Читать книгу Mazurka in St. Petersburg - Susanne Scheibler - Страница 4

1. Kapitel

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Ihr erstes Ballkleid war aus meergrüner Atlasseide, auf die am Saum ein breites Band von silbernen und rosa Stoffrosen genäht war. Auch die Schleppe und der Cul de Paris waren damit besetzt.

Als Akulina Iwanowna, ihre alte Kinderfrau, Swetlana so sah, wie sie langsam die Treppe des Lasarowschen Stadtpalais an der Mojka hinunterkam, brach sie in Tränen aus. Es waren Tränen der Rührung, die Akulina oft und gern vergaß.

»Heiliger Dimitrij!« rief sie und wischte sich über die Augen. »Wie schön du bist, mein Schwänchen! Und so erwachsen wirkst du mit dem aufgesteckten Haar! Dabei kommt es mir vor, als wäre es erst drei oder vier Winter her, daß ich dich auf meinen Armen getragen und hin und her geschaukelt habe.«

Swetlana Pawlowna drehte sich einmal vor ihr im Kreis. »Weißt du was, Akulina? Ich gefalle mir selbst. Und ich bin schrecklich aufgeregt. Was meinst du, wird der Zar ein paar Worte an mich richten, wenn ich ihm vorgestellt werde? Oder die Zarin? Vermutlich nicht, denn sie redet ja kaum mit Leuten, die ihr fremd sind, heißt es. Sie soll sehr hochnäsig sein. Aber vielleicht ist sie auch nur schüchtern wie Irina, die nie den Mund aufbekommt, wenn sie in Gesellschaft ist. Statt dessen macht sie ein Gesicht, als würde sie sich zu Tode langweilen, und das legt man ihr dann als Arroganz aus. Dabei ist Irinenka ...«

Sie brach ab, weil die Uhr auf dem Kaminsims schlug. »Acht schon? Himmel, und Mama und Xenia sind immer noch nicht fertig! Keinesfalls dürfen wir zu spät ins Winterpalais kommen. Punkt neun Uhr erscheint die Zarenfamilie ...«

»Nur keine Aufregung!« rief eine dunkle, etwas spröde Mädchenstimme von der Galerie, die sich oben rings um die große Halle zog. »Wir können gleich fahren!«

Xenia Pawlowna, die um ein Jahr jüngere Schwester der siebzehnjährigen Swetlana, erschien am Treppenpodest und lief die Stufen hinunter.

Im Gegensatz zu der blonden Swetlana war Xenia brünett, mit dunklen Augen und bräunlicher Haut. Als sich ihr Fuß in der Schleppe ihres rosefarbenen Atlaskleides verfing, riß sie den Stoff recht undamenhaft hoch.

»Ich werde mir noch die Beine brechen in diesem verdammten Kleid! Ich glaube, die heutige Mode ist eigens gemacht worden, um jemandem wie mir die Freude am Tanzen zu verderben!«

»Laß das bloß nicht Madame Dufour, die Schöpferin unserer eleganten Kreationen, hören«, neckte Swetlana sie. »Sie bringt es fertig und schneidet dir vor lauter Empörung die Schleppe ab.«

Hinter Xenia erschien ihre Mutter, von der Swetlana das blonde Haar und den zarten, hellen Teint geerbt hatte. Allerdings war die Gräfin Wera Karlowna ein eher bläßlicher Typ mit hellen graublauen Augen und einem ständig wehleidigen Gesichtsausdruck, der seinen Ursprung in einem tyrannischen Vater und einem ebensolchen Ehemann hatte.

Wera Karlowna war zuerst von ihrem Vater – der ihr nie verziehen hatte, daß sie als sein einziges Kind kein Sohn geworden war – und später von ihrem Gatten Pawel Konstantinowitsch ständig gegängelt und bevormundet worden, und da sie sehr wenig Durchsetzungsvermögen besaß, hatte sie sich nie dagegen aufgelehnt. Vielmehr gehörte sie zu den Menschen, denen die Stärke anderer, selbst wenn sie Unterdrückung mit sich brachte, ein gewisses Maß an Sicherheit verlieh und die sie darum willig ertrugen.

Swetlana war anders, heiter und warmherzig. Darum war auch ihre Schönheit viel lebendiger als die der Mutter.

Ihre Blondheit hatte etwas sehr Gesundes, Ursprüngliches, und ihre Augen, goldbraun mit kleinen dunklen Pünktchen in der Iris, verrieten viel von ihrer Vitalität und ihrer unbändigen Neugier auf alles, was das Dasein für sie bereithalten mochte.

