Читать книгу Sophienlust Staffel 15 – Familienroman - Susanne Svanberg - Страница 9
ОглавлениеFrau Rennert, die mütterliche Heimleiterin von Sophienlust, setzte ihre Brille ab. Tante Ma, wie sie von allen Kindern genannt wurde, war an diesem Abend außergewöhnlich müde.
Nach einem heißen, schwülen Tag war bei Einbruch der Dunkelheit ein schweres Gewitter niedergegangen. Es hatte gedonnert, geblitzt und schließlich wolkenbruchartig geregnet. Im Park von Sophienlust hatten sich die Wassermassen zu einem riesigen See gestaut, sodass der alte Justus im strömenden Regen hinausgelaufen war, um die zugeschwemmten Abflüsse zu reinigen.
Für die Kinder von Sophienlust war dies natürlich ein so aufregendes Erlebnis gewesen, dass sie nicht ins Bett gewollt hatten. Sie hatten sich die Näschen an den Scheiben plattgedrückt und halb ängstlich, halb bewundernd dem gewaltigen Naturschauspiel zugesehen. Obwohl dieses schlimme Unwetter Frau Rennert selbst nicht ganz geheuer gewesen war, hatte sie dafür gesorgt, dass keine Panik aufgekommen war, dass sich keines der Kinder gefürchtet hatte. Jetzt trat die Heimleiterin ans Fenster, um noch einmal in den weitläufigen Park zu sehen. Der riesige Regenwassersee war verschwunden, doch die Wege glänzten noch immer nass in der Dunkelheit. Man hörte, wie das Wasser von den vielen alten Bäumen, die ringsum das ehemalige Herrenhaus standen, tropfte. Doch was war das? Zu so später Stunde kam noch ein Auto über die Zufahrtsstraße zum Haus?
Frau Rennert trat ins Zimmer zurück, um hastig nach ihrer Brille zu greifen. Tatsächlich! Eben rollte der Wagen auf den Parkplatz. Im Schein der Laternen konnte sie erkennen, dass es sich um ein Polizeifahrzeug handelte. Ganz deutlich war das Blaulicht auf dem Dach zu sehen. Inständig hoffte die mütterliche Frau in diesem Moment, dass ihre Schützlinge bereits schliefen. Denn dieser Besuch würde neues Aufsehen erregen. Dann würde es möglicherweise die halbe Nacht hier keine Ruhe geben. Eilig knöpfte Frau Rennert ihre Bluse wieder zu. Sie dachte nicht mehr an ihre bleierne Müdigkeit, sondern überlegte, was wohl der Grund dafür sein mochte, dass die Polizei noch so spät kam. Erstaunlich flink lief sie die Treppe hinunter. Ob das Unwetter in Sophienlust irgendwo Schaden angerichtet hatte?
Angstvoll schloss Frau Rennert das Portal auf. Doch was sie dann im Schein der Laternen sah, ließ sie alle Sorge um den Besitz von Sophienlust vergessen. Da kam ein uniformierter Polizist mit langen Schritten durch den jetzt nur noch schwach rieselnden Regen. Er trug etwas in Decken Gehülltes auf dem Arm.
Frau Rennert wusste sofort, dass es ein Kind war, das man in wärmende Decken gehüllt hatte. Nur ein Kind wurde so behutsam und vorsichtig getragen.
»Mein Gott«, murmelte die Heimleiterin. Die Tatsache, dass ein Polizist dieses Kind brachte, sagte ihr schon, dass es allein, ohne Angehörige sein musste. Was mochte wohl geschehen sein?
Frau Rennert trat etwas zurück, um den Fremden ins Haus zu lassen.
»Darf ich?«, keuchte er. Das Regenwasser lief ihm übers Gesicht. Er schien völlig durchnässt zu sein.
»Kommen Sie herein.« Frau Rennert knipste die große Deckenlampe in der Halle an. In deren Schein erkannte sie das Grauen in den dunklen Augen des Mannes. Es musste etwas Furchtbares geschehen sein. Etwas, was selbst einem Mann, der daran gewöhnt war, Zeuge schlimmer Vorfälle zu werden, Schrecken einflößte.
»Ich bin Hans Strasser und gehöre zum Verkehrsstreifendienst der Maibacher Polizei. Ich habe hier ein kleines Mädchen und möchte Sie bitten, das Kind aufzunehmen, bis …« Strasser zog ein wenig die Achseln hoch, »… ja, bis sich Angehörige melden.«
Frau Rennert machte eine einladende Handbewegung zu der Sesselgruppe hin. Normalerweise fällte sie nie eine Entscheidung, ohne Denise von Schoenecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete, zuvor um Rat zu fragen. Doch jetzt wollte sie die Familie von Schoenecker, die auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, nicht in ihrer wohlverdienten Nachtruhe stören.
»Ich habe schon mehrfach von Sophienlust gehört und erfahren, dass es die Kinder hier besonders gut haben. Deshalb bringe ich die Kleine hierher und nicht ins Maibacher Waisenhaus. Ich hoffe doch, Sie haben Platz?« Hans Strasser sah Frau Rennert bittend an. Irgendwie hatte man den Eindruck, er tue in diesem Fall mehr als seine Pflicht.
»Wir haben immer Platz für dringende Fälle«, antwortete die Heimleiterin. »Ich bin überzeugt, dass Frau von Schoenecker nichts dagegen hat, wenn das kleine Mädchen bei uns bleibt.«
Dunkel erinnerte sich Hans Strasser an eine wunderschöne junge Frau, die er vor einigen Jahren auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Maibach kennengelernt hatte: Denise von Schoenecker.
»Sophienlust gehört ihrem kleinen Sohn, nicht wahr?«, erkundigte er sich.
»Oh, unser Nick ist inzwischen schon fünfzehn und im Begriff, sich in einen sehr selbstbewussten jungen Mann zu verwandeln. Seine Urgroßmama hat ihm Sophienlust vererbt und bestimmt, dass ein Heim für elternlose Kinder aus dem Gut werden soll.«
Sehr behutsam setzte Hans Strasser jetzt seine Last in einen Sessel und öffnete die Decke.
Ein völlig durchnässtes kleines Persönchen kam zum Vorschein. Es hatte langes blondes Haar, große dunkle Augen und ein hübsches Gesichtchen. Wilde Angst und panisches Entsetzen spiegelten sich in den ausdrucksvollen Kinderaugen. Das war so auffällig, dass Frau Rennert unwillkürlich erschrak. Sie hatte schon viele verängstigte Kinder in Sophienlust gesehen, doch noch nie war die Furcht in einem Kindergesicht so grenzenlos gewesen.
