkörpern, die wie Puppen dalagen und erst nachts in seinen Träumen wieder zum Leben erwachten. Dann hallten ihre Schreie durch das Dunkel und jeder Schatten wurde zu einem kichernden, sich davon stehlenden Täter, dem niemand Herr werden konnte.

Wie aus weiter Ferne hörte er die Worte seines Kollegen Karl Lichtenberg. „Genau das Gleiche wie im letzten Jahr und im Jahr davor. Immer an Weihnachten, immer junge Frauen, immer erdrosselt mit der eigenen Perlenkette. Wenn das die Presse erfährt, geht es rund!“

Theodor Berger spürte eine heftige Übelkeit in sich aufsteigen und klammerte sich haltsuchend an einen Baumstamm.

„Berger?“ Obmüller packte den Kommissar am Arm. „Alles in Ordnung?“

Berger fuhr sich über die kaltschweißige Stirn, schluckte einige Male und nickte dann. „Ja, es ist nichts. Ich muss mir den Magen verdorben haben. Christstollen, Weihnachtspunsch, du kennst das sicher. Einfach zu viel.“

Obmüller nickte schweigend, doch seine Miene zeigte deutlich, dass er seinem Kollegen kein Wort glaubte.

„Bringt mir doch bitte den Bericht später ins Büro.“ Leicht taumelnd, aber unter den kritischen Blicken der Kollegen, mit immer fester werdenden Schritten, machte Berger sich auf den Weg zurück zur U-Bahnstation Potsdamer Platz. Er musste ins Präsidium. Es wartete jede Menge Arbeit auf ihn.

*

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Martas ansonsten wohlklingende Stimme wurde so schrill, dass Berger sich beeilte, den Telefonhörer ein Stück von seinem Ohr wegzuhalten.

„Schatz, es tut mir leid, was soll ich tun, ich …“

„Es ist Weihnachten!“

„Ich weiß.“

„Das dritte Weihnachten in Folge, an dem du arbeitest!“

„Ja, ich weiß.“

„Dann weißt du ja vielleicht auch, wie ich das den Kindern erklären soll? Sie haben sich auf den Abend gefreut. Der Baum ist geschmückt, die Gans im Ofen, und jetzt rufst du an und sagst einfach so, dass es heute wieder nicht geht?“

Theodor Berger zuckte hilflos mit den Achseln und seufzte. „Ich weiß.“

Einen Moment lang war nur das Atmen am anderen Ende der Leitung zu hören. Dann ein Klacken und die Leitung war unterbrochen.

„Marta?“ Noch während Berger den Namen seiner Frau aussprach, wusste er, dass es vergeblich war. „Marta? Marta bitte!“ Sie hatte aufgelegt.

Wie in Zeitlupe ließ Kommissar Berger den Telefonhörer auf die Gabel zurücksinken. Na wunderbar. Es gab eine unbekannte Leiche ohne Papiere, einen Triebtäter, der jedes Jahr wieder an Weihnachten zuschlug und ihnen so das Leben zur Hölle machte - und nun obendrein noch einen Familienkrieg. Berger wusste, dass Marta sich so schnell nicht wieder beruhigen würde.

„Kauf ihr doch ’ne hübsche Perlenkette“, sagte Lichtenberg, als dieser etwas später den Bericht vorbeibrachte und von dem häuslichen Dilemma erfuhr. Berger zog eine Augenbraue hoch. „Sehr witzig, Lichtenberg, wirklich.“

Lichtenberg zuckte ungerührt mit den Schultern und widmete sich dann der Auswertung des Berichtes.

