Читать книгу Mazurka in St. Petersburg - Susanne Scheibler - Страница 5

2. Kapitel

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Zwei Monate später war Swetlana mit Boris Petrowitsch Barschewskij verlobt.

Seit jener Ballnacht im Winterpalais war das Stadtpalais der Lasarows ein beliebter Treffpunkt der jungen Petersburger Adligen geworden. Die meisten kamen Swetlanas wegen, aber einige machten auch Xenia den Hof. Die jedoch fand das höchstens albern, sehr zum Verdruß ihrer Mutter, die am liebsten gesehen hätte, wenn beide Töchter noch in dieser Wintersaison eine gute Partie gemacht hätten. Aber Xenia hatte anderes im Kopf, als sich einen Mann zu angeln.

»Ich möchte Medizin studieren«, vertraute sie eines Abends Swetlana an, als beide Mädchen von einer Teegesellschaft bei der Generalin Bogdanowitsch zurückgekehrt waren. Ihre Mutter, die sie begleitet hatte, litt unter Kopfschmerzen und hatte sich schon in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Graf Lasarow war auf einer Sitzung im Winterpalais.

Xenia und Swetlana saßen im sogenannten chinesischen Salon, während ihre jüngste Schwester Irina im Schulzimmer mit ihrer Englischlehrerin Miss Sheldon über der Übersetzung von Charles Dickens’ Essay ›American Notes‹ brütete.

Swetlana blickte ihre Schwester verblüfft an. »Im Ernst? Und was willst du dann tun? Ärztin werden?«

Xenia nickte lebhaft. »Rußland braucht Ärzte. Und ich denke, daß ich eine sehr gute sein könnte.«

Swetlana erinnerte sich, daß ihre Schwester schon als Kind mit Vorliebe ihre Puppen verbunden und ihnen alle möglichen Krankheiten angedichtet hatte, die sie dann kurierte. Auch alle Hunde, Pferde und Katzen, die sich Verletzungen zugezogen hatten, wurden von ihr versorgt – und oft genug die Dienstboten ebenfalls.

Für alles, was krank war, brachte Xenia größtes Interesse und eine für ihr lebhaftes Temperament ungewöhnliche Geduld auf. Dennoch hätte Swetlana nie geglaubt, daß ihre jüngere Schwester eines Tages daraus einen Beruf hätte machen wollen.

»Das wird Papa nie erlauben«, sagte sie besorgt. »Deshalb schlag es dir lieber gleich aus dem Kopf.«

Xenia preßte die Lippen zusammen. »Dann tue ich es ohne seine Erlaubnis. Ich bin nicht sein Eigentum, und er kann nicht über meine ganze Zukunft verfügen.«

Sie lag bäuchlings auf dem Bärenfell vor dem Kamin und blickte in die Flammen. Draußen war es dunkel, nur der Schnee, der in großen Flocken vom Himmel fiel, verbreitete matte Helligkeit.

Swetlana legte das Journal zur Seite, in dem sie geblättert hatte, und kam zu ihrer Schwester. »He, Malenka, du bist ganz schön verrückt, weißt du das?«

Malenka ... Kleine, so hatte sie Xenia oft genannt.

Aber die Schwester erwiderte ihr Lächeln nicht. Ihr Gesicht war ernst und so entschlossen, wie Swetlana es selten gesehen hatte.

»Versprich mir, daß du weder den Eltern noch sonst jemandem etwas davon sagst. Ich werde es selbst tun, wenn es soweit ist.«

»Gut, gut. Aber du bist dir doch darüber im klaren, daß Papa dir Stubenarrest geben und Mama ihre Migräne bekommen wird.«

»Ich sage es ihnen ja auch jetzt noch nicht. Ich werde sie vorläufig nur darum bitten, daß ich ab dem Frühjahr die Xenia-Schule besuchen darf. Dagegen werden sie hoffentlich nichts einzuwenden haben; schließlich gehen Darja und Lara Nobokowa gleichfalls dorthin, und Staatsrat Nobokow ist neuerdings einer von Papas besten Freunden.«

Swetlana stützte den Kopf in die Hände. »Aber Mama wird trotzdem dagegen sein. Sie hat, seit wir in St. Petersburg sind, doch nichts anderes im Sinn, als mit uns Gesellschaften zu besuchen, neue Kleider bei der Schneiderin zu bestellen und spazierenzufahren.«

Xenia kicherte. »Sie will uns eben an den Mann bringen. Und wie es aussieht, hat sie bei dir mit ihren Bemühungen Erfolg.«