Sie besaß den starken Willen ihres Vaters, gepaart mit einer ungewöhnlichen Sensibilität für das, was in anderen Menschen vor sich ging, und der Bereitschaft, jeden, der es ihrer Meinung nach verdiente, mit ihrer offenen, ungekünstelten Zuneigung zu beschenken.

Swetlana konnte weich, lieb und verständnisvoll sein, aber wehe, wenn jemand ihren Zorn erregte! Dann reagierte sie wie eine gereizte Katze, die kratzend und fauchend auf ihr Opfer losging.

Die ruhige, besonnene Xenia amüsierte sich oft darüber. ›Vorsicht, meine Schwester hat Dynamit geschluckt‹, meinte sie dann wohl lachend. ›Gleich sprengt es sie auseinander, und man weiß nicht, was dabei alles zu Bruch geht.‹

Xenia war längst nicht so hübsch wie Swetlana. Sie war noch ein wenig pummelig, und ihr Gesicht wirkte etwas unregelmäßig mit den weit auseinanderstehenden lebhaften Augen und der eine Spur zu groß geratenen Nase. Aber wer sich länger als zwei Minuten mit ihr unterhielt, war von ihrer klugen, für ihr Alter erstaunlich ausgereiften Persönlichkeit gefesselt.

Im übrigen war sie nicht eitel und gönnte ihrer Schwester neidlos das Aufsehen, das sie durch ihre blonde Schönheit erregte.

Wera Lasarowa läutete nach einem Diener. »Unsere Mäntel«, befahl sie, als er die Halle betrat. »Sind die Schlitten schon vorgefahren?«

»Sehr wohl, Euer Gnaden«, erwiderte der ältliche Mann mit einer Verbeugung.

»Dann melden Sie Seiner Gnaden und meinem Sohn, daß wir fertig sind.« Wera Karlowna warf ihren beiden ältesten Töchtern einen mütterlich-prüfenden Blick zu. »Reizend seht ihr aus«, meinte sie zufrieden und ließ sich von Akulina in den bodenlangen Zobel helfen. »Habt ihr Irina schon gute Nacht gesagt?«

Die jüngste Lasarow-Tochter, gerade vierzehn geworden, lag mit einer fiebrigen Erkältung zu Bett. Aber natürlich hatte sie darauf bestanden, ihre beiden Schwestern vor ihrem Aufbruch ins Winterpalais zu begutachten.

»Haben wir«, bestätigte Swetlana. »Sie fand, ich sähe aus wie eine Portion Pistazieneis, mit Marzipan garniert. Und Xenia verglich sie mit einer Kissel aus Himbeeren und Schlagsahne.«

»Irina Pawlowna ist eine Schafsnase«, mischte Akulina sich grollend ein. »Warten Sie nur, bis sie zwei Jahre älter ist und ebenfalls in die Gesellschaft eingeführt wird. Dann wird sie sich aufputzen wie ein Paradepferdchen auf dem Marsfeld.«

Wera Karlowna unterdrückte einen Seufzer. Drei Töchter – und keine so sanft und fügsam, wie sie es gewesen war. Heilige Muttergottes, sie würde erst Ruhe haben, wenn sie die drei gut verheiratet hatte. Aber wer weiß – vielleicht wurde in dieser Petersburger Wintersaison ja der Grundstein dazu gelegt?

Zehn Minuten später saßen alle Lasarows – die kranke Irina ausgenommen – warm in Pelze verpackt in zwei Schlitten. Xenia fuhr mit ihren Eltern, und Swetlana hatte ihren ältesten Bruder Jurij, Leutnant bei der Preobraschenskijschen Garde, an ihrer Seite. Er war einundzwanzig, ein schneidiger junger Offizier, der schon seit drei Jahren in St. Petersburg lebte, während seine Schwestern in Kowistowo, dem Landgut der Familie in der Nähe von Kiew, aufgewachsen waren.

Graf Pawel Lasarow war Adelsmarschall der Provinz Kiew gewesen, aber zu Anfang des Jahres hatte Zar Nikolaus II. ihn in den Reichsrat berufen, so daß die Lasarows damals in ihr Petersburger Stadtpalais übersiedelt waren.

Nach Kowistowo würde man nur noch in den heißen Sommermonaten zurückkehren, um sich von dem feuchtschwülen Klima der Hauptstadt zu erholen.

Schlitten um Schlitten fuhr vor der von Fackeln hell erleuchteten Rampe des Winterpalais vor. Ordonnanzen und livrierte Diener halfen den Ankömmlingen beim Aussteigen und geleiteten sie auf Teppichen, die man über den Schnee gelegt hatte, in die große Eingangshalle. Währenddessen fuhren die Kutscher mit ihren Pferden in den für sie bestimmten Hof, wo die Tiere in den Stallungen untergebracht wurden und die Männer sich zu den anderen gesellten, die an großen Feuern saßen und sich am heißen Tee und einer Kascha wärmten.