Die mütterliche Frau strich liebevoll über den blonden Scheitel. »Hab keine Angst«, flüsterte sie. »Hier geschieht dir nichts. Wir helfen dir, kleine …« Fragend sah sie auf den Verkehrspolizisten.
»Anja heißt sie. Anja Möllendiek«, half er rasch aus.
Das Kind presste beide Ärmchen vor das Gesicht und verdeckte damit die Augen. Der kleine Mund war fest geschlossen. Kein Laut kam über die blassen, blutleeren Lippen.
»Liebe kleine Anja, du darfst nicht traurig sein. Morgen wirst du die Kinder kennenlernen, die in Sophienlust zu Hause sind.«
Voll Zärtlichkeit legte Frau Rennert den Arm um das kleine verängstigte Geschöpf. Alles in ihm schien voll Abwehr zu sein. Seltsam steif und aufrecht saß die Kleine da. Erstaunlich für ein Kind, das vermutlich nicht älter als fünf Jahre war.
In diesem Augenblick kam Schwester Regine, die auf Sophienlust die Jüngsten betreute, die breite teppichbespannte Treppe herab. »Ich hörte Stimmen und wollte nachsehen«, entschuldigte sie sich ein wenig verlegen.
»Sie kommen gerade richtig, Schwester Regine«, meinte Frau Rennert. »Wir haben einen neuen Gast, der ganz durchgefroren ist. Ich glaube, ein warmes Bad und danach ein kuscheliges Bett wären wohltuend.«
»Tatsächlich. Und was für ein hübsches kleines Mädchen!« Schwester Regine, die niemals genug Kinder um sich haben konnte, war sichtlich erfreut. »Ich werde unseren kleinen Gast sofort versorgen«, meinte sie und nahm den neuen Schützling auf den Arm.
Die Heimleiterin, die Anja bei Schwester Regine in den besten Händen wusste, nickte zustimmend. »Darf ich jetzt etwas über die näheren Umstände erfahren?«, wandte sie sich an Hans Strasser, sobald die Kinderschwester mit der Kleinen im Obergeschoss verschwunden war.
»Wir wurden zu einem Verkehrsunfall gerufen, der sich auf der Bundesstraße zwischen Wildmoos und Bachenau ereignet hat, ganz in der Nähe von hier. Wir fuhren noch während des Gewitters hin. Was wir dort vorfanden, war grausam.« Hans Strasser schüttelte den Kopf. Noch würgte ihn das blanke Entsetzen, wenn er an das entsetzliche Bild dachte, das sich den Polizisten am Unfallort geboten hatte.
»Anjas Eltern?«, fragte Frau Rennert ahnungsvoll und ließ sich in den Sessel nieder, in dem zuvor das kleine Mädchen gesessen hatte.
Breitbeinig stand Hans Strasser in seiner nassen Uniform vor der Heimleiterin. Er war viel zu aufgeregt, um sich jetzt setzen zu können. Schon manchmal hatte er Protokolle an einem Unfallort aufgenommen, doch noch nie hatte ihn ein Geschehen so aufgewühlt wie dieses.
»Sie sind beide tot«, berichtete er leise. »Auch der kleine Bruder von Anja, der mit im Wagen war.« Ein Schauer rieselte über Strassers Rücken, als er an den entsetzlichen Anblick dachte, den die Verunglückten geboten hatten. Und das Schlimmste war, dass die kleine Anja das alles gesehen hatte. Für ein fünfjähriges Mädchen musste es ein furchtbares Erlebnis bedeuten, die Eltern und den kleinen Bruder so zu sehen.
Diese Auskunft war auch für Frau Rennert niederschmetternd. Entsetzt schlug sie beide Hände vors Gesicht.
»Der Wagen kam infolge der herabstürzenden Wassermassen von der Straße ab. Aquaplaning nennt man das. Er prallte frontal gegen einen Baum. Die Möllendieks und der kleine Junge müssen sofort tot gewesen sein. Anja ist wahrscheinlich herausgeschleudert worden und ins Gras gefallen. Wir fanden sie später dicht neben dem zertrümmerten Fahrzeug.« Hans Strasser schluckte. Er wollte die schrecklichen Bilder am liebsten vergessen. Doch er wusste, dass er noch lange daran denken würde.
Frau Rennert atmete schwer. »Sie ist also die Einzige der Familie, die überlebt hat.«
»Das ist anzunehmen. Jedenfalls fanden wir nur vier Pässe im Wagen. Übrigens kamen die Möllendieks aus Schweden.«
»Haben Sie schon daran gedacht, dass Anja verletzt sein könnte?«
»Es gehört zu unseren Vorschriften, Verkehrsgeschädigte unverzüglich zum Arzt zu bringen. Das ist natürlich auch in diesem Falle geschehen. Der Unfallarzt des Krankenhauses in Maibach hat das Kind untersucht und festgestellt, dass es, außer einigen leichten Hautabschürfungen, keinerlei Verletzungen hat.«
»Ich werde trotzdem Frau Dr. Frey bitten, sich das Kind noch einmal anzusehen. Irgendwie kam es mir verkrampft und sonderbar vor.« Frau Rennert erhob sich.
»Nach allem, was Anja erlebt hat, scheint mir das nicht verwunderlich«, murmelte der junge Polizist. Ihm war klar, dass er nun zu gehen hatte. Es war schon spät, und er konnte die freundliche Heimleiterin schließlich nicht noch länger aufhalten. Dabei hätte er Anja zu gerne noch einmal gesehen.
»Darf ich …, darf ich morgen wiederkommen, um mich nach der Kleinen zu erkundigen?«, stotterte er verlegen.
»Selbstverständlich.« Frau Rennert reichte dem Beamten die Hand.
*
Angestrengt lauschte die kleine Heidi Holsten in die Dunkelheit. »Hörst du nicht?«, wisperte sie ihrer Zimmerkameradin Vicky zu. »Da plätschert doch das Wasser im Bad.«
Vicky Langenbach gab keine Antwort, denn sie schlief tief und fest.
Heidi richtete sich auf und stellte enttäuscht fest, dass sich Vicky kein bisschen bewegte. Tief und gleichmäßig waren ihre Atemzüge.
»Da hat doch jemand vergessen, das Wasser abzudrehen«, murmelte die Kleine. Wie alle Kinder von Sophienlust fühlte sie sich für alles in und um das Haus verantwortlich. Sie kletterte aus dem Gitterbettchen und lief auf bloßen Füßen durch das Zimmer. Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie die Türklinke vorsichtig nach unten drückte. Oh, draußen auf dem Flur brannte ja Licht. Und drüben im Zimmer von Schwester Regine war es auch noch hell. Kamen da nicht Stimmen aus dem Badezimmer? Ja, das war doch Schwester Regine!