„Tatsächlich, alles wie im letzten Jahr. Unbekannte junge Frau, gut gekleidet, offensichtlich nicht unvermögend, erdrosselt nach einem Theaterbesuch.“

Berger runzelte die Stirn, lehnte sich im Stuhl zurück und überkreuzte die Arme. „Die letzte Ermordete war zuvor auch im Theater? Sind Sie sicher?“

Lichtenberg zog einige Bilder und ausführliche Berichte aus einem braunen Papierumschlag. „Ganz sicher. Hier ist der Fall vom letzten Jahr und hier“, er schob einen weiteren Umschlag zu Berger hinüber, „der von Weihnachten 1921. Wenn man sich die Fotografien ansieht, könnte man wirklich meinen, es handele sich immer um die gleiche Frau. Und alle waren vor dem Mord im Theater.“ Lichtenberg schüttelte den Kopf. „Verrückt, vollkommen verrückt.“

Berger betrachtete die Bilder der drei jungen Frauen, die sich tatsächlich stark ähnelten. Dunkler Bubikopf, gepflegtes Äußeres, teure Kleidung, Perlenkette. Perlenkette … Bergers Blick wanderte zu den immer gleichen Hämatomen am Hals der Frauen. Dann schob er mit einer raschen Bewegung die Fotos von sich weg und griff stattdessen nach dem Theaterticket. „War schon jemand im Theater und hat gefragt, ob die Frau dort gesehen wurde?“

Lichtenberg schüttelte bedächtig den Kopf. „Nein Chef. Wir könnten jetzt sofort jemanden losschicken. Aber vielleicht möchten Sie das in diesem Jahr gern selbst übernehmen?“

Theodor Berger runzelte missmutig die Stirn. „Wieso sollte ich das tun wollen? Kann das nicht einer von euch machen? Ging doch in den letzten Jahren auch. Ich bin nicht wild darauf, bei der Kälte draußen herumzustiefeln.“

Lichtenberg kreuzte die Arme vor der Brust. „Na ja, es ist das Wintergartentheater. Bei der Gelegenheit könnten Sie doch vielleicht Karten für die Silvestervorstellung besorgen und Ihre Frau überraschen? Ich denke, das dürfte sie gnädig stimmen. Die Vorstellung soll grandios sein.“

Über Bergers Gesicht glitt ein ungläubiges Staunen, dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. „Lichtenberg, Sie sind mit Gold nicht aufzuwiegen! Warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Das wird den Haussegen retten, ganz sicher.“ Er raffte Hut und Mantel zusammen, nickte seinem breit grinsenden Kollegen noch einmal zu und eilte aus dem Büro.

Schon als Berger das Wintergarten-Varieté betrat, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Mehrmals drehte er sich um, weil er sich beobachtet fühlte. Doch da war niemand. Das Foyer lag leer und ruhig im Halbdunkel. Es irritierte ihn, wie gut er trotz der schlechten Beleuchtung seinen Weg fand, denn er war noch nie hier gewesen. Seit Jahren lag Marta ihm in den Ohren, dass sie gern mit ihm zusammen in eine Vorstellung gehen wollte, doch Theater waren nichts für Berger. Bisher hatte er sich erfolgreich gedrückt. Doch nun, angesichts der bedrängenden Sachlage, würde er wohl um die Silvestervorstellung tatsächlich nicht mehr herumkommen.

Zielstrebig durchschritt er die Halle und fand problemlos das kleine Kartenhäuschen, in dem eine gelangweilte junge Frau sich die Fingernägel feilte.

„Kann ick Ihnen helfen?“ Sie sah Berger nicht einmal an.

„Ja, wertes Fräulein, das können Sie tatsächlich! Ich brauche Karten für die Silvestervorstellung. Zwei, bitte.“

Das Mädchen sah auf und ein erfreutes Lächeln huschte über ihr blasses Gesicht. „Herr Mantey! Wie schön, Sie so bald schon bei uns wiederzusehen! Immer noch geschäftlich in der Stadt, ja?“

Theodor Berger zuckte zusammen. „Wie bitte?“

Das Lächeln des Mädchens wurde breiter. „Sie müssen sich nicht genieren. Ich verrate niemandem, dass Sie lieber im Revuetheater sind, anstatt über Geschäftsverträgen zu brüten.“ Sie lachte leise.

Berger beschloss, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Vielleicht war das Mädchen einfach verrückt, oder es hatte ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter. Es gab viele Möglichkeiten. Er schluckte das ungute Gefühl, dass das Mädchen ihn tatsächlich nicht zum ersten Mal sah, hinunter.