Sie bereiteten sich auf eine lange Nacht vor, in der sie auf ihre Herrschaften warten mußten. Es sei denn, der gnädige Herr Graf oder die allergnädigste Frau Fürstin hatten ein Einsehen mit ihren Angestellten und schickten sie mit dem Befehl, pünktlich um zwei, drei oder vier Uhr morgens wieder hier zu sein, nach Hause zurück, wo es dann freilich auch nicht für einen erholsamen Schlaf reichte, weil man immer wieder hochfuhr, um nur ja nicht die vereinbarte Zeit zu verschlafen.

Aber was willst du machen, Brüderchen? Es sind lausige Zeiten im heiligen Rußland. Das Elend der Fabrikarbeiter und der kleinen Bauern, die für ein paar Kopeken schuften und damit kaum das Geld für ihre dürftige Behausung, für Holz und Kohlen und das Essen für sich und ihre Familien verdienen, die Not der Arbeitslosen, die oft nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben, sind viel ärger.

Dagegen geht’s dir als Kutscher bei Seiner Gnaden, dem Fürsten Barjatynskij oder General Tscherewin, dem Grafen Lasarow oder Barschewskij und wie sie alle heißen mochten, doch hundertmal besser. Hast eine warme Stube und satt zu essen, und wenn du nicht säufst oder stiehlst, kann dir gar nichts passieren. Du kannst alt und grau werden, und wenn du einmal nicht mehr so schneidig herumkutschieren kannst, kriegst du Arbeit in den Ställen, bis du tot umfällst und das beschissene Leben hier gegen ein besseres bei Gott und seinen Heiligen eintauschen kannst.

Und immerhin bist du kein Leibeigener mehr, wie es dein Großväterchen und vielleicht sogar deine Eltern noch waren, bis der gnädige Zar Alexander II., Gott segne ihn dafür, die Leibeigenschaft aufgehoben hat. 1861 war das gewesen, also vor siebenunddreißig Jahren erst.

Also gib dich zufrieden, Brüderchen, setz dich zu den anderen ans Feuer und erzählt euch, was es so an Neuem gibt in den Palästen der feinen Herrchen. Oder fahr heim in deine Kammer, versorg die Pferdchen und droh deiner Frau eine Tracht Prügel an, wenn sie dich nicht rechtzeitig weckt, damit du zum Winterpalais fahren kannst.

Teufel auch, was für eine bitterkalte Dezembernacht! Und der Mond über der Newa hat einen Hof, was bedeutet, daß es wieder Schnee geben wird!

Die Lasarows hatten sich indessen in der Halle ihrer Pelze entledigt und stiegen nun die breite Treppe der Botschafter in den ersten Stock hinauf.

An den Wänden standen Kosaken, die mit ihren langen roten Mänteln einen prächtigen Kontrast zu den in Weiß und Gold gehaltenen Wänden und Statuen bildeten. Die Luft war geschwängert vom Parfüm der Damen und dem Geruch der aberhundert Kerzen, die an diesem Abend entzündet worden waren, obwohl das Winterpalais seit einiger Zeit über elektrisches Licht verfügte.

Da und dort begrüßten die Lasarows Bekannte, die mit ihnen dem St.-Georgs-Saal zustrebten, jener riesigen Prunkhalle, die mehr als fünftausend Gästen Platz bot.

Swetlana nahm alles mit wachen Sinnen auf: die eleganten Balltoiletten, die von Juwelen nur so strotzten, die farbenfrohen Uniformen der Eliteregimenter, die Fräcke mit den blitzenden, edelsteinbesetzten Orden.

Ihr Bruder Jurij winkte einem jungen Mann in der Galauniform der Preobraschenskij zu. »Hallo, mein Lieber, darf ich dich meiner Schwester Xenia vorstellen! Swetlana kennst du ja bereits, wie ich mich erinnere.«

»Ja, wir sind uns bei der großen Parade zum dritten Geburtstag der Großfürstin Olga in Krasnoje Selo begegnet«, erwiderte der Angesprochene und verneigte sich vor den beiden Mädchen. »Guten Abend. Schön, Sie wiederzusehen, Swetlana Pawlowna. Wie geht es Ihnen?«

»Oh, gut«, erwiderte sie mit glänzenden Augen. »Wie sollte es anders sein bei einem so phantastischen Fest.«

»Sie sehen auch ganz bezaubernd aus«, versicherte der junge Offizier galant und wandte sich dann Xenia zu. »Gestatten Sie: Boris Petrowitsch Barschewskij, Rittmeister der Garde.«

»Sie sind das also!« Xenia betrachtete ihn lächelnd und ungeniert. »Jurij hat schon viel von Ihnen erzählt.«

»Tatsächlich? Ich hoffe, nur Gutes.«

»Gäbe es denn auch etwas Schlechtes zu berichten?« erkundigte Xenia sich vergnügt, und Graf Barschewskij zwinkerte ihr zu.