Bedeutend mutiger trippelte Heidi weiter. Sie wusste, wenn Regine Nielsen in der Nähe war, konnte ihr nichts passieren.
Heidi steckte ihren Kopf durch den Spalt der Badezimmertür und blinzelte ein wenig schläfrig ins Licht. Eben seifte Schwester Regine gewandt und sicher ein kleines Mädchen ab. Heidi war ganz sicher, dass sie dieses Kind noch nie gesehen hatte. Neugierig trippelte sie näher.
»Heidi, schläfst du denn noch nicht?« Schwester Regine, die die kleine Nachtwandlerin sofort bemerkte, wollte Heidi zunächst mit einigen strengen Worten ins Bett zurückschicken. Doch die Kleine sah in ihrem langen Nachthemd mit dem offenen blonden Haar und den erstaunt dreinschauenden blauen Augen so allerliebst und unschuldig aus wie ein Engelchen. Der Verweis blieb angesichts dieses süßen Anblicks unausgesprochen.
»Ich wollte …, ich dachte …« Heidi sah interessiert auf die neue Kameradin und vergaß das, was sie als Entschuldigung hatte vorbringen wollen. »Wer ist das?«, fragte sie mit schiefgelegtem Köpfchen.
»Anja. Sie wird einige Zeit bei uns bleiben«, erklärte Schwester Regine, obwohl sie das selbst nicht so genau wusste. »Sie ist nur ein Jahr älter als du. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.« Schwester Regine brauste das Kind ab und schlug ein weiches Badetuch um den kleinen zitternden Körper.
Zutraulich kam Heidi näher. »Darf sie bei Vicky und mir im Zimmer schlafen? Da ist doch noch ein leeres Bett.«
»Möchtest du das denn?« Schwester Regine hob das Kind aus der Wanne und setzte es auf einen Stuhl. Behutsam rieb sie Anjas blonde Haare trocken.
»Ja!« Heidi hüpfte begeistert auf und ab.
»Dann werden wir morgen Tante Isi fragen. Heute schläft Anja in meinem Zimmer.«
Heidi nickte verständnisvoll. Natürlich wusste sie, dass in Schwester Regines Zimmer ein Kinderbett stand, das gewöhnlich dann benutzt wurde, wenn Neulinge kamen oder wenn eines der Kleinen schwer krank war.
»Warum ist Anja so traurig?«, fragte sie und kam noch etwas näher. Aufmerksam sah sie in Anjas große dunkle Augen.
Schwester Regine, die selbst noch nichts über das Schicksal des neuen Kindes wusste, überging diese Frage. »Heidi wird dir morgen das Haus, den Park und die Stallungen zeigen, Anja«, sagte sie. »Du wirst staunen, was es hier alles zu sehen gibt. Wir haben eine Menge Tiere.« Liebevoll rieb sie das Kind ab und zog ihm ein Nachthemd über den Kopf.
»Ponys und Hunde und Habakuk«, kreischte Heidi voll Begeisterung.
»Ja. Und drüben im Tierheim gibt es einen richtigen kleinen Zoo.« Eigentlich war Schwester Regine jetzt ganz froh, dass Heidi ihr half, den neuen kleinen Gast ein wenig von seinem Kummer abzulenken. Denn dass Anja schweres Leid widerfahren war, fühlte sie deutlich. Fest pressten sich die Lippen der Kleinen aufeinander. Regungslos, fast teilnahmslos war ihr Gesichtchen. Der Blick der großen dunklen Kinderaugen ging oft in geheimnisvolle Ferne. Woran dachte Anja nur? Fast konnte man Angst bekommen, wenn man ihre unnatürlich weit geöffneten Augen sah. Keine Träne stahl sich daraus hervor. Das blasse Gesichtchen wirkte fast starr und leblos.
»Habakuk ist ein Papagei. Er kann richtig sprechen«, plapperte Heidi. »So wie du und ich.« Doch plötzlich wurde die Kleine nachdenklich. Sie zog Schwester Regine an der blütenweißen Schürze. »Sie spricht nicht mit mir«, flüsterte sie. »Warum sagt sie kein einziges Wort?«
Jetzt fiel das auch Schwester Regine auf. Anjas Benehmen war seltsam. Kinder in ihrer Lage weinten, schrien und jammerten gewöhnlich. Doch Anja war stumm wie ein Fisch. In ihren großen dunklen Augen schien sich aber das Leid der ganzen Welt zu spiegeln.
»Anja, wir möchten dir so gern helfen«, sagte Schwester Regine mit liebevoller, schmeichelnder Stimme. »Erzähl uns doch, was dich bedrückt.« Die Kinderschwester nahm die Kleine mütterlich in die Arme und streichelte das blasse traurige Gesichtchen.
Heidi beobachtete diese Bemühungen mit angehaltenem Atem. Keine Sekunde lang wandte sie den Blick von Anjas fest zusammengepressten Lippen. »Du kannst Schwester Regine alles erzählen. Sie sagt es keinem weiter«, ermunterte sie die neue Spielgefährtin.
Anjas kleiner Mund bewegte sich nicht. Stur schaute sie auf die glänzenden Wandkacheln. Doch sie nahm nichts aus ihrer Umgebung wahr. In Gedanken hörte sie noch immer jenen schrecklichen Knall, jenes unheimliche Krachen, Splittern und Bersten, dem eine entsetzliche Stille gefolgt war. Halb gelähmt vor Furcht war sie auf allen vieren zu dem Haufen rauchenden Blechs gekrochen, das zuvor ein schmuckes Auto gewesen war. Vati, Mutti und Lars, wo waren sie? Anja hatte schreien wollen, aber jeder Laut war in ihrer Kehle stecken geblieben. Dann hatte ein greller Blitz die gespenstische Szene erhellt. Das Grauen, das Anja in diesen Sekunden erfasst hatte, spiegelte sich noch jetzt in ihren Augen.
Der kleinen Heidi war plötzlich kalt. Sie tappte hinauf auf den Flur. Dort saß Stupsi, der zottige hellbraune Teddybär, der schon so viele Kinder getröstet hatte, in einem Korbsessel. Heidi drückte ihn an sich und lief zurück.
»Hier, du darfst ihn haben.« Auffordernd streckte sie das Spielzeug der kleinen Anja entgegen. »Willst du hören, wie er brummen kann?« Heidi drehte den Teddy um und strahlte, als er ein langgezogenes »Öhhh« von sich gab. »Halte ihn doch!«
Nur zögernd griff Anja nach dem Kuscheltier mit dem langhaarigen Fell.
