Читать книгу Sophienlust Staffel 15 – Familienroman - Susanne Svanberg - Страница 6

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Trotz des geöffneten Fensters herrschte in dem Eisenbahnabteil drückende Schwüle. Betti, das Hausmädchen von Andrea von Lehn, atmete insgeheim auf, als sie merkte, dass sich die vierköpfige Familie, die bisher das Geschehen in dem kleinen Raum diktiert hatte, offensichtlich ihrem Reiseziel näherte. Das Familienoberhaupt suchte die Koffer und die übrigen Gepäckstücke zusammen und ermahnte die beiden Söhne, die herumliegenden Reste von Äpfeln sowie andere Überbleibsel des Reiseproviants wegzuräumen.

Als die vier das Abteil verlassen hatten, kam es Betti beinahe leer vor. Außer ihr war jetzt nur noch eine junge Frau mit einem Kind da. Das Kind, ein ungefähr drei- bis vierjähriges Mädchen, hatte sich an die Mutter geschmiegt und schlief. Betti wunderte sich, dass das Kind schlafen konnte, denn die beiden Jungen hatten einen beträchtlichen Lärm vollführt. Doch nun war außer dem Rattern der Räder kein Geräusch mehr zu vernehmen.

Betti erhob sich, um ihren Platz zu wechseln. Sie setzte sich ans Fenster und blickte hinaus auf die vorbeifliegenden Bäume und Häuser. Sie schämte sich ein wenig, dass sie gute Laune hatte. Wenn man von einem Begräbnis kam, hatte man schließlich nicht heiter, sondern traurig zu sein. Aber Betti konnte beim besten Willen keine große Trauer wegen des Ablebens ihrer Großtante Therese empfinden. Erstens hatte besagte Großtante das hohe Alter von sechsundachtzig erreicht und zweitens hatte Betti ihr nicht besonders nahe gestanden, sodass sie die Tante in den letzten Jahren kaum zu Gesicht bekommen hatte. Aber trotzdem hatte Großtante Therese ihr ihre gesamten Ersparnisse vermacht. Es handelte sich dabei zwar nicht um eine große Summe, aber es war so viel, dass Betti sich rosigen Träumen hingab. Sie sah sich in einer hübsch eingerichteten Wohnung herumwirtschaften – oder vielleicht sogar, wenn sie Glück hatte, in einem kleinen Häuschen.

Was wohl Helmut dazu sagen wird?, überlegte das Hausmädchen. Sicher wird er sich freuen, obwohl … Unbewusst runzelte Betti die Brauen. Als sie vom Tod ihrer Großtante erfahren und Frau von Lehn um einen kurzen Urlaub gebeten hatte, um zu dem Begräbnis fahren zu können, hatte Helmut Koster darauf bestanden, seine Verlobte zu begleiten. Es war sehr schwer gewesen, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Jetzt, im Nachhinein, war Betti sich noch immer nicht klar darüber, warum sie Helmuts Begleitung eigentlich abgelehnt hatte. Sie hatte vorgegeben, ihn nicht von seiner Arbeit abhalten zu wollen, aber sich selbst gegenüber gestand sie ein, dass sie nur ein Vorwand gewesen war.

Konnte es sein, dass sie einfach eine Abneigung dagegen hatte, mit Helmut ein paar Tage allein zu sein? Betti schüttelte über sich selbst den Kopf. Was wollte sie denn? Helmut liebte sie, und sie erwiderte seine Liebe.

»Mami, Mami, sind wir bald da?« Die Stimme des kleinen Mädchens, das soeben erwacht war, riss Betti aus ihren Grübeleien.

»Nein, wir sind noch nicht da, schlaf weiter«, erwiderte die Mutter.

»Ich mag nicht mehr schlafen. Ich bin ganz munter. Lass mich zum Fenster. Ich möchte hinausschauen.«

Die Kleine kletterte auf den Sitz gegenüber von Betti und streifte dabei deren Rock.

»Kannst du nicht aufpassen, Evi?«, wurde sie von ihrer Mutter ermahnt. »Du machst das Kleid der Dame schmutzig.«

Evi warf Betti einen schuldbewussten Blick zu, doch diese meinte lächelnd: »Es ist nicht so schlimm. Falls mein Rock wirklich schmutzig geworden ist, kann ich ihn leicht waschen. Schau einmal, siehst du die beiden Pferde auf der großen Wiese?«

»O ja. Schade, jetzt sind sie weg.«

»Ja, der Zug fährt recht schnell«, erwiderte Betti.

»Mami, hast du die beiden Pferde gesehen?«

»Nein«, entgegnete Evis Mutter mit gelangweilter Stimme.

»Eines war schwarz, das andere braun«, erzählte Evi. »Leider war kein weißes dabei. Mir gefallen weiße Pferde am besten. Dir auch?«

»Ja, ja«, sagte Evis Mutter.

»Weißt du noch, als wir bei dem Mann, dem … Wie hat der Mann geheißen?«

»Ach, lass mich in Frieden! Wie soll ich wissen, an wen du denkst?«

»An den Mann, der zwei weiße Pferde im Stall hatte. Kannst du dich an ihn erinnern? Wir waren mit Vati dort.«

»Hör endlich auf, von weißen Pferden zu faseln. Wen interessiert denn das?«

Betti sah die junge Frau erstaunt an. Sie konnte sich deren Verhalten nicht recht erklären. Warum war sie so ungeduldig mit dem Kind? Evi war ein niedliches kleines Mädchen mit dunklen Locken und blauen Augen. Wenn das mein Kind wäre, dachte Betti, wäre ich stolz darauf und würde ihm keine so unfreundlichen Antworten geben.

Evi schien jedoch an die abweisende Art ihrer Mutter gewöhnt zu sein, denn sie plauderte unbekümmert weiter: »Ich mag auch Kühe gern. Am liebsten habe ich Rehe.«

»So?«, fragte Betti. »Rehe sieht man nur selten. Sie sind sehr scheu und laufen davon.«

»O nein. Ich habe schon oft im Wald welche gesehen. Früher, als wir noch bei Vati wohnten.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Kindes. »Jetzt wohnen wir leider nicht mehr im Wald«, fügte es traurig hinzu.

»Rede keinen Unsinn zusammen«, wies die Mutter ihre kleine Tochter zurecht. »Wozu brauchst du einen Wald? Sei froh, dass wir in der Stadt eine so günstige Wohnung gefunden haben.«

Evi sagte nichts mehr, aber ihr Gesichtsausdruck verkündete deutlich, dass sie anderer Ansicht war als ihre Mutter.

Das Kind tat Betti ein wenig leid. Deshalb sagte sie: »Ich kann gut verstehen, dass du gern im Grünen wohnen würdest. Mir geht es genauso, aber ich habe das Glück, bei einer Familie zu leben, die ein Haus auf dem Land besitzt.«

Evi hörte interessiert zu. »Sind das deine Eltern?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte Betti, »ich habe keine Eltern mehr.«

»Du Arme!«, rief Evi spontan aus. »Ich habe wenigstens noch meine Mami. Schöner würde es aber sein, wenn auch Vati …«

»Musst du unbedingt unsere Familienangelegenheiten vor Fremden ausplaudern?«, wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen.

»Ich plaudere nichts aus«, verteidigte sich Evi. »Ich wollte der Frau nur von meinem Vati erzählen.«

Evis Mutter seufzte und wandte sich an Betti. »Das Kind ist so schwierig«, klagte sie.

Betti staunte. Auf sie machte Evi nicht den Eindruck, ein schwieriges Kind zu sein. »Wirklich?«, murmelte sie deshalb vage.

»Sie will nicht einsehen, dass mir einfach kein anderer Ausweg blieb, als mich von meinem Mann scheiden zu lassen«, sagte Evis Mutter. »Nun quält sie mich, indem sie dauernd von ihm redet. Jeder zweite Satz beginnt mit: Als wir noch bei Vati im Wald wohnten …«

»Wahrscheinlich hat sie Sehnsucht«, mutmaßte Betti.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Sie wird diese Sehnsucht unterdrücken müssen«, meinte sie kühl.

»Könnte das Kind nicht seinen Vater ab und zu besuchen?«, wagte Betti vorzuschlagen.

Evis Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, das ist vollkommen ausgeschlossen«, erwiderte sie kurz.

Betti fühlte sich unbehaglich. Evis Familienangelegenheiten gingen sie wirklich nichts an. Sie überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch in eine andere Richtung lenken könnte.

Evi kam ihr dabei zu Hilfe. »Was ist das für eine Familie, bei der du wohnst?«, fragte sie.

Erfreut, über etwas Angenehmes reden zu können, erzählte Betti: »Es ist ein junges Ehepaar mit seinem Kind, dem kleinen Peter. Er ist blond und …«

»Ist Peter so alt wie ich?«, wollte Evi wissen.

»Nein, Peterle ist jünger. Er ist erst ein Jahr alt, also beinahe noch ein Baby.«

»Ach! Und er hat eine Mutti und einen Vati«, stellte Evi ein wenig neidisch fest.

Evis Mutter räusperte sich vernehmlich, sagte jedoch nichts.

»Hat Peter eine liebe Mutti und einen lieben Vati?«, fragte die Kleine weiter.

»O ja«, erwiderte Betti. »Peters Vater ist Tierarzt. Außerdem hat er zusammen mit seiner Frau ein Tierheim eingerichtet. Es heißt Waldi & Co. Der Chef des Tierheims ist nämlich ein Langhaardackel, der auf den Namen Waldi hört.«

Betti erzählte nun nicht nur von Waldi, sondern auch von den übrigen Insassen des Tierheims.

Evi hörte ihr mit immer größer werdenden Augen zu. »Ich möchte auch einmal das Pferdchen Billy und den Esel Fridolin und die Bären und die Hunde und alles andere sehen«, meinte sie schließlich sehnsüchtig.

»Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich mit dir einen Zoo besuchen«, schaltete sich ihre Mutter ein.

»Fein! Aber wirst du auch Zeit dafür haben?«, fragte Evi misstrauisch.

»Wir werden sehen«, erwiderte die Mutter.

Evi sah betrübt drein, sodass Betti sich bemüßigt fühlte, sie abzulenken. »Besuchst du einen Kindergarten?«, erkundigte sie sich.

»Ja. Aber es gefällt mir dort nicht«, erklärte Evi. »Die Tante ist so streng, und die anderen Kinder sind älter als ich. Bitte, erzähl mir noch etwas von Waldi und Hexe und Pucki und Purzel.«

Betti erfüllte dem Kind gern diesen Wunsch. Ihre Schilderung war so farbig, dass Evi wie gebannt lauschte.

»So, jetzt muss ich mich aber fertig machen zum Aussteigen«, sagte Betti nach geraumer Zeit. »Beinahe hätte ich übersehen, dass die nächste Station Maibach ist.«

»Du steigst schon aus? Schade. Steigen wir auch aus, Mami, oder fahren wir noch weiter?«

»Wir müssen noch weit fahren«, erklärte Evis Mutter.

»Schade«, wiederholte Evi. »Ich hätte dir noch stundenlang zuhören können«, wandte sie sich wieder an Betti. »Wie heißt du eigentlich?«

»Betti.«

»Auf Wiedersehen, Betti. Vielleicht …, vielleicht treffen wir uns wieder einmal. Meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht …« Betti hielt diese Möglichkeit für wenig wahrscheinlich, doch das wollte sie dem Kind nicht sagen. Sie verabschiedete sich nun auch von der Mutter und griff nach ihrem kleinen Koffer. Dann verließ sie das Abteil und trat auf den Gang hinaus.

Betti machte zunächst ein paar Schritte in Richtung des vorderen Ausgangs, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie befand sich im vordersten Waggon des Zuges. Deshalb würde es beim Einfahren in die Station für sie günstiger sein, den hinteren Ausstieg zu benützen. Sie würde ohnehin noch ein Stück zurückgehen müssen, um zum Ausgang des Bahnhofes zu gelangen. Deshalb ging sie jetzt gleich nach hinten, um dort auszusteigen.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, Betti!«

Betti drehte sich um. Evi war es irgendwie gelungen, die Tür des Abteils zu öffnen. Sie stand auf dem Gang und winkte der neugewonnenen Freundin nach. Sie sah ein wenig traurig aus, und schien drauf und dran, Betti zu folgen.

»Auf Wiedersehen, Evi. Nein, du darfst mir nicht nachlaufen. Ich steige gleich aus. Geh zurück zu deiner Mutti ins Abteil!«

Betti konnte nicht mehr erkennen, ob Evi dieser Aufforderung nachkam. Im gleichen Augenblick, als sie sie aussprach, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Betti wurde zu Boden geschleudert und wusste nicht mehr, wo sie sich befand. Ein paar Sekunden später rappelte sie sich jedoch wieder auf. Einen Moment lang fühlte sie überhaupt nichts, doch dann machte sich ein tobender Schmerz in ihrem rechten Schienbein bemerkbar. Sie blickte an sich herab und sah, dass ihre Strumpfhose zerfetzt war und an ihrem Bein Blut herabfloss. Sie biss die Zähne zusammen und murmelte: »Nur nicht ohnmächtig werden. Was mag nur geschehen sein?«

Vorsichtig trat Betti mit dem rechten Fuß auf. Obwohl er höllisch schmerzte, war ihr sofort klar, dass er nicht gebrochen sein konnte, denn sie konnte ihn belasten.

Betti fuhr sich über die Stirn. Um sie herum herrschte ein wüstes Durcheinander. Die Scheiben der Fenster und Abteiltüren waren zerbrochen, die Rahmen verbogen, das Holz zersplittert.

»Ein Zugunglück. Der Zug muss mit einem anderen zusammengestoßen sein«, sagte Betti ein paarmal leise vor sich hin. Sie vermochte nicht zu fassen, dass ihr so etwas zugestoßen war.

Die gellenden Schreie, die unaufhörlich aus einem der zerstörten Abteile drangen, brachten Betti in die Wirklichkeit zurück. Da drinnen gab es Verletzte, die sich allem Anschein nach nicht selbst befreien konnten. Sie musste versuchen, ihnen zu helfen.

Betti bemühte sich erfolglos, eine aus den Angeln gehobene Tür, die verklemmt war, beiseitezuschaffen. Ihre Kraft reichte dazu einfach nicht aus. Und dann hörte sie plötzlich etwas, was sie augenblicklich von den Schreien ablenkte. »Mami, Mami«, schluchzte ein verzweifeltes Stimmchen.

Evi! Das konnte nur Evi sein, die Kleine, mit der sie sich eben unterhalten hatte.

Betti brauchte nicht lange zu suchen. Das Kind saß unweit von ihr auf dem Boden und blickte mit weit aufgerissenen Augen starr vor sich hin.

Betti eilte auf Evi zu und stolperte dabei über ihren Koffer, der ihr vorhin aus der Hand gefallen war. Sie griff nach dem Kind und hob es hoch.

»Evi! Mein kleiner Liebling!« Ängstlich betrachtete sie die Kleine. Nein, Evi schien unverletzt zu sein. Es war beinahe ein Wunder.

»Tut dir etwas weh?«, fragte Betti trotzdem besorgt.

Das Kind sah sie an, aber seine Blicke schienen durch sie hindurchzugehen.

»Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin es, Betti.«

»Betti«, wiederholte Evi tonlos, doch dann kehrte die Erinnerung langsam zurück. »Ja, du bist Betti. Du hast mir von Waldi erzählt, und dann wolltest du aussteigen. Warum …, warum bist du jetzt hier? Was war das, der Krach …, und …«

Betti drückte Evi an sich und strich ihr über das dunkle Köpfchen. »Dir ist nichts geschehen«, flüsterte sie dabei.

Evi hob den Kopf. »Da schreit jemand. Hörst du es?« Sie schauderte zusammen. »Mami? Ist das Mami? Wo ist meine Mami? Mami! Mami!« Die Stimme des Kindes steigerte sich, es brüllte nun beinahe.

»Vielleicht ist deine Mami schon draußen auf dem Bahnsteig«, sagte Betti, obwohl sie wenig Hoffnung hatte, dass diese Vermutung zutraf. Doch auf alle Fälle wollte sie den Zug verlassen. Sie konnte nicht verantworten, mit dem Kind länger hierzubleiben.

Die lauten Schreie waren plötzlich verstummt. Dafür vernahm Betti von woanders ein dumpfes Stöhnen. Nein, sie konnte das nicht länger ertragen. Sie war zu schwach, um zu helfen. Ihre vordringliche Aufgabe war es, das Kind von hier wegzubringen.

Betti stolperte mit dem Kind auf dem Arm aus dem Zug, hinaus auf den Bahnsteig. Dort standen die Passagiere der hinteren Waggons, die unverletzt zu sein schienen.

»Eine Weiche war falsch gestellt«, hörte Betti jemanden sagen.

»Der vorderste Wagen ist arg zugerichtet. Ob da noch jemand drin ist?«

»Ja«, sagte Betti, »ich habe gehört, dass jemand geschrien hat.«

»Wir müssen nachsehen, ob wir etwas tun können«, sagte ein Mann entschlossen. Ein paar andere folgten ihm.

Bettis Blick irrte auf dem Bahnhof hin und her, aber Evis Mutter konnte sie nirgends entdecken. Nun eilten Polizisten, Ärzte und Feuerwehrleute herbei und machten es ihr unmöglich, das Gewirr zu überblicken. Sie stand wie betäubt da und hielt Evi noch immer fest an sich gepresst.

»Sie sind verletzt! Halten Sie sich bereit. Wir werden Ihre Wunde dann versorgen. Vorher muss ich sehen, ob es dringendere Fälle gibt.« Ein Arzt war an Betti vorbeigeeilt und hatte ihr diese Worte zugerufen.

»Mami! Ich möchte zu meiner Mami«, weinte Evi.

Ein vorüber kommender Polizist blieb kurz stehen und sagte zu Evi: »Was willst du denn? Du bist ja bei deiner Mami.«

Noch bevor Betti den Irrtum aufklären konnte, war der Polizist schon wieder weg. »Weine nicht, Evi«, tröstete sie das Kind. »Sieh doch die vielen Polizisten und Rettungsmänner. Es kann nicht mehr lange dauern, bis deine Mami gefunden ist.«

Betti musste sich sehr zusammennehmen, um die Furcht, die sie nicht losließ, vor dem Kind zu verheimlichen. Allem Anschein nach war es Evis Mutter nicht gelungen, sich aus den Trümmern zu befreien.

Betti sah angstvoll zu dem zerstörten Waggon hinüber. Dabei erkannte sie, was die Ursache des Unglücks gewesen war. Der Zug, in dem sie sich befunden hatte, war auf eine Draisine aufgefahren. Nur der erste Waggon war arg mitgenommen. Die anderen hatten den Zusammenprall heil überstanden.

»Da, da bringen sie jemanden«, rief Evi und zeigte auf zwei Männer, die eine Bahre trugen, auf der eine verhüllte Gestalt lag.

»Es ist ein alter Mann«, hörte Betti jemanden erzählen. »Er ist verblutet.«

Betti wandte sich erschüttert ab. Sie wusste, sie musste sich nach Evis Mutter erkundigen, doch sie schreckte vor dieser Frage zurück.

Endlich kümmerte sich ein Arzt um ihr verletztes Schienbein. Eine Krankenschwester nahm ihr währenddessen das Kind ab, wogegen sich Evi heftig wehrte. Sie rief dabei wieder: »Mami! Mami!«

»Du darfst gleich wieder zu deiner Mami«, versuchte die Schwester das Kind zu beruhigen. »Siehst du nicht, dass sie verletzt ist? Die Wunde muss versorgt werden.«

Die Krankenschwester unterlag dem gleichen Irrtum wie vorhin der Polizist. Sie hielt Betti für Evis Mutter.

»So, da haben sie noch einmal Glück gehabt«, sagte der Arzt, nachdem er Bettis Wunde gesäubert und einen Verband angelegt hatte. »Andere sind nicht so gut davongekommen. Sie können jetzt mit Ihrem Kind nach Hause gehen und morgen …«

»Das ist nicht mein Kind«, unterbrach Betti ihn. »Ich wollte schon die ganze Zeit … Ihre Mutter war im gleichen Waggon wie ich. Im vordersten. Ich konnte sie nicht finden.«

Der Arzt fasste Evi genauer ins Auge. »Ihre Mutter war im vordersten Waggon?«, fragte er langsam.

»Ja«, erwiderte Betti beklommen.

»Dann muss ich Sie bitten, mitzukommen«, sagte der Arzt. »Nein, das Kind lassen Sie besser einstweilen hier, in der Obhut der Krankenschwester.«

Benommen folgte Betti dem Arzt, der sie zur Eile antrieb. »Schnell, sie sind möglicherweise schon fortgefahren.«

Aber das Rettungsauto, in das man Evis Mutter gelegt hatte, stand noch am Bahnhofsgelände.

»Will man Evis Mutter ins Krankenhaus bringen?«, stammelte Betti.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob es sich wirklich um die Mutter des Kindes handelt«, sagte er, »aber es wurde nur eine junge Frau im vordersten Waggon gefunden.«

»Und? Was …, was ist mit ihr geschehen?«

»Sie war tot«, erklärte der Arzt einfach. »Man konnte ihr nicht mehr helfen. Ich wollte Sie bitten, sie zu identifizieren.«

Es blieb Betti nichts anderes übrig, als dieser Bitte nachzukommen. Der Arzt hob das Tuch, das die Tote bedeckte, hoch, und Betti blickte in das stille Antlitz von Evis Mutter, das seltsam friedlich und scheinbar unverletzt wirkte.

»Ja«, flüsterte Betti mit heiserer Stimme.

»Wissen Sie den Namen der Toten?«

»Nein. Ich habe erst vorhin im Zug ihre Bekanntschaft gemacht.« Es kam Betti völlig unwirklich vor, dass nur so kurze Zeit vergangen war, seit …

»Dann müssen wir das Kind einvernehmen«, unterbrach ein Polizist Bettis Gedankengänge.

»O nein«, wehrte Betti erschrocken ab. »Evi hatte einen Schock davongetragen. Ich lasse nicht zu, dass man sie quält.«

»Niemand wird das Kind quälen«, beschwichtigte der Polizist sie. »Wir werden sie einfach nach ihrem Namen fragen.«

Leider stellte sich heraus, dass Evi über ihren Zunamen keine Auskunft geben konnte. Entweder wusste sie ihn nicht, oder der Schock war so groß gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Sie weinte ununterbrochen vor sich hin und verlangte immer wieder nach ihrer Mutter.

»Wir müssen das Kind der Fürsorge übergeben«, meinte die Krankenschwester. »Wer weiß, wie lange es dauert, bis sich die Angehörigen melden.«

»O bitte, ich möchte Evi einstweilen bei mir behalten und sie mit nach Hause nehmen«, bat Betti.

Als Evi Bettis Stimme vernahm, beruhigte sie sich ein wenig und streckte verlangend die Arme nach ihr aus.

Diese Geste bewirkte, dass der Polizeiwachtmeister auf Bettis Verlangen einging.

»Warum nicht?«, meinte er schulterzuckend. »Das Kind hat Sie offensichtlich gern und vertraut Ihnen.«

Betti gab ihre Personalien und ihren Wohnort an. Sie wurde ermahnt, am nächsten Tag das Krankenhaus aufzusuchen, damit ihre Verletzung behandelt wurde, dann durfte sie zusammen mit Evi den Bahnhof verlassen.

Plötzlich hörte Betti eine vertraute Stimme, die ihr zurief: »Betti! Gott sei Dank, Sie leben! Ich hatte so fürchterliche Angst um Sie!«

»Frau von Lehn!«, stammelte Betti. »Wieso sind Sie hier?«

»Ich wollte Sie vom Zug abholen. Sie hatten mir doch geschrieben, welchen Zug Sie benutzen würden. Da dachte ich, ich komme mit dem Auto her, damit Sie nicht den Bus nehmen müssen.«

»Oh, Frau von Lehn …« Betti hatte ihrer Dienstgeberin so viel zu sagen, dass sie keinen Anfang fand.

»Es war schrecklich«, sagte Andrea an ihrer Seite. »Ich hatte mich verspätet. Als ich zum Bahnhof kam, hörte ich die Sirenen von Polizei und Feuerwehr. Die Straße war abgesperrt, und dann wollte man mich nicht zum Bahnhof lassen. Irgendwie bin ich aber doch durchgeschlüpft, und dann habe ich gemerkt, was geschehen ist. Aber Sie konnte ich nirgends finden. Ich …, ich befürchtete schon das Schlimmste. Eben wollte ich mich erkundigen, ob man Sie ins Krankenhaus gebracht hat.«

»Nein, ich bin so ziemlich unverletzt«, erwiderte Betti. »Aber das Kind …«

Es war Andrea natürlich nicht entgangen, dass Betti ein kleines Mädchen in den Armen hielt, das sich fest an sie drückte.

»Ist das arme Kind verletzt?«, fragte Andrea mitleidig. »Wir müssen es zu einem Arzt bringen, damit er …«

»O nein«, unterbrach Betti ihre Herrin. »Evi ist nicht verletzt. Aber ihre Mutter …«

Evi hörte das Wort Mutter, sah auf und begann von Neuem zu klagen: »Mami, ich will zu meiner Mami.«

»Still, Evi«, flüsterte Betti ihr zu. »Du kannst jetzt nicht zu deiner Mami. Weine nicht, ich bin ja bei dir.«

Andrea warf Betti einen fragenden Blick zu. Betti überkam es siedend heiß, dass sie ja noch gar nicht wusste, ob Frau von Lehn ihr erlauben würde, Evi mitzunehmen. Es war schließlich nicht ihr Haus, in das sie Evi bringen wollte.

»Ich habe …, ich wollte …«, begann Betti zu stammeln.

»Kommen Sie, wir gehen zu meinem Wagen«, sagte Andrea. »Es ist nicht gut für das Kind, wenn wir noch länger hier stehen bleiben.«

Betti war Andrea für diese Bemerkung dankbar, denn soeben trug man auf einer Tragbahre eine alte Frau vorbei, deren Gesicht mit blutenden Schrammen bedeckt war.

Andrea wandte sich ab und deutete auf Bettis Köfferchen, das dieser zuvor von einem Polizisten übergeben worden war und das sie achtlos auf eine Bank gestellt hatte.

»Das ist doch Ihr Koffer, nicht wahr?«, fragte Andrea.

»Ja, ja«, bestätigte Betti.

Andrea griff mit der einen Hand nach dem Koffer, mit der anderen nach Bettis Arm.

Sie führte das Mädchen zu ihrem Wagen, der in einer Seitenstraße parkte.