„Sie haben Glück, es sind noch wunderbare Logenplätze zu haben“, sagte das Mädchen eifrig, „von dort haben Sie einen hervorragenden Blick.“

Berger warf einen Blick auf die aushängende Preisliste und runzelte die Stirn. „Und sonst? Gibt es auch noch Plätze, die etwas weniger extravagant sind?“

„Bedaure, leider nein.“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern und musterte Berger irritiert. „Sie nehmen doch immer die Logenplätze?“

Berger stöhnte innerlich auf und beschloss, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Er zückte den Ausweis und gab sich als Kommissar der Berliner Polizei zu erkennen.

„Verzeihen Sie bitte, es muss sich hier um eine Verwechslung handeln. Mein Name ist nicht Mantey. Ich war noch nie in diesem Theater. Aber ich möchte nun mit meiner Frau gemeinsam in die Vorstellung zum Jahreswechsel. Gibt es wirklich keine günstigeren Plätze mehr?“

Durch das Mädchen an der Kasse ging ein Ruck. Ihr Blick glitt zwischen dem Ausweis, den Berger ihr hinhielt, und dem Gesicht des Kommissars hin und her. Sie schien sichtlich irritiert zu sein.

„Nein, Herr Mantey, ich meine Herr … Sie sind spät dran, die Vorstellung für Silvester ist so gut wie ausverkauft.“

Berger zückte seufzend das Portemonnaie. „Gut, dann zwei Karten. Loge. Bitte.“

Er zählte das Geld ab und reichte es der jungen Frau durch den Spalt in der Glasscheibe hindurch. Sie schob ihm zwei Theaterkarten zu. „Ich bin sicher, Ihre Begleitung wird sich sehr über die Einladung freuen und Ihre Mühe zu schätzen wissen.“

„Das will ich hoffen.“ Während Berger die Theaterkarten sorgfältig in seiner Mantelinnentasche verstaute, blitzte für einen Moment Martas Gesicht vor ihm auf. Wenn sie ihm nur wieder gut war. Er hasste es, sich mit ihr zu streiten.

Dann fiel ihm ein, dass er ja noch aus einem anderen Grund hier war. Er kramte in seinem Mantel nach dem Foto der Ermordeten aus dem Tiergarten und hielt es an die Glasscheibe. „Noch etwas bitte: Kennen Sie diese Frau?“

Mit einem leisen Aufschrei führte das Mädchen die Hand zum Mund. Sie taumelte zwei Schritte zurück und ihr Gesicht verlor das letzte bisschen Farbe. Sie starrte das Foto an, dann Berger, der wartend vor der Kabine stand, und dann wieder das Foto. Urplötzlich kam etwas Hektisches in ihre Züge.

„Also, was jetzt, kennen Sie die Frau?“, hakte Berger nach.

Die Kartenverkäuferin rang nach Worten und schüttelte dann heftig den Kopf. „Ich muss jetzt schließen!“

Ohne Bergers Erwiderung abzuwarten, ließ sie rasselnd die Rollläden herab. Dumpfes Türenschlagen erklang, dann war es still.

„Hallo? Fräulein?“ Berger klopfte vorsichtig an die Scheibe, doch alles blieb ruhig. Das Mädchen schien durch die Tür ins Theaterinnere verschwunden zu sein.

„Merkwürdig“, brummte Berger und stopfte das Foto in seine Manteltasche zurück. „Lässt mich einfach hier stehen.“ Er blickte sich nochmals im Foyer um, doch es lag wie zuvor verlassen im Halbdunkel. Kein Ansprechpartner weit und breit. Berger zuckte die Schultern und beschloss, gegen Abend wiederzukommen. Vielleicht würde er dann jemanden antreffen, der etwas weniger verrückt war als diese Kartenverkäuferin.