»Unsinn«, wehrte Swetlana ab und spürte zu ihrem Verdruß, daß sie rot wurde. »Bis jetzt hat mir jedenfalls noch niemand einen Antrag gemacht. Und überhaupt ...«

»Und überhaupt ist es Graf Barschewskij, der dir von deinen Bewunderern am besten gefällt!« trumpfte Xenia auf, mm wieder ganz der fröhliche Backfisch, der sie im allgemeinen war. »Er ist aber auch wirklich nett. Wenn du ihn magst, solltest du ihn heiraten.« Sie stieß die ältere Schwester freundschaftlich in die Seite. »Gib es ruhig zu, daß du ihn magst. Habt ihr euch schon geküßt?«

»Nein«, schwindelte Swetlana. »Was glaubst du denn?«

Dabei dachte sie daran, wie Boris Petrowitsch sie vorgestern während einer Abendgesellschaft bei den Bobrikows im Wintergarten für einen Augenblick umarmt und seinen Mund auf ihren gedrückt hatte. Es war nur ein sehr kurzer Kuß gewesen, weil im selben Moment jemand hereingekommen war und Boris sie hastig wieder losgelassen hatte, aber immerhin!

»Dann wird er es aber bei nächster Gelegenheit tun!« behauptete Xenia. »Man muß nur beobachten, wie er dich ansieht. Ich sage dir, Boris Petrowitsch ist unsterblich in dich verliebt.«

»Ach, das sind andere auch«, meinte Swetlana betont wegwerfend. »Leutnant Wasnjezow, zum Beispiel, oder Jewgenij Karsawin ...«

»Nicht zu vergessen Fürst Leonid Soklow«, setzte Xenia die Aufzählung lachend fort, und Swetlanas Miene verfinsterte sich.

»Hör mir nur mit dem auf! Der ist doch viel zu alt – zweiunddreißig soll er sein! Und überhaupt – ich mag ihn nicht. Wenn er mir nur die Hand küßt; bekomme ich schon Gänsehaut.«

»Und bei Boris Barschewskij nicht?« neckte Xenia sie.

»Ach, du!« Swetlana stand auf. »Ich finde deine Neugier wirklich albern!«

Sie ging zu den Fenstern und schloß die roten Seidenportieren.

»Gräfin Swetlana Pawlowna Barschewskaja«, murmelte Xenia. »Das klingt gut, finde ich! Ihr werdet ein sehr hübsches Paar sein.«

Swetlana drehte sich nicht zu ihr um. Sie dachte wieder an den Kuß, den Boris ihr gegeben hatte, und fragte sich, ober sie beim nächsten Mal länger und intensiver küssen würde.

Morgen wollte er sie zu einer Schlittenfahrt abholen. Aber natürlich würden Miss Sheldon oder Akulina Iwanowna, ihre alte Kinderfrau, als Anstandsdame mitfahren. Ob sich da eine Gelegenheit zum Küssen bot? Recht unwahrscheinlich!

Wenn sie ehrlich war, mußte Swetlana zugeben, daß sie sich ganz gern von Boris Petrowitsch küssen ließe. Sie hatte sich zweifellos ein bißchen in ihn verliebt. Er sah gut aus und war schrecklich nett. Aber war er wirklich der Mann, den sie heiraten wollte?

»Willst du denn überhaupt nicht heiraten?« fragte Swetlana aus ihren Gedanken heraus. »Ich meine, es muß ja nicht gleich sein, aber später irgendwann ...«

Xenia setzte sich auf und legte die Arme um die angezogenen Knie. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, wenn ich mein Studium abgeschlossen habe und mich ganz toll verliebe. Aber ich will in keinem Fall das typische nutzlose Dasein einer Dame aus unseren Kreisen führen – so wie Mama. Was tut sie denn schon? Die Dienstboten beaufsichtigen, ausfahren, Besuche machen, Gesellschaften geben, langweilige Konversation betreiben, sticken, musizieren, malen – nicht zu vergessen hin und wieder ein bißchen Wohltätigkeit ausüben, weil sich das so gut macht. Ich aber will selbst etwas leisten, auch wenn ich verheiratet bin, verstehst du?«

Swetlana runzelte die Stirn. »Ja – schon. Nur, es wäre ziemlich ungewöhnlich, findest du nicht? Ehrlich gesagt, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, daß du irgendwann in einem Hospital arbeitest, vereiterte Wunden aufschneidest, schmutzige Verbände wechselst, Kindern auf die Welt hilfst oder bei Sterbenden wachst. Ich finde das so trostlos!«