»So, da sind wir«, stellte Andrea aufatmend fest. »Jetzt können wir uns in Ruhe darüber unterhalten, was wir mit dem Kind anfangen. Ich nehme an, Sie haben die Erlaubnis, es mitzunehmen. Haben Sie gesagt, dass Sie es nach Sophienlust bringen werden?«

Das war ein naheliegender Gedanke. Sophienlust war ein Kinderheim, dessen Eigentümer Andrea’s Stiefsohn Dominik war. Bis zur Großjährigkeit dieses Bruders wurde es von dessen Mutter, Denise von Schoenecker, verwaltet.

»Mutti würde sich freuen, einen neuen Schützling zu bekommen«, fuhr Andrea fort. »Noch dazu, wenn es sich um ein so niedliches kleines Mädchen handelt.«

Betti machte ein trauriges Gesicht. »Ich habe gedacht …, gehofft …, dem Polizisten habe ich erklärt, dass ich Evi einstweilen bei mir behalten werde. Ich habe unsere …, ihre Adresse angegeben«, meinte sie zögernd.

»O natürlich, Sie wollen die Kleine nicht im Stich lassen«, erwiderte Andrea verständnisvoll.

»Dann darf ich …?«

»Freilich. Das kleine Mädchen soll bei uns wohnen, bis seine … Davon reden wir später«, unterbrach sich Andrea.

Betti war froh, dass Frau von Lehn vor dem Wort Mutter rechtzeitig innegehalten hatte. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, da sie Evi die Wahrheit mitteilen musste.

Jetzt kam auch schon die Frage von Evi: »Wohin fahren wir? Warum fährt Mami nicht mit? Wo ist sie?«

Evi war der Anblick ihrer toten Mutter erspart geblieben. Während Betti diese identifiziert hatte, war Evi bei der freundlichen Krankenschwester geblieben. Nun wusste Evi nicht, wo ihre Mutter war.

»Ach, Evi, mein Kleines …« Betti konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. »Irgendwann musst du es ja doch erfahren. Deine Mutti …«

»Ist sie mit dem Rettungsauto ins Krankenhaus gebracht worden? Die Leute auf dem Bahnhof haben gesagt, dass alle, die verletzt wurden, ins Krankenhaus gebracht wurden«, sagte Evi, die nun neben Betti im Fond des Wagens saß.

»Nein«, schluchzte Betti und rang gleichzeitig um Beherrschung. »Nein, deiner Mutter konnte der Arzt nicht mehr helfen. Sie ist …, sie ist … tot«, hauchte Betti.

»Tot?«, wiederholte Evi tonlos. Sie verstand nicht recht die Bedeutung dieses Wortes, fühlte aber, dass etwas ganz Furchtbares dahintersteckte.

Andrea hingegen verriss vor Schreck den Wagen. Sie trat auf die Bremse, fuhr aber dann weiter. Sie hatte sich entschlossen, sich nicht einzumischen. Am Abend würde Zeit genug sein, mit Betti zu reden.

»Tot?«, fragte Evi ein zweites Mal. »Ist sie nun fort? Kommt sie nicht mehr?«

»Deine Mami ist im Himmel«, sagte Betti leise.

»Aber dann werde ich sie nie mehr sehen …« Langsam begriff Evi die Wahrheit.

Betti drückte das Kind fest an sich. »Ich bin bei dir«, flüsterte sie ihm dabei zu.

Evi war von dem, was sie soeben erfahren hatte, vollkommen betäubt. Sie saß wie zu Stein erstarrt im Auto und rührte sich nicht. Auch Betti schwieg. Sie wusste nicht, wie sie das Kind trösten sollte. Der Verlust war zu schwer. Es gab keinen Trost.

Andrea fand ebenfalls keine Worte. Sie verstand nun, was Betti veranlasst hatte, sich um das verwaiste Kind zu kümmern. Aber halt – bisher war ja nur von der Mutter die Rede gewesen. Das Kind musste ja auch einen Vater besitzen, und dieser würde es sicher bald holen.

Endlich waren sie in Bachenau vor dem Haus der Familie von Lehn angekommen. Andrea hob Evi aus dem Auto und war dann auch Betti, die auf die Wunde an ihrem Schienbein achten musste, beim Aussteigen behilflich.

Evi stand regungslos da und schien ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Betti sah Andrea hilflos an.

»Zuallererst bringen wir das Kind zu Bett«, beschloss Andrea. »Und dann rufen Sie Frau Dr. Frey an, damit sie herkommt und sich Evi einmal ansieht.«

»Ja«, meine Betti. »Es war zu viel für die arme Kleine. Ich hätte ihr die Wahrheit verheimlichen sollen.«

»Das hätte nichts genützt«, erwiderte Andrea. »Früher oder später musste sie sie ja doch erfahren.«

Andrea wollte Evi in einem der Gästezimmer unterbringen, aber Betti erhob dagegen Einspruch.

»Nein, ich bringe es nicht übers Herz, das Kind auch nur für kurze Zeit allein zu lassen«, sagte sie. »Könnte ich nicht in meinem Zimmer ein zusätzliches Bett aufstellen?«

»Ja, das ist eine gute Idee«, fand Andrea.

Evi sagte gar nichts. Willenlos ließ sie alles über sich ergehen. Sie protestierte nicht, als Andrea sie auszog und ins Bett steckte. Doch als Betti sagte: »So, jetzt versuche zu schlafen. Ich komme bald wieder«, streckte sie die Arme aus und bat: »Bitte, bleib bei mir. Ich fürchte mich so.«

Andrea nickte Betti zu und meinte: »Setzen sie sich an ihr Bett. Ich werde selbst mit Frau Dr. Frey sprechen und sie bitten, uns aufzusuchen.«

Evi hatte das Wort Doktor aufgeschnappt und wurde dadurch so weit aus ihrer Lethargie gerissen, dass sie protestierte: »Ich mag keinen Doktor. Der sticht mich mit einer langen Nadel und tut mir weh.«

»Frau Dr. Frey sticht dich bestimmt nicht«, widersprach Andrea. »Du wirst sehen, dass sie sehr lieb und gut ist. Du darfst Tante Doktor zu ihr sagen.«

Aber das war Evi gleichgültig. Sie drehte ihr Gesicht zur Wand und verfiel wieder in dumpfes Schweigen.

Auch als Frau Dr. Frey kam, änderte sich daran nichts. Die Ärztin wunderte sich darüber nicht, denn sie hatte schon am Telefon von Andrea gehört, was Evi zugestoßen war.

»Ich werde noch öfter kommen müssen, um das Kind zu behandeln«, teilte sie Andrea mit, nachdem sie Evi in Bettis Obhut zurückgelassen hatte.

»Hat Evi doch irgendeine Verletzung bei dem Zusammenstoß davongetragen?«, fragte Andrea erschrocken.

»Nein, das ist es nicht. Aber sie hat einen argen Schock erlitten. Es wird geraume Zeit dauern, bis sie ihn überwunden haben wird. Ich werde sie morgen wieder besuchen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich auch gleich um Bettis Schienbein kümmern. Es ist nicht notwendig, dass sie deshalb extra nach Maibach zum Krankenhaus fährt!«

Andrea dankte Frau Dr. Frey und fügte hinzu: »Ich weiß noch gar nicht, wie lange Evi bei uns bleiben wird. Einstweilen tappe ich noch völlig im Dunkeln, was die Familienverhältnisse der Kleinen betrifft.«

Auch das Gespräch, das Andrea mit Betti führte, nachdem Evi eingeschlafen war, brachte in dieser Hinsicht keine Aufklärung. Betti schilderte Andrea haargenau, wie sie Evi kennengelernt hatte, dass die Eltern geschieden seien und dass irgendwo ein Vater existierte. Genaues wusste sie natürlich nicht.

»Ein Jammer, dass das Kind nicht einmal seinen Familiennamen kennt«, meinte Andrea. »Mit dem Hinweis, dass es früher bei seinem Vater im Wald lebte, ist nichts anzufangen.«

»Nein«, gab Betti zu.

»Nun ja, morgen werden alle Zeitungen von dem Eisenbahnunglück berichten. Gewiss wird sich dann jemand melden, der Evi kennt.«

*

Doch die Zeit verging, und niemand meldete sich. Die Polizei stellte Nachforschungen an, aber diese blieben ergebnislos. Die Tote hatte auch keinerlei Papiere bei sich gehabt, die einen Hinweis auf ihre Identität hätte geben können. Und Evi war nach wie vor nicht imstande, ihren Zunamen anzugeben, obwohl es Frau Dr. Frey mit viel Geduld gelungen war, sie aus dem Zustand der Verkrampfung, in dem sie sich befunden hatte, zu lösen.

Andrea unternahm keinen Versuch, Betti dazu zu überreden, Evi nach Sophienlust zu geben. Das innige Verhältnis, das zwischen dem Hausmädchen und dem Kind bestand, rührte sie. Nachdem Evi den ersten Schock überwunden hatte, kam ihr eigentliches Wesen, das heiter und anschmiegsam war, voll zum Vorschein. Sie liebte es, sich mit dem kleinen Peter abzugeben und mit ihm zu spielen, sie war gegenüber Andrea und deren Mann, dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn, zutraulich, aber am liebsten hielt sie sich in Bettinas Nähe auf. Natürlich behinderte sie das Hausmädchen manchmal bei der Arbeit, doch weder Andrea noch Betti nahmen ihr das übel.

Ohne es sich eingestehen zu wollen, war Betti froh, dass sich noch niemand gemeldet hatte, der Anspruch auf das Kind erhob. Betti hatte Evi so gern, dass sie sich eine Trennung von ihr nicht vorstellen konnte. Und Evi schien im Begriff zu sein, Betti als Ersatz für ihre Mutter zu akzeptieren.

Andrea beobachtete dieses Verhältnis mit wachsender Besorgnis. Sie befürchtete, dass eines Tages doch noch Angehörige des Kindes auftauchen und Evi mitnehmen würden. Das würde sowohl für Betti als auch für Evi ein schwerer Schlag sein.

Deshalb entschloss sich Andrea eines Tages, Evi vorsichtig über ihr früheres Leben auszufragen. »Denkst du manchmal an deinen Vati?«, begann sie.

»O ja«, erwiderte Evi sehnsüchtig. »Es ist schade, dass er nicht hier bei uns ist. Oder ich bei ihm. Nein, dann wäre Betti nicht bei mir. Ich weiß nicht …« Evi war verwirrt.

»Von Betti habe ich gehört, dass dein Vati in einem Wald wohnt«, tastete Andrea sich weiter vor.

»Ja, das stimmt«, bekräftigte Evi.

»Und hat es keine größere Stadt in eurer Nähe gegeben?«

»Stadt? Mit Mami habe ich in einer Stadt gewohnt. In einem großen hohen Haus. Viele andere Leute haben auch in dem Haus gewohnt. Wir hatten einen Lift«, schloss Evi stolz.

Damit konnte Andrea so gut wie gar nichts anfangen. »Und wie hat die Stadt geheißen, in der du mit deiner Mami gewohnt hast?«, forschte sie.

»Die Stadt geheißen? Was meinst du?«

»Nun, die Stadt muss irgendeinen Namen haben.«

»Eine Stadt hat einen Namen?«

»Ja.« Andrea begriff, dass dieses Gespräch zu keinem Ziel führen würde. Evi war noch zu klein. Sie konnte auf keinen Fall älter als vier Jahre sein, vielleicht sogar noch etwas jünger.«

»Na ja, dann geh wieder spielen«, meinte Andrea abschließend. »Peterle wird schon ungeduldig auf dich warten.«

Die Erwähnung ihres Vaters hatte in Evi jedoch Erinnerungen geweckt. »Ich habe meinen Vati sehr lieb gehabt«, sagte sie traurig. »Aber er ist krank geworden. Da war ein böser Mann, der hat bum bum gemacht, und Vati hat nicht mehr gehen können.«

»Was sagst du da?«, fragte Andrea erstaunt.

»Mein Vati kann nicht gehen. Nicht richtig. Nur mit … Ich weiß nicht mehr … Er ist lange im Bett gelegen, aber ich habe ja bei Mami gewohnt. Mami wollte Vati nicht besuchen. Sie hat gesagt, dass Vati …, dass Vati …« In dem Bemühen, sich zu erinnern, runzelte Evi die Stirn. »Mami hat gesagt, dass Vati auf unseren Besuch keinen Wert legt«, erzählte sie dann.

»So?«

»Ich weiß nicht, was Mami damit gemeint hat. Sie hat so böse ausgesehen.«

»Denke nicht darüber nach«, sagte Andrea. »Irgendwie wird es uns schon gelingen, deinen Vati ausfindig zu machen«, fügte sie mehr für sich selbst hinzu.

Evi verstand sie jedoch recht gut und meinte: »Dann muss ich wohl von hier und von Betti weg?« Diese Aussicht bekümmerte sie sehr.

Andrea seufzte. Einerseits wusste Evi nicht einmal ihren Zunamen, andererseits begriff sie Dinge, die ihr besser verborgen geblieben wären – wie zum Beispiel den Tod ihrer Mutter – sehr schnell.

*

Es gab noch jemanden, der die ständig wachsende Vertrautheit zwischen Betti und Evi mit Besorgnis beobachtete. Allerdings hatte Helmut Koster völlig andere Motive als Andrea von Lehn. Ihn plagte schlicht und einfach eine völlig unbegründete Eifersucht. Er liebte Betti, aber sie sollte ausschließlich ihm gehören – sonst niemandem.

Anfangs hatte der Tierpfleger gerechnet, dass Evi bald weggeholt werden würde. Dann würde sich das Problem von selbst lösen. Doch inzwischen waren ein paar Wochen vergangen, und nun hatte es den Anschein, dass Evi für immer bei Betti bleiben würde. Da konnte er sich nicht länger beherrschen.

Eines Tages kam er gerade dazu, als Betti einen besonders zärtlichen Kuss in Evis dunkle Locken drückte. Betti saß im Garten, beaufsichtigte Peterle und Evi beim Spielen und nähte dabei an einem roten Faltenröckchen für Evi. Ihren Verlobten bemerkte sie erst, als er schon neben ihr stand. Unbegreiflicherweise fühlte sie sich irgendwie ertappt. Sie ließ Evi los, fuhr ihr noch einmal über den Kopf und schickte sie zu dem kleinen Peter, der in einiger Entfernung damit beschäftigt war, Grashalme und Gänseblümchen auszuzupfen.

Dann sah sie zu Helmut auf. Sein Gesichtsausdruck irritierte sie, sodass sie beklommen fragte: »Was ist los?«

Helmut zog sich einen Gartenstuhl heran, setzte sich neben Betti und erwiderte zögernd: »Nichts ist los.«

Diese Antwort trug nicht dazu bei, Bettis Unbehagen zu vertreiben. Sie fühlte, dass Helmut ihr grollte, konnte sich aber nicht denken, warum.

Nachdem das Schweigen einige Minuten angehalten hatte, sagte Helmut: »Ist es unbedingt notwendig, dass du dauernd mit Evi beisammen bist?«

»Aber, Helmut, ich bin nicht dauernd mit ihr zusammen«, entgegnete Betti verwundert.

»Jedenfalls öfter als mit mir«, meinte der Tierpfleger finster.

»Das kann man nicht vergleichen«, sagte Betti. »Du hast deine Arbeit, und ich die meine. Mir fehlt die Zeit, ständig bei dir zu sein. Außerdem würde ich dir ohnedies nur auf die Nerven gehen, wenn ich den ganzen Tag über bei dir im Tierheim wäre.«

»Das dürfte eher umgekehrt richtig sein«, erwiderte er düster. »Ich bin derjenige, der dir lästig ist.«

»Helmut! Wie kommst du dazu, so etwas zu vermuten?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Um Evi bist du zärtlich besorgt, während ich …«

»Evi ist ein Kind!«, rief Betti aus. »Sie hat erst vor Kurzem ihre Mutter verloren. Ich muss einfach alles tun, damit sie diesen Verlust überwindet.«

»Ja, ja, das sehe ich ein. Ich bin schließlich kein Unmensch und habe Kinder gern. Nur finde ich, dass du in deiner Sorge um Evi gewaltig übertreibst.«

»Das ist nicht wahr. Ich habe das Kind sehr lieb, und deshalb … Bist du vielleicht gar eifersüchtig?«

Obwohl Betti ihn durchschaut hatte, bestritt Helmut energisch, von Eifersucht beherrscht zu werden. »Sei nicht lächerlich«, sagte er. »Wie könnte ich auf ein Kind eifersüchtig sein?«

»Eben«, meinte Betti. »Warum hast du denn überhaupt damit angefangen, mir meine Liebe zu Evi vorzuwerfen?«

»Ich werfe dir doch nichts vor«, verwahrte er sich.

»Ich bin nur der Meinung, dass Evi auch ohne deine Fürsorge zurechtkommen würde.«

»Sie hat doch niemanden und ist noch so klein«, wandte Betti ein.

»Gar so klein ist sie nicht.«

»Jetzt benimmst du dich lächerlich. Sicherlich, im Vergleich mit Peter wirkt Evi groß. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie jemanden braucht, der sich um sie kümmert.«

»Nun, dazu sind ihre Angehörigen da.«

»Die sich aber bisher noch nicht gemeldet haben.« Insgeheim war Betti darüber recht froh, aber das verschwieg sie.

»Nun ja, das ist alles sehr traurig«, gab der Tierpfleger zu. »Aber warum gestattest du nicht, dass man Evi nach Sophienlust bringt? Das wäre das Vernünftigste.«

»Evi hat sich an mich gewöhnt.«

»Umso schlimmer. Wenn ihr Vater doch noch kommen sollte, um sie zu holen, wird ihr der Abschied schwerfallen«, gab Helmut zu bedenken.

»Ja, du hast recht, aber …« Betti stockte.

»Du hoffst, dass ihr Vater nicht kommt«, meinte Helmut scharfsinnig.

Betti war um eine Antwort verlegen.

»Willst du das Kind etwa für immer bei dir behalten?«, fragte er.

Betti zögerte. Schließlich sagte sie: »Ich finde, es ist verfrüht, das in Erwägung zu ziehen.«

»In Erwägung zu ziehen! Betti, du spielst also wirklich mit dem Gedanken? Nein, das ist unmöglich. Schlag dir das aus dem Kopf!«

»Wie kannst du so mit mir reden?«

»Habe ich nicht ein Recht dazu? Hast du vergessen, dass ich dich gebeten habe, meine Frau zu werden?«

»Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich?«

»Dann hast du es dir also anders überlegt?«

»Sprich nicht so mit mir, Helmut«, bat Betti. »Warum sollte ich es mir überlegt haben? Dass ich mich um Evi kümmere, ist doch kein Grund dafür, nicht wahr?«

»Nein, natürlich nicht. Verzeih mir«, sagte er reumütig. »Du hast recht, ich bin bloß eifersüchtig. Ich will dich eben für mich allein haben. Manchmal träume ich von unserer gemeinsamen Zukunft. Geht es dir auch so?«

»Ja«, erwiderte Betti ohne rechte Überzeugung. Flüchtig dachte sie an die kleine Erbschaft von Großtante Therese. Sie erschrak, denn sie bemerkte plötzlich, dass sie Helmut noch nichts davon erzählt hatte. Es betraf doch auch ihn, da sie ihr zukünftiges Leben mit ihm teilen wollte. Sonderbar, warum hatte sie ihm eigentlich nicht sofort davon berichtet? Natürlich – da war Evi gewesen, die ihre Gedanken in hohem Maße in Anspruch genommen hatte. Aber trotzdem hätte sie Helmut von der Erbschaft erzählen müssen. Die Tatsache, dass sie nun ein wenig Geld besaß, bedeutete ja, dass sie und Helmut nicht länger gezwungen waren, mit der Hochzeit zu warten. Wenn er wollte, konnten sie sich sofort um eine passende Wohnung umsehen und heiraten. Die Frage war nur, was sollte dann mit Evi geschehen? Helmut schien nicht bereit zu sein, Evi als einen Teil ihrer Mitgift zu akzeptieren. Er würde darauf bestehen, dass Evi nach Sophienlust gebracht wurde. Oder würde er ihrer Bitte, Evi so lange zu behalten, bis sich ihr Vater meldete, doch entsprechen?

Betti entschloss sich, einen Versuch dafür zu wagen. »Übrigens muss ich dir etwas Wichtiges sagen«, begann sie.

»Etwas Wichtiges? Handelt es sich um etwas Unangenehmes?«, fragte Helmut.

»O nein, um etwas durchaus Angenehmes«, erwiderte Betti.

»Warum redest du denn so zögernd?«

»Weil ich fürchte, dass du böse sein könntest, weil ich es dir bis jetzt verschwiegen habe. Aber ich habe einfach nicht mehr daran gedacht. Großtante Therese hat mir ihre Ersparnisse hinterlassen. Es ist eine recht hübsche Summe. Ich hätte nie geglaubt, dass es ihr möglich sein würde, so viel Geld zurückzulegen und dass sie es ausgerechnet mir hinterlassen würde. Wir haben einander eigentlich gar nicht so nahegestanden.«

Betti merkte, dass sie sich allmählich in einen Wirbel hineinredete. Aber daran war nur Helmuts finsterer Gesichtsausdruck schuld.

»Das ist schön. Ich freue mich für dich«, sagte er endlich steif.

»Aber Helmut! Es hat doch nicht nur für mich Bedeutung. Ich meine, es ist doch auch für dich wichtig. Wir können uns eine Wohnung suchen und heiraten«, platzte Betti heraus, ärgerte sich aber gleich darauf über ihre voreiligen Worte, die sie eigentlich gar nicht hatte sagen wollen und die ihn keineswegs zu erfreuen schienen.

»Eine Wohnung?«, meinte Helmut zögernd. »Ich hatte nicht die Absicht, eine Wohnung zu suchen und …«

»Ach, du hast es also mit dem Heiratsantrag gar nicht ernst gemeint?«, fuhr Betti auf. »Und mich beschuldigst du, dass ich es mir anders überlegt hätte.«

»Nein, Betti, du irrst dich. Ich habe es ernst gemeint – und ich meine es immer noch ernst. Ich liebe dich doch. Glaub mir das bitte!«

Er versuchte, sie an sich zu ziehen, doch Betti wehrte ihn verlegen ab. »Doch nicht hier! Die Kinder sehen uns«, murmelte sie.

»Sie sehen nichts Schlimmes«, meinte Helmut, ließ Betti aber doch los. »Ich bin nur gegen die Wohnung«, fuhr er fort. »Ja, wenn du von einem Wohnwagen gesprochen hättest!«

»Einem Wohnwagen?«

»Hast du vergessen, dass ich vorhabe, wieder zum Zirkus zu gehen?«, fragte er. »Ich habe aus meinen Plänen kein Geheimnis gemacht, wir haben oft und oft darüber geredet. Wenn wir einen Wohnwagen hätten …«

»Ach, Helmut!« Betti wusste nicht, wie sie ihm beibringen sollte, dass sie seine Träume, zum Zirkus zurückzukehren, bisher nur für Hirngespinste gehalten hatte. »Du willst wirklich in einem Zirkus arbeiten?«

»Ja. Zweifelst du daran? Du warst doch mit meinen Plänen einverstanden. Und nun willst du plötzlich eine Wohnung suchen?«

»Auch ich habe Träume gehegt«, erwiderte Betti leise. »Ich träumte von einem kleinen Häuschen irgendwo auf dem Land, mit einem hübschen Garten, in dem unsere Kinder fröhlich spielen.«

»Davon hast du mir nie etwas gesagt«, rief Helmut betroffen aus. »Warum nicht?«

»Ich habe gedacht, dass es keinen Sinn hat. Wir hatten ja nicht vor, bald zu heiraten, und deshalb habe ich geglaubt, dass ich noch Zeit hätte. Außerdem hätte es sowieso keine Möglichkeit gegeben, meine Wünsche zu erfüllen. Wozu also darüber reden? Jetzt allerdings könnten wir sie verwirklichen«, setzte Betti sehnsüchtig hinzu.

Helmut schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann meine Träume nicht so ohne Weiteres aufgeben«, erwiderte er. »Ich will noch nicht sesshaft werden. Vielleicht später einmal, wenn wir älter geworden sind. Jetzt möchte ich in der Welt herumkommen, Abwechslung haben und neue Eindrücke gewinnen. Das Leben ist so kurz. Ich will es genießen.«

»Das will ich auch«, erwiderte Betti, »aber eben auf eine andere Weise.«

»Sesshaft werden und Kinder bekommen kannst du immer noch«, meinte Helmut. »Du bist doch noch so jung!«

»Du möchtest also, dass ich zum Zirkus mitkomme«, stellte Betti fest. »Ja, aber du hast mir nie konkret gesagt, was ich dort machen soll. Glaubst du, ich will den ganzen Tag untätig herumsitzen, während du mit den Tieren zu tun hast?«

»Irgendeine Beschäftigung wird sich auch für dich finden.«

»Welche, bitte?«

»Nun – so schnell fällt mir nichts ein. Lass mich nachdenken.«

Betti gewährte ihm diesen Wunsch, und so saßen sie eine Weile stumm nebeneinander.

Endlich kam Helmut eine Erleuchtung. »Ich hab’s!«, rief er und ließ seine Blicke anerkennend über Bettis wohlgeformte Gestalt schweifen. »Du könntest als Nummerngirl auftreten.«

Betti musste diesen Vorschlag erst verdauen. »Du meinst, ich soll in einem knappen, tief ausgeschnittenen Kostüm herumgehen und …«

»Du hast eine tadellose Figur«, warf er ein. »Du würdest sehr gut auf die Zuschauer wirken.«

»Ich soll mich von fremden Leuten – von Männern – angaffen lassen? Nein, so etwas tue ich nicht«, erklärte Betti entschlossen.

»Ich finde derlei Bedenken zimperlich«, erwiderte Helmut.

»Wärst du denn nicht eifersüchtig?«, fragte sie mit großen Augen. Dabei dachte sie an sein Verhalten Evi gegenüber.

»Ich würde schon dafür sorgen, dass dir niemand zu nahe tritt«, erwiderte er, fügte jedoch hinzu: »Aber wenn du absolut dagegen bist, will ich dich natürlich nicht dazu zwingen. Sicher gibt es auch noch andere Möglichkeiten, dich im Zirkus nützlich zu machen.«

Betti verspürte kein Bedürfnis, nach diesen anderen Möglichkeiten zu forschen. Außerdem war es Zeit, mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen.

»Wir wollen uns ein anderes Mal weiter über dieses Thema unterhalten«, sagte sie deshalb abschließend und faltete ihre Näharbeit, an der sie in der letzten halben Stunde keinen Stich getan hatte, zusammen. Dann rief sie nach den Kindern.