»Stupsi heißt er«, erklärte Heidi eifrig. »Sag doch mal ›Stupsi‹.«
Anja schmiegte sich eng an Schwester Regine. Die kleine Heidi, die sich so eifrig um sie bemühte, gefiel ihr sehr. Warum sollte sie ihr nicht den Gefallen tun?
Anja öffnete den Mund, wollte Stupsi sagen. Ihre Lippen bewegten sich, doch es kam kein einziger Laut aus ihrer Kehle.
Schwester Regine, die das Kind aufmerksam beobachtet hatte, erschrak so sehr, dass ihre Knie zu zittern begannen. Auch Heidis eben noch strahlendes Gesichtchen wurde schlagartig ernst. Ängstlich forschten ihre blauen Kinderaugen im Gesicht der Kinderschwester. Welche Erklärung gab es für diese schlimme Entdeckung? Heidi fürchtete sich plötzlich. Schutzsuchend klammerte sie sich an Schwester Regine.
*
Vorsichtig löste sich Grit Möllendiek aus den Armen ihres Verlobten. »Ich muss gehen«, meinte sie lächelnd.
»Schon?«, fragte David Danner langgezogen und machte ein leicht beleidigtes Gesicht.
»Es ist spät, und du wirst müde sein. Morgen hast du sicher wieder einen anstrengenden Tag vor dir.« Grit strich liebkosend über Davids schwarzes lockiges Haar. Sie war unsagbar verliebt in ihn. Sein gepflegter dunkler Bart gefiel ihr ebenso wie die moderne, ein wenig ausgefallene Kleidung, die er bevorzugte.
»Ich möchte mich am liebsten nie mehr von dir trennen, süße, bezaubernde Grit.« David sah bittend in die tiefblauen Augen seiner Braut.
»Es sind ja nur noch wenige Tage bis zu unserer Hochzeit«, tröstete Grit mit verschmitztem Lächeln. Mit ihrer sehr hellen Haut und den silberblonden Haaren war sie genau das Gegenteil von David.
»Für mich ist das viel zu lange. Hier im Haus ist so viel Platz, aber du wohnst im Hotel. Das ist doch einfach lächerlich.« Er legte die Arme um Grits schlanke Taille und zog sie erneut an sich.
»Was würde mein Bruder denken, der morgen mit seiner Familie kommt?« Grit lachte leise, weil es wirklich komisch aussah, wenn David ein trauriges Gesicht machte. Es passte nicht zu ihm.
»Ich weiß von deinem Bruder nur, dass er in Schweden lebt und ziemlich reich ist.« Verliebt rieb David seine Nasenspitze an Grits leicht gewölbter Stirn. Die duftigen blonden Locken kitzelten ihn ein wenig, doch er mochte das gern. Grit war ein Mädchen zum Schmusen und Liebhaben. Aber sie hatte auch noch andere Vorteile, die wichtig für ihn waren. Das Vermögen beispielsweise, das der Bruder ihr ausbezahlt hatte und das Grit ihm, David, großzügig zur Verfügung gestellt hatte.
»Er hat die Fabrik meiner Eltern übernommen und sie weiter ausgebaut«, berichtete Grit. »Mark ist tüchtig und ein prima Kamerad. Übrigens ist seine Frau Maria Deutsche. Die Liebe hat uns also beide nach Deutschland verschlagen.« Grit lächelte verträumt. »Wenn wir beide so glücklich werden wie mein Bruder mit seiner Frau, dann bin ich mehr als zufrieden.«
»Wir werden sicher noch viel glücklicher«, prophezeite David im Brustton der Überzeugung. »Ich liebe dich, Grit. Für mich bist du die einzige Frau auf der ganzen Welt, mit der ich mein Leben verbringen möchte.« Er legte seine Hände an die zarten Wangen des Mädchens und bog Grits Kopf ein wenig zurück. Heiß und voll Verlangen küsste er Grits weiche volle Lippen.
Grit schlang glücklich beide Arme um seinen Hals und schmiegte sich innig an ihn. Liebevoll erwiderte sie den Kuss. »Ich freue mich ja schon so sehr auf das Leben mit dir«, wisperte sie mit selig leuchtenden Augen. »Wir werden unsere Flitterwochen endlos ausdehnen. Jeder soll wissen, wie glücklich wir sind.«
Grit liebkoste das bärtige Gesicht ihres Verlobten. Sie wusste, Mark, ihr Bruder, hatte sie vor dieser Verbindung gewarnt. Er hatte dem reichen David Danner misstraut. Doch Grit war überzeugt, dass sich Mark, der sonst ein gutes Gefühl für Menschen hatte, diesmal gründlich geirrt hatte.
»Ich will dich verwöhnen. Du sollst leben wie eine Prinzessin. Meine Liebe zu dir, Grit, ist so übermächtig, so groß, dass Worte nicht ausreichen, sie zu beschreiben. Ich kann sie nur beweisen. Tag für Tag, ein ganzes Leben lang.« David streichelte das ebenmäßige, klassisch-schöne Gesicht der blonden Grit. Er küsste verliebt ihre Nasenspitze, küsste sie auf beide Augen, auf die reizvollen kleinen Ohren.
Lächelnd ließ das Mädchen es geschehen. Gar nicht genug konnte es von Davids Zärtlichkeiten bekommen. Er war ein Mann, der es verstand, eine Frau glücklich zu machen, ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen.
»Ich gehöre nur dir, David«, flüsterte Grit. »Dir ganz allein. Und das wird sich niemals ändern.«
»Das klingt wie wunderschöne Musik«, gab der junge Mann zufrieden lächelnd zurück. »Ich könnte es auch nicht ertragen, dich mit jemandem teilen zu müssen. Ich wäre rasend eifersüchtig.«
»Warum sollte ich?«, fragte Grit unbesorgt. »Ich bekomme den besten Mann der Welt. Hübsch, charmant, klug und vermögend. Na, bin ich nicht ein Glückspilz?«
Grit fühlte sich in Davids Armen sicher und beschützt. Da er mit seinen zweiunddreißig Jahren zehn Jahre älter war als sie, ersetzte er ihr ein wenig den Vater, den sie schon so früh verloren hatte.