»Ich sehe, vor Ihnen muß man sich in acht nehmen, Xenia Pawlowna. Sie sind eine Fallenstellerin im Fragen.«

Die Plauderei wurde unterbrochen, weil Graf und Gräfin Lasarow wieder zu der kleinen Gruppe stießen. Sie hatten sich in einer Fensternische mit Konstantin Pobjedonoszew, dem Generalbevollmächtigten des Heiligen Synod, unterhalten, einem hageren, finstergesichtigen Mann mit fanatischen Augen.

Swetlana und Xenia waren ihm vorgestellt worden, als er einmal zum Tee bei ihren Eltern gewesen war. Seitdem fanden sie ihn ›gräßlich‹, was den beiden eine harte Rüge ihres Vaters eingetragen hatte.

Pobjedonoszew, einer der Erzieher von Zar Nikolaus II., sei ein ungeheuer einflußreicher Mann, der glücklicherweise nicht mit den liberalen Bestrebungen gewisser politischer Wirrköpfe sympathisiere, sondern die gottgewollte autokratische Ordnung aufrechterhalten wolle – eine Einstellung, der er, Graf Lasarow, nur aus vollem Herzen zustimmen könne. Es sei ein Segen, daß Seine Majestät solch einen Ratgeber habe, der ihn von schädlichen Experimenten zurückzuhalten verstehe.

»Also ist er noch gräßlicher, als wir dachten«, hatte Swetlana später, als sie mit Xenia allein war, respektlos geäußert. »Puh – hoffentlich wimmelt es bei Hof nicht von solchen Mumien!«

Dieser Sorge wurde sie an ihrem ersten Ballabend in St. Petersburg enthoben.

Natürlich sah man da und dort ergraute Generäle und Minister, in enge Korsetts geschnürte Damen mit schlaffer Haut und gepuderten Gesichtern, was freilich nicht über die Falten und Runzeln hinwegzutäuschen vermochte. Es gab die Kriecher der Hofkamarilla, diese Emporkömmlinge, die unter zwei oder sogar drei Zaren ihr schmutziges Intrigenspiel betrieben hatten, genauso wie die ehrlichen Veteranen, für die das Zarentum etwas Heiliges und Unantastbares war, vor dem sie sich beugten.

Doch für Swetlana Lasarowa waren das an jenem Abend nur Randfiguren. Wirklich wichtig waren ihr die jungen Gardeoffiziere und Adligen, die ihr den Hof machten, ihr Komplimente sagten und mit ihr tanzten.

Pünktlich um neun Uhr flogen die breiten Flügeltüren des St.-Georgs-Saales auf, und das Orchester spielte die Nationalhymne: Bosche Zarja chranij ... Gott schütze den Zaren.

Seine Majestät Nikolaus II. von Rußland und seine Gemahlin, die Kaiserin Alexandra Fjodorowna, erschienen, gefolgt von den Mitgliedern der kaiserlichen Familie.

Die Herren trugen die Galauniformen ihrer Regimenter, die Damen über ihren weißen Satinkleidern mit roter Schärpe und goldbestickter Samtschleppe den traditionellen Kokoschnik, eine Art Diadem in Halbmondform mit langem Schleier.

Zarin Alexandra Fjodorowna sah an diesem Abend wunderschön aus in ihrer cremefarbenen Toilette und dem von Juwelen und Perlen strotzenden Goldschmuck, und sie schien strahlender Laune zu sein. Ihr Lächeln wirkte echt und herzlich, im Gegensatz zu dem wie aufgeklebt wirkenden Verziehen der Lippen, das sie für gewöhnlich bei offiziellen Anlässen zur Schau trug. Sie unterhielt sich lebhaft mit ihren Ehrendamen, und Swetlana dachte, als sie sie beobachtete: Man kann kaum glauben, was man über sie erzählt; daß sie kühl und hochmütig sein soll, von geradezu alberner Prüderie, und die Festlichkeiten bei Hof nur mit Widerwillen erträgt.

An diesem Abend war Zarin Alexandra eine junge Frau, die ihrem Gatten hin und wieder verliebt zulächelte und die Musik und die festliche Atmosphäre unbeschwert genoß.