Diese hatten sich, ohne dass es Betti aufgefallen war, ein ziemliches Stück entfernt, sodass sie aufstehen und die beiden Kleinen holen musste. Peterle kauerte mitten in einem Erdbeerbeet und Evi stand daneben. Als Peterle Betti herankommen sah, richtete er sich mit Evis Hilfe auf und krähte Betti entgegen: »Bebe – Bebe!«

Dabei streckte er sein rechtes Fäustchen, in dem er einige zerdrückte Erdbeerblüten fest umklammert hielt, dem Hausmädchen entgegen.

»O weh, Peterle, was hast du denn da angestellt! Das sind Erdbeerblüten. Die darf man nicht pflücken, sonst können wir keine Erdbeeren ernten.«

Enttäuscht öffnete Peter seine Faust und ließ die Blüten zur Erde fallen. Er hatte mit den Blumen Betti eine Freude bereiten wollen, aber unbegreiflicherweise war ihm das misslungen.

»Du hättest auch gescheiter sein können, Evi«, meinte Betti. »Hast du nicht bemerkt, was Peter da treibt?«

»O ja, aber ich habe auch nicht gewusst, dass das Erdbeerblüten sind«, verteidigte sich Evi.

»Na, es ist nun einmal geschehen«, sagte Betti. »Hoffentlich seid ihr in Zukunft klüger.«

Da Peterle an Evis Hand nur langsam vorwärtskam, bückte sich Betti und hob ihn hoch, um ihn zu tragen. Peterle prustete und sträubte sich. In letzter Zeit liebte er es nicht mehr so sehr, getragen zu werden.

Trotzdem schleppte Betti den strampelnden Jungen zum Haus, wo sie ihn seiner Mutter übergab, der sie sogleich von der Missetat des Kleinen berichtete.

Andrea maß ihren Sohn mit stolzen Blicken. »Er ist so ein liebes Kind«, stellte sie befriedigt fest. »Er wollte Ihnen mit den Blüten sicher eine Freude machen. Woher soll er denn wissen, dass man gerade diese Blüten nicht abreißen darf?«

»Nein, das konnte er freilich nicht wissen«, gab Betti zu. »Ich hätte nicht schimpfen sollen.«

Den Rest des Tages wirkte Betti bedrückt und niedergeschlagen, sodass Andrea fragte: »Haben Sie irgendeinen Kummer? Sie nehmen sich doch nicht etwa die Sache mit den Erdbeerblüten zu Herzen? Es wäre unsinnig, sich wegen einer so nichtigen Angelegenheit den Kopf zu zerbrechen.«

»O nein, das ist es nicht«, erwiderte Betti schnell. »Es ist …, ich habe …, ich habe mich heute Nachmittag über Helmut geärgert.«

»Ach so«, sagte Andrea, zögerte aber, Betti zu veranlassen, ihr ihr Herz auszuschütten.

Doch es bedurfte keines Drängens. Betti schilderte Frau von Lehn aus eigenem Antrieb ziemlich wortgetreu das Gespräch, das an diesem Tag zwischen ihr und Helmut Koster stattgefunden hatte.

»Er will die Idee, zum Zirkus zu gehen, einfach nicht aufgeben«, klagte Betti abschließend.

Später erzählte Andrea ihrem Mann von den Unstimmigkeiten, die zwischen den Verlobten herrschten. Als Hans-Joachim von Lehn von dem Ansinnen Helmut Kosters, Betti als Nummerngirl im Zirkus auftreten zu lassen, hörte, lachte er zuerst, wurde aber sofort ernst, als er Andreas bekümmertes Gesicht gewahrte.

»Du darfst dich nicht in Bettis Angelegenheiten einmischen«, warnte er.

»Das tue ich auch nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Betti in einem Zirkus auftreten könnte. Das ist absurd.«

»Nun ja, du hast recht …«

»Womöglich verlangt er als nächstes von ihr, dass sie zu den Löwen und Tigern in den Käfig schlüpft, oder dass sie sich von Trapez zu Trapez schwingt«, ereiferte sich Andrea.

Hans-Joachim konnte sich nur mit Mühe ein neuerliches Lachen verbeißen. Er erwiderte: »Ich glaube kaum, dass Helmut Koster derartige Dinge von Betti verlangen wird.«

»Wer weiß«, meinte Andrea düster. »Damals, als ich von der Verlobung hörte, habe ich mich aufrichtig gefreut. Es erschien mir so passend, dass Betti und Herr Koster heiraten wollten. Aber jetzt – jetzt bin ich gar nicht mehr so sicher, dass die beiden wirklich zusammenpassen.«

*

Die kleine Evi hatte keine Ahnung davon, dass es Differenzen zwischen Betti und ihrem Verlobten gegeben hatte, an denen sie indirekt die Schuld trug. Sie fühlte sich glücklich in Bettis Gegenwart und sprach nun nicht mehr so häufig von ihrer Mutter.

Evis erklärter Liebling war der kleine Peter. Sie konnte stundenlang mit ihm spielen, ohne dass ihr dabei langweilig wurde. Eine besondere Freude bedeutete es für sie auch, wenn die Kinder von Sophienlust zu Besuch kamen. Sie waren zwar alle älter als sie selbst, aber gerade deswegen bewunderte sie sie. Sogar die blonde Heidi, die ihr nur ungefähr ein Jahr voraus hatte, war für sie der Inbegriff der Weisheit.

Obwohl Evi bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Betti von den Rehen im Wald geschwärmt hatte, zeigte sie in Wirklichkeit ein wenig Scheu vor den Tieren. Der Umgang mit den großen Hunden Munko und Severin, der für Peterle eine Selbstverständlichkeit darstellte, war ihr ungewohnt.

Nur wenn die Kinder von Sophienlust kamen und mit den Tieren spielten, verlor sich auch Evis Furcht. Von Heidi angespornt, wagte sie es sogar, auf dem Esel Fridolin zu reiten, und staunte, dass es ihr gelang, sich oben zu halten und nicht abgeworfen zu werden.

Noch lieber aber beobachtete Evi die Tiere, die sich in dem großen Freigehege neben dem Tierheim aufhielten. Darunter gab es ein zahmes Reh, genannt Bambi, das Evi an die Zeit erinnerte, da sie noch bei ihrem Vater im Wald gelebt hatte. Seit sie im Haus des Ehepaares von Lehn wohnte, war es ihr Vorrecht, Bambi mit Brotresten zu füttern. Es gefiel ihr, wenn das Reh zutraulich aus ihrer Hand fraß und sich anschließend geduldig streicheln ließ.

Nun war wieder einmal ein Besuch der Kinder von Sophienlust angesagt. Evi konnte es kaum erwarten, bis endlich der Nachmittag herankam und Schwester Regine mit ihren Schützlingen erschien. Sie lief ihnen jauchzend entgegen und zog Peterle, der ihr kaum zu folgen vermochte, mit sich.

»Na, kannst du immer noch nicht allein laufen?«, begrüßte Henrik, Andrea’s Halbbruder, seinen Neffen.

»Lass ihn zufrieden, er wird es bald lernen«, verteidigte Pünktchen den Kleinen, den Henriks Worte ohnehin gleichgültig ließen.

»Alt genug wäre er schon«, brummte Henrik unzufrieden.

»Er ist noch nicht viel älter als ein Jahr«, nahm nun Andrea ihren Sohn in Schutz. »Ich kann mich erinnern, dass auch du in diesem Alter noch nicht laufen konntest.«

»Das sagst du …«

»Hört auf, euch zu streiten«, unterbrach Dominik seinen Bruder. »Ich finde, dass Peterle sich prächtig entwickelt.«

Dem konnte Andrea nur zustimmen. Nachdem sie alle Kinder begrüßt hatte, erlaubte sie ihnen, das Tierheim und das Freigehege aufzusuchen.

»Ob die zahmen Füchse Pitt, Patt und Spezi heute wohl hier sind?«, überlegte Fabian.

»Sicher sind sie hier. Wo sollten sie denn sonst sein?«, erwiderte Henrik.

»Vielleicht sind sie in den Wald gelaufen.«

Es dauerte eine Weile, bis die Kinder in dem weitläufigen Freigehege die Füchse aufgestöbert hatten. Schließlich aber konstatierten sie befriedigt, dass alle drei noch da waren. Den Igel Mumps fanden sie allerdings nicht, doch Andrea meinte: »Mumps verkriecht sich gern bei Tag. Er kommt erst gegen Abend wieder zum Vorschein.«

Die Kinder nahmen diese Erklärung zur Kenntnis. Als aber Nick mit viel Mühe den großen Stein, unter dem sich gewöhnlich die Ringelnatter Olga aufhielt, aufhob, erwartete ihn eine Enttäuschung. Der Platz unter dem Stein war leer.

»Wieso ist Olga nicht mehr da?«, fragte Heidi. »Hat sie sich woanders versteckt?«

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Andrea. »Sie scheint sich nicht mehr innerhalb unseres Geheges aufzuhalten. Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Dann ist sie also fort?«

»Ja, sie wird sich wohl in der Freiheit einen neuen Platz gesucht haben.«

»Schade.«

Evi war bei diesem Gespräch nicht recht mitgekommen, denn sie hatte Olga nie gesehen. Darum wollte sie jetzt wissen: »Wer ist das, Olga?«

»Eine Ringelnatter. Sie lag immer unter diesem Stein da.«

Mit dieser Auskunft war Evi nicht gedient. »Wie sieht eine Ringelnatter aus?«, fragte sie weiter. »Wie ein Käfer?«, vermutete sie.

»Ach, Evi, du Dummchen«, erwiderte Nick lachend. »Eine Ringelnatter ist eine Schlange.«

»Eine Schlange?« Evi überlegte. »Mein Vati hat einmal gesagt, dass es im Wald Schlangen gibt. Man muss aufpassen, dass man nicht darauf tritt. Sonst beißen sie, und man muss sterben. Ich bin froh, dass Olga nicht mehr da ist.«

»Aber nein, Olga war doch keine Giftschlange. Ringelnattern haben keine Giftzähne, sie sind vollkommen harmlos«, erklärte Pünktchen.

Evi ließ sich jedoch nicht überzeugen. Sie empfand keine Trauer über Olgas Verschwinden.

Auch die anderen Kinder vergaßen Olga bald, denn es trat ein Ereignis ein, das die Aufmerksamkeit aller auf sich zog.

Peterle hatte sich auf dem Boden krabbelnd wieder zu Evi gesellt und sich an ihrer Hand hochgezogen. Sie war nach ihm das kleinste aller Kinder und außerdem diejenige, die sich in letzter Zeit am meisten mit ihm beschäftigt hatte. Deshalb wich er kaum von ihrer Seite und hatte sich auch jetzt wieder fest an ihre Hand geklammert.

Andrea bemerkte das, und ein kleines bisschen Eifersucht stieg in ihr auf. »Na, Peterle, zu mir kommst du gar nicht mehr?«, rief sie dem Kleinen zu. »Ich bin wohl überflüssig geworden?«

Als Peter diese Worte hörte, drehte er sich zu seiner Mutter um, zog seine Hand aus Evis Hand und machte ein paar tollpatschige Schritte in Andrea’s Richtung.

Andrea war niedergekniet und hatte ihre Arme weit ausgestreckt. »Komm zu mir her, Peterle«, lockte sie. »Nicht fallen! Geh nur schön weiter.«

Peter zögerte. Sein eigenes Wagnis, aufrecht zu gehen, erschien ihm plötzlich höchst gefährlich. Er war schon drauf und dran, sich wieder ins Gras plumpsen zu lassen, als Andrea sagte: »Lauf doch her zu mir. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich fange dich auf.«

Peterle marschierte nun auf seine Mutter zu. Er stolperte zwar, aber es gelang ihm, sich aufrecht zu halten, bis er sicher in Andrea’s Armen gelandet war.

Andrea fing ihn auf und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Na, siehst du, du hast es geschafft«, freute sie sich. Dann blickte sie sich nach Henrik um und meinte triumphierend: »Hast du es gesehen? Peter kann laufen, allein, ohne dass er sich irgendwie festhält.«

Henrik gab zu, seinem Neffen Unrecht getan zu haben.

Peterles Vater wurde herbeigeholt, um die Neuigkeit zu erfahren.

»Ist das wirklich wahr? Peter kann laufen?«, fragte Hans-Joachim skeptisch.

»Natürlich ist es wahr. Alle haben es gesehen«, erwiderte Andrea. »Peter hat sich von Evis Hand losgemacht und ist zu mir herübermarschiert.«

»Na ja, das war vielleicht ein Schritt.«

»Nein, es waren mindestens drei Meter«, entgegnete Andrea.

»Mehr noch«, sagte Pünktchen. »Ich glaube, es waren vier Meter.«

»Nein, fünf.«

»Wenn ihr euch so weiter steigert, wird es bald ein Kilometer sein, den Peterle laufend zurückgelegt hat«, meinte Hans-Joachim lachend und sagte dann zu seinem Sohn: »Erzähl mir, wie es wirklich gewesen ist.«

»Papa«, erwiderte Peter.

»Ja, ich bin dein Papa. Nun zeig auch mir, wie du laufen kannst.«

Doch Peterle war vorerst nicht dazu zu bewegen, das Kunststück zu wiederholen.

»Ich merke schon, ihr habt alle miteinander geschwindelt«, sagte Hans-Joachim schließlich.

Irgendwie schien Peterle den Sinn dieser Worte, die deutlich den Unglauben seines Vaters ausdrückten, zu begreifen. Jedenfalls stapfte er schwankend auf Hans-Joachim zu. Diesmal waren es nur vier kleine Schritte, aber er legte sie ohne jede Hilfe zurück.

»Hurra!«, rief Henrik, »jetzt hat er es dir bewiesen.«

Alle lachten und freuten sich und lobten Peterle.

*

Die Nachforschungen der Polizei nach Evis Anverwandten hatte noch immer kein Ergebnis gebracht. Der freundliche Wachtmeister Kirsche aus Wildmoos war eines Tages im Haus der Familie von Lehn aufgekreuzt, um seinerseits zu versuchen, von Evi einen Hinweis zu erlangen. Aber auch seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Evi erzählte bereitwillig, jedoch ein wenig verworren, über das Leben, das sie früher bei ihrem Vati im Wald geführt hatte. Leider konnte niemand mit ihren Beschreibungen etwas anfangen. Nicht einmal der Beruf ihres Vaters ließ sich eruieren. Nur dass er nicht mehr richtig gehen konnte, betonte Evi immer wieder.

Wachtmeister Kirsch verabschiedete sich seufzend, und Betti atmete auf, als er endlich ging. Sie fand, dass er Evi nur unnötig in Aufregung versetzt hatte, was aber nicht ganz stimmte. Im Grunde genommen war Betti nur jeglichem Versuch, Evis Identität festzustellen, feindlich gesinnt. Allmählich festigte sich in ihr das Gefühl, dass Evi zu ihr gehörte. Sie wollte das Kind nicht mehr hergeben. Endlich hatte sie einen Menschen, der auf sie, und zwar hauptsächlich auf sie, angewiesen war.

Evi gab die Zuneigung, die das Hausmädchen für sie empfand, reichlich an Betti zurück. Bei Helmut Koster war das dagegen nicht der Fall.

Einige Tage hindurch war Betti ihrem Verlobten aus dem Weg gegangen. Da beide aber im gleichen Haus, beziehungsweise Betti im Wohnhaus und Helmut nicht weit davon im Tierheim, wohnten, war ein Ausweichen auf die Dauer nicht möglich.

Eines Abends, als Betti nach dem Abspülen das Geschirr in die Schränke einordnete, betrat Helmut Koster pfeifend die Küche und lud Betti zu einem Spaziergang ein.

Betti war darüber nicht erfreut, denn sie war mit sich selbst noch nicht ins Reine gekommen. Deshalb suchte sie nach einer Ausrede und stotterte: »Ich weiß nicht … Evi …«

»Musst du immer nur an das Kind denken? Wo ist Evi eigentlich? Ich sehe sie nirgends. Sie hängt doch sonst immer an deiner Kittelfalte.«

»Du redest nicht sehr freundlich …«

»Entschuldige, ich habe es nicht so gemeint. Aber wo ist Evi wirklich?«

»Sie schläft bereits. Sie hat am Nachmittag lange mit Peter im Garten herumgetollt, sodass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Deshalb habe ich beide Kinder heute zeitiger als sonst zu Bett gebracht.«

»Na, dann hast du wenigstens Zeit für mich.«

Dagegen konnte Betti nichts mehr einwenden. Außerdem gestand sie sich ein, dass sie Helmut wirklich sehr vernachlässigt hatte. Im Grunde genommen war es kein Wunder, dass er ihre Liebe zu Evi mit scheelen Augen betrachtete.

Betti bat Helmut, ein paar Minuten zu warten, und lief hinauf in ihr Zimmer, um sich ein wenig zurechtzumachen und ihre Strickjacke zu holen.

Als sie wieder herunterkam, griff Helmut besitzergreifend nach ihrem Arm und führte sie aus dem Haus. Draußen schlug er einen Weg ein, der am Waldrand entlang nach Wildmoos führte. Dabei meinte er: »So, hier sind wir endlich allein. Jetzt können wir ungestört miteinander reden. Das habe ich schon seit Tagen vor.«

Betti stimmte dem nur mit halbem Herzen zu. Ihr lag nicht sehr viel an einem Gespräch. Sie hätte damit lieber so lange gewartet, bis sie Näheres über Evi wusste. Vielleicht stellte sich heraus, dass Evis Vater sein Kind gar nicht wollte? Dann …

Helmut riss Betti aus ihren Grübeleien. »Du bist so geistesabwesend«, stellte er fest. »Woran denkst du? An mich gewiss nicht.«

Betti errötete, was von Helmut falsch ausgelegt wurde. »Oder hast du dich doch mit mir beschäftigt?«, fragte er. »Dann sag mir, ob dir noch etwas an mir liegt.«

»Aber, Helmut, das ist eine sonderbare Frage. Natürlich liegt mir an dir. Sonst hätte ich kaum eingewilligt, deine Frau zu werden.«

Helmut blieb stehen …, versuchte Betti zu küssen.

»Nicht, Helmut«, protestierte sie. »Jeden Augenblick kann jemand vorüberkommen.«

»Na und? Jeder weiß, dass wir verlobt sind.«

Das stimmte. Betti wunderte sich über sich selbst. Was war nur los mit ihr?

Helmut war durch Bettis ablehnendes Verhalten verstimmt. Schweigend schritten die beiden nun eine Weile nebeneinander her, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Betti hätte das Schweigen gern gebrochen. Sie war ein Mensch, der Unstimmigkeiten nur schwer ertrug. In den letzten Jahren war ihr Leben heiter und gleichmäßig verlaufen, wie es ihrem Wesen entsprach. Immer hatte sie frohgemut ihre Pflichten erledigt und war dafür von der Familie von Lehn mit Herzlichkeit und Anteilnahme belohnt worden.

Als Helmut Koster sie dann gebeten hatte, seine Frau zu werden, hatte sie geglaubt, ihren zukünftigen Lebensweg klar vor sich zu sehen. Ähnlich wie Andrea hatte sie eine Heirat mit dem Tierpfleger als überaus passend empfunden. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, diesen Antrag abzulehnen. Sie war glücklich gewesen, einen ehrlichen und gut aussehenden Mann zu bekommen, der sie aufrichtig liebte.

Erst durch Helmuts Schwärmerei vom Zirkus waren Zweifel in Betti aufgestiegen. Sie hatte sie zunächst nicht zur Kenntnis nehmen wollen, sondern sie einfach verdrängt. Aber nachdem das Schicksal ihr Evi zugeführt hatte, war ihr zu Bewusstsein gekommen, dass das Leben an Helmuts Seite für sie vielleicht doch nicht den Inbegriff des Glücks darstellte.

Betti biss sich auf die Lippen. Sie hatte oft genug von der großen Liebe gehört oder gelesen. Das sind Hirngespinste, dachte sie nun. Helmut hingegen verkörperte die Wirklichkeit. Wenn er nur – wenn er nur ein wenig auf meine Wünsche eingehen würde. Da ist Evi, die ich einfach nicht im Stich lassen kann.

Helmut schien die Gedanken, die Betti bewegten, zu erraten, denn er sagte: »Ich bin überzeugt, dass im Moment für dich nur Evi wichtig ist.«

»Nein, das stimmt nicht«, entgegnete sie.

»Natürlich steht Evi an erster Stelle …« Betroffen hielt sie inne.

»Ich habe es doch geahnt«, murmelte Helmut, ganz und gar nicht erfreut darüber, dass sich seine Ahnung bewahrheitet hatte. »Evi steht also an erster Stelle«, wiederholte er voll Bitterkeit.

»Ach, Helmut, leg doch meine Worte nicht auf die Waagschale«, rief Betti ärgerlich aus.

Helmut gab ihr keine Antwort. Mit zusammengezogenen Brauen dachte er nach. Schließlich hob er den Kopf und fragte: »Wenn du wählen müsstest – zwischen Evi und mir –, wie würde deine Entscheidung lauten?«

»Was soll das? Das ist doch Unsinn. Warum soll ich wählen müssen?«

»Ganz einfach deshalb, weil ich nach unserer Heirat mit dir allein sein möchte.«

»Das ist egoistisch, und …, und …«

»Du würdest also auf Evi nicht verzichten, wenn es darauf ankäme?«

»Du vergisst bei deinen Überlegungen, dass Evi nicht zu mir gehört. Jeden Tag kann sich der Vater melden und das Kind für sich beanspruchen.«

»Wovor du dich zu fürchten scheinst. Aber angenommen, der Vater meldet sich nicht, und du darfst Evi behalten.«

»Darüber würde ich mich freuen«, gestand Betti. »Ich verstehe nicht, was du gegen das Kind einzuwenden hast.«

»Ich habe nichts gegen das Kind einzuwenden, aber ich finde, dass es in Sophienlust sehr gut aufgehoben wäre. Warum belastest du dich damit?«

»Evi ist für mich keine Last«, erwiderte Betti mit einiger Schärfe.

»Aber für mich. Ich sehe nicht ein, dass wir unsere Ehe zu dritt beginnen sollen.«

»Ach, Helmut, da gibt es doch keine Schwierigkeiten. Evi ist so lieb und brav, und wenn wir dann noch eigene Kinder dazubekommen …«

»Davon kann vorerst keine Rede sein. Wenn ich eine Stelle beim Zirkus annehme, wären uns Kinder hinderlich.«

Betti seufzte. Der Zirkus schien in Helmuts Zukunftsplänen so fest verankert zu sein, dass es unmöglich war, ihn davon abzubringen.

»Du verlangst also von mir, dass ich auf Evi verzichte«, sagte Betti traurig.

»Du drückst dich etwas hart aus.« Helmut zögerte. Er hatte Gewissensbisse, aber er sah nichts Böses darin, Evi nach Sophienlust zu bringen. Sie würde dort glücklich sein, wie die anderen Kinder auch. Er verstand Betti einfach nicht.

»Wenn wir erst beim Zirkus sind und du ein wenig von der Welt gesehen hast, wirst du Evi vergessen«, begann er von Neuem.

»Nein!«

»Es hat wenig Sinn, dass wir weiter über dieses Thema reden«, meinte Helmut. »Wer weiß, was die Zukunft bringt.« Im Stillen hoffte er, dass es der Polizei doch noch gelingen würde, Evis Verwandte ausfindig zu machen.

Bettis Seelenfrieden jedoch war durch dieses Gespräch dahin. Als sie am Abend im Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum. Doch wie sehr sie alles auch drehte und wendete, sie gelangte jedes Mal zu dem gleichen Schluss: Sie war nicht gesonnen, Evi aufzugeben. Mit welchem Recht verlangte Helmut eigentlich von mir, dass ich nachgebe und ihm ein Opfer bringe, dachte sie. Ich soll nicht nur auf Kinder verzichten, sondern auch noch zum Zirkus gehen. Aber das reizt mich in keiner Hinsicht.

*

Zwei Tage später tauchte Wachtmeister Kirsch neuerlich im Haus der Familie von Lehn auf. Betti war mit Evi gerade unterwegs, um Lebensmittel einzukaufen, deshalb erfuhr Andrea von Lehn als Erste die Neuigkeit.

»Es handelt sich um das kleine Mädchen, das bei Ihnen lebt«, begann Wachtmeister Kirsch.

Andrea horchte gespannt auf. »Ja?«, fragte sie. »Weiß man inzwischen, woher es stammt?«

»Ich bin meiner Sache noch nicht sicher«, erwiderte Wachtmeister Kirsch vorsichtig. »Jedenfalls ist heute Morgen aus Hannover eine Meldung eingegangen, aus der hervorgeht, dass eine junge Frau und deren vierjähriges Töchterchen vermisst wird.«

»Diese Meldung könnte auf Evi und ihrer Mutter zutreffen«, meinte Andrea nachdenklich.

»Ja, dieser Gedanke kam mir sofort, als ich davon hörte«, stimmte Herr Kirsch ihr zu. »Umso mehr, da das Kind Eva heißt. Eva Gleisner. Die Mutter heißt Gisela Gleisner.«

»Seit wann werden die beiden vermisst?«

»Das ist aus der Meldung nicht klar hervorgegangen. Verschiedenen Leuten in einem großen Häuserblock in Hannover ist aufgefallen, dass Gisela Gleisner nicht von ihrem Urlaub zurückkam. Es hat eine Weile gedauert, bis sich jemand aufraffte und die Polizei verständigte.«

»Es ist also eine größere Zeitspanne verstrichen«, stellte Andrea fest.

»Ja. Unsereiner kann sich schwer vorstellen, wie es in einem riesigen Neubau zugeht. Die Leute sprechen kaum miteinander, und man kennt niemanden.«

»Ja, das erklärt das lange Stillschweigen«, sagte Andrea. »Und was soll nun geschehen?«

»Ich werde der Dienststelle in Hannover mitteilen, dass hier ein kleines Mädchen namens Evi wohnt, das mit der gesuchten Eva Gleisner identisch sein könnte. Vielleicht schicken sie dann jemanden her, der das Kind identifizieren kann.«

»Ja, das müssen Sie wohl tun«, erwiderte Andrea. Doch dabei dachte sie, Betti wird traurig sein.

Wachtmeister Kirsch verabschiedete sich, noch bevor Betti von ihren Einkäufen zurückkehrte. So blieb es Andrea überlassen, ihr Hausmädchen auf das Kommende vorzubereiten. Sie schickte Evi in den Garten, wo sie Peter Gesellschaft leisten konnte, und zog Bett in die Küche.

»Wachtmeister Kirsch ist gerade hier gewesen«, begann sie.

»Oh!« Bettis Miene verdüsterte sich. Sie ahnte, was der Polizist gewollt hatte.