Berger verließ das Theater und blieb unschlüssig auf der Straße stehen. Wenn er ehrlich war, verspürte er wenig Lust, ins Präsidium zurückzukehren. Aber was blieb ihm übrig? Und vielleicht hatten Hegmanns oder Lichtenberg inzwischen irgendetwas herausgefunden. Er zündete sich eine Zigarette an, um noch ein wenig Zeit zu überbrücken, bevor es wieder an die Arbeit ging. Und plötzlich war da wieder dieses merkwürdige Gefühl im Nacken. Er fühlte sich beobachtet. Berger wirbelte herum und erhaschte einen Blick auf eines der Fenster des Wintergartenvarietés. Der Vorhang wurde in Windeseile zugezogen, doch Berger schien es, als hätte er die schemenhaften Gesichter einiger junger Frauen hinter der Scheibe gesehen. Verdutzt stand er einen Moment wie angewurzelt. Berger wusste, er war aus den besten Jahren heraus. Es passierte nicht ständig, dass junge Frauen ihm aus Fenstern hinterher spionierten.

Der Kommissar schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Unvermittelt setzte Schneefall ein und schon nach kurzer Zeit war sein Mantel über und über mit weißen Flocken bedeckt. Vor einer Litfasssäule blieb er stehen und wischte sich leise fluchend den Schnee vom Ärmel. Das Schneegestöber war so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah. „Verfluchtes Weihnachten!“

Mitten in der Bewegung erstarrte Berger. Sein Blick heftete sich an ein Plakat, das direkt vor ihm an der Säule hing. Es zeigte die junge Frau, die man am Morgen ermordet im Tiergarten gefunden hatte. Auf dem Plakat stand sie als Tänzerin auf einer Revuebühne und lächelte strahlend. Wie in Trance las Berger den Text: „Melissa Alvers, der Star am Revuehimmel. Jetzt im Wintergarten!“

Irgendetwas in Bergers Hirn überschlug sich. Blitzhaft tauchten Bilder vor ihm auf, die junge Frau, ihr Lachen, er neben ihr, die weite Berliner Winternacht im Tiergarten …

Berger keuchte und suchte Halt an einem Mauervorsprung. Er fühlte etwas Hartes zwischen den Fingern und gewahrte eine Perlenkette in seiner Hand. Ungläubig schloss er die Augen. „Das kann doch nicht …“

Stunden schienen vergangen zu sein, als ein heftiges Zupfen ihn in die Realität auf der Straße zurückbrachte. Inzwischen war es vollkommen dunkel. Ein kleiner Junge mit triefender Rotznase stand vor ihm und zerrte unermüdlich an Bergers Mantel.

„He du, alles in Ordnung?“ Die klaren blauen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Neugier, Besorgnis und Angst an.

Berger brauchte einen Augenblick, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Er blickte auf seine Hand. Die Perlenkette war fort. Er schüttelte den Jungen ab und wandte sich um. „Alles in Ordnung.“

Auf dem Weg zurück ins Präsidium schienen die Straßen immer länger zu werden. Und am Ende jeder Straße wartete wieder nur eine neue Straße. Berger stolperte von Kreuzung zu Kreuzung, während das Schneegestöber dichter wurde. Passanten starrten ihn an. Starke Übelkeit stieg in Berger auf und er rang nach Luft. Auf unerklärlichem Weg erreichte er das Brandenburger Tor, das wie ein drohender Wächter die Straße überschattete. Taumelnd blieb der Kommissar stehen. Die Welt drehte sich. Jemand riss ihm den Hut vom Kopf. Berger blickte auf. Es war die Kartenverkäuferin. Sie und die Tänzerinnen aus dem ‚Wintergarten-Varieté‘ umkreisten ihn. Theodor Bergers Herz raste. Die Augen der umstehenden Frauen wurden riesengroß, Blicke durchbohrten ihn. Eine der Tänzerinnen hob den Arm und deutete mit dem Zeigefinder auf ihn. Berger erkannte entsetzt die Tote aus dem Tiergarten. Ihr Blick war leer und kalt.