»Vermutlich ist sie erleichtert, daß die Zarenwitwe heute nicht da ist«, sagte Boris Petrowitsch Barschewskij und nahm Swetlana das leere Champagnerglas ab, um ihr ein neues zu besorgen. »Maria Fjodorowna weilt zur Zeit in Moskau, wo sie Vorsitzende mehrerer Wohltätigkeitsvereine ist. Wäre sie hier, hätte sie den Vortritt vor der Zarin, und das mißfällt Alexandra Fjodorowna fast ebenso wie die Tatsache, daß ihre Schwiegermutter weitaus beliebter als sie selbst ist.«

»Außerdem soll Ihre Majestät wieder schwanger sein, wenn es auch noch nicht offiziell bekanntgegeben wurde«, mischte Xenia sich ein.

Swetlana warf ihr einen entsetzten Blick zu. Die Schwester war wirklich manchmal unmöglich! Wie konnte sie nur vor Boris Petrowitsch von einer Schwangerschaft reden!

Gut, daß Mama und Papa das nicht gehört hatten. Die beiden hatten sich zu Gräfin Lasarowas verwitweter Cousine gesellt, die eine der ›alten Damen‹ war, die zum Hofstaat der Zarin gehörten.

Die so Genannten trugen ein in Diamanten gefaßtes Miniaturbild der Zarin auf der Brust. Jekaterina Wladimirowna Karessowa war eine zänkische, altjüngferliche Person, schon seit dreißig Jahren verwitwet, aber Wera Karlowna erduldete bei jedem ihrer Petersburger Besuche deren Launen, weil die Cousine einflußreich und daher wichtig war.

Überhaupt teilte ihre Mutter zu Swetlanas Verdruß alle Menschen in wichtig, nützlich und darum zu hofieren und in unbedeutend und deshalb zu ignorieren ein. Und ihr Vater hielt es leider ebenso.

Xenia Pawlowna fuhr indessen fort, sich weiterhin ungeniert über eine mögliche Schwangerschaft der Zarin auszulassen.

»Hoffentlich bekommt sie dieses Mal einen Sohn, es wäre ihr zu wünschen«, sagte sie, erhielt daraufhin einen Fußtritt von Swetlana und betrachtete die ältere Schwester mit hochgezogenen Augenbrauen. »Warum trittst du mich denn?«

»Verzeihung, es war ein Versehen«, stammelte Swetlana verlegen, und Graf Barschewskij verbiß sich ein Lachen.

Der Oberhofmeister beendete das Geplänkel, weil die Debütantinnen dieses Winters dem Zarenpaar vorgestellt werden sollten.

Es waren zwanzig junge Mädchen, die nun zu Nikolaus II. und seiner Gemahlin geführt wurden. Swetlana und Xenia versanken in den vorgeschriebenen Hofknicks vor den Majestäten, nachdem der Oberhofmeister ihre Namen genannt hatte, nichts anderes als das übliche Tres enchanté des Zaren und ein freundlich-kühles Lächeln der Zarin erwartend. Doch zu ihrer Verwunderung wandte Alexandra Fjodorowna sich an ihren Gatten und sagte auf deutsch:

»Wie hübsch ihre Balltoiletten sind! Ich würde gern wissen, wer sie gefertigt hat.«

»Es war Madame Dufour in der Großen Sadowaja«, erwiderte Swetlana ebenfalls in Deutsch, und die Zarin hob erstaunt die Augenbrauen.

»Ach, Sie sprechen meine Muttersprache?«

»Ein wenig, Euer Majestät«, erwiderte Swetlana. »Mein Schweizer Erzieher, Maurice Selbmann, hat mich und meine Geschwister darin unterrichtet, ebenso natürlich im Französischen.«

»Und wie steht es mit Ihren Englischkenntnissen?« forschte die Zarin weiter, und Swetlana, wohl wissend, daß Alexandra Fjodorowna, obwohl deutscher Abstammung, den größten Teil ihrer Jugend am Hof ihrer Großmutter, der Queen Viktoria, verbracht hatte, erwiderte in bestem Oxford-Englisch: »Es ist mir fast so geläufig wie meine Muttersprache, da meine Eltern auch für eine englische Sprachlehrerin Sorge getragen haben.«

Alexandra Fjodorowna reichte ihr die Hand zum Kuß und sagte die traditionelle Formel der russischen Zaren: »Ich bin Ihre gnädige Kaiserin.« Dennoch hatte Swetlana das Empfinden, daß die Zarin dieses Mal ihre Worte beinahe herzlich und aufrichtig gemeint hatte.