»Ich nicht«, widersprach Xenia. »Immerhin würde ich ja vielen Menschen wirklich helfen können, und das würde mich sehr befriedigen. Und ich sage dir eines: Heute ist es vielleicht noch ungewöhnlich, wenn eine Frau einen Beruf ergreift, obwohl sie nicht darauf angewiesen ist, Geld zu verdienen. Aber eines Tages wird das anders sein. Warum sollen wir unsere Talente verkümmern lassen, nur um für einen Mann dazusein, der sich oft genug noch darüber beklagt, wie hart er arbeiten muß, um seiner Familie ein bequemes Leben zu bieten?«

Swetlana drehte sich um. »Ich fürchte, ich habe gar keine besonderen Talente«, meinte sie betrübt. »Deshalb wüßte ich gar nicht, was ich für einen Beruf ergreifen sollte, und wenn ich noch so versessen darauf wäre.«

»Oh, du bist mindestens so klug wie ich und könntest ebensogut studieren. Außerdem bist du sehr musikalisch und hast eine wunderschöne Stimme. Du könntest eine berühmte Sängerin werden.«

Swetlana lachte. »An der Kaiserlichen Oper, was? Und Mama und Papa sitzen in einer Loge und schämen sich zu Tode über ihre ungeratene Tochter.«

»Ich weiß nicht, vielleicht wären sie ja auch stolz, wenn der Zar sich erhebt und dir stehend applaudiert. Und am Ende bekommst du einen Orden verliehen.« Xenia betrachtete ihre Schwester. »Aber vermutlich wirst du ohnehin berühmt werden, weil du die Familienschönheit bist. Ehrlich, Swetlana, du siehst hinreißend aus, und ich bin sicher, daß du, falls du Boris Barschewskij nicht heiratest, eine noch viel phantastischere Partie machst, am Ende sogar jemanden aus der kaiserlichen Familie.«

»Und dann werde ich ein deiner Meinung nach ebenso nutzloses, ödes Leben führen wie Mama und Tante Agafja oder Großmama Natalja und alle anderen, die wir kennen.«

Xenia goß sich aus dem Samowar Tee ein. »Das glaube ich nicht. Dazu bist du zu lebhaft und energisch. Du würdest immer irgend etwas tun, was dich ausfüllt. Das mußt du auch, sonst würdest du verkümmern.«

Boris Barschewskij kam pünktlich am nächsten Vormittag um elf Uhr, um Swetlana und Miss Sheldon zu der verabredeten Schlittenpartie abzuholen. Er lenkte die Troika mit den drei Orlow-Trabern selbst, allerdings ließ er sich nicht dazu hinreißen, gewagte Überholmanöver oder Wettrennen mit anderen Pferdeschlitten zu veranstalten, sondern ließ die goldroten Tiere in einer zwar zügigen, aber gleichmäßigen Gangart laufen.

Sie fuhren über die zugefrorene Newa und die Kleine Newka zur Jelagin-Insel hinüber, wo Boris Petrowitschs verwitweter Vater eine Datscha besaß, unweit der Parkanlagen des Palastes, der einst von Jelagin, dem Hofmarschall Katharinas II., erbaut worden und später in den Besitz der Zarenfamilie übergegangen war.

»Inzwischen wohnt niemand mehr von der kaiserlichen Familie dort«, erklärte Boris Petrowitsch seinen beiden Begleiterinnen, als er die Troika vor der Datscha, einem bezaubernd bemalten Holzhaus im altrussischen Stil, zum Stehen gebracht hatte. »Der Palast dient zur Unterbringung illustrer ausländischer Gäste. Aber die Petersburger kommen in der wärmeren Jahreszeit gern hierher, um zu beobachten, wie die Sonne im Finnischen Meerbusen untergeht.«

Ein Diener nahm ihm das Gespann ab, um die Pferde zu versorgen, während in der Haustür eine dralle ältere Frau mit weißer Schürze erschien, um die Gäste willkommen zu heißen.