»Er ist wegen Evi gekommen«, fuhr Andrea fort.

»Ja, natürlich«, murmelte Betti tonlos. Sie stellte den Einkaufskorb auf den Boden und sank auf einen Küchenstuhl.

Andrea setzte sich ihr gegenüber. »Nun machen Sie nicht so ein trauriges Gesicht«, versuchte sie Betti aufzumuntern. »Es ist ja noch nichts entschieden.«

»Man wird mir Evi wegnehmen«, seufzte Betti.

»Davon hat Herr Kirsch nichts gesagt …« Andrea brach ab. Es hatte keinen Sinn, falsche Hoffnungen in Betti zu erwecken. »Es muss Ihnen doch von allem Anfang an klargewesen sein, dass Sie das Kind eventuell wieder hergeben müssen«, setzte sie vorsichtig hinzu.

Betti nickte und schnupfte auf.

»Aber einstweilen ist es noch nicht so weit«, meinte Andrea tröstend und wiederholte Herrn Kirschs Mitteilungen.

Betti bemühte sich zwar, Andrea aufmerksam zuzuhören, doch ihre Gedanken machten sich selbstständig und kreisten nur um einen einzigen Punkt: Es bestand die Möglichkeit, dass Evis Identität festgestellt wurde, und dann …

Betti weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Mit feuchten Augen sah sie Andrea von Lehn an und murmelte: »Was soll ich jetzt machen?«

»Nichts. Wir können nur abwarten.«

*

Die folgenden Tage verstrichen für Betti mit einer qualvollen Langsamkeit. Wenn sie Evi beim Spielen beobachtete, tat ihr das Herz weh. Weder sie noch Andrea hatte dem Kind etwas von den Ausführungen Wachtmeister Kirschs erzählt. Wozu auch? Sie wollten Evi nicht verunsichern. Sie war heiter und glücklich und hatte sich ihrer neuen Umgebung völlig angepasst. Ihre Mutter erwähnte sie kaum noch. Dafür hing sie an Betti, als wäre sie seit eh und je mit ihr beisammen gewesen.

Die Situation war für Betti beinahe unerträglich. Manchmal war sie nahe daran, Evi zu fragen, ob ihr Zuname Gleisner laute, aber sie scheute jedes Mal davor zurück.

Trotzdem blieb Betti die Entscheidung nicht erspart. Herr Kirsch, dessen Uniform sie inzwischen beinahe so fürchtete, wie eine Verbrecherin, erschien wieder einmal bei den von Lehns. In seinem Schlepptau hatte er eine freundliche ältere Frau, die er als Gisela Gleisners Nachbarin vorstellte.

Evi wurde herbeigeholt. Sie warf einen Blick auf die fremde Dame und sagte höflich: »Guten Tag, Frau Buchmann.«

»Ach, Evilein, mein armes Kleines«, rief Frau Buchmann gefühlvoll aus. »Ich habe gehört, dass dir etwas Schreckliches passiert ist. Deine arme Mutter!«

Andrea von Lehn legte warnend den Finger auf die Lippen und bedeutete Frau Buchmann zu schweigen. Betti führte Evi wieder hinaus in den Garten, und Andrea bat Wachtmeister Kirsch und Frau Buchmann ins Wohnzimmer, wo sich auch Betti bald einfand.

»Es ist also wirklich Eva Gleisner?«, vergewisserte sich Wachtmeister Kirsch.

»Natürlich. Daran besteht kein Zweifel. Ich kenne doch das Kind«, erwiderte Frau Buchmann.

»Dann wissen Sie vielleicht auch die Adressen von Evis Angehörigen?«, fragte Herr Kirsch.

»Nein, leider nicht«, sagte die Nachbarin bedauernd. »Ich war mit Frau Gleisner nicht befreundet. Ab und zu habe ich mich mit ihr unterhalten und mich ein wenig mit dem Kind beschäftigt, aber sonst … Frau Gleisner wohnte noch nicht lange in unserem Block.«

»Dann können Sie also über Evis Vater auch keine Auskunft geben«, warf Andrea ein.

»Nein. Frau Gleisner hat mir nur einmal erzählt, dass sie geschieden sei. Sie scheint sich mit ihrem Mann überhaupt nicht verstanden zu haben und war allem Anschein nach froh, ihn los zu sein.«

Das klang wenig erfreulich.

»Ach, es ist zu schrecklich«, jammerte Frau Buchmann. »Gisela Gleisner war noch so jung, knapp achtundzwanzig. Was soll denn nun aus dem armen Kind werden?«

Andrea von Lehn und Betti tauschten einen verständnisinnigen Blick. Betti hätte am liebsten gesagt, das lassen Sie nur meine Sorge sein, aber sie beherrschte sich und schwieg. Erst musste man Näheres über Evis Vater in Erfahrung bringen.

»Schade, dass Sie uns über Evis Vater keine Angaben machen können«, sagte Wachtmeister Kirsch zu Frau Buchmann. »Aber jetzt, nachdem wir den Namen kennen, wird es nicht so schwer sein, ihn ausfindig zu machen.«

*

Das war in der Tat nicht schwer. Nach kurzen Ermittlungen fand die Polizei heraus, dass Evis Vater Erich Gleisner hieß und in einem Forsthaus im Bayerischen Wald lebte.

Wachtmeister Kirsch ließ Frau von Lehn über den neuesten Stand der Dinge nicht im Unklaren, und Andrea gab die Neuigkeit umgehend an Betti weiter.

Betti erschrak. »Nun ist es also bald so weit«, stellte sie entmutigt fest. »Evis Vater wird kommen und das Kind abholen.«

»Davon hat Herr Kirsch nichts gesagt«, meinte Andrea.

»Ach, ich mache mir keine Hoffnungen mehr«, erwiderte Betti. »Jetzt, da Erich Gleisner weiß, wo sich sein Kind aufhält, wird er es umgehend zu sich nehmen. Ich würde doch genauso handeln, wenn Evi meine Tochter wäre.«

»Sie vergessen das, was Evi uns über ihren Vater erzählt hat«, entgegnete Andrea nachdenklich.

»Wieso?« Betti sah ihre Dienstgeberin fragend an.

»Er kann nicht mehr richtig gehen.«

»Ja, das hat Evi gesagt. Aber ob das stimmt?«

»Auch die Angabe, dass ihr Vater im Wald wohne, erwies sich als zutreffend«, erinnerte Andrea ihr Hausmädchen.

Betti überlegte. »Sie meinen, wenn Evis Vater krank ist, ist er möglicherweise froh, dass sich jemand um das Kind kümmert«, fasste sie dann ihre Überlegungen zusammen.

»Ja, so etwas Ähnliches habe ich mir gedacht«, erwiderte Andrea und fügte vorsichtig hinzu: »Wahrscheinlich ist es falsch, in Ihnen Zuversicht zu wecken, aber ich selbst hoffe so sehr, dass Evi bei uns bleiben darf.«

Andrea verschwieg, dass sie sich über Erich Gleisner kein günstiges Urteil gebildet hatte. Es musste doch seinen Grund haben, dass sich Gisela Gleisner von ihrem Mann hatte scheiden lassen.

»Was hat Ihnen eigentlich Gisela Gleisner damals im Zug über ihren Mann erzählt?«, fragte sie ihr Hausmädchen.

»Ach, ich weiß nicht …« Betti dachte nicht gern an diesen schrecklichen Tag zurück.

»Da war doch etwas, dass Evi ihren Vater nicht besuchen dürfe – oder so ähnlich«, setzte Andrea ihrem Hausmädchen zu.

Betti zog die Stirn grübelnd in Falten. »Ja, Evis Mutter sagte, dass Evi die Sehnsucht nach ihrem Vater unterdrücken müsse, weil ein Besuch bei ihm nicht infrage komme«, erinnerte sie sich schließlich. »Daraus könnte hervorgehen, dass er sich nichts aus seinem Kind macht«, setzte sie eifrig hinzu.

»Wir müssen abwarten, so schwer es uns auch fällt«, sagte Andrea.

»Ja«, erwiderte Betti niedergeschlagen. Sie litt sehr darunter, mit der Ungewissheit leben zu müssen und keine Entscheidung treffen zu können.

*

So verstrichen einige unerquickliche Tage, bis Betti endlich aufatmen konnte. Eine nette Dame von der Fürsorgebehörde erschien bei der Familie von Lehn und brachte die befreiende Nachricht: Erich Gleisner will sich nicht um sein Kind kümmern.

Betti wagte das, was sie hörte, kaum zu glauben. »Ist das auch wirklich wahr?«, fragte sie erfreut.

»Eigentlich ist es traurig, wenn ein Vater nichts von seinem Kind wissen will«, meinte die Fürsorgerin dämpfend.

»Ja, das schon. Aber ich meine … Ich hoffe …« Betti stotterte verlegen.

»Sie haben Evi lieb gewonnen?«, erkundigte sich die Fürsorgerin.

»Ja, sehr …«

»Wir werden für das Kind einen Pflegeplatz suchen«, sagte die Fürsorgerin. »Wenn Sie wollen … Natürlich kann ich jetzt noch keine festen Versprechungen machen, aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Es wäre doch die beste Lösung, wenn unsere Betti Evi als Pflegekind bekäme«, schaltete sich Andrea ein.

»Erst müssen die notwendigen Formalitäten erledigt werden, aber das wird nicht lange dauern.«

»Ja, aber …«

»Oh, ich lasse Evi hier«, sagte die Fürsorgerin lächelnd, Bettis Einwurf richtig interpretierend.

»Was ist Evis Vater eigentlich für ein Mensch?«, erkundigte sich Andrea. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass jemand einfach auf sein Kind verzichtete.

»Ich kenne ihn nicht«, entgegnete die Dame von der Fürsorge. »Ich kann Ihnen nur das berichten, was ich von der Polizei erfahren habe. Er war früher Förster.«

»Früher?«

»Ja. Dann gab es einen Unfall. Sein Hüftgelenk wurde verletzt. Seitdem kann er seinen Dienst nicht mehr ausüben. Anscheinend ist das der Grund, dass er auch nicht für Evi sorgen kann.«

Die Fürsorgerin verabschiedete sich. Sie hielt ihr Versprechen. Die Formalitäten wurden rasch erledigt, und Betti erhielt die kleine Evi als Pflegekind zugesprochen.

Helmut Koster wurde nicht gefragt, sondern von den Ereignissen förmlich überrollt. Da er aber merkte, wie sehr sich Hans-Joachim und Andrea von Lehn darüber freuten, dass Bettis Wunsch in Erfüllung gegangen war, wagte er es nicht, seinen Groll zu zeigen.

»Nun hast du es also erreicht«, sagte er mit unbewegter Miene zu Betti.

»Ja.« Betti war wie verwandelt. Die Nervosität der letzten Tage war von ihr abgefallen, ihre Augen strahlten.

»Und an mich hast du dabei nicht gedacht«, warf Helmut ihr vor.

»Ach, Helmut! Evi ist ein so entzückendes Kind. Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, und du hast sie so lieb gewonnen, dass auch du sie nicht mehr hergeben willst.«

»Aber was soll geschehen, wenn wir von hier weggehen?«

»Einstweilen sind wir noch hier«, wandte Betti ein. »Du hast ja noch gar keine Stelle bei einem Zirkus.«

»Aber wenn …«

»Verdirb mir nicht die Freude«, bat Betti. »Im Moment ist alles in Ordnung – endlich! Ich mag mir jetzt nicht über die Zukunft Sorgen machen.«

Helmut gab sich geschlagen. Was sollte er auch unternehmen? Wenn er Einwände gegen Evis Verbleib bei Betti erhob, machte er sich bloß lächerlich oder stand als herzloser Bösewicht da. Und das wollte er auf keinen Fall. Außerdem rührte ihn ihre Liebe zu dem Kind doch irgendwie. Sie wirkte so fröhlich und sogar ein wenig ausgelassen, dass er sich seines Widerstandes schämte. Vielleicht hatte Betti wirklich recht. Vielleicht würde er sich an Evi gewöhnen.

*

Bettis strahlende Laune hielt jedoch nicht lange an. Sie hatte allen Grund zufrieden zu sein, aber tief in ihrem Inneren quälte sie was. Zuerst wusste sie nicht, was es war, und dann weigerte sie sich, die in ihr aufkeimenden Gefühle zur Kenntnis zu nehmen.

Es entging Andrea nicht, dass ihr Hausmädchen nach einigen Tagen ausgelassener Fröhlichkeit immer stiller und nachdenklicher wurde. Sie fragte sich, ob Betti ihren Entschluss, Evi zu sich zu nehmen, bereue, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Man brauchte nur beobachten, wie liebevoll und zärtlich Betti mit Evi umging, um zu wissen, dass sie das Kind nicht wieder hergeben würde.

Andrea entschloss sich, Betti auf den Zahn zu fühlen. »Fehlt Ihnen etwas?«, fragte sie.

»O nein – nein – nichts«, stammelte Betti erschrocken.

»Ist Herr Koster unfreundlich zu Ihnen?«, forschte Andrea weiter.

»Herr Koster? Helmut? Ich glaube, er hat sich damit abgefunden, dass Evi bei mir bleibt«, erwiderte Betti eher gleichgültig.

»Nun ja, aber irgendetwas stimmt doch mit Ihnen nicht«, meinte Andrea.

Betti wunderte sich über die Hellsichtigkeit ihrer Dienstgeberin. Sie selbst war sich über die Gedanken, die sie bewegten, nicht klar. Es fiel ihr deshalb auch schwer, sie in Worte zu fassen.

»Evi ist so glücklich hier bei uns«, sagte sie schließlich zögernd.

»Ja, das ist sie wirklich«, entgegnete Andrea warm. »Aber das ist doch ein Grund zur Freude.«

»Gewiss. Nur manchmal …, manchmal muss ich an ihren Vater denken. Ich habe Gewissensbisse.«

»Gewissensbisse?« Andrea schüttelte verwundert den Kopf.

»Evi ist doch sein Kind …« Betti wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte.

»Er hat auf Evi verzichtet«, meinte Andrea.

»Vielleicht hat er das gar nicht gern getan?«, erwiderte Betti nachdenklich.

»Unsinn. Er hat es getan.«

»Ja, aber vielleicht bereut er es.«

»Dazu ist es zu spät. Übrigens ist das nicht unsere Angelegenheit.«

»Trotzdem lässt es mir keine Ruhe. Ich muss immerzu daran denken, was Evis Vater alles versäumt, wenn er nicht mit seinem Kind beisammen ist.«

»Das sind Haarspaltereien.«

»Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte Evi gestohlen«, fuhr Betti fort, ohne auf Andreas Einwurf zu achten.

Andrea konnte Bettis Überlegungen nicht folgen. »Aber Evi ist doch vollkommen rechtmäßig ihr Pflegekind«, meinte sie realistisch.

»Rechtmäßig …«, wiederholte Betti und fuhr dann lebhafter fort: »Es sind mir Zweifel gekommen, ob ich wirklich im Recht bin – oder ob ich einfach egoistisch war, als ich Evi nicht hergeben wollte. Sie gehört ihrem Vater.«

»Ihr Vater wollte sie nicht, das steht doch eindeutig fest«, erklärte Andrea. »Wenn Sie Evi nicht genommen hätten, dann wäre sie zu anderen Leuten gekommen.«

»Ja, das stimmt«, gab Betti erleichtert zu, doch gleich darauf fügte sie traurig hinzu: »Trotzdem geht mir das Schicksal Erich Gleisners nicht aus dem Sinn. Wer weiß, ob er freiwillig auf Evi verzichtet hat. Wenn er ein kranker Mann ist, dann ist er möglicherweise gar nicht in der Lage, für sein Kind zu sorgen.«

»Nun ja, das ändert aber nichts an den Tatsachen.«

»Er hat vielleicht Sehnsucht nach seinem Kind«, gab Betti zu bedenken.

»Ich bin der Meinung, dass Sie Ihr Mitleid verschwenden«, erwiderte Andrea, und damit war die Sache für sie abgetan.

Auch Betti sagte nichts mehr. Sie bemühte sich, nicht mehr an Erich Gleisner zu denken. Ihre Pflichten ließen ihr auch kaum Zeit dazu. Die Kinder mussten beaufsichtigt werden, und seit Peter seine ersten freien Schritte gemacht hatte, war er kaum noch zu bändigen. Sein Interesse an der Umwelt war deutlich ausgeprägt, was seinen Eltern und Betti zwar sehr gefiel, aber manchmal zu unliebsamen Zwischenfällen führte.

Einmal konnte Betti gerade noch im letzten Augenblick verhindern, dass er, auf den Zehenspitzen balancierend, eine heiße Pfanne mit gerösteten Kartoffeln vom Herd zog.

Ein anderes Mal hatte Betti weniger Glück. Im Vorraum stand auf einem niedrigen Schränkchen eine kleine Vase aus handbemaltem Porzellan. Schon seit geraumer Zeit zeigte Peterle eine deutliche Vorliebe für dieses Erbstück, doch bisher hatte es sich jenseits seiner Reichweite befunden. Seit er laufen konnte, hatte sich das geändert. Doch daran hatte niemand gedacht.

Betti war gerade damit beschäftigt, den Teppich abzusaugen, als plötzlich Peterles Geschrei an ihre Ohren drang. Sie stellte den Staubsauger ab und sah sich nach dem Jungen um.

Das Geschrei des Kleinen war leiser geworden, er schluchzte nur mehr herzzerbrechend und sah zu Boden. Betti folgte seinen Blicken. O weh! Da lag die Vase, in zwei Stücke zerbrochen.

Peterle setzte sich abrupt nieder und wollte nach den Scherben greifen, aber Betti kam ihm zuvor. »Nein, warte – ich hebe das auf!«, rief sie. »Da muss man vorsichtig sein, sonst schneidet man sich in den Finger und blutet.«

Peterle verstummte und beobachtete Betti, wie sie die Stücke aufhob. Er schien zu hoffen, dass sie die Vase wieder ganz machen könne. Als er merkte, dass sie die Scherben auf das Schränkchen legte, ohne dass wieder eine Vase daraus wurde, brach er erneut in lautes Weinen aus. Das lockte seine Eltern herbei.

Hans-Joachim erschien als Erster. »Was soll dieses Geschrei? Hast du dir wehgetan, Peterle?«, fragte er und hob seinen Sohn auf. »Wein doch nicht so. Gleich ist alles wieder gut. Zeig mir, wo hast du dir wehgetan?«

Peter schluchzte auf.

Nun erschien auch Andrea. Auch sie war der Meinung, dass Peter hingefallen sei und sich wehgetan habe. Sie befühlte seinen Kopf, suchte nach einer Beule, fand jedoch keine.

Peterle streckte seine Hände aus. Andrea besah sie und meinte dann: »Außer dass sie schmutzig sind, kann ich an deinen Händen nichts entdecken.«

Betti hatte schon die ganze Zeit über die Angelegenheit aufklären wollen, kam aber erst jetzt zu Wort. »Peterle hat sich nichts getan«, erklärte sie. »Er hat bloß die Vase zerbrochen.«

»Bloß die Vase?« Hans-Joachims Blick fiel auf die Scherben. »Peter! Du schlimmer Junge!« Er stellte seinen Sohn auf den Boden und griff nach den beiden Bruchstücken.

»Schimpf nicht«, versuchte Andrea ihren Mann zu besänftigen. »Er hat es bestimmt nicht mit Absicht getan.«

»Das will ich auch hoffen«, grollte Hans-Joachim.

»Er ist doch selbst traurig darüber, dass die Vase kaputt ist«, meinte Betti. »Sie hat ihm so gut gefallen. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Wahrscheinlich hat er danach gegriffen, und sie ist ihm aus der Hand gerutscht.«

Andrea hatte Peterle wieder hochgehoben und wischte nun seine Tränen fort. »Wein nicht wegen der dummen Vase«, tröstete sie ihn.

»Dumme Vase?«, fragte Hans-Joachim vorwurfsvoll. »Das war ein Erbstück von Großtante Valeri. Meine Eltern haben immer sorgfältig …«

»Wenn es ein Erbstück ist, so hätte es ohnehin eines Tages Peter gehört. Er hat also nur sein Eigentum beschädigt«, unterbrach Andrea ihren Mann.

Über diese Beweisführung musste Hans-Joachim so lachen, dass er seinem Sohn verzieh.

*

Beinahe hätte Betti mit der Zeit Evis Vater vergessen. Doch Evi selbst war es, die eines Tages das Gespräch auf ihn brachte und Bettis nagende Zweifel zu neuem Leben erweckte.

Betti hatte für Evi einen roten Faltenrock und ein rotweiß gemustertes Jäckchen gestrickt und ließ das Kind nun die beiden Kleidungsstücke probieren.

Erst sah Evi an sich herunter, aber dann lief sie zum nächsten Spiegel, um sich und Bettis Erzeugnisse gebührend zu bewundern. Sie drehte sich nach rechts und nach links und war mit ihrer Erscheinung offenbar sehr zufrieden.

»Na, gefällt es dir?«, fragte Betti, die insgeheim von ihrem Werk sehr angetan war.

»Ja, es ist sehr schön!« Evi drehte sich noch einmal, sodass das Röckchen flog. »Das hast du schön gemacht«, sagte sie zu Betti. Doch zog sie ihre kleine Stirn kraus. »Schade, dass Vati mich nicht sehen kann«, meinte sie bedauernd. »Sicher würde ihm mein neues Gewand auch gefallen.«

»Hast du … Möchtest du deinen Vater wiedersehen?«, fragte Betti mit bebender Stimme.

Evi zögerte nicht mit der Antwort. »Ich werde ihn wiedersehen«, erklärte sie bestimmt. »Wenn ich groß bin, fahre ich zu ihm und pflege ihn so lange, bis er wieder gesund ist.«

Betti war sprachlos. Da lebte sie so eng mit dem Kind zusammen und hatte von diesem Vorsatz nie etwas geahnt. Zugleich musste sie über die Naivität des Kindes ein wenig lächeln, obwohl sie traurig war. »Ach, Evilein«, sagte sie, »es dauert doch noch so lange, bis du groß bist.«

»Dann möchte ich schon früher zu meinem Vati fahren«, erwiderte Evi.

»Aber, Evi, bist du denn nicht gern bei mir?«, fragte Betti.

»O ja, schon, aber Vati …« Evi stockte, und Betti sah ein, dass sie das Kind in keinen Zwiespalt stürzen durfte.

Betti überlegte und kam dann plötzlich zu einem Entschluss. »Weißt du was, Evi?«, sagte sie spontan. »Ich werde Frau von Lehn – Tante Andrea – um Urlaub bitten und mit dir zu deinem Vati fahren.«

»Oh, wirklich? Wir werden Vati besuchen?«

»Ja, das werden wir. So bald wie möglich fahren wir los.«

Es lag nicht in Bettis Natur, ein getroffenes Vorhaben lang aufzuschieben. Deshalb setzte sie Andrea von Lehn umgehend von ihrem Plan in Kenntnis.

Andrea war darüber nicht sehr begeistert. »Sind Sie sicher, dass dieser Besuch Evi guttun wird?«, gab sie zu bedenken.

»Ja, warum denn nicht?«

»Es ist möglich, dass sich der Vater dem Kind gegenüber ablehnend verhält«, meinte Andrea nachdenklich.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Betti. »Sogar Helmut ist in letzter Zeit sehr freundlich zu Evi, da wird doch ihr eigener Vater … Nein, ich bin überzeugt, er muss sein Kind einfach gernhaben.«

»Wie Sie meinen«, entgegnete Andrea etwas reserviert. »Ich will Ihnen nichts in den Weg legen. Ich hoffe nur, dass Sie und das Kind nicht enttäuscht werden. Kennen Sie überhaupt die Adresse von Herrn Gleisner?«

»Nein.«

»Ich werde mich erkundigen und nachsehen, welcher Zug für Sie am günstigsten ist. Selbstverständlich bringe ich Sie und das Kind zur Bahn.«

*

Insgeheim sah Betti einer neuerlichen Fahrt mit dem Zug nur mit Grauen entgegen. Aber es half nichts, sie musste ihre Furcht überwinden und durfte sie dem Kind nicht zeigen.

Mit gemischten Gefühlen verabschiedete sie sich von Andrea von Lehn, die sie und Evi wie versprochen zum Bahnhof nach Maibach gebracht hatte.

»Und schicken Sie mir ein Telegramm, wann Sie zurückkommen?«, rief Andrea ihr nach. Betti hatte den genauen Termin ihrer Rückkehr nicht angeben können, da es schließlich ganz auf den Empfang ankam, der ihr und dem Kind im Bayerischen Wald bereitet werden würde.

Evi schien keine bleibende Abneigung gegen Bahnfahrten davongetragen zu haben. Sie belegte ein leeres Abteil mit Beschlag, stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus, um Tante Andrea zuzuwinken. Betti verstaute den Koffer und eine Reisetasche. Viel Gepäck hatten sie nicht bei sich, denn sie würden umsteigen müssen.

Betti biss sich auf die Lippen und wunderte sich über Evis Unbefangenheit. Jetzt, wo sie im Zug saß, kehrte die Erinnerung an das Unglück in vollem Umfang zurück. Sie glaubte, neuerlich das Bersten und Krachen und die Schreie der Verletzten zu vernehmen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Was hast du, Betti?«, fragte Evi.

»Du bist ja ganz blass. Ist dir nicht gut?«

Betti riss sich zusammen. Evi war die Letzte, der sie ihre Angst eingestehen konnte. Zum Glück ging die Kleine von selbst über ihre Frage hinweg. »Freust du dich, dass du meinen Vati kennenlernen wirst?«, erkundigte sie sich und brachte Betti damit neuerdings in Verlegenheit. Mit einem Male kam ihr ihr Plan ungeheuerlich vor. Sah es nicht so aus, als ob sie sich einem wildfremden Menschen aufdrängen wollte? Sie hätte wenigstens vorher schreiben und sich erkundigen sollen, ob ihr Besuch überhaupt willkommen war. Doch nun war es zu spät dazu.

»Ja, ich freue mich«, sagte Betti ein wenig lahm zu Evi.

»Ich bin bloß müde. Gestern Abend war ich lange auf. Ich musste doch den Koffer packen und meine Bluse fertig­nähen …«

»Meine Bluse ist so schön. Vati wird staunen!« Evi kletterte auf Bettis Schoß und schlang ihre Arme um deren Hals. Dann plapperte sie munter drauflos und forderte Bettis ungeteilte Aufmerksamkeit.

Später stiegen andere Reisende zu, und Evi ergötzte sie mit Erzählungen von Peterles Streichen.

»Peterle ist wohl dein kleiner Bruder?«, fragte eine dicke ältere Dame.