»Sie ist eine wunderschöne Frau, finden Sie nicht?« fragte Swetlana später Graf Barschewskij, während sie einen Walzer mit ihm tanzte.

»Nun ja ...«, erwiderte er gedehnt. »Heute sieht sie wirklich gut aus. Aber das ist nicht immer so. Sie ist oft leidend, wissen Sie. Doch der Zar betet sie an.«

»Werden Ihre Majestäten die ganze Wintersaison über in St. Petersburg bleiben?« fragte Swetlana, und er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Sie halten beide nicht viel von offiziellen Verpflichtungen. Am liebsten leben sie in Zarskoje Selo – und noch lieber wären sie wohl ein junges Ehepaar wie andere auch, das ein unbeobachtetes, zurückgezogenes Leben auf dem Lande führen kann. Nicht zu armselig natürlich«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Ein gewisser Rahmen müßte schon da sein, sagen wir – gutbürgerlich, mit ein paar Dienstboten und in einem hübschen, geräumigen Haus, aber im übrigen unbelastet von allzu großer Verantwortung.«

Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Sie sagen das so verbittert. Fast so, als sähen Sie jemand anderen lieber an Zar Nikolaus’ Stelle.«

»Still ...« Für einen Moment zog er sie bei einer Drehung fester an sich. »So etwas darf man nicht einmal denken! Es gibt Leute, die Ihnen das schon als Hochverrat oder sogar Gotteslästerung auslegten. Schließlich ist Seine Majestät von Gott persönlich dazu ausersehen worden, über Rußland zu herrschen. Das macht ihn zu einer heiligen, unantastbaren Figur. Im übrigen sieht er sich selbst so und würde sich deshalb nie so ketzerischen Gedanken wie dem Zurückziehen in ein glücklicheres Privatleben hingeben. Nein, nein, er nimmt sein Gottesgnadentum sehr ernst und ist daher sorgsam darauf bedacht, zu tragen, was ihm auferlegt wurde, genau wie unsere allergnädigste Kaiserin. Sie sind beide davon durchdrungen, daß alles, was geschieht, Gottes Zulassung ist, die man hinnehmen muß. Es wäre nur wünschenswert ...«

»Was?« fragte Swetlana, als er abbrach. »Was wäre wünschenswert?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Da Sie glücklicherweise in St. Petersburg bleiben, Swetlana Pawlowna, werden Sie es wahrscheinlich sehr rasch selbst herausfinden. Verlangen Sie bitte nicht von mir, daß ich Sie in Ihrer ersten Ballnacht einer wunderschönen Illusion beraube. Außerdem – müssen wir immer über den Zaren reden? Ich finde Sie viel interessanter und möchte gern mehr von Ihnen wissen. Erzählen Sie mir von sich. Sie sind siebzehn, hat Jurij mir verraten, und haben bis jetzt auf dem Landgut Ihrer Familie gelebt. Ist Ihnen der Abschied von dort schwergefallen? Gibt es vielleicht jemanden, dem Sie heiße Tränen nachweinen?«

»Ja«, erwiderte sie und freute sich darüber, daß sich sein Blick verdunkelte. »Peschko, unser alter Jagdhund. Als ich fünf war, hat er mich einmal aus dem Löschteich von Kowistowo gezogen. Peschko war damals zwei. Inzwischen ist er beinahe blind und sehr schwerhörig. Ich hätte ihn zu gern nach Petersburg mitgenommen, aber Mama war dagegen. Ich habe deswegen auf der halben Fahrt hierher geweint und gedacht, daß ich die hartherzigste und verständnisloseste Mutter der Welt hätte.«

Mit einer trotzigen Gebärde warf sie den Kopf zurück. »Und obwohl es hier natürlich himmlisch ist und ich sehr gern hier bin, trage ich die Sache mit Peschko meiner Mutter immer noch nach, auch wenn ich weiß, daß der Hund bei unserem Gutsverwalter Schterenko gut aufgehoben ist.«

Wieder zog er sie leicht an sich. »Wenn ich darf, werde ich Ihnen eines Tages einen neuen Hund schenken, Swetlana Pawlowna. Einen Barsoiwelpen vielleicht ... Und im übrigen gibt es in Kowistowo oder Kiew kein männliches Wesen, das Sie ins Herz geschlossen haben?«

Sie lachte. »Was Sie alles wissen wollen! Fragen Sie doch meine Schwester nach mir aus. Wie Sie gemerkt haben, ist sie sehr unbekümmert in ihren Äußerungen und wird Ihnen bereitwillig jede Auskunft geben.«