»Das ist Pelargeja Andrejewna«, stellte Boris Petrowitsch sie vor. »Sie hält das Haus in Ordnung und richtet alles her, wenn mein Vater für ein paar Tage herkommt oder wir Gäste mitbringen.« Er kniff sie freundschaftlich in die Wange. »Hast du Blinis gemacht, Pelargeja?«

»Sehr wohl, Euer Gnaden. Euer Bursche war gestern hier und hat mir alles ausgerichtet, was Ihr ihm aufgetragen habt. Es gibt heißen Tee, Blinis mit Lachs und feiner Pastetenfüllung und Kissel aus Sahne und gezuckerten Himbeeren. Außerdem habe ich noch Mandeltörtchen gebacken.«

Er schnalzte genießerisch mit der Zunge. »Pelargeja, du bist ein Juwel! Niemand im ganzen heiligen Rußland macht so gute Blinis wie sie«, setzte er hinzu, an Swetlana und Miss Sheldon gewandt. »Aber bitte, kommen Sie doch herein.«

Er führte sie in einen behaglichen Wohnraum, dessen Fenster auf die verschneite Gartenfront hinausgingen. In der Nähe des großen Kachelofens, der angenehme Wärme verströmte, war der Tisch gedeckt.

»Ihr Herr Vater ist nicht da?« erkundigte Miss Sheldon sich in ihrem etwas holprigen Russisch, als sie bemerkte, daß nur drei Gedecke aufgelegt waren.

»Nein, er ist im Augenblick im Auftrag von Minister Goremykin in Smolensk, um dort einige Unstimmigkeiten zwischen der Leitung der dortigen Waffenfabrik und den Arbeitern zu schlichten. Sie wissen ja, die Streiks und Demonstrationen nehmen überhand, und dabei ist es leider zu blutigen Ausschreitungen auf beiden Seiten gekommen.«

Graf Pjotr Barschewskij war Staatssekretär im Innenministerium, wie Swetlana wußte, und aus einigen Bemerkungen ihres Vaters hatte sie herausgehört, daß er ein sehr liberaler Mann sein sollte. Graf Lasarow mißfiel das. Er nannte solche Menschen Wirrköpfe und wirklichkeitsfremde Weltverbesserer. Man müsse jedes Aufbegehren der Arbeiter mit aller Härte im Keim ersticken, sonst brächen eines Tages Anarchie und totales Chaos über Rußland herein, pflegte er zu sagen.

Pelargeja Andrejewna füllte die Teetassen aus dem Samowar, brachte eine große Platte mit köstlich duftenden Blinis herein und legte noch ein paar Holzscheite in den Ofen, ehe sie knicksend verschwand.

Swetlana verrührte Honig in ihrem Tee. »Das ist sicher eine heikle Aufgabe, die Ihr Vater da übernommen hat, Boris Petrowitsch«, meinte sie. »Hoffentlich hat er Erfolg.«

Boris zuckte mit den Schultern. »Wenn die maßgebenden Direktoren auf ihn hören, bestimmt. Die Situation der Arbeiterschaft ist fast überall in Rußland unerträglich. Die Leute leben im größten Elend, trotz des gewaltigen industriellen Aufschwungs in unserem Land. Wir haben etwa drei Millionen Arbeiter, Swetlana Pawlowna, die zum allergrößten Teil in erbärmlichen Massenquartieren hausen. In den sogenannten Wohnheimen stehen aus rohen Brettern zusammengezimmerte Schlafgelegenheiten nebeneinander, ohne jede Trennwand, und sie sind niemals leer, da die Schläfer sich schichtweise abwechseln, je nachdem, wie ihre Arbeitszeit verläuft. Diese armen Teufel beneiden diejenigen, die wenigstens in einer Kamorka leben können. Aber auch dort sind mehrere Familien in einem einzigen Raum zusammengepfercht. Lediglich ein paar Lumpen, die von der Decke herabhängen, teilen die einzelnen Bereiche voneinander ab.«

Er schüttelte den Kopf, als könne er die Ungeheuerlichkeit eines solch armseligen Lebens nicht fassen.

»So vegetieren diese Menschen dahin, schlecht bezahlt, unterernährt und infolgedessen für Krankheiten eine leichte Beute. Und eine noch leichtere für die Verbreiter revolutionärer Ideen. Ein gewisser Uljanow hat schön vor drei Jahren die verschiedenen marxistischen Richtungen in unserem Land in einer ›Union des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse‹ zusammengefaßt. Überall kommt es seitdem zu organisierten Protestbewegungen und Streiks, von denen einige Unbelehrbare immer noch glauben, man müsse sie mit eiserner Strenge unterdrücken. Aber das geht nicht mehr. Die Autokratie ist eine überholte Regierungsform, die den Bedürfnissen des russischen Volkes nicht mehr gerecht wird. Was wir brauchen, ist eine Verfassung, die dem Volk mehr Rechte und mehr Sicherheiten gewährt – und vor allem mehr Gerechtigkeit. Sonst wird hier eines Tages alles in einem blutigen Umsturz enden.«