»Nein«, erwiderte Evi und wurde nachdenklich. »Leider nicht.« Dann wandte sie sich an Betti und sagte: »Ich hätte so gern ein Brüderchen. Könntest du nicht schauen, dass ich eins bekomme?«

Die Anwesenden hielten Betti natürlich für Evis Mutter und lachten. Betti errötete und wechselte rasch das Thema.

Je näher sie ihrem Reiseziel kamen, desto aufgeregter wurde Evi. Betti erging es nicht anders. Im Stillen verwünschte sie, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Was würde Herr Gleisner von ihr denken? Aber eigentlich war das gleichgültig. Die Hauptsache war, dass Evi wieder mit ihrem Vater zusammenkam. Was immer Erich Gleisner für ein Mensch sein mochte, Betti war noch immer überzeugt, dass er sich über den Besuch seiner Tochter freuen würde.

Endlich verließen sie den Zug.

»Müssen wir noch einmal umsteigen?«, fragte Evi.

»Nur mehr in ein Taxi«, erwiderte Betti und streckte sich. Sie war steif nach der langen Fahrt. Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Zettel, auf dem sie die Adresse Erich Gleisners notiert hatte.

Als Betti die Adresse dem einzigen Taxichauffeur, den sie vor dem Bahnhof entdecken konnte, nannte, kratzte dieser sich daraufhin am Kopf, überlegte eine Weile und zog schließlich einen Plan zurate.

»Das ist ziemlich entlegen – mitten im Wald«, stellte er fest. »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen?«

»Natürlich«, erwiderte Betti und stieg in das Taxi um.

Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und fuhr los.

»Na, erinnerst du dich an die Gegend?«, fragte Betti die kleine Evi während der Fahrt.

»Ich weiß nicht«, entgegnete Evi ungewiss und starrte aus dem Fenster. »Es ist so lange her. Wenn wir nur schon bei Vati wären«, fügte sie sehnsüchtig hinzu.

Betti teilte diese Sehnsucht nicht. Sie wünschte nun beinahe, dass die Fahrt mit dem Taxi nie ein Ende nehmen würde. Doch dieser Wunsch war selbstverständlich unerfüllbar. Sie hatten schon vor einer Weile die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen und fuhren nun durch den Wald. Die Fahrbahn war schmal. Rechts und links davon gab es nur Bäume und Unterholz zu sehen. Der einzige Beweis von Zivilisation war die Straße und die nebenher laufende Hochspannungsleitung.

»So, da sind wir. Das muss das Haus sein«, sagte der Chauffeur und hielt. Betti stieg aus und entlohnte den Fahrer. Auch Evi kletterte aus dem Wagen und klammerte sich an Bettis Hand. Der Chauffeur hatte den Koffer und die Reisetasche an den Rand der Fahrbahn gestellt, ohne dass Betti es wahrgenommen hatte. Sie stand wie verzaubert da. Das, was sie sah, glich einem Bild aus einem Märchenbuch. Auf einer kleinen grasbewachsenen Anhöhe stand, von hohen Buchen umrahmt, das Forsthaus. Es war ein altes Haus mit einem spitz zulaufenden Giebel, dunklen Holzverschalungen im Erdgeschoss und einem Balkon mit geschnitztem Gitter, der sich über den ganzen ersten Stock hinzog. Über der Haustür befand sich ein Hirschgeweih, an den Fenstern gab es Kästen, die mit rot leuchtenden Blumen bepflanzt waren.

Das Grundstück wurde durch einen Zaun mit einem Gartentor zur Straße hin abgegrenzt. Auf dieses Tor lief Evi zu. Betti löste sich aus ihrer Verzauberung und eilte dem Kind nach. Neben dem Tor war ein gelber Briefkasten angebracht, auf dem in hübschen Metalllettern der Name Haslinger stand.

Betti hatte schon die Hand zur Glocke erhoben, als ihr Blick auf das Schild fiel. »Sind wir hier richtig?«, fragte sie Evi und sah sich gleichzeitig nach dem Taxi um, das aber längst weggefahren war.

»Ja!«, rief Evi freudig erregt. »Jetzt erkenne ich es wieder. Hier wohnt mein Vati.«

Durch diese Auskunft beruhigt, drückte Betti auf die Klingel. Lautes Hundegebell erscholl, und von irgendwoher kam ein braungefleckter Spaniel zum Tor gestürzt, um die Draußenstehenden zu verbellen.

Evi wich ängstlich zurück, und Betti merkte an dieser Reaktion, dass ihr der Hund unbekannt war.

»Ruhig, Ulli, ruhig! Ich komme ja schon!« Ein mittelgroßer Mann trat aus dem Haus. Als er näher kam, merkte Betti, dass er nicht mehr jung war. Sie schätzte ihn auf ungefähr sechzig Jahre. Sollte das Evis Vater sein? Doch ein Blick auf Evi bewies ihr, dass der Mann auch dem Kind fremd war.

Inzwischen hatte der Mann das Tor erreicht und fragte mit erstaunter Stimme: »Wollen Sie zu mir? Was wünschen Sie?«

Bettis Mut sank. Zum Glück war Evi weniger schüchtern. Sie erklärte unverblümt: »Ich will zu meinem Vati.«

»Zu deinem Vati?«

»Ja«, auch Betti hatte nun ihre Sprache wiedergefunden. »Wir wollen zu Herrn Gleisner. Er wohnt doch hier?«, erkundigte sie sich ängstlich.

Der Mann war einen Schritt zurückgetreten und rief überrascht aus: »Ach, dann bist du also die kleine Evi, Erichs Tochter!«

»Ja«, erwiderte Evi, »und das hier ist Betti, meine neue Mutti.«

So blieb es Betti erspart, sich vorzustellen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihren Besuch erklären zu müssen. »Ich dachte … Evi wollte so gern ihren Vater wiedersehen. Hoffentlich kommen wir nicht ungelegen?«

»Aber nein«, unterbrach sie der Fremde und stellte sich als Oberförster Haslinger vor. »Kommen Sie nur weiter.« Er schloss das Tor auf und ergriff Koffer und Reisetasche.

»Erich wird sich über den Besuch seines Töchterchens freuen, obwohl … Na, Sie wissen ja Bescheid«, meinte er dabei.

»Ich weiß gar nichts«, entgegnete Betti. »Ich kenne Herrn Gleisner nicht. Ich bin bloß hergekommen, weil Evi … Es hat mir keine Ruhe gelassen …« Es fiel Betti schwer, ihre Beweggründe, über die sie sich selbst kaum im Klaren war, einem Fremden zu unterbreiten.

Der Spaniel schnupperte neugierig an Evi, worauf sich das Kind hinter Betti flüchtete.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Ulli ist ein gutmütiger Hund. Er möchte dich nur kennenlernen«, sagte Herr Haslinger freundlich zu Evi. Und zu Betti gewandt, meinte er: »Sie sind mir keine Erklärungen schuldig. Es war gewiss gut gemeint von Ihnen, Evi hierherzubringen. Ich habe erst vor Kurzem von dem Unfall, bei dem Evis Mutter ums Leben kam, erfahren. Auch Erich war ahnungslos. Es war ein schwerer Schlag für ihn, obwohl er natürlich nichts mehr mit ihr zu tun hatte. Sie sind also Evis Pflegemutter?«

»Ja.«

»Meine Frau hat erwogen – Erich zuliebe –, ob wir das Kind zu uns nehmen sollten. Aber er wollte es nicht. Er meinte, es wäre eine zusätzliche Last …«

»Oh!« Betti sah Herrn Haslinger erschrocken an.

Der Förster nickte ihr zu. »Ja, es ist nicht einfach, mit Erich zurechtzukommen. Ich erzähle Ihnen das, damit Sie darauf vorbereitet sind, dass er Sie und das Kind möglicherweise ablehnend empfängt.«

»Ich hätte nicht herkommen sollen«, meinte Betti niedergeschlagen.

»O doch! Mir sind Sie willkommen, und Anna – meine Frau – wird sich auch freuen. Es hat sie ein wenig bedrückt, dass das Kind bei fremden Leuten aufwächst und nicht bei seinem Vater. Sie fand das unnatürlich, obwohl sie Evi nicht kennt. Wir sind erst nach Erichs Scheidung hierhergezogen. Und nun wird Evi also doch bei ihrem Vater …«

»O nein!«, wehrte Betti erschrocken ab. »Es soll nur ein kurzer Besuch sein. Ich nehme Evi wieder mit.«

»Ein paar Tage werden Sie aber doch bleiben. Anna wird Ihnen gleich ein Zimmer richten. Ich werde Sie zuerst mit meiner Frau bekannt machen und dann … Sie dürfen sich nicht einschüchtern lassen – von Erich, meine ich.«

Diese Worte trugen nicht dazu bei, Betti zu ermutigen. Sie begann die Begegnung mit Erich Gleisner nun ernsthaft zu fürchten.

Evi war während des kurzen Wortwechsels durch den Garten gelaufen. An manches konnte sie sich noch erinnern, anderes war ihr fremd.

»Wo sind denn die Sträucher mit den roten Beeren, die so gut schmeckten? Sind sie noch nicht reif?«, fragte sie.

»Ach, du meinst die Johannisbeerstauden. Die hat meine Frau weggegeben und dafür Blumen angepflanzt«, erwiderte der Förster.

Evi war enttäuscht. Als der Förster nach seiner Frau rief und diese herbeigeeilt kam, fragte Evi vorwurfsvoll: »Warum hast du die guten Beeren ausgerissen?«

»Evi!« Betti war entsetzt. Sonst war die Kleine immer so höflich, und ausgerechnet jetzt …

»Erst einmal grüßt man«, mahnte sie.

Evi machte einen unbeholfenen Knicks und wiederholte ihre Frage.

»Ach, Kind!« Die Frau des Försters bückte sich und strich Evi über die dunklen Locken. Sie war eine freundliche ältere Dame mit aschblondem Haar und Lachfältchen um die hellen Augen.

»Ich habe doch nicht gewusst, dass du kommst.«

»Wir sind auch nicht zu den Johannisbeeren, sondern zu deinem Vater gekommen«, meinte Betti.

Daraufhin verlangte Evi sofort ihren Vater zu sehen.

»Gleich«, meinte Frau Haslinger. »Zuerst möchte ich dir und deiner neuen Mutti euer Zimmer zeigen.«

Evi fügte sich, während Betti sich fragte, warum Frau Haslinger das Zusammentreffen des Kindes mit seinem Vater hinausschob. Doch sie wurde gleich darüber aufgeklärt.

»Es ist so schwierig«, flüsterte Frau Haslinger Betti zu, während sie sie in den ersten Stock führte und die Tür zu einem hübsch eingerichteten Fremdenzimmer aufschloss. »Herr Gleisner ist so schwer zu behandeln. Ich werde ihn darauf vorbereiten, dass Sie mit dem Kind gekommen sind, aber …«

Was Betti sich schon hundertmal im Stillen vorgeworfen hatte, sprach sie nun laut aus: »Ich hätte doch vorher schreiben sollen.«

»Nein. So ist es besser«, meinte Frau Haslinger. »Sonst hätte er womöglich Ihren Besuch von vornherein abgelehnt.«

»Oh!« Mehr brachte Betti nicht heraus.

»Sie müssen bedenken, dass er ein verbitterter und kranker Mann ist«, bemerkte Frau Haslinger. Leise fügte sie hinzu: »Ich werde Ihnen später alles erzählen.« Dann ging sie, um Herrn Gleisner mitzuteilen, dass seine Tochter zu Besuch gekommen sei.

Betti begann damit, den Koffer und die Reisetasche auszuräumen und die Sachen in den Schrank zu legen.

Wenig später kehrte Frau Haslinger zurück. Sie schien bemüht, eine gewisse Aufregung niederzukämpfen. Ein wenig atemlos sagte sie zu Evi: »So, du kannst mitkommen. Dein Vati erwartet dich unten im Wohnzimmer.«

»Betti muss auch mit«, verlangte Evi bestimmt.

Betti zögerte, und Frau Haslinger meinte: »Freilich, kommen Sie nur, Frau …«

»Alle sagen Betti zu meiner neuen Mutti«, warf Evi ein, und Betti nickte bestätigend. »Ja, ich bin das so gewohnt. Nennen Sie mich bitte auch so.«

»Gern«, erwiderte Frau Haslinger.

Evi sprang die Treppe hinunter, und Betti schickte sich an, ihr zu folgen, doch Frau Haslinger legte ihr die Hand auf den Arm und hielt sie zurück. »Verlieren Sie nicht die Geduld mit ihm, falls er unfreundlich sein sollte«, bat sie.

Allmählich kamen Betti die Warnungen der Försterin übertrieben vor, doch bald sollte sie Gelegenheit haben, sie beherzigen zu müssen. Sie hatte Evi eingeholt und betrat zusammen mit Frau Haslinger knapp hinter dem Kind den Wohnraum.

»Vati, mein liebster Vati!«, rief Evi und lief auf den Mann zu, der in einem großen Ohrenfauteuil neben dem Fenster saß. Sie kletterte auf seinen Schoß und umarmte und küsste ihn mit überschwänglicher Freude.

Die Försterin räusperte sich. »Das ist Betti, Evis Pflegemutter«, stellte sie die Besucherin kurz vor.

Ein abweisender Blick aus kühlen graublauen Augen traf Betti. Das Gesicht Erich Gleisners lag im Schatten. Trotzdem ließ sich unschwer seine Ähnlichkeit mit Evi erkennen. Früher musste er ein recht gut aussehender Mann gewesen sein mit seinen dichten dunklen Haaren, die schon von vereinzelten grauen Fäden durchzogen waren, und den regelmäßigen Gesichtszügen. Jetzt aber lagen um seinen Mund scharfe Falten, und seine ablehnende Miene zeigte keinerlei Bereitschaft, Betti willkommen zu heißen.

Evi merkte von alldem nichts. Sie war überglücklich, bei ihrem Vati sein zu dürfen, und da sie ihn so lange nicht mehr gesehen hatte, sprudelten die Erlebnisse, die sie in der Zwischenzeit gehabt hatte, in kunterbuntem Durcheinander aus ihrem Mund hervor.

Frau Haslinger bat Betti leise, Platz zu nehmen. Dann verließ sie den Raum.

Betti saß nun auf einem unbequemen Stuhl mit harter gerader Lehne und wünschte sich meilenweit fort. Sie kam sich so überflüssig vor, wusste aber nicht, ob sie weggehen oder bleiben sollte.

Gerade als sie aufstehen wollte, unterbrach Erich Gleisner den Redefluss seiner Tochter und sagte: »Sei einen Augenblick still. Du hast genug Zeit, mir alles der Reihe nach zu erzählen. Zuerst möchte ich deine Pflegemutter begrüßen.« Seine Stimme klang tief und angenehm, aber der Blick, den er Betti zuwarf, war alles andere als freundlich. »Ich freue mich über Ihren Besuch«, sagte er steif und wenig überzeugend. »Leider bin ich nicht in der Lage, aufzustehen und Ihnen die Hand zu geben.« Er deutete auf die Krücken, die neben seinem Fauteuil lehnten.

Betti fühlte sich äußerst unbehaglich. Sie suchte krampfhaft nach ein paar passenden Worten, aber es fielen ihr keine ein. So schwieg sie, kam sich aber lächerlich und töricht vor.

Evi benützte die eingetretene Stille, um unbekümmert mit ihrem Bericht fortzufahren. Betti hatte befürchtet, dass sie viel von ihrer Mutter sprechen und damit einen wunden Punkt bei ihrem Vater berühren würde, aber Evi erwähnte ihre Mutter und das Eisenbahnunglück nur kurz. Seit diesem schrecklichen Erlebnis, an das sie nicht mehr denken wollte, hatte sie so viel Schönes erlebt, dass sie ihrem Vati unbedingt davon berichten musste. So erzählte sie von den Kindern von Sophienlust, vom kleinen Peterle und vom Tierheim Waldi & Co.

Im Zimmer wurde es langsam dunkel, doch Evi merkte es nicht. Erst als Frau Haslinger hereinkam und das Licht anknipste, sah sie blinzelnd auf und gähnte herzhaft.

»Es ist schon spät«, sagte die Försterin. »Ich glaube, das Kind muss zu Bett gebracht werden.«

»Ja.« Betti stand auf, um Evi in ihr Zimmer zu führen.

»Nein, erst muss sie noch etwas essen. Ich werde gleich den Tisch decken«, sagte Frau Haslinger.

Aber Evi war inzwischen so schläfrig geworden, dass sie keinen Appetit mehr hatte. Es fielen ihr bereits die Augen zu. Gehorsam ließ sie sich von Betti aus dem Zimmer führen und zu Bett bringen.

Betti wäre am liebsten auch schon schlafen gegangen, doch da klopfte Frau Haslinger leise an die Tür und bat sie mit unterdrückter Stimme, zum Abendessen hinunterzukommen.

Betti war zwar hungrig, aber da sie beim Essen neuerlich mit Herrn Gleisner zusammentreffen musste, hätte sie lieber darauf verzichtet.

Die Mahlzeit verlief dann auch so ungemütlich, wie Betti befürchtet hatte. Frau Haslinger hatte sich mit dem Essen redlich bemüht und den Tisch liebevoll gedeckt, aber diese Mühe hätte sie sich sparen können. Betti litt unter dem Gefühl, sich fremden Menschen aufgedrängt zu haben, obwohl der Förster und seine Frau ihr immer wieder versicherten, wie sehr sie sich über ihren Besuch freuten.

Erich Gleisner schwieg beharrlich, sodass Herr Haslinger schließlich drängte: »Nun sag doch etwas, Erich. Du müsstest dich doch am meisten darüber freuen, dass Evi hier ist.«

Erich Gleisner stocherte lustlos in seinem Essen herum und erwiderte endlich: »O ja, über Evis Besuch freue ich mich sehr.«

Es kam Betti vor, als habe er das Wort Evi besonders betont, aber vielleicht war sie bloß empfindlich? Dass sie selbst Herrn Gleisner unsympathisch war, daran gab es für sie jedoch keinen Zweifel.

Auch Frau Haslinger schien das zu merken. Sie sagte schnell: »Ich finde es großartig von Betti, dass sie extra hierhergefahren ist, um Evi einen Gefallen zu erweisen.«

Erich Gleisner sah mit einem spöttischen Blick zu Betti hinüber. »Wollten Sie wirklich nur Evi einen Gefallen erweisen, oder war auch Neugier mit im Spiel?«, fragte er.

»Neugier?« Betti verstand ihn nicht.

»Möchten Sie noch einen Schluck Wein trinken?«, schaltete sich Herr Haslinger hastig ein.

Betti lehnte dankend ab und half Frau Haslinger den Tisch abzuräumen. Sie atmete auf, als sie den Wohnraum verlassen hatte, und bat die Försterin, das Geschirr abwaschen zu dürfen.

»Nein, das kann ich nicht zulassen. Sie sind doch unser Gast«, meinte die Försterin.

»Aber ich wasche gern ab. Ich tue es lieber, als …« Betti stockte, aber die Försterin erriet, was sie hatte sagen wollen.

»Na, dann wollen wir es uns in der Küche gemütlich machen«, schlug sie vor. »Sie dürfen sich Herrn Gleisners Benehmen nicht zu Herzen nehmen. Er kann seine Freude eben nicht so zeigen.«

»Freude? Er hat mir seine Ablehnung deutlich genug gezeigt. Dabei hatte ich wirklich keine böse Absicht. Evi hat mir leidgetan. Sie hat so oft von ihrem Vater gesprochen …«

»Das kann ich mir vorstellen«, versicherte Frau Haslinger.

»Ich wiederhole mich noch einmal, es war gut und richtig von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Das Kind ist glücklich, und auch Erich hat sich über das Wiedersehen mit seiner Tochter gefreut. Das können Sie mir glauben.«

»Aber warum ist er so …, so …«

»Er hat viel Schweres durchgemacht. Ich habe ihn erst nach dem Unfall kennengelernt, aber mein Mann kannte ihn schon, als er noch ein Kind war. Deshalb hat er auch Erichs Stelle übernommen. Es sollte allerdings nur eine Übergangslösung sein. Fritz, mein Mann, könnte eigentlich schon seine Pension genießen, aber er wollte für Erich einspringen, bis dieser wieder völlig gesund ist. Aber jetzt … Nun, ich fürchte, Erich wird nie wieder fähig sein, seinen Posten auszufüllen«, sagte Frau Haslinger traurig.

»Wie ist es zu dem Unfall gekommen und was ist dabei eigentlich passiert?«, fragte Betti.

»Es war ein Jagdunfall. Ein Industrieller, der es schick fand, ab und zu ein Stück Wild abzuknallen, schoss trotz Zielfernrohr daneben und traf Erich. Das Hüftgelenk wurde beschädigt, sodass Erich jetzt nicht mehr gehen kann, sondern sich mühsam auf Krücken fortbewegen muss.«

»Schrecklich. Ja, ich verstehe, dass so etwas einen Mann verbittert«, sagte Betti nachdenklich.

»Wenn wenigstens seine Frau zu ihm gestanden hätte«, bemerkte die Försterin zornig. »Ich weiß, man soll einer Toten nichts Schlechtes nachsagen – und ich habe sie ja auch gar nicht gekannt. Sie war schon weg, als wir hier eintrafen.«

»Warum hat sie ihn verlassen?«, fragte Betti und schämte sich ein wenig ihrer Neugier.

Frau Haslinger gab jedoch bereitwillig Auskunft. »Vermutlich war es ihr lästig, mit einem kranken Mann zusammenzuleben.«

»Sie hat ihn erst nach dem Unfall verlassen?«, fragte Betti erschrocken.

»Ja, davon rede ich doch die ganze Zeit. Sie muss sehr egoistisch gewesen sein und hat Erich bestimmt nicht aufrichtig geliebt. Aber Männer sind ja so dumm. Ich fürchte, er trauert ihr noch immer nach. Als er von ihrem Tod erfuhr, war er tagelang nicht ansprechbar.«

»Vielleicht hatte er bis dahin gehofft, dass sie eines Tages doch noch zu ihm zurückkehren würde«, mutmaßte Betti.

»Nein, das glaube ich nicht. Er erzählte mir einmal, dass es schon vor seinem Unfall in seiner Ehe kriselte. Seine Frau sehnte sich in die Großstadt zurück.«

»In die Großstadt?«, fragte Betti erstaunt.

»Ja, sie kam nämlich aus der Stadt. Angeblich konnte sie sich an das Leben hier in der Einsamkeit nicht gewöhnen. Jedenfalls diente ihr das als Entschuldigung, Erich nach seinem Unfall zu verlassen.«

Diese Erklärungen bewirkten, dass Betti das Verhalten Erich Gleisners nun in einem neuen Licht sah. Es war kein Wunder, dass er nach den bösen Erfahrungen, die er gemacht hatte, verbittert und mürrisch war.

*

Trotzdem kostete es Betti am nächsten Vormittag einige Mühe, freundlich zu ihm zu bleiben. Da sie uneingeladen aufgetaucht war, wollte sie sich irgendwie nützlich machen und fragte deshalb die Försterin, ob sie ihr nicht beim Kochen helfen könnte.

Die Försterin lehnte zuerst ab unter dem Hinweis, dass Betti ihr Gast sei, aber die junge Frau ließ nicht locker.

»Gut«, meinte Frau Haslinger schließlich, »wenn sie unbedingt etwas tun wollen, hätte ich schon Arbeit für Sie. Ich bin seit Wochen nicht mehr dazu gekommen, die Blumenbeete im Garten zu pflegen. Ich fürchte, sie strotzen vor Unkraut. Dadurch, dass wir mitten im Wald wohnen, wächst das Unkraut besonders gut.«

Betti machte sich also mit Evis Unterstützung ans Werk. Evi maulte zuerst ein wenig, denn die Blumenbeete waren an genau der Stelle, wo früher die Johannisbeerstauden gestanden hatten. Dann aber gesellte sich Ulli zu ihr und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Kleine ließ Unkraut sein und beschäftigte sich mit dem Spaniel. Bald tollte sie mit ihm durch den Garten.

Betti sah Evi und Ulli eine Weile zu, dann wandte sie sich wieder dem Unkraut zu. Frau Haslinger hatte einen alten Wäschekorb gebracht, in den Betti nun die ausgerissenen Pflanzen warf. Endlich war der Korb voll. Betti erhob sich, um ihn zum Misthaufen zu tragen. Da erschrak sie. Unweit von den Blumenbeeten befand sich ein runder Gartentisch, um den einige Korbstühle gruppiert waren. In einem davon saß unbeweglich Erich Gleisner und beobachtete sie.

Betti wusste nicht, wie lange er schon dasaß. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er hätte sich bemerkbar machen und mich wenigstens grüßen können, dachte sie unwirsch.

Den Gruß holte er jetzt nach, und Betti erwiderte ihn. Dann fragte sie ihn, ob sie Evi herholen solle.

»Nein«, lehnte er ab, »ich will das Kind nicht vom Spielen abhalten. In meiner Gegenwart langweilt es sich höchstens.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Betti aufgebracht. »Sie wissen auch, dass es nicht wahr ist. Evi war gestern selig über das Wiedersehen mit Ihnen.«

»Gestern vielleicht«, sagte er langsam, aber auf die Dauer … Nun, das ist sowieso ausgeschlossen. Von der kleinen Rente, die ich beziehe, kann ich kaum leben. Ich muss froh sein, dass die Haslingers mich hier dulden. Ich bewohne in dem Forsthaus nur mehr ein Zimmer, weil ich nicht weiß, wohin ich sonst gehen sollte. Ich kann Evi nicht hier behalten.«

»O nein«, warf Betti rasch ein, »davon ist nicht die Rede. Ich sorge für Evi. Sie ist mein Pflegekind. Ich bin nicht mit ihr hergekommen, weil ich sie hierlassen will.«

»Warum sind sie gekommen?«

»Das habe ich doch schon gestern gesagt. Um Evi eine Freude zu machen. Sie hat Sehnsucht nach Ihnen gehabt. Ich habe gedacht, dass auch Sie ein Wiedersehen mit dem Kind glücklich machen würde«, meinte Betti ein wenig vorwurfsvoll.

»Glücklich machen!«, äffte er sie nach. »Sie hätten besser fortbleiben sollen. Merken Sie denn nicht, dass Sie mich bloß quälen?«

»Ich Sie quälen, aber wieso? Inwiefern?«

»Indem Sie meine Tochter für einen kurzen Besuch herschleppen, um sie nach ein paar Tagen wieder mitzunehmen.«

»Aber was soll ich denn tun?«, rief Betti verzweifelt aus. »Sie sagen doch selbst, dass Sie für das Kind nicht sorgen können. Evi hat es gut bei mir. Es geht ihr nichts ab.«

»Nur ihr Vater«, meinte er bitter.