Berger wirbelte herum und ergriff die Flucht. In seinem Kopf hallten Stimmen, Musik und Schreie wild durcheinander. Wie aus dem Nichts baute sich Obmüller im weißen Kittel vor ihm auf und packte ihn am Mantel. „Wir werden deinen Kopf aufbohren müssen“, sagte er finster, warf dann den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.

Theodor Berger versuchte verzweifelt sich loszureißen, er strampelte, sein Herz raste, doch vergeblich, er fiel und fiel.

„Theo? Theo! Wach auf!“

Mit einem heftigen Ruck schreckte Berger aus dem Schlaf auf. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Das Laken seines Bettes war schweißnass. Vor dem Fenster hatte sich die Dämmerung über die Stadt gesenkt und noch immer fielen unentwegt dicke, weiße Flocken aus dem Himmel über Berlin. Berger fasste sich an die Stirn, nur langsam kam Klarheit in seine Gedanken. Es war Weihnachten. Und er, Berger, war zu Hause.

Im Türrahmen lehnte Marta. Ihre Miene war finster. „Telefon für dich!“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand wieder in der Küche. Der Duft nach Festtagsgans und Bratäpfeln wehte Berger in die Nase. Telefon. Telefon?

Hastig schlug er die Decke zurück, schwang sich aus dem Bett und schlüpfte in Hose und Hemd. Dann eilte er zum Telefon. „Ja bitte?“

„Obmüller hier“, quäkte die Stimme des Polizeiarztes aus dem Lautsprecher. Für einen winzigen Moment war Berger versucht, den Hörer einfach auf die Gabel fallen zu lassen und so zu tun, als hätte es diesen Anruf nie gegeben. Seine Finger krallten sich um das gedrehte Kabel.

„Was gibt’s?“ Bergers Stimme klang so matt und resigniert, dass Obmüller am anderen Ende der Leitung laut auflachte.

„Wir wollten dir eigentlich nur mitteilen, dass Weihnachten ist. Und wir haben in diesem Jahr doch tatsächlich weit und breit keine Leiche. Du kannst also deinen wohlverdienten Urlaub genießen.“ Im Hintergrund erklang das unterdrückte Gekicher der Kollegen, die an diesem Heiligabend in der Wache Dienst hatten. Berger schloss kurz die Augen und atmete durch. Dann schob sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Ein Sauhaufen seid ihr, verstanden! Schöne Weihnachten!“

„Ein schönes Fest, Herr Kommissar“, gluckste Obmüller und legte auf.

Sacht ließ auch Berger den Hörer auf die Gabel zurück sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er ließ seinen Blick aus dem Fenster wandern. Die hellen Schneeflocken tanzten im Licht der Gaslaternen und hoben sich deutlich gegen das Blauschwarz des städtischen Himmels ab. In der Küche ertönte heftiges Geschirrklappern und holte Berger aus seinen Gedanken. Er stieß sich von der Wand ab und ging den Flur hinunter zur Küche. Sacht knarrte der Dielenboden unter seinen nackten Füßen. Marta sah auf, als er die Küchentür öffnete. Ihr Blick war eine Mischung aus Skepsis, Vorahnung und unterdrücktem Zorn.

„Und, was wollte dein Kollege? Ist wieder etwas passiert?“

Berger vernahm das leise Zittern in ihrer Stimme und lehnte sich locker gegen den Türrahmen.

„Er wollte nur sagen, das alles in Ordnung ist. Es gab noch keinen Weihnachtsmord in diesem Jahr.“ Einen Moment lang war es vollkommen still. Bergers Blick glitt über Martas neue Frisur, einen kurzen, dunklen Bubikopf. Sie hatte sich schon für die Feier umgezogen. Das elegante Seidenkleid fiel locker um ihre Hüfte und der weite Ausschnitt betonte ihren schmalen, weißen Hals. Ein Blitz zuckte durch Bergers Kopf und er lächelte kalt. Wie in Zeitlupe griff er in seine Hosentasche und zog langsam eine lange Perlenkette hervor. „Frohe Weihnachten, mein Engel …“

Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an

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