Er hatte sich in Eifer geredet, und Swetlana fühlte eine warme Welle der Sympathie für ihn in sich aufsteigen. Es gefiel ihr, daß er trotz seines adligen Standes und der Wohlhabenheit seiner Familie kein Hohlkopf war, der sich nur für ein vergnügliches Offiziersdasein interessierte. Er besaß Herz und Verstand, dieser Boris Petrowitsch Barschewskij, und hatte nur das ausgesprochen, was Swetlana zwar noch nicht so klar, aber doch immer deutlicher empfunden hatte, seit sie erwachsen genug war, um sich aus dem ein Bild zu machen, was um sie herum vorging und was sie den Tischgesprächen daheim entnommen hatte.

»Auf dem Land ist die Situation nicht viel anders, fürchte ich«, sagte sie nun. »Wie Sie wissen, haben wir bisher in der Nähe von Kiew gelebt. Dort, wie überall, geht es den Bauern immer schlechter, und es ist in verschiedenen Provinzen bereits zu Aufständen gekommen. Man hat wie zu Zeiten der Leibeigenschaft die Besitzungen der Großgrundbesitzer geplündert und angezündet.«

»Ich weiß«, entgegnete Boris düster. »Unsere russischen Muschiks sind nicht mehr gewillt, die Ungerechtigkeit der Landverteilung hinzunehmen, die ihnen nicht mehr als die dürftigste Existenzgrundlage gewährt, während wir Adligen den Löwenanteil besitzen. Von hundertdreißig Millionen Deßjatinten Land in den Kommunen befinden sich hundertundeine Million in privater Hand – ein Mißverhältnis, das dringend geändert werden muß. Wir brauchen eine neue Bodenreform ebenso nötig wie neue Sozialgesetze.«

Er bemerkte, daß Miss Sheldon verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand gähnte, und lächelte entschuldigend. »Verzeihung, das ist sicherlich kein Thema für einen unbeschwerten Nachmittag mit zwei so reizenden Damen. Möchten Sie nicht noch eine von diesen ausgezeichneten Fleischpasteten probieren, meine liebe Miss Sheldon? Und eine Tasse Tee trinken Sie gewiß auch noch. Er stammt aus Ostindien, wie Sie wohl schon gemerkt haben. Mein Vater zieht ihn dem russischen Tee vor, deshalb haben wir immer welchen im Haus.«

»Ach ja«, sagte Elaine Sheldon. »Wie interessant. Nun, ich muß gestehen, daß mir dieser Tee, den wir vorzugsweise in meiner Heimat trinken, ebenfalls besser schmeckt als der hiesige. Er ist milder, finden Sie nicht?«

Swetlana empfand leise Enttäuschung, daß sich das Gespräch nun einem so banalen Thema zuwandte. Sie hätte sich gern noch länger mit Boris Petrowitsch über die sozialen Probleme und Schwierigkeiten in Rußland unterhalten.

Daheim war das nicht möglich, denn ihr Vater vertrat den Standpunkt, daß junge Mädchen, ja, überhaupt alle Frauen viel zu törichte Geschöpfe waren, um bei einem ernsten Gespräch über Politik oder ähnliches mithalten zu können. Boris Barschewskij war der erste, der Swetlana überhaupt in eine solche Unterhaltung verwickelt hatte, und das machte sie ein klein wenig stolz.

Während er nun mit Miss Sheldon plauderte und ihr von seinem Englandaufenthalt vor drei Jahren erzählte, dachte Swetlana immer noch an das, was er gesagt hatte, und wünschte sich sehr, das Gespräch irgendwann fortzusetzen. Es gab so vieles, was sie noch nicht wußte oder nicht verstand, und er würde es ihr vielleicht erklären können. Und gewiß würde er nicht ungeduldig dabei werden.

Nach dem Essen zeigte er ihr und der Engländerin das Haus. Es war wunderhübsch eingerichtet, mit Möbeln aus karelischer Birke, bunten Webteppichen und Fellen und einer Küche mit einem großen gemauerten Herd und rauchgeschwärztem Kamin, in dem Schinken und Würste hingen. Allerlei Kupfergerät stand auf Simsen und Wandbrettern.