»Dafür kann ich nichts«, verteidigte sich Betti.

»Sie hätten nicht kommen dürfen«, wiederholte er. »Ich wollte dem Kind ersparen, dass es mich als Krüppel sieht.«

»Evi hat Sie trotzdem lieb«, sagte Betti leise.

»Und wie soll es weitergehen? Evi hätte mich vielleicht bald vergessen, aber durch dieses Zusammentreffen ist die Erinnerung in ihr wieder wachgerufen worden.«

»Wünschen Sie denn, dass Evi Sie vergisst?«

»Was bleibt mir denn anderes übrig?«, rief er heftig. »Ich bin kein vollwertiger Mensch mehr. Was hat Evi an einem Vater, der nicht einmal mehr seinen Dienst ausüben kann?«

Es schmerzte Betti, ihn so reden zu hören, aber sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.

Später fragte sie Frau Haslinger: »Gibt es denn keine Hoffnung für Herrn Gleisner? Ich meine, dass er wieder gesund wird?«

»Ja«, erwiderte Frau Haslinger gedehnt, »damals nach dem Unfall, sprach der Arzt davon, dass es möglich wäre, ihm ein künstliches Hüftgelenk einzusetzen. Es ist natürlich eine schwierige Operation, und Herr Gleisner wollte nichts davon wissen. Ich habe mich nicht getraut, ihm zuzureden. Ich verstehe zu wenig davon.«

»Aber es kann doch nicht so weitergehen!«, rief Betti. »Herr Gleisner ist noch zu jung, um sein Leben als Rentner zu verbringen.«

»Ja, darüber mache ich mir ebenfalls Sorgen. Fritz möchte nicht mehr lange hierbleiben. Wir hatten die Absicht, für Erich Gleisner einzuspringen, bis er wieder gesund ist. Wir hatten aber damit gerechnet, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein würde. Unsere Tochter lebt mit ihrer Familie in München. Wir wollen auch hinziehen, um in ihrer Nähe zu wohnen. Im Moment ist das aber unmöglich. Was soll aus Erich werden, wenn fremde Leute herkommen?«

Auch Betti konnte zu diesem Problem keine Lösung anbieten. Doch die von Frau Haslinger erwähnte Operation ging ihr im Kopf herum. Sie nahm sich vor, gleich nach ihrer Rückkehr Frau Dr. Frey zu Rate zu ziehen.

Betti blieb mit Evi eine Woche im Bayerischen Wald. Evi war viel mit ihrem Vater beisammen, doch Betti ging ihm geflissentlich aus dem Weg. Sie brachte seiner Lage zwar vollstes Verständnis entgegen, stand aber seiner Bitterkeit hilflos gegenüber. Sie wusste nun, dass er sein Kind liebte, aber Angst davor hatte, diese Liebe zu zeigen, weil er Evi nicht an sich fesseln wollte.

*

Bei ihrer Ankunft in Bachenau wurde Betti von Andrea von Lehn freundlich, von Helmut Koster jedoch mit Vorwürfen empfangen.

»Eine volle Woche bist du weggeblieben!«, begrüßte er sie ärgerlich.

»Aber, Helmut, eine Woche ist doch nicht lang«, verteidigte sie sich.

»Für mich war es lang. Aber du scheinst keinerlei Sehnsucht nach mir gehabt zu haben.«

»Sei nicht so kindisch. Du redest, als ob wir monatelang getrennt gewesen wären.« Trotzdem empfand Betti, dass Helmut mit seinen Vorwürfen nicht so unrecht hatte. Sie hatte nämlich während der Woche im Bayerischen Wald kaum an ihn gedacht. Die Sorge um die Zukunft Erich Gleisners hatte sie viel mehr beschäftigt.

Helmut sagte nichts mehr. Er war verstimmt und verhielt sich in den folgenden Tagen Betti gegenüber reserviert, die darüber jedoch eher erleichtert war.

Evi hatte sich während der Bahnfahrt eine leichte Erkältung zugezogen. In der Nacht stieg ihr Fieber. Andrea von Lehn und Betti waren darüber so besorgt, dass sie Frau Dr. Frey anriefen.

Diese kam am nächsten Morgen und untersuchte das Kind. »Es ist nichts Ernstes«, beruhigte sie gleich darauf die beiden Frauen. »Nur ein Schnupfen. Wenn Evi ein paar Tage im Bett bleibt, ist sie bald wieder gesund.«

Die Ärztin schickte sich an zu gehen, aber Betti hielt sie zurück. Sie wollte bei dieser Gelegenheit mit Frau Dr. Frey über das Leiden Erich Gleisners sprechen.

»Ich kann darüber kein Urteil abgeben«, meinte Frau Dr. Frey, nachdem Betti ihre Ausführungen beendet hatte. »Ich weiß nichts Genaues über die Verletzung.«

»Ja, natürlich, daran hätte ich denken müssen«, murmelte Betti niedergeschlagen. »Aber ich musste mit Ihnen darüber reden. Erich Gleisner tut mir so leid. Es muss schrecklich sein, ohne Hoffnung dahinzuleben. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich es nicht über mich bringen, auf mein Kind zu verzichten. Es muss doch einen Weg geben! Vielleicht könnte diese Operation, von der Frau Haslinger sprach, doch Hilfe bringen?«

»Ich werde mich erkundigen«, versprach Frau Dr. Frey. Bettis Worte hatten sie in eigenartiger Weise berührt. Zu gut entsann sie sich der Zeit, die die schwersten ihrem bisherigen Leben gewesen war. Damals hatte ihr Mann Stefan nach einem schweren Unfall seinen Lebensmut vollkommen verloren gehabt. Ähnlich wie Erich Gleisner hatte er auf sein Töchterchen, sein geliebtes Filzchen, verzichten wollen. Aber im Gegensatz zu Erich Gleisner war Stefan nicht allein gewesen. Anja war ihm hilfreich zur Seite gestanden. Sie hatte energisch den Kampf mit dem Schicksal aufgenommen und den mutlosen Mann nicht allein gelassen.

Um wie viel schwerer hatte dagegen das Schicksal Erich Gleisner getroffen. Seine Frau hatte ihn einfach im Stich gelassen, als er zum Krüppel geworden war. Er musste darüber verzweifeln.

Anja fand keine Ruhe. Evis Vater war zwar für sie ein Unbekannter, aber trotzdem fühlte sie sich verpflichtet, etwas zu unternehmen. Da sie Kinderärztin war, war das Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks eine Materie, die ihr fremd war. Deshalb hatte sie Betti auch keine Auskunft geben können. Aber etwas anderes konnte sie tun. Sie konnte sich mit dem Arzt Erich Gleisners in Verbindung setzen.

Nachdem Anja diesen Entschluss gefasst hatte, teilte sie ihn sofort Betti mit. Aber Betti wusste den Namen und die Anschrift des Arztes nicht. Sie musste sich erst bei Frau Haslinger danach erkundigen.

Dann kam für Betti eine Zeit fieberhafter Spannung. Was würde Frau Dr. Frey erfahren? Wie würde die Auskunft des anderen Arztes lauten? Würde eine Operation überhaupt möglich sein? Für Betti waren diese Überlegungen und Zweifel kaum mehr zu ertragen.

Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Frau Dr. Frey die gewünschte Auskunft erhielt. Sie gab sie sogleich an Andrea von Lehn und Betti weiter.

»Es ist mir gelungen, Dr. Berger telefonisch zu erreichen«, teilte sie den beiden freudig mit. »Er hat sich gleich an den Fall erinnert, der ihm irgendwie am Herzen zu liegen scheint. Die Operation ist möglich, und die Chancen einer völligen Heilung stehen sehr gut«, schloss Anja Frey triumphierend.

»Warum wollte dann Herr Gleisner nichts davon wissen?«, fragte Andrea.

»Das ist Dr. Berger auch unbegreiflich«, erwiderte Anja. »Er hat Herrn Gleisner zugeredet, aber es hat nichts genützt.«

»Möglicherweise sind die Kosten sehr hoch«, überlegte Andrea. »Ein langer Aufenthalt im Krankenhaus wird wohl notwendig sein.«

»Am Geld darf es doch nicht scheitern«, meinte Betti aufgebracht.

»Nein, eigentlich müsste doch der Schuldige, der Mann, der Erich Gleisner angeschossen hat, die Kosten tragen.«

»Vielleicht weigert er sich?«

»Dann muss man gerichtliche Schritte gegen ihn unternehmen«, meinte Andrea. Frau Dr. Frey und Betti waren der gleichen Meinung.

»Aber zuerst einmal muss man Erich Gleisner dazu bringen, dass er der Operation zustimmt«, sagte Anja.

Andrea von Lehn sah Betti an. »Sie müssen mit Evi noch einmal in den Bayerischen Wald fahren«, beschloss sie. »Es muss Ihnen gelingen, Herrn Gleisner zu überreden.«

Betti war nur allzu gern zu einer neuerlichen Reise bereit. Es war in den letzten Tagen schwer gewesen, Evi im Zaum zu halten. Sie hatte unaufhörlich gefragt, wann sie denn wieder ihren Vati besuchen würden.

Ja, es war genauso gekommen, wie Erich Gleisner es vorausgesehen hatte. In Evi war die Sehnsucht nach ihrem Vater geweckt worden. Obwohl das Kind bei Betti und bei der Familie von Lehn glücklich war, fehlte ihm doch der Vater.

Eigentlich hätte Betti eifersüchtig sein müssen, aber das war nicht der Fall. Sie war nur von dem Wunsch erfüllt, Erich Gleisner zu helfen.

*

Diesmal meldete Betti ihren Besuch bei Frau Haslinger an, und diese begrüßte sie wie eine alte Bekannte. »Es freut mich, dass Sie und das Kind wieder hier sind«, sagte sie. »Ich habe so gern Kinder um mich. Manchmal möchte ich am liebsten alles hier stehen und liegen lassen und zu meinen Enkelkindern nach München fahren. Nein, natürlich werde ich das nicht tun«, fuhr sie fort, als sie Bettis erschrockenen Blick wahrnahm. »Fritz und ich haben nicht die Absicht, Erich hier hilflos zurückzulassen. Wenn sich sein Gesundheitszustand nur bessern würde! Aber ich weiß, da müsste ein Wunder geschehen.«

»Vielleicht geschieht eins«, meinte Betti geheimnisvoll. Dann erzählte sie Frau Haslinger, welche Auskunft Frau Dr. Frey von Dr. Berger erhalten hatte.

»Herr Gleisner muss einsehen, dass diese Operation unbedingt notwendig ist«, sagte Betti abschließend. »Ich werde versuchen, es ihm klarzumachen.«

»Dabei können Sie mit meiner vollsten Unterstützung rechnen«, meinte Frau Haslinger. »Aber es wird nicht einfach sein, ihn zu überreden.«

Es war wirklich nicht einfach. Erich Gleisner freute sich zwar offensichtlich über den Besuch seiner Tochter, begrüßte Betti aber sehr zurückhaltend.

Betti wäre gern sofort mit der Tür ins Haus gefallen, aber klugerweise übte sie Zurückhaltung und wartete, bis Evi im Bett lag und schlief. Dann ging sie wieder hinunter ins Wohnzimmer, wo das Ehepaar Haslinger und Erich Gleisner noch beisammensaßen.

Bei Bettis Eintritt stand Frau Haslinger auf und sagte zu ihrem Mann: »Komm, Fritz, heute bist du dran mit dem Abspülen, aber du brauchst es nicht allein zu machen. Ich helfe dir dabei.« Damit wollte die Försterin Betti offenbar Gelegenheit geben, mit Erich Gleisner unter vier Augen zu sprechen.

Herr Haslinger schien den Wink seiner Frau sofort zu verstehen, denn er ging mit ihr in die Küche.

»Nun war Betti mit Erich Gleisner allein. Sie fröstelte. Jetzt war der Augenblick gekommen, da sie sprechen musste. Innerlich schalt sie sich wegen ihrer Verlegenheit. Sie hatte doch nur Gutes vor!

Erich Gleisner schwieg beharrlich. Er machte die Sache für Betti dadurch nicht leichter. Wenn er nur ein wenig entgegenkommender wäre, dachte Betti und seufzte.

»Es ist Ihnen wohl unangenehm, hier neben einem Krüppel zu sitzen?«, fragte er prompt. »Warum sind Sie diesmal nicht in die Küche gestürzt, um das Geschirr abzuwaschen? Dann wäre Ihnen das Zusammensein mit mir erspart geblieben.« Er hatte also das Motiv, das sie bei ihrem ersten Besuch zur Flucht in die Küche veranlasst hatte, durchschaut.

»Wie können Sie so mit mir reden?«, fragte Betti empört. »Ich habe Ihnen doch nichts getan. Im Gegenteil, ich bemühe mich …«

»Sie bilden sich wahrscheinlich ein, mir mit Ihrem Besuch eine ungeheure Wohltat zu erweisen«, unterbrach er sie. »Aber ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich lege keinen Wert darauf.«

Betti ging zum Gegenangriff über. »Es mag stimmen, dass Sie auf meinen Besuch keinen Wert legen«, entgegnete sie. »Aber wenn Sie mit Evi beisammen sein wollen, dann lässt sich meine Anwesenheit nicht vermeiden. Und über Evis Gegenwart freuen Sie sich doch, oder etwa nicht?«

Er schwieg. Eine Weile herrschte Stille, dann sagte er: »Sie tun Evi nichts Gutes, wenn sie sie immer wieder hierherbringen. Das Kind muss mich vergessen.«

»Das wird nicht möglich sein«, erwiderte Betti. »Das Kind verlangt nach Ihnen.«

»Ja, jetzt, nachdem es einmal hier war. Es war grausam von Ihnen …«

»Grausam?«, fuhr Betti auf. »Ich bin nicht grausam, aber Sie sind es, weil Sie verlangen, dass Evi sie vergessen soll.«

»Sie wollen nicht wahrhaben, dass ich nicht anders handeln kann«, warf er Betti vor. »Sie zwingen mich, es noch einmal auszusprechen: Ich bin kein vollwertiger Mensch mehr, ich kann für Evi nicht sorgen.«

»Und Sie wollen wirklich nichts tun, um das zu ändern?«, fragte Betti.

»Ändern? Wie kann ich das denn? Eine zerschossene Hüfte lässt sich nicht einfach reparieren.«

»O doch.« Unversehens war Betti zum Kernpunkt des Gesprächs gelangt. »Eigentlich bin ich deswegen gekommen.«

Erich Gleisner starrte sie verständnislos an. »Machen Sie sich lustig über mich?«, fragte er empört.

»Nein, ich mache mich nicht lustig über Sie!«, rief Betti schnell. »Ich mache mich über niemanden lustig, und über Sie schon gar nicht«, fügte sie ärgerlich hinzu. »Ich habe über Sie mit Frau Dr. Frey gesprochen. Das ist die Ärztin, die Evi, den kleinen Peter und die Kinder von Sophienlust behandelt«, erklärte sie. »Sie hat sich mit Dr. Berger in Verbindung gesetzt …«

»Dr. Berger?«, unterbrach Erich Gleisner sie. »Das ist doch der Arzt, der mich damals behandelt hat.«

»Ja, deshalb hat Frau Dr. Frey ihn auch angerufen und mit ihm über Ihre Verletzung gesprochen. Er meinte, dass eine Heilung möglich, ja, sogar sehr wahrscheinlich sei, wenn Sie sich einer Operation unterziehen würden, bei der Ihnen ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt werden würde.«

Erich Gleisner hatte Betti ausreden lassen. Nur seine Augen hatten wütend aufgeblitzt. »Sie haben also mit einer Ärztin über mich gesprochen«, stellte er scheinbar ruhig fest.

»Ja«, erwiderte Betti ein wenig ängstlich.

»So! Und mit welchem Recht mischen Sie sich in meine Angelegenheiten?«, rief er voll Zorn.

»Können Sie mich nicht zufrieden lassen?«

»Ich will Ihnen doch nur helfen«, verteidigte sich Betti.

»Ich habe Sie um Ihre Hilfe nicht gebeten. Sie drängen sich mir auf …«

Nun verlor auch Betti die Beherrschung. »Ich dränge mich niemandem auf! Sie verdienen gar nicht, dass man sich um Sie kümmert! Ich verstehe auch nicht, wie Herr und Frau Haslinger es mit Ihnen aushalten. Es ist wirklich das Beste, wenn ich noch heute mit Evi abreise und nie mehr wiederkomme. An einem so mürrischen Menschen, wie Sie es sind, hat Evi nichts verloren.«

Betti schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, aber Erich Gleisner rief sie zurück.

»Wenn ich laufen könnte, würde ich aufspringen, Ihnen nacheilen und mich bei Ihnen entschuldigen. Leider ist mir das unmöglich«, sagte er bitter.

Betti drehte sich um und lächelte zaghaft. »Einer Entschuldigung steht nichts im Wege«, meinte sie leise und setzte sich wieder.

»Es tut mir leid. Ich wollte nicht grob zu Ihnen sein«, sagte er mühsam. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie Evi lieb haben und für sie sorgen wie für ein eigenes Kind. Aber gerade deshalb war ich ungerecht Ihnen gegenüber. Evi ist meine Tochter. Es fällt mir schwer, zuzusehen, dass sie Sie so behandelt, als wären Sie ihre Mutter.«

Darauf wusste Betti keine Antwort. Allem Anschein nach hing Erich Gleisner noch immer an seiner verstorbenen Frau und verübelte es ihr, dass sie deren Stelle einnahm. Vorsichtig sagte sie: »Evis Mutter ist tot, und jemand muss sie vertreten.«

»Ja«, erwiderte er, »aber derjenige sollte ich sein. Es schmerzt mich, dass ein Fremder nun für mein Kind sorgen muss.«

»Umso mehr sollten Sie sich bemühen, wieder gesund zu werden. Diese Operation …«

»Dr. Berger hat sie mir gleich nach dem Unfall vorgeschlagen. Aber damals war ich zu verzweifelt, und außerdem … Nein, reden wir nicht mehr darüber.«

Erich Gleisner tat diesen Einwurf mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »Ich war versichert. Darüber hinaus bot mir Herr Rogner, das ist der Mann, der den Unfall verschuldet hat, an, sämtliche Kosten zu tragen.«

»Oh!« Betti staunte. »Und wir …, ich … habe angenommen, dass sich dieser Mann weigert, die Operation zu bezahlen, und dass Sie aus finanziellen Gründen nichts davon hören wollten.«

»Nein, finanzielle Gründe sind nicht ausschlaggebend.«

»Welche denn?«

Er zögerte. Nachdem er sich vorhin entschuldigt hatte, war er ein wenig freundlicher geworden, aber jetzt verfinsterte sich seine Miene wieder.

»Es ist doch so unwichtig, ob ich gesund bin oder nicht«, sagte er. »Wer kümmert sich schon darum? Ich habe doch niemandem, dem meine Gesundheit am Herzen liegt.«

»Sie haben Evi«, erinnerte ihn Betti.

»Evi braucht mich nicht.«

»O doch. Ich verstehe Sie einfach nicht. Einerseits beklagen Sie sich, dass Sie kein vollständiger Mensch mehr sind, andererseits scheuen Sie vor der Operation zurück. Ich sehe ein, dass Sie verbittert sind, aber das nützt Ihnen nichts. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich nicht jammern …«

»Ich jammere nicht«, rief er nicht gerade freundlich, aber immerhin halbwegs beherrscht.

»Jedenfalls müssen Sie alles daransetzen, wieder gesund zu werden. Das sind Sie Evi schuldig und auch sich selbst. Wollen Sie denn Ihr ganzes weiteres Leben herumsitzen und nichts tun?«, vollendete Betti ihre Rede.

Lange Zeit blieb es still im Zimmer. »Ich habe mich bisher geweigert, den Plan, mich operieren zu lassen, ins Auge zu fassen«, erklärte Erich Gleisner schließlich.

»Aber es ist die einzige Möglichkeit gesund zu werden«, erwiderte Betti. »Sie haben einfach keine Wahl. Sie müssen es versuchen.«

»Es scheint mir so zwecklos …«

»Nein! Sie müssen sich aufraffen und mit Ihrem Arzt reden. Möglichst bald. Wissen Sie nicht, dass Herr Haslinger Ihre Stelle nur Ihnen zuliebe übernommen hat? Frau Haslinger sehnt sich nach ihrem Enkelkind und möchte nach München ziehen. Nur Ihretwegen bleiben sie noch hier.«

»Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich die Angelegenheit noch gar nicht betrachtet.«

»Nein, weil Sie immer nur an sich selbst denken und sich selbst bemitleiden.«

»Nun sind Sie diejenige, die – gelinde ausgedrückt – unfreundlich ist«, warf er ihr vor.

»Das wollte ich nicht«, entschuldigte sich Betti. Sie wunderte sich über sich selbst. Sonst war sie eher sanft und zurückhaltend. Woher nahm sie eigentlich den Mut, Erich Gleisner so schonungslos die Wahrheit zu sagen?

Merkwürdigerweise nahm er ihr das nicht übel. »So, wie Sie es darstellen, ist es geradezu meine Pflicht, mich dieser Operation zu unterziehen«, meinte er.

»Selbstverständlich ist es Ihre Pflicht«, bekräftigte Betti. »Ich begreife nicht, dass Sie das nicht schon längst eingesehen haben.«

»Vielleicht hatte ich Angst davor, einsam und verlassen im Krankenhaus zu liegen. Ich habe das schon einmal durchgemacht. Damals, nach dem Unfall. Die Ungewissheit … Kein Mensch hat mich besucht …«

»Aber Ihre Frau …«

»Lassen Sie Gisela aus dem Spiel«, unterbrach er sie heftig. »Ich bin neugierig, ob Sie mich mit Evi im Krankenhaus besuchen werden«, setzte er dann ruhiger hinzu.

»Bestimmt werde ich das tun«, versprach Betti, ohne daran zu denken, was Helmut Koster zu diesem Versprechen sagen würde. »Sie haben sich also entschlossen?«

»Ja, ich habe mich entschlossen«, erwiderte er ernst.

*

Bettis Mission war geglückt. Es war ihr gelungen, Erich Gleisner aus seiner Lethargie zu reißen. Auch der Förster und seine Frau waren sehr froh darüber. Nur Evi war ein wenig bestürzt.

»Vati muss wieder ins Krankenhaus?«, fragte sie Betti. »Werden sie ihm dort nicht wehtun?«

Betti geriet in Verlegenheit. Wie sollte sie darauf antworten?

Erich Gleisner nahm ihr die Antwort ab. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte er und zog Evi auf seinen Schoß. »Wenn ich weiß, dass du an mich denkst, werde ich alles gut überstehen.«

Seine Worte klangen für Evi ein bisschen kompliziert, aber sie war trotzdem beruhigt. »Darf ich dich im Krankenhaus besuchen?«, fragte sie weiter. »Mami wollte es nicht, aber Betti wird es vielleicht erlauben.«

»Freilich werden wir deinen Vater besuchen«, rief Betti. »Ich habe es ihm schon versprochen.«

*

Es wurde Betti jedoch nicht leicht gemacht, dieses Versprechen zu halten. Im Grunde genommen hätte sie die Reaktion Helmut Kosters voraussehen müssen, aber dazu hatte sie keine Zeit gehabt. So wurde sie vom Ausbruch seiner Gefühle völlig überrascht.

Die Operation fand in München statt. Betti war naturgemäß aufgeregt und hatte für nichts anderes Gedanken. Man sah ihr an, wie sehr sie dem glücklichen Ausgang entgegenfieberte. Auch Helmut blieb das nicht verborgen.

Evi war zu klein, um gemeinsam mit Betti zu bangen. Dafür fühlte Dr. Anja Frey mit Betti. Sie war mit Dr. Berger in Verbindung geblieben und dadurch in der Lage, Andrea von Lehn und Betti vom Gelingen der Operation zu berichten.

»Das ist ja wunderbar«, rief Andrea.

Betti war so erleichtert, dass sie im Moment keine Worte fand. Da sie Erich Gleisner zu der Operation überredet hatte, hätte sie sich ewig Vorwürfe gemacht, wäre sie schlecht ausgegangen. Doch ungeschickterweise gab sie später ausgerechnet Helmut gegenüber ihrer Erleichterung Ausdruck.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass die Operation geglückt ist«, sprudelte sie hervor.

»Dann lass es bleiben«, knurrte er. Er brauchte nicht zu fragen, was für eine Operation gemeint war. Er hatte bis zum Überdruss davon gehört.

Betti war viel zu gut aufgelegt, um seine Wortkargheit sofort zu gewahren. In diesem Augenblick hätte sie die ganze Welt umarmen können. »Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen«, fuhr sie fort. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Gott sei Dank, das ist nun vorüber.«

»Dann wollen wir endlich über etwas anderes reden«, meinte Helmut.

»Über etwas anderes? Das kann ich nicht. Ich muss immerzu daran denken«, erwiderte Betti, ohne auf die steigende Gereiztheit ihres Verlobten zu achten.

»Die Sache ist doch jetzt erledigt …«

»Ja. Hoffentlich geht es Herrn Gleisner bald so gut, dass ich ihn mit Evi im Krankenhaus besuchen kann.«

»Wie?« Helmut glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Du willst einem fremden Mann einen Krankenbesuch abstatten? Wie kommst du nur auf so eine Idee?«

»Ich habe es versprochen.«

»Du hast es versprochen?«, fragte Helmut entgeistert. »Diesem Herrn Gleisner?«

»Ihm und Evi.«

»Wie konntest du das tun? Dieser Mann geht dich doch überhaupt nichts an«, grollte er.

»Er ist Evis Vater.«

»Evis Vater! Du redest, als ob … Ich möchte wissen, ob du um mich auch so besorgt wärst, wenn ich krank wäre.«

»Natürlich wäre ich besorgt, aber es ist unsinnig, darüber zu reden. Du bist nicht krank, sondern vollkommen gesund«, erklärte Betti ungeduldig.

»Ich kann nur hoffen, dass Frau von Lehn dir den Urlaub abschlägt«, sagte er böse.

»Warum sagst du so etwas? Du hast dich in letzter Zeit so sonderbar verändert.«

»Verändert? Ich mich? Du bist diejenige, die kaum mehr wiederzuerkennen ist. Du willst nicht mit mir zum Zirkus gehen, weil dir das viele Reisen lästig ist, und was tust du jetzt? Du bist kaum noch zu Hause, sondern ständig unterwegs. Und jetzt willst du auch noch nach München!«

»Sei mir deswegen nicht böse«, bat Betti. »Ich bin heute so froh, dass ich es nicht ertragen kann, wenn du schlechte Laune hast. Ich mache dir einen Vorschlag: Begleite uns doch nach München.«

Das lehnte Helmut ab, und Betti hatten seine Vorwürfe unsicher gemacht. Es stimmte ja, dass sie innerhalb kürzester Zeit zweimal im Bayerischen Wald gewesen war. Nun wagte sie es nicht einmal, Andrea von Lehn um einen neuerlichen Urlaub zu bitten.