Das Orchester auf der Empore hörte zu spielen auf, und Boris Petrowitsch machte ein bedauerndes Gesicht. »Schade, ich hätte stundenlang mit Ihnen weitertanzen mögen. Geben Sie mir Ihre Tanzkarte, Swetlana Pawlowna, und ich trage mich überall ein.«

»Oh, viel ist da nicht mehr frei. Nur noch der Kotillon, die Mazurka und ein paar Tänze nach dem Diner ...«

»... die Sie alle für mich reservieren müssen«, fiel er ihr ins Wort. »Das heißt, natürlich nur, wenn Sie mögen.«

Swetlana nickte und wurde ein wenig rot. »Warum nicht? Sie tanzen sehr gut, Boris Petrowitsch.«

Er brachte sie zu ihren Eltern zurück, die sich immer noch mit der Karessowa unterhielten, und schrieb tatsächlich auf ihrer Tanzkarte überall seinen Namen hin, wo sich noch kein anderer Tänzer eingetragen hatte. Für den nächsten Tanz forderte er Xenia auf und zwinkerte Swetlana dabei vergnügt zu.

»Um Auskünfte einzuholen«, flüsterte er, während Xenia die Hand auf seinen Arm legte und sich dann von ihm zur Saalmitte führen ließ, wo die Paare Aufstellung für eine Polonaise nahmen.

Swetlana hatte diesen Tanz dem Fürsten Leonid Soklow versprochen, der sich gleich, nachdem sie und Xenia dem. Zarenpaar vorgestellt worden waren, recht hartnäckig an ihre Fersen geheftet hatte. Soklow war Mitglied des Reichsrates und, wie es hieß, ein besonderer Freund des Zarenonkels Großfürst Michail Nikolajewitsch, der ein jüngerer Bruder des verstorbenen Zaren Alexander III. und Vorsitzender des Reichsrates war.

Das jedenfalls hatte die Gräfin Lasarowa ihrer Tochter rasch erklärt, nachdem Soklow den ersten Tanz mit Swetlana getanzt hatte.

»Er ist ein sehr einflußreicher Mann«, hatte sie behauptet, »dazu immens wohlhabend. Er könnte jedes junge Mädchen aus guter Familie zur Frau bekommen. Aber er ist noch unverheiratet.«

Die Worte hatten Swetlana nicht sonderlich beeindruckt. Ihr gefiel Leonid Iwanowitsch Soklow nicht, und sie bedauerte insgeheim, daß sie ihm ein paar Tänze zugesagt hatte.

Zwar sah er ausgesprochen gut aus, groß, schlank, mit dunklem, leicht gelocktem Haar und einem scharfgeschnittenen Gesicht. Aber er hatte so merkwürdige goldbraune Augen, deren Blick ihr Unbehagen einflößte.

Jeder, der mit ihr tanzte, hatte Swetlana an diesem Abend Komplimente gemacht, aber Fürst Soklows Schmeicheleien empfand sie als aufdringlich und manchmal sogar zweideutig.

Sie mochte auch nicht, wie er sie beim Tanzen an sich zog und dabei über ihren Rücken strich, ihr mißfiel seine seidenweiche Stimme, mit der er ihr beteuerte, daß sie seit Jahren die schönste Debütantin der Petersburger Gesellschaft sei und daß er sich glücklich schätze, ihr begegnet zu sein.

Darum war sie erleichtert, daß der Tanzmeister während der Polonaise öfter einen Partnerwechsel ansagte, so daß sie ein paar Takte mit einem anderen Mann tanzen konnte.

Glücklicherweise saß Fürst Soklow während des Diners, das um ein Uhr nachts serviert wurde, weit entfernt an einem anderen Tisch, und Swetlanas Tischherr war ein junger Leutnant der Semjonowskijschen Garde, Grischa Sowtschenko, der sehr witzig zu plaudern verstand, so daß sie aus dem Lachen kaum herauskam.

Ach, es war herrlich, im Winterpalais zu dinieren, bewundert zu werden und all die Pracht und Eleganz um sich herum zu genießen!

Das Zarenpaar nahm nicht am Diner teil, sondern ging währenddessen in Begleitung des Oberhofmarschalls Graf Paul von Benckendorff und der Ehrendame Anna Wyrubowa von Tisch zu Tisch, um sich mit den Gästen zu unterhalten.

Zarin Alexandra sah nicht mehr so frisch und blühend aus wie zu Beginn des Balles. Feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und sie wirkte erschöpft. Dennoch lächelte sie wiederum mit der bei ihr so seltenen offenen Herzlichkeit, als sie noch einmal ein paar Worte mit Swetlana wechselte.