»Alles, was ich besitze, gehört dir! Das Haus, die Autos, die Kunstgegenstände, einfach alles.« David hob den schmalen Mädchenkörper ein wenig an und drehte sich übermütig mit Grit im Kreis. »Erst seit ich dich kenne, bedeutet es mir etwas, reich zu sein. Es ist der Rahmen, der zu dir passt.«
»Du bist so lieb zu mir!« Grit küsste David laut und schallend auf die Wange. »Trotzdem muss ich jetzt gehen. Wir sehen uns ja morgen wieder.«
»Morgen suchen wir das schönste Kleid für dich aus, das aufzutreiben ist. Und natürlich das nötige modische Zubehör und den Schmuck dazu. Wie eine verwöhnte Diva sollst du aussehen, wenn dein Bruder kommt.« David ließ das Mädchen frei und machte Anstalten, es zur Tür zu bringen. »Ich fahre dich natürlich zum Hotel. Oh, Moment, drüben klingelt das Telefon.« Mit langen Schritten ging er durch den riesengroßen Wohnraum in sein Arbeitszimmer. Etwas ungeduldig nahm er den Hörer ab und meldete sich.
Grit kam langsam nach.
»Es ist für dich«, sagte David und hielt Grit den Hörer entgegen. »Man hat schon im Hotel bei dir angerufen.«
»Wer denn?«, fragte das Mädchen verwundert.
David zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht dein Bruder?«
Grit ergriff rasch den Telefonhörer und presste ihn ans Ohr. »Mark?«, fragte sie erwartungsvoll. Eigentlich war sie ganz sicher, dass David mit seiner Vermutung Recht haben musste. Denn sie war erst seit einigen Wochen in Deutschland, kannte hier noch keinen. Wer außer ihrem Bruder konnte sie anrufen?
Angestrengt lauschte sie dann in die Muschel. Aber es war nicht Marks Stimme, die da sprach. Es waren die sachlichen Ausführungen eines Beamten, die sie hörte. Das, was er sagte, war so furchtbar, dass sich ihr Verstand weigerte, das alles zu begreifen. Immer fester umspannte ihre Hand den Telefonhörer. Alle Farbe war aus ihrem hübschen Gesicht gewichen.
David Danner beobachtete seine Braut mit gerunzelter Stirn und unmutig zusammengezogenen Augenbrauen. »Was will man denn von dir so spät noch? Es ist eine Unverschämtheit, um diese Zeit anzurufen. Wenn ich gewusst hätte, dass da irgendein Verrückter dran ist, hätte ich überhaupt nicht abgenommen.«
Grit reagierte nicht auf seine ärgerlichen Äußerungen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf die Stimme, die aus dem Hörer drang. Ihr hübscher Mund verzog sich schmerzlich.
»Was ist denn?«, drängte David und machte den Versuch, Grit den Hörer abzunehmen. Er konnte sich nicht erklären, was und wer seine Braut so beunruhigte. Ungeduld und Angst stiegen in ihm auf und ließen ihn immer nervöser werden. Hetzte man Grit gegen ihn auf? Waren es vielleicht sogar böse Verleumdungen? Kurzerhand drückte er die Raste des Apparats nieder, sodass die Verbindung unterbrochen war.
Grit sah ihn entgeistert an. So, als käme sie aus einer ganz anderen Welt zurück. Dabei waren sie doch eben noch so vertraut miteinander gewesen.
»Warum tust du das?«, fragte sie verwirrt.
»Weil ich endlich wissen möchte, wer dir Märchen erzählt«, fauchte David aufgebracht.
»Mein Gott, David, es ist etwas Furchtbares geschehen.« Grit ließ verzweifelt den Kopf hängen.
»Was denn, zum Donnerwetter?« David dachte gar nicht daran, seine Braut tröstend in die Arme zu nehmen oder wenigstens beruhigend ihre Hand zu halten. Er war überzeugt, dass man Grit eben einige recht unerfreuliche Dinge über ihn gesagt hatte. Und dagegen würde er sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen.
Grit zog die Arme an ihren Körper. Ihr war plötzlich kalt, trotz der Wärme, die in Davids luxuriösem Haus herrschte.
»Mark und seine Familie sind auf dem Weg hierher mit dem Wagen verunglückt. Sie sind … tot.« Sehr leise kam das letzte Wort von Grits Lippen. Erst jetzt lösten sich Tränen aus ihren Augen. Sie schluchzte auf, schlug beide Hände vors Gesicht.
David Danner stand für eine Sekunde regungslos. Doch dann durchdachte er sofort die Situation und kam zu dem Ergebnis, dass sie gar nicht ungünstig war. Mark Möllendiek war ein reicher Mann gewesen, und es gab, außer Grit, keine näheren Verwandten. Erleichtert atmete er auf. Dann ging er zu dem jungen Mädchen und legte zärtlich die Arme um dessen zuckende Schultern.
»Ich hatte schon Angst, es gäbe jemanden, der uns auseinanderbringen will. Entschuldige, Grit, dass ich so heftig war. Ich hatte Angst um unsere Liebe. Verstehst du das?« Schmeichelnd war die dunkle sympathische Männerstimme.
»Mark war der einzige Mensch, den ich noch hatte«, schluchzte Grit. »Jetzt bin ich ganz allein.« Noch reichlicher flossen ihre Tränen. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Du hast doch mich, Darling. Du bist nicht allein, wirst es nie sein. Ich werde immer treu zu dir halten.« David strich über das wundervolle silberblonde Haar von Grit. »Nicht weinen, bitte, nicht weinen«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Wie kann das Schicksal nur so grausam sein, eine junge Familie einfach auszulöschen? Begreifst du das?« Schutzsuchend schmiegte sich Grit an ihren Verlobten. Sie war froh, in diesen Minuten bei ihm zu sein. Seine Nähe, seine Wärme gaben ihr Trost.
»Nein«, brummte er, obwohl ihm die Unglücksnachricht nicht sehr nahe ging. »Wie hast du denn das alles erfahren? Wer war der geheimnisvolle Anrufer?«
»Die Polizei … aus Maibach«, gab Grit stockend Auskunft. »Man fand im Wagen meines Bruders den Brief, mit dem ich ihn zur Hochzeit eingeladen hatte. Außerdem ein Geschenk für mich, dem ebenfalls ein Brief beigegeben war. Daraus ging hervor, dass die Familie nach hier unterwegs war. Deshalb hat man mich benachrichtigt. Oh, David, jetzt wünschte ich, wir hätten Mark nicht eingeladen.« Grit weinte nun hemmungslos.
»Mach dir keine Vorwürfe, Grit. Es war doch nur gut gemeint. Wer hätte ahnen sollen, dass bei dieser Fahrt alle deine Verwandten ums Leben kommen würden?« Dabei überlegte David bereits, wie hoch das Vermögen der Möllendieks gewesen sein mochte. Was würde der Verkauf der Fabrik erbringen?
»Anja lebt«, seufzte das junge Mädchen. »Man hat sie in ein Kinderheim gebracht. Sophienlust heißt es. Du, wir müssen morgen gleich hin. Wir müssen uns um das Kind kümmern.« Mit Tränen in den Augen sah Grit David flehend an.