Evi wurde jedoch ungeduldig. »Was ist denn jetzt mit Vati?«, fragte sie. »Ist er bei Onkel Fritz und Tante Anna oder im Krankenhaus?«

»Er liegt im Krankenhaus«, erwiderte Betti gepresst.

»Mein armer Vati! Es ist nicht schön, krank zu sein.«

»Wer ist schon gern krank?«, seufzte Betti. Dann aber lächelte sie dem Kind zu. »Deinem Vati geht es gut. Er wird wieder laufen können.«

»Bald?«

»Ja.«

»Nächste Woche?«

»Nein, so schnell nicht. Eine Weile wird es noch dauern.«

Evi zog die Stirn kraus, dann platzte sie mit der von Betti so gefürchteten Frage heraus: »Wann besuchen wir ihn endlich?«

Betti zauderte. Schließlich sagte sie: »Ich war voreilig, als ich dir versprach, dass wir deinen Vati im Krankenhaus besuchen würden.«

»Voreilig? Was ist das?«

»Ich hätte es nicht versprechen dürfen. Sieh einmal, Evi, ich habe hier meine Arbeit. Ich muss das Haus in Ordnung halten, muss einkaufen, auf dich und auf Peterle aufpassen. Wir sind ohnedies schon zweimal zusammen weggefahren. Ich fürchte, Frau von Lehn wird nicht erlauben, dass wir jetzt nach München fahren.«

»Tante Andrea wird es nicht erlauben?« Dieser Gedanke war für Evi unvorstellbar. »Ich werde sie fragen«, beschloss sie.

»Nein, Evi, warte …«

»Wenn du nicht fragst, wie kannst du dann wissen, dass es Tante Andrea nicht erlaubt?«

Auf diese logische Argumentation wusste Betti nichts zu erwidern. Sie hoffte, dass Evi die Sache vergessen würde, aber damit irrte sie sich.

Am Abend, als die Kinder bereits schliefen, warf Andrea ihrem Hausmädchen einen schwer zu deutenden Blick zu. Betti überlegte, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei, aber da sagte Andrea schon: »Evi hat mir vorhin erzählt, dass Sie ihr ursprünglich versprochen hatten, mit ihr ihren Vater im Krankenhaus zu besuchen. Sie hat mir vorwurfsvoll mitgeteilt, dass Sie wieder davon abgekommen seien, weil Sie meinen, dass ich Ihnen den dazu notwendigen Urlaub nicht bewilligen würde. Bin ich denn eine so hartherzige Arbeitgeberin, dass Sie sich nicht trauen, mich um ein paar Tage Urlaub zu bitten?«

»O nein, nein!« Vor Schreck ließ Betti das Geschirrtuch fallen. Sie bückte sich, um es aufzuheben. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie feuerrot im Gesicht. »Ich wollte nicht … Es war leichtsinnig von mir, Evi das Versprechen zu geben«, murmelte sie.

»Ach so, dann war das mit dem Urlaub nur eine Ausrede«, meinte Andrea. »Ist es Ihnen unangenehm, Herrn Gleisner im Krankenhaus aufzusuchen? Wenn es so ist, dann muss ich Ihr Versprechen einlösen. Evi ist nämlich traurig. Sie möchte zu ihrem Vati. Man darf ein kleines Kind nicht so enttäuschen.«

»Das will ich ja nicht«, rechtfertigte sich Betti. »Es ist mir auch nicht unangenehm, zu Herrn Gleisner ins Krankenhaus zu gehen. Ich hatte wirklich Angst, dass es Ihnen nicht recht wäre, wenn ich Sie schon wieder um Urlaub bitten würde.«

»Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«

»Helmut hat gemeint …«, begann Betti unsicher.

»Herr Koster hat Ihnen also den Floh ins Ohr gesetzt!« Andrea lächelte hintergründig. »Er scheint an ihrer Reise nach München etwas auszusetzen zu haben.«

»Ja. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist.«

»Wirklich nicht?«

»Er ist so sonderbar. Er wollte von der Operation nichts hören. Es war ihm egal, ob sie gelungen ist oder nicht«, beschuldigte Betti ihren Verlobten. »Er war geradezu entsetzt, als ich ihm von meinem Plan, nach München zu fahren, erzählte. Was soll ich jetzt machen?«

»Das Versprechen, das Sie Evi gegeben haben, halten. Herr Koster wird das gewiss überleben.«

*

Später fragte Hans-Joachim seine Frau: »Sag einmal, bestärkst du Betti noch darin, ihren Verlobten zu verstimmen?«

»Wieso?«

»Du hast ihr Urlaub gegeben, damit sie nach München fahren kann, obwohl Herr Koster gegen diese Reise ist.«

»Hätte ich ihn vorher um Erlaubnis bitten sollen? Wenn zwischen ihm und Betti Differenzen bestehen, geht mich das nichts an. Ich finde, Betti ist ein freier Mensch und kann machen, was sie will.«

»Sicher. Nur – ein bisschen Rücksicht auf seine Gefühle sollte sie nehmen. Er ist verärgert.«

»Dafür kann doch Betti nichts, und ich schon gar nicht.« Andrea sah nachdenklich zu Boden. »Ich fürchte, es wird Schwierigkeiten geben«, stellte sie betrübt fest.

»Schwierigkeiten?«

»Ja. Betti liebt Herrn Koster nämlich nicht – zumindest nicht richtig. Wahrscheinlich weiß sie das selbst noch nicht. Es ist mir auch eben erst aufgefallen.«

»Das bildest du dir ein. Wie kannst du wissen, was in Betti vorgeht?«

»Herr Koster scheint es zu fühlen und ist eifersüchtig. Wenn nur … Wenn wenigstens Betti … Das Dumme ist, dass ich ihn nicht kenne, und daher keine Ahnung habe, ob er …, ob Betti …«

»Von wem sprichst du?«

»Von niemandem«, erwiderte Andrea und fügte erklärend hinzu: »Aber es wäre die einzig befriedigende Lösung.«

Hans-Joachim gab es auf, den komplizierten Gedankenvorgängen seiner Frau folgen zu wollen.

*

Trotz der Einwendungen Helmut Kosters trat Betti in Evis Begleitung die Fahrt nach München an.

»Bleiben wir lange bei Vati?«, erkundigte sich Evi.

»Nein, in einem Krankenhaus ist die Besuchszeit beschränkt. Ein oder zwei Stunden, denke ich.«

»Oh, das ist aber kurz!« Evi war enttäuscht.

»Dafür bleiben wir drei Tage in München, und jeden Tag werden wir zu deinem Vati gehen«, tröstete Betti das Kind.

Evi nickte, aber ihr Gesichtchen hellte sich nicht auf. Irgendeine Sorge bedrückte sie.

Bald rückte sie damit heraus: »Wenn wir nicht im Krankenhaus bleiben dürfen, was machen wir dann in der Nacht? Wo werden wir schlafen?«

Betti musste lachen, worauf Evi gekränkt dreinsah. »Warum lachst du mich aus?«, fragte sie beleidigt.

»Ich lache dich nicht aus. Du brauchst nicht besorgt zu sein. Wir müssen nicht unter der Brücke schlafen.«

»Unter der Brücke schlafen? Was soll das heißen?«

»Ach, das ist nur so eine Redensart. Wir nehmen uns ein Hotelzimmer, in dem wir während der drei Tage wohnen werden. Frau von Lehn hat mir ein Hotel empfohlen, das nett und sauber und nicht allzu teuer ist.«

»Nicht allzu teuer?«, wiederholte Evi nachdenklich. »Muss man in einem Hotel etwas bezahlen?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Und wenn wir unter der Brücke schlafen, kostet das auch etwas?«, forschte Evi weiter.

»Nein, das kannst du umsonst haben.«

»Dann wollen wir sparen und unter der Brücke …«

»Sei still, Evi«, unterbrach Betti hastig das Kind, denn soeben betraten ein paar Leute das Eisenbahnabteil, in dem sie bisher mit Evi allein gewesen war.

*

In München suchte Betti trotz Evis Protestes das von Andrea von Lehn genannte Hotel auf.

Die Stadt machte auf Evi großen Eindruck. »Hier gibt es auch so hohe Häuser wie in … Wie hat die Stadt geheißen, in der ich mit Mami gewohnt habe?«

»Hannover. Das ist übrigens nicht so wichtig, aber ich finde, deinen eigenen Namen solltest du dir allmählich merken. Du heißt Eva Gleisner. Sag das nach.«

»Eva Gleisner«, wiederholte Evi gehorsam, um gleich darauf Einspruch zu erheben. »Das stimmt nicht, ich heiße nicht Gleisner«, behauptete sie.

»Aber natürlich heißt du Gleisner. Wie solltest du sonst heißen?«

»Das weiß ich nicht. Mami hat mir den Namen gesagt, aber ich habe ihn vergessen. Sie wollte ihn wieder …, wieder annehmen, und ich würde dann auch so heißen.«

Betti war starr. Als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, sagte sie: »Du meinst wahrscheinlich, dass deine Mutter nach der Scheidung ihren Mädchennamen wieder annehmen wollte.«

»Ja, das hat Mami gesagt«, erwiderte Evi, erfreut über Bettis rasche Auffassungsgabe.

»Dann hast du also die ganze Zeit über gewusst, dass dein Zuname Gleisner lautet, aber du hast es uns nicht gesagt«, warf Betti dem Kind entrüstet vor.

»Er lautet nicht Gleisner«, widersprach Evi dickköpfig.

»O doch. Deine Mutter ist nicht mehr dazu gekommen, ihren Namen zu ändern. Also merke dir jetzt: Du heißt Evi Gleisner.«

»Ja.«

»Gut. Und jetzt wollen wir zum Krankenhaus fahren.«

Im Krankenhaus erkundigte sich Betti nach dem Zimmer Erich Gleisners, während sich Evi bang an ihre Hand klammerte.

»Hier ist es so still«, flüsterte das Kind.

Die langen Korridore waren wie ausgestorben. Die Besuchszeit war bereits vorüber, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die beiden von Maibach kamen, erlaubte man ihnen, Erich Gleisner kurz zu sehen.

Eine junge Krankenschwester führte sie zu ihm. Evi betrat auf Zehenspitzen das Zimmer, in dem er lag, und auch Betti kämpfte nur mit Mühe die ängstliche Spannung, die sie ergriffen hatte, nieder.

»Ich bringe Ihnen einen lieben Besuch, Herr Gleisner«, kündigte die Schwester mit munterem Tonfall an.

»Besuch? Das kann nur …« Erich Gleisner richtete sich ein wenig auf, während ihm die Krankenschwester ein Kissen unter die Schultern stopfte.

»Sie sind also wirklich gekommen!«, rief er erfreut aus.

»Ja, wir sind da!« Evi vergaß, dass sie eigentlich leise hatte sein wollen, und beglückte ihren Vater mit einer stürmischen Umarmung, sodass er aufstöhnte.

»Sei vorsichtig, Evi«, warnte Betti.

Er begrüßte nun auch Betti, und zwar mit einer Wärme, die sie genauso verlegen machte wie sein früheres ablehnendes Wesen.

»Ich habe gar nicht mehr mit Ihrem Besuch gerechnet. Ich habe geglaubt, dass Sie Ihr Versprechen doch nicht halten würden …«

»Betti wollte auch nicht kommen«, mischte sich Evi ein. »Ich habe es verlangt.«

Seine Miene verfinsterte sich, aber er wandte sich nicht an Betti, sondern an seine Tochter. »Du hättest es nicht verlangen dürfen«, meinte er.

»Aber Betti hatte doch Angst, dass Tante Andrea es nicht erlauben würde!« Evi erzählte nun, dass sie die Initiative übernommen und Tante Andrea um ein paar Tage Urlaub für Betti gebeten hatte.

»Oh, daran habe ich nicht gedacht«, murmelte er. »Ich will Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten. Natürlich geht Ihre Arbeit vor.«

»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Betti. »Frau von Lehn ist sehr freundlich. Es war töricht von mir, dass ich nicht selbst um Urlaub gebeten habe.«

»Stell dir vor, Vati, wir bleiben noch drei Tage hier. Wir wohnen in einem Hotel«, erklärte Evi. »Eigentlich hätte ich lieber unter der Brücke geschlafen, wie Betti zuerst gesagt hat …«

»Evi! Musst du mich unbedingt blamieren? Es war doch bloß eine dumme Bemerkung, die du nicht ernst nehmen darfst.«

»Aber es ist doch warm draußen, wir würden nicht frieren.« Evi war von dem Thema nicht abzubringen.

Ihr Vater lächelte ihr zu. »Übernachte lieber im Hotel«, meinte er. »Ich glaube nicht, dass es dir unter der Brücke so besonders gut gefallen würde.«

»Aber …«

»Schluss jetzt! Es war ein Scherz von Betti, nichts weiter.« Erich Gleisner sah Betti an. »Ich darf Sie doch auch Betti nennen?«, fragte er ein wenig unsicher.

Betti nickte.

»Ich bin Ihnen so sehr zu Dank verpflichtet«, fuhr er fort. »Aber darüber wollen wir später sprechen. Hier ist nicht der richtige Ort dafür.«

»Sie sind mir nicht zu Dank verpflichtet«, erwiderte Betti und wunderte sich, dass ihre Stimme plötzlich heiser klang. »Was ich getan habe, ist für das Kind geschehen.«

»Warum sind Sie so ablehnend? Übrigens widerspricht man einem Kranken nicht. Es könnte ihn aufregen«, meinte er.

Betti warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Sie wusste schon wieder nicht, woran sie mit ihm war.

Evi hatte beschlossen, ihrem Vater von ihren neuesten Erkenntnissen zu erzählen. Aber kaum hatte sie damit begonnen, kam auch schon die Krankenschwester und wies Betti und Evi freundlich, aber bestimmt, aus dem Zimmer.

»Morgen kommen wir wieder, Vati«, versprach Evi.

»Dann also bis morgen.« Erich Gleisner küsste Evi und nickte Betti zu.

Als die beiden wieder auf der Straße standen, fiel Betti ein, dass sie sich gar nicht nach dem Befinden des Patienten erkundigt hatte. Aber am nächsten Tag holte sie diese Frage nach.

»Es geht«, erwiderte Erich Gleisner. »Die Hauptsache ist, ich werde wieder gehen und meinen Dienst ausüben können. Ich kann den Tag, an dem ich wieder im Forsthaus sein werde, kaum erwarten. Dann habe ich endlich die Möglichkeit … Aber halt, es ist verfrüht, darüber zu reden.« Er strich Evi über die Haare. »Bist du immer brav?«, fragte er. »Folgst du deiner lieben Betti?«

»Natürlich folge ich«, entgegnete Evi etwas beleidigt. »Ich bin doch ein braves Kind.«

»Sich selbst zu loben ist nicht schwer. Wir wollen einmal hören, was Betti dazu sagt.«

Betti lächelte und versicherte, dass Evis Eigenlob durchaus der Wahrheit entspreche. »Evi ist wirklich brav und verträglich«, meinte sie. »Obwohl Peterle um vieles jünger ist als sie, spielt sie mit ihm, ohne jemals zu streiten.«

»Ich habe Peterle sehr lieb«, meldete sich Evi. »Es ist so lustig, mit ihm zu spielen. Schade, dass er nicht mein Bruder ist. Ich hätte so gern einen kleinen Bruder. Ich bekomme doch einmal einen, nicht wahr, Vati?«

»Wir wollen abwarten«, meinte er und verbiss sich ein Lächeln.

Betti fand, dass seine Heiterkeit fehl am Platze war. Woher sollte denn das Brüderchen für Evi kommen? Ihr Verlobter Helmut wünschte sich keine Kinder und … Mit einem Schlag kam Betti eine niederschmetternde Tatsache zu Bewusstsein: Sobald Erich Gleisner gesund sein würde, würde er Anspruch auf seine Tochter erheben. Und dann würde er wieder heiraten. Gut aussehend, wie er war, würde es ihm nicht schwerfallen, eine neue Frau zu finden, dachte Betti niedergeschlagen. Evis Wunsch nach einem Brüderchen würde leicht zu erfüllen sein.

»Warum siehst du denn so traurig drein, Betti?«, unterbrach Evi ihre Gedankengänge.

»Ich sehe nicht traurig drein«, verwahrte sich Betti erschrocken. Sie hoffte sehr, dass Erich Gleisner ihre Gedanken nicht erraten hatte. Das wäre ihr zu peinlich gewesen. Schnell lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung, indem sie sich nach dem Ehepaar Haslinger erkundigte.

»Auch Frau Haslinger ist froh, dass ich bald meine Stelle wieder werde einnehmen können. Sie plant bereits ihre Übersiedlung nach München«, erwiderte Erich Gleisner. »Ich war wohl sehr egoistisch …«

Evi beachtete seine Selbstvorwürfe nicht, sondern rief: »Wenn Frau Haslinger ausgezogen ist, werden wir dann wieder Johannisbeersträucher einsetzen?«

»Oh, du undankbares Ding«, entgegnete ihr Vater. »Gefallen dir denn die schönen Blumen nicht?«

»Mann kann sie nicht essen.«

»Bist du aber ein Naschkätzchen!«, sagte er lachend. Doch Betti musste sich dazu zwingen mitzulachen.

*

Als Betti und Evi wieder in Bachenau waren, bemühte sich Betti zwar, ihre Niedergeschlagenheit zu verbergen, aber das gelang ihr nicht restlos.

Helmut Koster fiel ihr Wortkargheit auf. Er meinte: »Nun hast du also deinen Willen durchgesetzt und warst in München, um Herrn Gleisner zu besuchen, aber zufrieden scheinst du noch immer nicht zu sein.«

»Ach, Helmut! Erich Gleisner wird wieder völlig gesund werden.«

»Und das bedrückt dich auf einmal? Du warst doch zuvor so froh, dass die Operation gelungen ist. Wieso ist es dir jetzt nicht recht, dass er gesund wird?«

»Aber es ist mir doch recht! Wie könnte es anders sein?«

»Weshalb benimmst du dich dann so sonderbar? Du läufst mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter herum. Was ist denn in München passiert?«

»Nichts. Aber sobald Erich Gleisner wiederhergestellt ist, wird er sein Kind zurückverlangen.«

»Nun, das ist sein gutes Recht«, sagte Helmut gelassen.

»Und ich muss Evi hergeben.«

»Ich habe dich von Anfang an gewarnt, Betti. Evi ist nun einmal nicht dein Kind. Damit musst du dich abfinden.«

»Aber ich habe sie so lieb. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne sie sein wird«, schluchzte Betti.

Helmut war nahe daran, eine aufbrausende Antwort zu geben, doch dann bezwang er sich und meinte tröstend: »Du wirst dich daran gewöhnen. Ich werde dich für Evis Verlust entschädigen.«

Betti sah ihn überrascht an. Hatte er es sich anders überlegt? Wollte er nun doch bald eigene Kinder haben?

Seine folgenden Worte klangen jedoch nicht danach. »Wenn wir erst bei einem Zirkus untergekommen sind, wirst du sehen, wie bunt und abwechslungsreich das Leben sein kann. Du wirst dann erleichtert sein, dass du dich nicht mit einem Kind abmühen musst.«

Betti stieß einen langen Seufzer aus. Helmut verstand sie nicht, er würde sie nie verstehen. Das bunte und abwechslungsreiche Leben, das seiner Meinung nach vor ihr lag, reizte sie nicht im Mindesten.

*

Evi ahnte nichts von dem Zwiespalt, in dem Betti sich befand. Sie freute sich, dass ihr Vati bald wieder gesund sein würde, und plauderte unbefangen davon, wie schön es sein würde, wenn sie wieder bei ihm im Wald leben würde. Sie hatte noch nicht begriffen, dass sie sich dann von Betti würde trennen müssen, und Betti scheute davor zurück, es ihr zu sagen. Einstweilen sollte Evi glücklich sein.

Doch auch Evi kamen mit der Zeit Zweifel. »Wenn ich bei meinem Vati bin, was geschieht dann mit Peterle?«, fragte sie. »Kann Peterle mitkommen?«

»Nein, das geht nicht«, erwiderte Betti. »Peterle ist hier zu Hause. Er gehört zu seinen Eltern.«

»Schade. Dann werde ich niemanden zum Spielen haben«, stellte Evi bedrückt fest. Dass sie auch von Betti würde Abschied nehmen müssen, darauf kam sie nicht. Allem Anschein nach war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dass sie und Betti immer beisammenbleiben würden. Betti war schließlich ihre neue Mutti.

*

Eines Tages kam von Erich Gleisner die Nachricht, dass er ins Forsthaus zurückgekehrt und bereit sei, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Herr und Frau Haslinger hätten vor, nach München zu fahren, aber vorher möchten sie noch Betti und Evi im Forsthaus begrüßen. Seine Genesung sollte gebührend gefeiert werden, und da dürften Betti und Evi nicht fehlen.

Betti hielt den Brief Erich Gleisners in der Hand und flüsterte bestürzt: »Sobald schon.«

»Hast du etwas zu mir gesagt?«, fragte Evi, die sich wie gewöhnlich in Bettis Nähe aufhielt.

»Nein, ich habe mit mir selbst geredet«, erwiderte Betti.

»Von wem ist der Brief, den du da hast?«

»Von deinem Vati.«

»Von Vati? Vati hat dir geschrieben? Was denn?«

»Dass er wieder im Wald ist und dass er uns erwartet«, lautete Bettis knappe Antwort.

»Fein! Das ist herrlich. Wir wollen sofort hinfahren.« Evi führte einen Freudentanz auf, bei dem Betti ihr mit gemischten Gefühlen zusah.

Der Lärm lockte Andrea von Lehn in die Küche. »Was geht denn hier vor?«, fragte sie verblüfft. »Warum schreist du so, Evi?«

»Weil ich zu meinem Vati fahre!«, jubelte Evi.

»So?«

Wortlos reichte Betti Andrea von Lehn den erhaltenen Brief, den diese schnell überflog.

»Geh ins Kinderzimmer zu Peterle, er ist allein«, sagte Andrea zu Evi, nachdem sie den Brief gelesen hatte.

Evi lief aus der Küche, und Betti sagte bedrückt zu Andrea: »Ich muss wohl fahren. Ich freue mich natürlich, dass alles gut ausgegangen ist, aber die Trennung von Evi fällt mir schwer. Nun ist es wohl so weit …«

»Davon schreibt er nichts«, meinte Andrea und las den Brief stirnrunzelnd ein zweites Mal.

»Nein, aber das liegt doch auf der Hand. Wie soll ich es nur Evi beibringen?«

»Gar nicht. Überlassen Sie das lieber ihrem Vater.«

»Aber vielleicht muss ich Evi gleich dort lassen. Sollte ich das Evi nicht doch andeuten?«

»Nein«, widersprach Andrea von Lehn, »warten Sie lieber ab, wie Evis Vater reagiert.«

»Auf keinen Fall wird er bereit sein, mir das Kind für immer zu überlassen«, sagte Betti traurig.

Andrea wusste darauf nichts zu entgegnen.

*

Die Bahnfahrt in den Bayerischen Wald bedeutete für Betti eine Tortur. Dabei durfte sie sich nichts von ihren trübsinnigen Grübeleien anmerken lassen, denn Evi war sowieso schon misstrauisch. Dem kleinen Mädchen kam es seltsam vor, dass die sonst so fröhliche Betti kaum sprach und auf zahlreiche Fragen nur mit einem stummen Nicken antwortete.

»Du freust dich nicht richtig darüber, dass wir zu meinem Vati fahren«, stellte Evi vorwurfsvoll fest. »Magst du meinen Vati nicht?«

»O doch, ich mag ihn schon«, erwiderte Betti.

»Mein Vati hat keine Frau mehr. Vielleicht könntest du ihn heiraten?«, schlug Evi vor.

»Evi!«, rief Betti entsetzt aus. »Was fällt dir ein! Dass du das ja nicht zu deinem Vater sagst!«

»Warum nicht?«

»Weil …, weil … Ach, das ist egal. Versprich mir, dass du deinem Vater keinen solchen Vorschlag machst.«

»Hm …« Evi gab dieses Versprechen nur zögernd ab.

»Übrigens ist es unmöglich, dass ich deinen Vater heirate«, meinte Betti nun etwas ruhiger. »Ich bin nämlich mit Helmut verlobt.«

»Verlobt? Was ist das?«

»Das bedeutet, dass ich Helmut heiraten werde.«

»Helmut Koster?«

»Ja.«

»Na ja. Herr Koster ist ja ganz hübsch«, bemerkte Evi großzügig, »aber mein Vati ist schöner. An deiner Stelle …«

»So etwas sagt man nicht«, unterbrach Betti die Kleine schnell. »Ein Mann ist nicht schön.«

»Mein Vati schon«, beharrte Evi.

Zu Bettis sonstigen Sorgen kam nun auch noch die Befürchtung, dass Evi ihr Plaudermäulchen nicht halten und sie lächerlich machen würde. Doch der Empfang, der ihr dann zuteil wurde, war nicht nur freundlich, sondern geradezu überschwänglich. Frau Haslinger umarmte sowohl Evi als auch Betti, die dadurch sehr verlegen wurde.

»Nur Ihnen haben wir es zu verdanken, dass Erich sich zu der Operation entschloss«, rief Frau Haslinger. »Aber ich weiß, dass er vorhat, Ihnen das alles zu vergelten«, fügte sie hinzu und setzte eine verschwörerische Miene auf, während ihr Mann sie warnend ausstieß.

Betti konnte nicht erraten, was Frau Haslinger ihr andeuten wollte. Sie versuchte es auch gar nicht.

Falls Herr Gleisner ihr Geld anbieten wollte – nun, sie würde es zurückweisen.

Dann trat Erich Gleisner aus dem Haus. Bei den früheren Begegnungen hatte Betti ihn nur als Behinderten gesehen, doch jetzt war er wiederhergestellt. Zwar ging er noch langsam und stützte sich auf einen Stock, aber die Unbeholfenheit und die Krücken waren verschwunden. Unversehens musste Betti daran denken, dass Evi ihren Vater im Zug schön genannt hatte. Das war natürlich ein kindlicher Ausdruck gewesen, doch es war nicht zu leugnen, dass es sich bei Erich Gleisner um einen sehr gut aussehenden Mann handelte. Betti fühlte, wie ihr Herz plötzlich klopfte.