»Sie müssen einmal im Sommer wiederkommen«, sagte Boris und öffnete die rückwärtige Tür, die in den Garten führte. »Dann ist es hier noch schöner. Unser Grundstück grenzt an das Jelaginsche Palais, und dort finden an allen Sonn- und Feiertagen Konzerte statt, die das Musikkorps der Garde veranstaltet. Dann sind die Palastgärten für alle geöffnet, und Sie treffen dort die interessantesten Leute, Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler. Ich bin dort im vergangenen Sommer sogar einmal Leo Tolstoj begegnet, und wir haben uns am Abend sehr lange hier in der Datscha unterhalten.«

»Wirklich? Oh, davon müssen Sie mir mehr erzählen«, rief Swetlana. »Ich glaube, ich habe alles von ihm gelesen ... ›Kindheit‹, ›Drei Tode‹, ›Krieg und Frieden‹, ›Anna Karenina ...‹«

Sie unterbrach sich, weil Miss Sheldon, die vor ihr die Stufen zum Garten hinuntergegangen war, plötzlich ausglitt und mit einem Schreckensschrei zu Boden stürzte.

»Um Himmels willen, Miss Sheldon, haben Sie sich weh getan?«

Die Engländerin richtete sich auf. »Ich fürchte, ja. Mein Fuß ... Ich kann nicht auftreten.«

Boris Petrowitsch kauerte sich neben sie in den Schnee. »Darf ich einmal sehen?« Er untersuchte den Knöchel, bewegte ihn vorsichtig hin und her, was Miss Sheldon ein Aufstöhnen entlockte.

»Nun, gebrochen scheint er wohl nicht zu sein. Aber einen Bluterguß oder eine Verstauchung haben Sie sich sicherlich zugezogen. Kommen Sie ins Haus zurück, ich helfe Ihnen, sich niederzulegen. Und dann kann Pelargeja Ihnen kalte Kompressen machen.«

Auf ihn gestützt, humpelte Miss Sheldon die Treppe wieder hinauf und ließ sich zu einem Diwan führen. Boris läutete nach Pelargeja, die gleich darauf erschien und Miss Sheldon erst einmal die Stiefel von den Füßen zog.

»So ein Unglück aber auch«, jammerte sie. »Dabei habe ich meinem Mann noch gesagt: Iwan, habe ich gesagt, hast du auch ordentlich den Schnee von der Treppe gefegt? Aber was kann man von den Männern schon erwarten; sie erledigen selten eine Arbeit gewissenhaft.«

»Ich hätte besser aufpassen sollen«, sagte Miss Sheldon und betrachtete ihren Knöchel, der ein wenig angeschwollen war. »Aber es ist nicht so schlimm, denke ich. Wenn ich eine Weile ruhe, wird es sicherlich rasch besser werden.«

Trotzdem bestand Pelargeja darauf, ihr kalte Umschläge zu machen. Sie lief in die Küche und kehrte kurz darauf mit einer Schüssel und einem Tuch wieder.

»Ich habe Schnee ins Wasser getan, damit es recht kalt ist, und dazu einen Kräutersud zum Abschwellen«, erklärte sie und wandte sich an Boris. »Sie sollte aber ihren Strumpf ausziehen, Euer Gnaden. Vielleicht geht Ihr solange hinaus.«

Swetlana blickte Miss Sheldon mitleidig an. »Tut es sehr weh?«

Die Engländerin wehrte ab. »Nein, nein, ich kann es gut aushalten. Machen Sie sich keine Sorgen, liebes Kind. Wissen Sie was? Gehen Sie mit Graf Barschewskij ruhig in den Garten und lassen Sie mich hier ein Weilchen liegen. Pelargeja Andrejewna wird sich um mich kümmern.«

Swetlana fand, daß Miss Sheldons Lächeln ausgesprochen verschwörerisch wirkte, und spürte, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg. »Ja, wenn Sie meinen ... Aber dann werde ich mir meinen Mantel holen.«

Als sie und Boris das Haus verließen – diesmal half er ihr fürsorglich die Treppe hinunter –, begann es von neuem zu schneien. Weiche große Flocken waren es, die sich auf Swetlanas Pelzmütze festsetzten, so daß sie bald aussah, als sei sie aus sibirischem Feh.

Boris hatte ihr seinen Arm geboten, und so stapften sie nebeneinander zu dem schmiedeeisernen Gitter, das das Grundstück vom Jelaginischen Palais trennte.

Swetlana betrachtete die prächtige Gartenfront des imposanten Gebäudes. Es wies in der Mitte einen halbrunden, von Säulen umgebenen Vorbau auf und an beiden Seiten einen Portikus mit zweifach gekuppelten Säulen. Breite Treppen, auf denen riesige, jetzt allerdings dick verschneite Marmorvasen standen, führten zum Ufer der zugefrorenen Newka hinunter.