David hatte Mühe, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Wer ist Anja?«, erkundigte er sich, obwohl er es längst ahnte.
»Die kleine Tochter meines Bruders. Sie ist fünf. Ein liebes kleines Mädchen. Sie tut mir schrecklich leid. Für sie ist es am allerschlimmsten.«
»Ein fünfjähriges Mädchen«, murmelte David und rechnete nach, dass es noch dreizehn Jahre dauern würde, bis Anja volljährig sein würde. Eine lange Zeit. Eine Zeit, in der viel geschehen konnte.
*
Mit großen wachsamen Augen sahen sechzehn Kinder auf Denise von Schoenecker, die sich zu ihnen an den großen Frühstückstisch gesetzt hatte. Vergessen waren Butterhörnchen und Kaba. Selbst die kleine Heidi, die eben ein großes Stück eines knusprigen Brötchens in den Mund gesteckt hatte, hörte auf zu kauen.
»Anja kann nicht sprechen?«, fragte Nick. Eine steile Falte erschien über seiner Nasenwurzel, wie immer, wenn er misstrauisch war.
Heidi schluckte vor lauter Aufregung ihren Brocken ganz hinunter. »Ich habe es zuerst gemerkt«, berichtete sie aufgeregt. »Sie kann nicht Stupsi sagen!« Heidi war ordentlich stolz, diesmal mehr zu wissen als alle anderen Kinder.
»Hat sie überhaupt noch nicht sprechen können?«, erkundigte sich Angelika Langenbach, die Schwester von Vicky. Die beiden Mädchen hatten ihre Eltern durch ein Lawinenunglück verloren und lebten seither in Sophienlust.
»Doch, doch«, versicherte Denise von Schoenecker rasch. »Anja ist ein ganz normales Kind. Sie hat durch den Schock, den sie gestern erlitten hat, die Fähigkeit zu sprechen verloren.«
»Gibt es denn so etwas?«, erkundigte sich Nick skeptisch.
»Frau Dr. Frey, die Anja noch gestern eingehend untersucht hat, sagt, dass solche Fälle sehr selten sind.«
»Bleibt Anja jetzt immer stumm?«, erkundigte sich Pünktchen voll Mitgefühl. Sie hieß eigentlich Angelina Dommin. Die kessen Sommersprossen auf ihrem Stupsnäschen hatten ihr den Spitznamen Pünktchen eingebracht. Auch für sie war Sophienlust zur zweiten Heimat geworden.
»Das kann niemand genau sagen«, wich Denise aus. »Es ist möglich, dass sich die Sperre löst, sobald der Schock abklingt. Das kann in einigen Tagen sein, vielleicht auch erst in Wochen. Frau Dr. Frey meint, dass Anja möglicherweise eine Spezialbehandlung braucht. Zunächst aber soll sie hierbleiben. Es kommt also darauf an, dass wir alle sehr lieb zu ihr sind und sie durch nichts an das furchtbare Unglück erinnern. Sie muss es vergessen. Nur dann kann sie den Schock überwinden.«
»Was ist das, ein Schock?«, erkundigte sich Peter, ein rothaariger kleiner Bursche mit pfiffigem Gesicht.
»Das ist, wenn jemand einen schlimmen Schreck bekommt«, erklärte sein Tischnachbar Fabian.
»Wenn ich so einen Unfall sehen würde, hätte ich auch einen Schock«, erklärte Peter.
»Ich glaube, uns allen erginge es so«, meinte Denise von Schoenecker ernst. »Anja hat etwas Furchtbares erlebt, und wir alle müssen mithelfen, damit sie es bald wieder vergisst.«
»Sie darf mein Taschenmesser haben«, rief Henrik, das Nesthäkchen der Familie von Schoenecker, spontan und fasste schon in die Tasche. Für Henrik war der Besitz eines Taschenmessers zurzeit das größte Glück auf Erden. Dass er diesen Schatz bereitwillig abtreten wollte, zeugte von seiner Gutmütigkeit.
Lächelnd sah Denise auf ihren Jüngsten. Er war der lebendige Beweis ihrer glücklichen zweiten Ehe mit Alexander von Schoenecker. Ihr erster Mann war tödlich verunglückt, als Nick noch nicht einmal geboren war. Es war nicht allein der Schmerz um den Mann und Vater, es waren auch finanzielle Schwierigkeiten gewesen, die ihr das Leben damals schwer gemacht hatten. Dadurch war das Verständnis für das Leid anderer tief in ihr verwurzelt.
»Sie darf mit Anglos spielen.« Auch Fabian wollte nicht zurückstehen. Er bot seine schwarze Dogge an, die bei den Kindern sehr beliebt war.
»Ich …, ich schenke ihr meinen Ball«, verkündete Peter, obwohl er genau wusste, dass es ihm schwerfallen würde, sich von dem bunten Ball, den er zum Geburtstag bekommen hatte, zu trennen.
Nun schwirrten die Vorschläge nur so durcheinander. Jedes Kind wollte dazu beitragen, Anja wieder froh zu machen. Als kein Wort mehr zu verstehen war, hob Denise ruhegebietend beide Hände und sagte: »Es ist schon sehr viel getan, wenn wir alle sehr freundlich zu Anja sind. Keiner sollte über sie lachen, wenn sie zu sprechen versucht und es doch nicht kann. Wollt ihr mir das versprechen?«
»Ja, Tante Isi«, erscholl es im Chor, und Denise wusste, dass sie sich darauf verlassen konnte.
Nick, der für gewöhnlich einen beachtlichen Appetit entwickelte, hatte an diesem Morgen keinen Hunger mehr. Er ließ sein Butterhörnchen liegen, nahm seine Schulmappe, drückte seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging zu dem roten VW-Bus, der die Gymnasiasten zur Schule nach Maibach brachte. Die übrigen Kinder folgten seinem Beispiel. Erstaunlich rasch und leise wurde der Speisesaal an diesem Tag geräumt. Bald saßen nur noch die Kleinen vor den noch gefüllten Tassen.
»Schläft Anja noch?«, erkundigte sich die kleine Heidi.
»Nein. Sie hat Besuch von ihrer Tante.«
»Darf ich später mit ihr spielen?« Heidi legte das Köpfchen schief und knabberte am Zeigefinger, denn gerade war ihr eingefallen, dass es gar nicht leicht sein würde, mit Anja zu spielen, weil diese sich ja nicht mit ihr unterhalten konnte.
»Natürlich«, antwortete Denise. »Frau Dr. Frey meint, dass es am besten sei, wenn sich Anja ganz frei und ungezwungen bewegt. So wird sie am raschesten vergessen.«
»Ich bin auch ganz, ganz lieb zu ihr«, versprach Heidi.