»Mein Vati ist wieder gesund! Er kann gehen!«, jauchzte Evi und warf sich in seine Arme.

Betti kam langsam näher. Diesmal wurde sie von Evis Vater nicht ablehnend, sondern mit einer Zuvorkommenheit begrüßt, die sie ihm nie zugetraut hätte.

»Ich muss wohl recht unleidlich gewesen sein«, meinte Erich Gleisner, als habe ich ihre Gedanken erraten.

»O nein …« Betti errötete und schüttelte den Kopf.

»O doch. Ich hoffe, dass Sie mir verzeihen. Ich war ein kranker Mann. Herr und Frau Haslinger haben auch große Geduld mit mir bewiesen. Es ist mir erst jetzt zu Bewusstsein gekommen, wie sehr ich ihnen zu danken habe.«

Herr Haslinger wehrte ab. »Es war doch eine Selbstverständlichkeit, dass ich für dich eingesprungen bin«, meinte er. »Im umgekehrten Fall hättest du es ebenso gemacht. Nein, das Verdienst gebührt in erster Linie Betti, weil es ihr gelungen ist, dich von der Notwendigkeit der Operation zu überzeugen.«

»Nein, nein …«, stotterte Betti.

Evi bereitete ihrer Verlegenheit ein Ende, indem sie behauptete, fürchterlich hungrig zu sein.

»Ja, komm nur, ich habe alles vorbereitet«, entsann sich Frau Haslinger ihrer Hausfrauenpflichten.

Es gab ein üppiges Mahl, auf das sich Evi mit einem wahren Heißhunger stürzte.

»Na, das sieht ja fast so aus, als ob du tagelang nichts gegessen hättest«, sagte Erich Gleisner scherzend, worauf Betti steif entgegnete: »Evi hat immer ausreichend zu essen bekommen.«

Erich Gleisner lachte und sagte: »Meine Worte waren nicht als Vorwurf gegen Sie gemeint. Ich zweifle nicht daran, dass Sie Evi ausgezeichnet versorgt haben. Übrigens fällt mir auf, dass Sie selbst kaum einen Bissen zu sich nehmen.«

Das stimmte. Bei ihrem ersten Abendessen im Forsthaus hatte ihr die abweisende Haltung Erich Gleisners den Appetit verdorben, und jetzt war es der drohende Abschied von Evi. Betti kam sich schlecht und egoistisch vor. Alle waren fröhlich und guter Dinge, nur sie konnte ihrer Niedergeschlagenheit nicht Herr werden.

Evi war so ausgelassen und aufgeräumt, dass sie kaum zum Einschlafen zu bewegen war. Ihr Vater und Betti saßen neben ihrem Bett. Evi hatte sich bereits drei Gute-Nacht-Geschichten erzählen lassen, ohne dass ihr die Augen zugefallen wären.

»Du musst doch müde sein, Kind«, sagte Erich Gleisner ein bisschen ratlos. »Es ist spät, und du warst stundenlang unterwegs.«

»Ich werde mich auch niederlegen«, meinte Betti. »Vielleicht schläft Evi dann ein.«

»Eigentlich wollte ich noch mit Ihnen sprechen«, sagte Erich Gleisner.

»Heute noch?«, fragte Betti mit zitternder Stimme.

»Ja, falls Sie nicht zu müde sind. Aber ich will es nicht länger aufschieben.«

»Ich bin nicht müde«, murmelte Betti. »Aber Evi …«

»Es macht mir nichts aus, allein zu bleiben«, meldete sich Evi. »Ich fürchte mich nicht, ich bin ja hier zu Hause. Geh nur mit Vati.«

Betti gab Evi einen Gute-Nacht-Kuss und verließ das Zimmer mit schleppenden Schritten. Gleich würde der Augenblick kommen, da Evis Vater ihr mitteilen würde, dass sie überflüssig sei, weil er sich in Zukunft selbst um das Wohl seiner Tochter kümmern würde.

Einstweilen machte er jedoch nur eine Bemerkung, die Betti nebensächlich zu sein schien: »Draußen ist es angenehm warm. Ich möchte gern mit Ihnen in den Garten gehen. Sind Sie einverstanden?«

Betti hatte nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden. Es war ihr egal, an welchem Ort sie die schlimme Nachricht empfing. Im Garten war es dunkel. Falls sie nicht imstande sein würde, die Tränen zurückzuhalten, würde er sie wenigstens nicht sehen.

Schweigend schlug Erich Gleisner den Weg zu der Gartengarnitur ein, von der aus er Betti damals beim Jäten des Blumenbeetes beobachtet hatte. Es war jedoch nicht so finster, wie Betti gehofft hatte. Der Vollmond tauchte den Garten in ein silbriges Licht.

Als sie bei der Bank angekommen waren, nahm Erich, ohne ein einziges Wort zu äußern, Betti in die Arme und küsste sie. Betti war zu überrascht, um sich zu wehren. Sie erwiderte seinen Kuss sogar mit einer Leidenschaft, die Helmut Koster bisher an ihr vermisst hatte.

Doch nach ein paar Sekunden kam sie zur Besinnung und stieß Erich heftig weg. Er taumelte, konnte sich aber gerade noch an dem Gartentischchen festhalten.

»Du vergisst, dass ich immer noch ein halber Invalide bin«, murmelte er mit belegter Stimme.

»Sie müssen verrückt sein!«, sagte Betti.

»Verrückt? Nein, ich bin nicht verrückt. Ich liebe dich, Betti«, erklärte er ernst.

»Wie können Sie es wagen, mir so etwas …, so etwas …« Betti war ihrer Stimme nicht mehr mächtig.

»Wagen? Warum sollte ich es nicht wagen? Es ist doch nichts Schlechtes. Komm, Betti, setzen wir uns. Das lange Stehen strengt mich noch an.«

Betti gehorchte, setzte sich jedoch nicht zu ihm auf die Bank, sondern auf den Sessel, der am weitesten von ihm entfernt stand.

»Es ist kein Wunder, dass du mich für verrückt hältst. Ich hätte zuerst reden sollen«, meinte er reuig. »Ich liebe dich, und mein größter Wunsch ist es, dich zu heiraten.«

»Aber das …, das …«

»Überrascht dich das etwa? Ich musste meine Gefühle bisher im Zaum halten. Solange ich ein Krüppel ohne Zukunftsaussicht war, durfte ich dich nicht belästigen. Aber jetzt hat sich das geändert. Übrigens ist das hauptsächlich dein Verdienst. Wenn du mich nicht überredet hättest …«

»Das habe ich nun schon oft genug gehört.« Betti hatte das Lob, mit dem sie überschüttet wurde, herzlich satt. Sie befand sich in einem Zustand, in dem sie kaum noch wusste, was sie sagte oder tat. Erich Gleisner hatte ihr soeben einen Heiratsantrag gemacht, und offensichtlich meinte er es ernst. Was sollte sie antworten, ohne ihn zu verletzen?«

»Ich habe gedacht, dass auch du mich gern hast«, fing er von Neuem an. »Aber vielleicht war das nur Einbildung.«

O Gott, warum ließ er sie denn nicht in Frieden? Ja, ja, ich liebe dich auch, hätte sie ihm am liebsten zugerufen. Aber das durfte sie nicht.

»Dann war es also ein Irrtum meinerseits«, sagte er schließlich tonlos. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu entschuldigen.«

»Nein«, hauchte Betti. »Es war kein Irrtum. Ich …« Sie seufzte resigniert.

»Dann liebst du mich also doch?«, rief er.

»Ja.«

Er stand auf, ging zu ihr und beugte sich über sie. »Warum sagst du das so zaghaft, so, als ob es dich nicht freuen würde? Meinst du, ich denke noch immer an meine Frau? Glaub mir, die Vergangenheit ist für mich vorbei. Oder zögerst du, weil ich anfangs so schroff dir gegenüber war? Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt, aber als du damals mit Evi ins Zimmer kamst, so jung und lebensfroh, da wurde mir meine Hilflosigkeit doppelt bewusst. Gott sei Dank ist das jetzt vorbei. Ich bin wieder in der Lage zu arbeiten und kann dir eine schöne Zukunft bieten.«

»Ach …«

»Oder denkst du so wie Gisela? Ist es dir hier im Forsthaus zu einsam?«

»Oh, das Forsthaus gefällt mir. Ich würde so gern hier leben.«

»Würde?«

»Ja.« Betti bot all ihre Kraft auf, um ihm die Wahrheit zu sagen. »Eine Heirat zwischen uns ist ausgeschlossen«, sagte sie erschöpft.

»Aber wieso? Eben hast du mir zu verstehen gegeben, dass ich dir nicht gleichgültig bin, dass du mich liebst. Warum bist du gegen eine Heirat? Und was soll aus Evi werden? Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe, nicht des Kindes wegen. Aber ein bisschen spielt auch Evi dabei eine Rolle. Du bist wie eine Mutter zu ihr.«

»Ja, ich weiß.« Betti weinte nun. »Die Trennung von Evi wird furchtbar sein, aber sie ist notwendig.«

»Notwendig? Warum? Sag mir endlich den Grund!«

»Ich …, ich bin verlobt«, stammelte Betti.

»Verlobt!« Erich richtete sich auf. Er ging zum nächsten Stuhl und ließ sich darauf niedersinken. »Verlobt«, wiederholte er mechanisch. Dann fuhr er in scharfem Tonfall fort: »Warum hast du nie etwas davon erzählt?«

»Dazu gab es keinen Grund. Wer interessiert sich denn schon für meine Angelegenheiten?«

»Nun, zum Beispiel ich.«

Betti schwieg, und auch er sagte lange Zeit kein Wort. Dann setzte er zu einer tastenden Frage an: »Und dein Verlobter? Liebst du ihn?«

»Ob ich Helmut liebe?« Betti verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Ich fürchte – nein«, murmelte sie undeutlich.

»Und trotzdem ziehst du deinen Helmut mir vor?«, fragte er ironisch.

»Ich ziehe ihn ja nicht vor«, stöhnte Betti verzweifelt.

»Jedenfalls willst du ihn und nicht mich heiraten.«

»Was soll ich denn machen? Wir sind verlobt …«

»Was du machen sollst? Du sollst ihm sagen, dass du dich geirrt hast, und ihn bitten, dich freizugeben.«

»Das hört sich so einfach an. Aber ich bringe es nicht über mich, Helmut so zu enttäuschen.«

»Betti!«, rief Erich in einem beschwörenden Tonfall. »Willst du dein zukünftiges Leben, deine Ehe auf einer Lüge aufbauen? Du hast mir soeben gestanden, dass du mich liebst, und gleichzeitig hast du vor, einen anderen zu heiraten? Das ist Wahnsinn! Bedenke doch, wie viele Menschen du mit deiner Handlungsweise unglücklich machst: dich, mich, Evi und letzten Endes auch deinen Verlobten, denn eines Tages wird er merken, dass du ihn nicht aufrichtig liebst.«

»Ach, es ist so schwer«, seufzte Betti.

»Nimm ein wenig Rücksicht auf Evi«, bat er. »Das Kind ist dir so zugetan. Kannst du es denn übers Herz bringen, Evi zu verlassen?«

»Oh, schon seit Tagen quäle ich mich deswegen. Ich konnte in der Nacht kaum schlafen, weil ich wusste, dass ich Evi wieder hergeben muss.«

»Du musst nicht. Du brauchst nur mich mit in Kauf zu nehmen, dann ist alles in Ordnung. Ist das so schrecklich?«

»Nein, es wäre wunderschön. Aber Helmut …«

»Wenn du davor zurückschreckst, mit ihm zu reden, werde ich es tun. Es kann ihm doch nicht daran liegen, ein Mädchen zu heiraten, das einen anderen liebt.«

»Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich es noch gar nicht betrachtet«, meinte Betti versonnen. »Vielleicht hast du recht. Aber ich muss selbst mit Helmut sprechen. Das wenigstens bin ich ihm schuldig.«

»Dann bist du also damit einverstanden, meine Frau zu werden?«

»Ja, Erich, ja, und nicht nur, um Evis Mutter zu werden.« Diesmal war es Betti, die aufstand und zu ihm ging.

Erich streckte seine Arme nach ihr aus und zog sie an sich. »Evi wird überrascht sein, wenn sie erfährt, dass du nun für immer bei uns bleibst«, sagte er nach einer Weile.

»Da täuschst du dich«, erwiderte Betti verschmitzt. »Sie hat mir erst vor ein paar Stunden geraten, dich zu heiraten. Sie hat es mir sogar wärmstens empfohlen, aber ich will ihre Worte nicht wiederholen.«

»Weshalb nicht?«

»Du könntest sonst zu eingebildet werden.«

»Nun, ich bin nicht neugierig«, sagte er lachend. »Aber ich bin froh, dass du Evis Rat befolgen und meine Frau werden willst.«

*

Betti und Erich beschlossen, möglichst bald zu heiraten. Einstweilen aber sollte Betti nach Bachenau zurückkehren und Evi bis zur Hochzeit bei sich behalten.

»Siehst du, Betti, ich habe Recht behalten. Du heiratest nun doch meinen Vati«, verkündete Evi stolz.

»Ja, Evi, aber bitte platze nicht gleich mit der Neuigkeit heraus«, warnte Betti. »Überlass es mir, Frau von Lehn davon zu erzählen. Zu allererst muss ich mit Helmut reden.« Bettis Stirn umwölkte sich bei diesem Gedanken. Sie scheute vor dieser letzten Auseinandersetzung mit Helmut zurück, aber sie wusste, sie war dazu verpflichtet.

Andrea von Lehn holte Betti und Evi wieder zum Bahnhof in Maibach ab. Dabei hatte sie Gelegenheit, sich über Bettis stille Zurückhaltung und über Evis überschwängliche Fröhlichkeit zu wundern.

»Was ist denn los?«, fragte sie. »Du bist ja so lustig, Evi. Hat dein Vati dir erlaubt, weiterhin bei uns zu wohnen?«

»Ja?«, bestätigte Evi. »Er hat es erlaubt. So lange bis … Aber ich darf nichts sagen. Betti hat mir verboten, gleich mit der Neuigkeit herauszuplatzen«, wiederholte Evi wortgetreu Bettis Anweisung.

»Ach so?«, meinte Andrea erstaunt.

Betti wand sich innerlich. »Ich muss erst …, ich muss erst mit Helmut sprechen«, stotterte sie.

»Mit Helmut Koster? Hm.« In Andrea’s Kopf wirbelten die Vermutungen durcheinander. Entweder wollte Betti den Tierpfleger dazu bringen, Evi endgültig zu akzeptieren, oder aber Betti hatte vor, die Verlobung mit Helmut Koster zu lösen.

Nun, es hatte keinen Sinn, lang herumzurätseln. Betti würde sie rechtzeitig in ihr Geheimnis einweihen – falls Evi ihr nicht zuvorkam.

Betti musste sich zur Ruhe zwingen. Die Unterredung mit Helmut würde nicht leicht werden. Sie war auf bittere Vorwürfe gefasst. Grund genug hatte sie ihm dazu geliefert. Aber wie hatte sie ahnen können, wie es war, wenn man einen Menschen wahrhaft liebte? Jetzt gab es nur noch Erich und Evi für sie. Helmut würde das schließlich einsehen müssen. Aber ob er ihr verzeihen würde? Sie wollte nicht in Unfrieden von ihm scheiden.

In Bachenau angekommen, schwankte Betti, ob sie sofort mit dem Tierpfleger sprechen oder bis zum Abend damit warten sollte. Evi würde ihr jetzt im Weg sein.

Andrea von Lehn nahm dem Mädchen die Entscheidung ab. »Wenn Sie jetzt gleich mit Herrn Koster sprechen wollen, kümmere ich mich einstweilen um Evi«, sagte sie hilfsbereit, denn sie ahnte, was Betti bewegte. »Wahrscheinlich hält er sich im Freigehege auf.«

Betti ging also zum Freigehege, wo sie Helmut auch fand.

»Betti! Du bist schon zurück? Das ist aber diesmal schnell gegangen!«, rief der Tierpfleger erfreut aus, als er Betti erblickte.

Seine offensichtliche Genugtuung über ihre Rückkehr machte die Sache für sie noch schwerer.

»Und was ist mit Evi? Ist sie bei ihrem Vater geblieben?«, fragte Helmut gespannt.

»Nein«, erwiderte Betti.

»Du hast sie wieder mitgebracht? Aber Betti! Haben wir nicht vereinbart, dass …«

»Hör mich an, Helmut«, sagte Betti entschlossen. »Es fällt mir nicht leicht, aber ich habe ernsthaft mit dir zu reden.«

»Du willst mir sagen, dass du nicht gesonnen bist, Evi aufzugeben?«

»Es handelt sich nicht allein um Evi. Es ist viel schwerwiegender …« Betti stockte.

Helmut sah sie fragend an. Er ahnte nicht, was auf ihn zukam.

Betti holte tief Atem und sagte dann schnell: »Wir können nicht heiraten. Ich habe es mir überlegt …«

»Du hast es dir überlegt?«, fragte er zornig.

Betti ärgerte sich über ihre ungeschickten Worte. So hatte sie es nicht sagen wollen.

»Ist es wegen Evi? Weil ich mich geweigert habe, unsere Ehe mit einem fremden Kind zu belasten? Darüber können wir doch reden …«

»Was hilft das?«, unterbrach Betti ihn. »Außerdem habe ich dir schon gesagt, dass es nicht nur um Evi geht.«

»Hast du noch einen anderen Grund für dein plötzliches Widerstreben?«

»Es ist nicht plötzlich«, flüsterte Betti so leise, dass er sie kaum verstand.

»Ich weiß, du hast andere Vorstellungen von der Zukunft als ich«, meinte er. »Aber glaub mir, du wirst deine Ansichten ändern. Auch du wirst sehr rasch vom Leben beim Zirkus begeistert sein.«

»Hör auf, vom Zirkus zu reden«, sagte Betti aufgebracht. »Kannst du denn nicht realistisch denken? Mir liegt nichts am Zirkus.«

»Aber Betti, wenn du mich liebst, so müssten meine Wünsche auch die deinen sein. Und du liebst mich doch!«

Betti wandte sich ab. Er war ihrer so sicher. Wie groß würde die Enttäuschung sein, wenn er die Wahrheit erfuhr.

»Betti!« Er legte die Hand auf ihren Arm und drehte sie zu sich herum. »Betti, was ist denn?«

»Ach, Helmut! Ich … Es war ein Irrtum. Ich habe geglaubt, dass ich dich liebe, aber inzwischen weiß ich, dass Liebe …, dass Liebe …« Sie konnte nicht weitersprechen.

»Betti! Was soll das bedeuten?«

»Ich war doch so unerfahren«, schluchzte sie. »Ich habe wirklich geglaubt, dass das, was ich für dich empfand, Liebe ist. Aber jetzt weiß ich …«

»Was weißt du?«, unterbrach er sie mit drohender Stimme.

»Bitte, sei mir nicht böse«, flehte sie. »Ich kann ja nichts dafür. Erich hat mir geraten, dir gegenüber offen zu sein.«

»Erich?«

»Evis Vater. Er …, ich … Er hat mich gebeten, seine Frau zu werden.«

»Und du hast eingewilligt. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass du mit mir verlobt bist.«

»Helmut! So, wie du es darstellst, klingt es hässlich und gemein. Ich habe an dich gedacht, aber … Selbst wenn ich Erich abgewiesen hätte, könnte ich dich trotzdem nicht heiraten«, sagte sie fest.

»Das sagst du jetzt, weil du einen anderen gefunden hast, der dir mehr bieten kann als ich.«

»Mehr? Nein. Aber er bietet mir das Leben, von dem ich seit meiner Kindheit heimlich geträumt habe. Übrigens ist das nicht ausschlaggebend. Die Liebe zu Erich hat mir in mancher Hinsicht die Augen geöffnet.«

»So?«, fragte er höhnisch.

»Ja. Wenn du mir so viel bedeuten würdest wie …« Sie unterbrach sich. »Jedenfalls wäre ich dann mit Freuden bereit gewesen, mit dir zum Zirkus zu gehen. So aber …«

Mit einer müden Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. »Ich verstehe«, sagte er resignierend. »Ich hätte es schon früher merken sollen. Geahnt habe ich es allerdings – damals, als du Evi ins Haus brachtest.«

»Es tut mir so leid.«

»Mir auch. Aber vielleicht ist es besser so. Ich wollte es bisher nicht wahrhaben, aber unsere Ansichten von Glück sind zu verschieden. Du wirst im Forsthaus leben?«

»Ja.«

»Nun, ich hoffe … Nein, ich bin sicher, dass du dort glücklich werden wirst. Ich wünsche es dir – trotz allem!«

»Helmut, ich …«

Er winkte ab. »Es gibt nichts mehr zu sagen«, stellte er müde fest. »Ich werde mich von dem Schlag erholen. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Ich werde darüber hinwegkommen.«

Nachdem Betti das Freigehege verlassen hatte, setzte Helmut Koster sich auf einen Baumstumpf und vergrub den Kopf in seine Hände. Solange Betti vor ihm gestanden hatte, hatte er sich beherrscht. Doch jetzt überkam ihn abgrundtiefe Verzweiflung. Er hatte Betti endgültig verloren.

Helmut grübelte darüber nach, was er hätte anders machen sollen, doch zuletzt endete alles bei dem einen Punkt: Betti hatte ihn nicht geliebt. Er war blind gewesen. Aber nein, nicht blind. Er hatte es gefühlt, aber er hatte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollen.

Helmut erhob sich taumelnd. Es half alles nichts, er musste sich damit abfinden, dass er Betti verloren hatte. Flüchtig überdachte er die Pläne, die er geschmiedet hatte. Betti hatte wenig, besser gesagt, gar nicht daran teilgenommen. Deshalb kam ihm sein Vorsatz, zum Zirkus zu gehen, mit einem Mal nicht mehr so erstrebenswert vor. Trotzdem klammerte er sich daran. Er würde fremde Länder sehen, neue Eindrücke gewinnen – und darüber Betti vergessen.

*

Andrea von Lehn blickte Betti voll Wissbegierde entgegen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

»Ja.« Betti atmete auf. »Helmut hat mich freigegeben. Jetzt kann ich es auch Ihnen sagen, oder hat Evi es schon ausgeplaudert?«

»Nein.« Andrea lächelte. »Evi war diskret und verschwiegen. Aber es ist ihr sicherlich schwergefallen. Nun erzählen Sie endlich! Ich kann meine Neugierde kaum mehr bezähmen.«

»Evis Vater hat mich gebeten, ihn zu heiraten, und ich habe zugestimmt.«

»Oh! Ich gratuliere Ihnen!« Voll Freude umarmte Andrea das Mädchen. »Es tut mir natürlich leid, dass Sie von uns weggehen«, sagte sie dann. »Aber die Hauptsache ist, dass Sie glücklich sind.«

*

Nach dem Abendessen, als Andrea mit ihrem Mann allein war, teilte sie ihm mit, dass Betti die Frau von Erich Gleisner und Evis Mutter werden würde.

»Meine Hoffnung hat sich also doch erfüllt«, schloss sie ihren Bericht.

»Deine Hoffnung?«

»Ja. Es war doch die einzig mögliche Lösung des Konflikts, in dem Betti sich befand. Dass Betti Evis Vater heiratet ist für alle Beteiligten das Beste.«

»Auch für Herrn Koster?«

»Betti hat niemals zu ihm gepasst.«

»Und woher willst du wissen, dass Erich Gleisner besser zu ihr passt? Du kennst ihn ja gar nicht.«

»Betti wirkt so glücklich und zufrieden wie noch nie. Diesmal ist es der Richtige.«

*

Als Erich Gleisner nach vierzehn Tagen kam, um Betti und Evi abzuholen, hatte das Ehepaar von Lehn Gelegenheit, den Förster kennenzulernen und sich davon zu überzeugen, dass er tatsächlich der richtige Mann für Betti war. Es war ihm nun nichts mehr von der Verbitterung anzumerken, die ihn während seiner Krankheit so gequält hatte. Er küsste Betti, die seine Umarmung freudig erwiderte.

»Du bist jetzt frei und kannst mich heiraten?«, fragte er.

»Ja.«

»Dann wollen wir unser Vorhaben möglichst rasch in die Tat umsetzen. Du bist doch auch noch immer damit einverstanden, mit mir im Forsthaus zu wohnen?«

»Ja, gewiss.«

Evi kam herbeigelaufen. »Vati! Fahren wir jetzt nach Hause?«, erkundigte er sich.

»Ja. Du musst Abschied nehmen.«

»Auch von Peterle?«

»Natürlich. Peterle müssen wir hierlassen.«

Evis Gesichtchen verdüsterte sich.

»Sei nicht traurig«, tröstete Erich seine Tochter. »Wer weiß – in einem Jahr hast du vielleicht ein kleines Brüderchen.«

»Bestimmt?« Evi sah Betti an.

»Dein Vater hat gesagt ›vielleicht‹. Du musst Geduld haben«, erwiderte Betti ein wenig verlegen. »Aber eines kann ich dir versprechen: Wir werden Johannisbeersträucher anpflanzen. Schon im nächsten Sommer kannst du sie abernten.«

*

Andrea von Lehn war an diesem Abend etwas deprimiert. »Nun sind sie also fort«, sagte sie. »Das Haus kommt mir ohne Betti und Evi so still vor.«

Im selben Augenblick ertönte aus dem Kinderzimmer ein Plumps und gleich darauf ein markerschütterndes Geschrei.

»Still hast du gesagt?«, fragte Hans-Joachim mit hochgezogenen Brauen.

Andrea hörte diese Bemerkung nicht mehr. Sie war bereits hinübergelaufen und hatte Peterle vom Fußboden aufgehoben.

»Er ist aus dem Bett gefallen«, teilte sie ihrem Mann mit, der ihr gefolgt war.

»Er ist heute so unruhig. Wahrscheinlich fehlt ihm Betti.«

Andrea legte ihren Sohn wieder ins Bett und deckte ihn zu. »Betti wird uns allen sehr fehlen«, fuhr sie dann fort.

»Ja. Wir werden uns nach einem anderen Mädchen umsehen müssen«, meinte Hans-Joachim.

»Das wird nicht einfach sein.«

»Jedenfalls werden wir leichter einen Ersatz für Betti finden als Helmut Koster.«

»Er tut mir leid«, sagte Andrea. »Ich bin so froh, dass Betti glücklich geworden ist, aber Herrn Koster bedaure ich trotzdem.«

»Auch er wird eines Tages sein Glück finden«, erwiderte Hans-Joachim.

Sophienlust Staffel 15 – Familienroman

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