»Was sind das für Inseln dort drüben?« fragte Swetlana, und Boris antwortete:

»Die Kreuz- und die Steininsel. Übrigens war das Jelagin-Palais lange Zeit hindurch der Wohnsitz von Maria Fjodorowna, der Mutter von Zar Alexander I.«

Swetlana wandte ihm das Gesicht zu. »Das war die Gemahlin von Zar Paul, nicht wahr? Er ist ermordet worden.«

Boris nickte. »Aber seine Mörder haben Rußland mit ihrer Tat einen großen Dienst erwiesen. Dieser Zar war geisteskrank und unberechenbar. Zarin Katharina, seine Mutter, hat nie gewollt, daß er jemals den Thron bestieg. Sie hoffte, daß sie noch lange genug lebte, um ihren Enkel Alexander zum Zarewitsch zu machen. Paul sollte in der Thronfolge übergangen werden.«

Sie vergrub die Hände in ihrem Muff. »In unserer Geschichte hat es einige Zaren gegeben, die man umgebracht hat – oder auch ihre Söhne. Und heute hört man wieder soviel von Mordanschlägen und Attentaten ... Aber es wird doch wohl niemand wagen, die Person unseres Zaren und seine Familie anzutasten?«

Barschewskij hob die Schultern. »Man kann es nur hoffen. Und man muß andererseits hoffen, daß Seine Majestät die Zeichen der Zeit erkennt und endlich von dem Gedanken abrückt, Rußland könne heute noch wie vor zweihundert Jahren regiert werden. Wenn er es nicht tut – und zwar bald tut –, ist es sehr wohl möglich, daß es eines Tages zu einer Revolution kommt. Und was danach geschieht ... Ich fürchte, ich würde dann nicht mehr gern in diesem neuen Rußland leben.«

»Und warum nicht?«

»Weil dann vermutlich auch alles zerstört würde, was gut und schön ist an unserem Leben. Die alten Ideale, der Zauber, der jetzt noch über allem liegt, auch wenn sich viel Brüchiges darunter verbirgt ... Rußland ist krank, Swetlana Pawlowna, aber es kann wieder genesen, wenn der Zar es will. Er allein hat die Möglichkeit, Altes und Neues zu einem festen Gefüge zusammenzuschmieden.«

Er verstummte und drückte ihren Arm. »Aber das ist wirklich kein Gesprächsstoff für diesen wunderschönen Tag mit Ihnen. Ich bin so glücklich, daß ich einmal mit Ihnen allein sein kann, Swetlana Pawlowna. Ich möchte Ihnen so viel sagen und habe mir schon hundertmal die Worte zurechtgelegt. Aber jetzt sind sie wie fortgeweht aus meinem Kopf. Nur eines weiß ich noch: Ich habe Sie sehr lieb, und ich träume davon, Sie in die Arme zu nehmen und ganz festzuhalten.«

Während er sprach, hatte er ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Nun glitten sie tiefer, umfaßten ihre Taille, und Swetlana fühlte sich an seine Brust gedrückt.

Es war ein gutes Gefühl; sie verspürte Wärme und Zuneigung und die Sehnsucht nach etwas, das sie noch nicht kannte, von dem sie aber ahnte, daß es wunderschön sein würde.

Mehr, dachte sie, ich will mehr ...

Unwillkürlich hob sie den Kopf und öffnete leicht die Lippen. Da küßte er sie und hielt sie noch fester an sich gepreßt. »Swetlana«, murmelte er, »meine Liebste ...«

Ihr Herz klopfte rascher. Es war schön, so geküßt zu werden, und die Zärtlichkeit in Boris’ Stimme überwältigte sie. Sie legte die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuß. Und in diesem Augenblick war sie ganz sicher, Boris Petrowitsch Barschewskij zu lieben.

Er kam schon am nächsten Vormittag in das Lasarowsche Palais, um bei ihren Eltern um ihre Hand anzuhalten.

Graf Pawel Lasarow reagierte zunächst ein wenig zögernd. Swetlana sei gerade siebzehn geworden, und überhaupt – sie und Boris kannten sich doch erst wenige Wochen. Ob er denn tatsächlich sicher sei ...