»Gut. Ich gehe jetzt zu unserem Besuch. Seid schön artig. Schwester Regine wird gleich hier sein.«
Die Kleinen nickten eifrig. Frau Rennert hatte ihnen bereits gesagt, dass Schwester Regine in dieser Nacht kaum Schlaf gefunden hatte, weil sie die kleine Anja getröstet hatte. Als Frau Dr. Frey gegangen war, hatte Anja unaufhaltsam geweint. So sehr, dass Schwester Regine sie wie ein Baby in die Arme genommen und herumgetragen hatte. Es war verständlich, dass die Kinderschwester deshalb heute etwas später kam.
*
Im Biedermeierzimmer saß Frau Rennert Grit Möllendiek und deren Bräutigam gegenüber. Grit hielt die kleine Anja auf dem Schoß, die aber von ihr keinerlei Notiz nahm. Obwohl Grit liebevoll auf sie einsprach, hob Anja nicht einmal den Kopf. Lautlos liefen die Tränen aus ihren schönen dunklen Augen und tropften auf den hellen Pulli, den sie trug.
»Wir haben schon gedacht, dass Anja vielleicht gar kein Deutsch versteht«, meinte Frau Rennert gerade.
»Doch, doch«, erwiderte Grit. »Anjas Mutti war Deutsche. Deshalb sprach man in der Familie meines Bruders ausschließlich Deutsch.«
Denise von Schoenecker, die das Paar schon zuvor begrüßt hatte, erbot sich, Anja zu den anderen Kindern zu bringen.
Grit Möllendiek zögerte, doch schließlich war sie damit einverstanden. Denn das, was zu besprechen war, sollte die kleine Anja besser nicht hören.
»Ich glaube, sie hat mich kaum erkannt«, meinte Grit erschüttert.
»Das ist bei ihrem Zustand kein Wunder«, warf David Danner gelassen ein. »Sie lebt in einer selbstgebastelten Isolierung und nimmt ihre Umwelt überhaupt nicht mehr wahr.«
»Aber es muss doch etwas geschehen! Warum ist denn kein Arzt hier? Warum hat man Anja nicht sofort in eine Klinik überwiesen?« Grit sah Frau Rennert vorwurfsvoll an. In ihrer Erregung wurde ihr nicht bewusst, dass in Sophienlust alles für das Kind getan wurde, was möglich war.
»Anja wurde selbstverständlich sofort ärztlich untersucht. Frau Dr. Frey, die unsere Kinder betreut, ist nicht nur eine hervorragende Ärztin, sondern auch eine gute Pädagogin und Mutter. Wir dürfen ihr daher voll vertrauen«, meinte Denise sachlich. »Sie meint, dass Anja hier, in der Gesellschaft von anderen Kindern, den Schock am raschesten überwinden wird.«
»Wenn Sie mich fragen, dann muss ich Ihnen sagen, dass es keine Besserung geben wird. Weder jetzt noch später«, meinte David Danner achselzuckend. »Das Kind wird ein Pflegefall bleiben. Das ist ganz klar.«
Grit überhörte die düsteren Prognosen ihres Verlobten. »Ich wollte Anja mitnehmen«, erklärte sie und sah Frau von Schoenecker fragend an. Als sie vor knapp einer Stunde in Sophienlust eingetroffen war, hatte sie nicht geahnt, was sie hier erwartete. Anjas Zustand war für sie niederschmetternd. Ihre Nerven rebellierten. Sie weinte schon wieder. »Sie gehört doch zu mir, ich bin doch ihre Tante.«
»Bitte, Frau Möllendiek, haben Sie etwas Geduld. Ich verstehe Ihren Schmerz und Ihre Enttäuschung. Wenn wir Anja hierbehalten wollen, dann doch nur, um dem Kind zu helfen.«
Denises Stimme hatte so sanft und gütig geklungen, dass sogar David Danner überrascht aufgehorcht hatte. »Das ist für Anja bestimmt das Beste«, mischte er sich ein. Pflichtschuldig fasste er nach Grits Hand und drückte sie tröstend.
»Sie können gern den Tag über hierbleiben«, schlug Denise den Gästen vor. »Und natürlich können Sie jederzeit wiederkommen, um Anja zu besuchen.«
David Danner schnitt eine Grimasse. Doch als er merkte, dass Grit von diesem Vorschlag begeistert war, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich höflich für die Einladung zu bedanken.
*
»Ausgerechnet Farka und Florina! Meine beiden besten Stuten!« Alexander von Schoenecker hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es muss ein Kenner gewesen sein, der sie gestohlen hat.«
»Gestohlen?« Nick, der über seinem Lateinbuch gesessen hatte, war sofort auf den Beinen. »Das gibt es doch nicht.«
Nick war ein bildhübscher Junge, der seiner Mutter sehr ähnlich war. Vielleicht mochte Alexander seinen Stiefsohn deshalb so gern. Jedenfalls verstanden die beiden sich vortrefflich, sodass sie längst vergessen hatten, dass es eigentlich kein direktes Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihnen gab.
»Leider doch.« Schwer ließ sich Alexander auf dem ledergepolsterten Sessel nieder. Er streifte die schmutzigen Stiefel von den Füßen und dachte ausnahmsweise einmal nicht daran, dass Gusti, das Hausmädchen, sehr ungehalten sein würde, wenn sie die Lehm- und Erdspuren auf dem Teppich entdecken würde.
»Unsere Pferde hat man geklaut?« Nick griff sich an den Kopf. Wieder war eine steile Falte über seiner Nasenwurzel.
»Es gibt keine andere Erklärung«, gab Alexander mit begreiflicher Verärgerung zu. Die beiden Stuten bedeuteten für ihn einen empfindlichen materiellen Verlust. »Ich habe mit unseren Leuten das ganze Gebiet abgesucht. Es ist unmöglich, dass sie ausgebrochen sind.«
»Vati, du musst sofort die Polizei verständigen«, rief Nick atemlos. Sehr genau wusste er, dass sein Vater in mühevoller Kleinarbeit eine Lipizzaner-Zucht aufgebaut hatte, die einmalig in Deutschland war. Farka und Florina waren die beiden Stuten, die zur Zucht verwendet werden und dem Gut eine Menge einbringen sollten.
Alexander von Schoenecker winkte müde ab. »Längst geschehen. Unser guter Polizeimeister Kirsch hat den Tatbestand aufgenommen und festgestellt, dass droben bei der Koppel keinerlei verdächtige Spuren zu finden sind. Dabei bleibt’s wohl.« Alexander presste wütend die Lippen aufeinander. Jahre hatte er gebraucht, um Tiere wie Farka und Florina zu züchten. Nun war mit einem Schlag aller Erfolg zunichte gemacht. Nirgends würde er einen Ersatz für die beiden Stuten finden.