»Ich hoffe, Sie haben viel Freude heute abend«, sagte sie. »Vorhin habe ich Sie eine Zeitlang beobachtet, meine Liebe. Offenbar machen Sie Furore in der Petersburger Gesellschaft – zumindest, was die jungen Herren angeht.«

»Euer Majestät sind sehr gütig«, erwiderte Swetlana, und ein Schatten glitt über das Gesicht der Zarin.

»Nur aufrichtig. Aber seien Sie auf der Hut, Swetlana Pawlowna. Auch hier ist längst nicht alles echt, das wie Gold schimmert. Es verbergen sich viel Hohlheit, Eigennutz und Lasterhaftigkeit hinter der glänzenden Fassade. Lassen Sie sich nicht davon blenden.«

Swetlana wußte nicht recht, was sie darauf erwidern wollte, doch die Zarin erwartete offenbar auch keine Antwort, sondern nickte ihr noch einmal zu.

»Ich werde mich jetzt zurückziehen. Diese Festivitäten strengen mich immer sehr an. Aber ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen.«

Anna Wyrubowa, die hinter ihr stand, eine dickliche Person mit teigigem Gesicht und flinken schwarzen Augen, warf Swetlana einen finsteren Blick zu. »Kommen Sie, Euer Majestät«, sagte sie dann mit einer hellen, singenden Kinderstimme, die in seltsamem Kontrast zu ihrer massigen Gestalt stand. »Es ist spät, und Sie sind müde. Sie sollten sogleich zu Bett gehen.«

»Ja, meine Liebe«, erwiderte Alexandra Fjodorowna und stützte sich auf Annas Arm. »Das Stehen fällt mir schwer. Ich habe wieder Kreuzschmerzen.«

»Sehen Sie, sehen Sie ...« Die Wyrubowa warf einen abschiednehmenden Blick in die Runde. »Aber ich werde beten, daß es Ihnen bald bessergeht. Für meine liebste, teuerste Zarin werde ich die halbe Nacht auf den Knien liegen.«

Damit führte sie Alexandra fort, und Leutnant Sowtschenko stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß nicht, wieso, aber die Wyrubowa kann angezogen sein, wie sie will – auf mich wirkt sie immer wie eine glitschige Nacktschnekke.«

Er hatte die Worte Swetlana zugeflüstert, und sie versteckte hastig ihr Gesicht hinter ihrem Fächer, um ihr Lachen zu verbergen.

Ihre Mutter warf ihr einen irritierten Blick zu. »Was ist, Kind? Hast du dich verschluckt?«

»Beinahe«, erwiderte Swetlana und fächelte sich Luft zu. »Aber es ist noch einmal gutgegangen.«

»Wie kann man sich verschlucken, wenn man nicht ißt«, tadelte Wera Karlowna, verstummte dann aber glücklicherweise, weil der Zar quer durch den Saal auf seine Frau zukam.

»Alix?« fragte er auf englisch. »Was hast du, mein Engel? Geht es dir nicht wohl?«

Alexandra lächelte zu ihm auf, und ihr eben noch angestrengtes Gesicht glättete sich auf wundersame Weise. »Ich bin nur müde, Nicky, weiter nichts. Darum werde ich mich zurückziehen.«

»Natürlich begleite ich dich.« Er wollte ihren Arm nehmen, aber sie winkte ab.

»Nicht nötig. Meine gute Anna Alexandrowna bringt mich in mein Schlafzimmer. Und vorher werde ich noch einmal nach unseren beiden kleinen Mädchen sehen.«

»Gib ihnen einen Kuß von mir«, trug er ihr auf, und sie nickte lächelnd.

»Aber nur, wenn du ihn mir nachher zurückgibst.«

Swetlana hatte das kurze Gespräch mitgehört und empfand Rührung. Es war ganz offensichtlich, daß die beiden einander zärtlich liebten. Es mußte schön sein, eine solche Ehe zu führen.

Bei ihren Eltern war das nicht so. Sie lebten nebeneinander her, ohne große Streitigkeiten zwar, aber auch ohne besondere Zuneigung, und Swetlana hatte sich oft gesagt: So will ich es später einmal nicht haben. Ich heirate nur, wenn ich einen Mann wirklich liebe und er mein Gefühl erwidert. Sonst bleibe ich lieber ledig.

Swetlana wußte, daß ihre Mutter vom heutigen Tag an nach einem geeigneten Ehekandidaten für sie Ausschau halten würde. Tun Sie das nur, Mama, dachte sie. Am Ende nehme ich doch nur den, der mir gefällt. Es ist mein Leben, und ich will es mit allem anfüllen, was schön und aufregend und voller Überraschungen ist.

Mazurka in St. Petersburg

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