»Vollkommen sicher«, erwiderte Boris Petrowitsch. »So wie Sie, Graf Lasarow, es gewiß auch waren, als Sie Ihre Gattin heirateten.«

Wera Karlowna, die der Unterhaltung bisher schweigend gefolgt war, während sie überlegte, ob man der Bewerbung zustimmen oder noch auf eine bessere Partie für ihre älteste Tochter hoffen konnte, kicherte verschämt. »Das haben Sie reizend gesagt, mein lieber Boris Petrowitsch.«

Ihr Mann warf ihr einen irritierten Blick zu. »Wera, ich bitte Sie ...«

»Aber es ist wahr!« beharrte sie. »Es klingt wirklich hübsch. Die Frage ist nur, ob auch Swetlana ...«

»Ja!« sagte Boris glücklich. »Ich bin mir der Zuneigung von Swetlana Pawlowna gewiß. Wir haben uns gestern ausgesprochen.«

Diesmal wandte er sich mehr an Wera als an ihren Gatten. »Ich bitte Sie von ganzem Herzen, stehen Sie unserem Glück nicht im Weg. Ihre Tochter soll es nie bereuen, mich geheiratet zu haben. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, lebe ich in absolut gesicherten finanziellen Verhältnissen. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern und somit auch ihr einziger Erbe. Meine Familie besitzt große Ländereien, Anteile an diversen Bergwerken im Ural, Papierfabriken in Woronesch und Tula, eine Porzellanmanufaktur in Moskau, Webereien in Kasan und Nischnij-Nowgorod und ...«

»Schon gut, schon gut!« unterbrach Graf Lasarow die Aufzählung. »Ihr Herr Vater ist als sehr vermögender Mann bekannt. In diesem Punkt hege ich absolut keine Bedenken. Allerdings fühle ich mich ein wenig überrumpelt, das will ich Ihnen nicht verhehlen. Ich war der Meinung, daß Swetlana erst einen oder zwei Winter in der Petersburger Gesellschaft verbringen sollte, ehe sie sich bindet.«

»Ach, Pawel Konstantinowitsch!« mischte Wera Karlowna sich wieder ein. Sie hatte sich entschieden, Swetlana diesem jungen und so angenehm reichen Mann zu geben. Außerdem war es sicherlich kein Fehler, wenn das Kind rasch in feste Hände kam. Dann war es keine Konkurrenz mehr für Xenia, die, Gott sei’s geklagt, längst nicht so viele Bewunderer hatte wie Swetlana. »Wozu noch warten? Die beiden lieben sich, und wir sollten ihnen unseren Segen geben. Vergessen Sie nicht, ich selbst war gerade achtzehn geworden, als Sie mich heirateten. Und die Hochzeit braucht ja auch in diesem Fall erst im Spätsommer zu sein. Swetlana hat nämlich im August Geburtstag«, wandte sie sich an Boris.

Er kam zu ihr und küßte ihre Hand. »Danke. Tausend Dank für Ihre Zustimmung, Gräfin.«

Er warf einen bittenden Blick zu Lasarow hinüber. »Und Sie? Nicht wahr, Sie sagen doch jetzt ebenfalls ja?«

Lasarow erhob sich aus seinem Ledersessel. »Nun, ich denke, wir sollten erst einmal Swetlana hereinrufen.«

Sie hatte in einem der Salons gewartet und kam sofort, als ihr Vater die Tür zur Bibliothek öffnete und nach ihr rief.

Sie trug ein goldbraunes Morgenkleid mit breiter Schärpe und das Haar mit einer Samtschleife zurückgebunden.

»Was höre ich denn da, mein Kind«, sagte Graf Lasarow mit einer bei ihm ungewohnten Rührung. »Du willst diesen jungen Mann hier heiraten? Hast du dir das auch gut überlegt?«

Sie wurde rot, nickte und lächelte. »Ja, Papa, ich glaube schon.«

»Ach, mein liebes, liebes Kind!« Wera Karlowna brach in Tränen aus. Sie liebte sentimentale Auftritte. Schluchzend zog sie Swetlana an die Brust. »Gott segne dich. Und Sie auch, mein lieber Sohn«, wandte sie sich an Boris, um ihn gleichfalls zu umarmen. »Machen Sie mein Kind glücklich.«

»Das werde ich«, versprach Graf Barschewskij und blickte so strahlend drein, daß Swetlana nicht anders konnte, als ihm beide Hände zu reichen, die er an sein Herz drückte.

Und wieder war sie ganz sicher, ihn zu lieben. Es gab überhaupt nichts, das sich zwischen sie stellen konnte.

Mazurka in St. Petersburg

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