»Vati, ich kenne einen ganz prima Polizisten. Er hat Anja hierhergebracht. Gestern hat er sie besucht und ihr eine Menge Süßigkeiten mitgebracht sowie eine kleine Puppe.« Nick war richtig aufgeregt. »Ihm müssen wir den Fall melden. Hans Strasser ist unheimlich tüchtig. Er findet die Diebe ganz bestimmt.«
»Er ist nicht zuständig, Nick«, bremste Alexander den Eifer des Jungen und überlegte dann laut: »Es gibt keine Wagenspuren.« Schon mehr als zwanzig Mal war er den Tatbestand durchgegangen, doch er war einfach nicht weitergekommen. Zwei wertvolle Zuchtpferde waren von der Koppel verschwunden. Niemand hatte etwas gesehen, niemand etwas gehört. »Es muss nachts geschehen sein. Aber normalerweise hätte man das Hufgetrappel doch hören müssen. Außerdem hätte man Abdrücke finden müssen. Ich verstehe das nicht.«
»Vati, solltest du die Pferde nicht nachts in die Ställe bringen lassen? Sonst kommen diese Diebe vielleicht noch einmal.«
»Eigentlich wollte ich die Tiere ein wenig abhärten und sie in den warmen Sommermonaten nachts draußen lassen. Aber du hast wohl recht, Nick.«
»Es ist eine Gemeinheit, eine richtige Gemeinheit«, schimpfte Nick. »Erst vor einigen Tagen sind Farka und Florina noch sehr bewundert worden.«
»Von wem denn?« Aufmerksam sah Alexander seinen Stiefsohn an.
»Von David Danner, dem Verlobten von Anjas Tante. Er ist sehr reich, weißt du, Vati. Millionär! Einen ganz tollen amerikanischen Wagen hat er.«
»Na ja«, sagte Alexander uninteressiert. Zuerst hatte er gedacht, vielleicht einen vagen Verdacht schöpfen zu können. Aber schließlich würde ein Millionär ja keine Pferde stehlen. »Wenn ich die elenden Halunken erwische …« Erneut stieg der Zorn in ihm auf. Er ballte drohend die Hände.
»Schlägst du sie dann nieder?«, fragte Nick und sah dabei voll Bewunderung auf seinen Stiefvater. »Ich darf dir doch dabei helfen, nicht wahr?«
»Seit wann habt ihr so brutale Absichten?« Denise, die eben in den großräumigen Wohnraum kam und den Schluss der Unterhaltung belauscht hatte, sah ihren Mann fragend an. Es passte nicht zu ihm, sich mit jemandem zu prügeln.
»Nick sieht zu viele Krimis«, beschwichtigte Alexander mit verständnisvollem Lächeln. »Leider wird doch nicht gezeigt, dass man fast alle Schwierigkeiten ohne Gewalt lösen kann.«
»Mutti, weißt du denn nicht, dass man unsere besten Pferde entführt hat?« Wütend stemmte der Junge die Hände in die Seiten.
»Ich traf eben zufällig Polizeimeister Kirsch. Da hat er mir davon erzählt.« Denise legte liebevoll die Arme um den Hals ihres Mannes. »Mach dir bitte keine Sorgen. Irgendwann bekommen wir die Stuten schon zurück«, sagte sie leise. »Sie zu verkaufen wäre für den Dieb viel zu gefährlich. Außerdem wird er kaum einen Hehler finden.«
»Es sei denn, er bringt die Stuten ins Ausland. Dort ist man nicht so gut orientiert und auch hinsichtlich der Papiere nicht kleinlich.« Alexander lehnte seinen Kopf an Denises Hände.
»Man muss unbedingt verhindern, dass die Diebe mit unseren Pferden ins Ausland entkommen«, meinte Nick empört. Doch weder Alexander noch Denise beachteten ihn in diesem Augenblick. Sie sahen einander in die Augen und genossen es, zusammen zu sein. Gewöhnlich waren es täglich nur wenige Minuten, die ihnen blieben.
Nick, der sich ein wenig überflüssig fühlte, verließ rasch das Zimmer. Vergessen waren die lateinischen Vokabeln. Er musste unbedingt nach Sophienlust radeln, um seinen Freunden von dem aufregenden Ereignis zu erzählen.
»Wenn du bei mir bist, sieht alles gleich ganz anders aus«, meinte Alexander erleichtert. »Dann ist auch ein harter Verlust nicht mehr tragisch. Das Glück, das mir deine Nähe schenkt, ist viel wertvoller als alle Schätze dieser Erde.« Seine Stimme war dunkel und schmeichelnd. Es war genau jener Ton, den Denise gern hörte und der ihr Herz rascher schlagen ließ.
Sonderbar, auch nach so vielen Ehejahren war sie noch immer in ihren Mann verliebt. Wenn er, so wie jetzt, ihre Hände streichelte, fühlte sie deutlich die Zuneigung in ihrem Herzen. Jenes Gefühl der unauflöslichen Zusammengehörigkeit, das sie so unendlich glücklich machte.
Alexander verstand es, trotz vieler Alltagssorgen, seiner Frau gegenüber charmant und liebenswürdig zu bleiben. Stets behandelte er sie mit Respekt und Achtung, stets gab er ihr zu verstehen, wie sehr sie ihm gefiel und wie froh er über ihre Liebe war. »Komm, setz dich neben mich«, bat er.
»Vielleicht sollten wir einen Privatdetektiv engagieren, der sich hier unauffällig umsieht. Immerhin wäre es doch denkbar, dass die Stuten von jemandem gestohlen wurden, der sich gut bei uns auskennt.« Sorgenvoll zog Denise die Stirn in Falten. »Es könnten weitere Tiere gestohlen werden.«
»Ach, reden wir nicht mehr davon«, meinte Alexander mit abwehrender Handbewegung. »Wenn du bei mir bist, Denise, sind solche Dinge völlig nebensächlich für mich. Wie war’s heute in Sophienlust?«
*
»Ich habe die Badesachen schon gepackt und das Picknick vorbereitet.« Freudig fiel Marina Koch ihrem Freund um den Hals. Er gefiel ihr so gut wie kein Mann zuvor, obwohl ihr sein Beruf nicht gerade imponierte. Sie träumte nämlich von einem Leben in Reichtum und Luxus.
Hans Strasser drückte die rundliche Marina, die mit ihrer kessen Stupsnase und den rotblonden Engelslöckchen allerliebst aussah, fest an sich.
»Wir wollten doch an den See. Und das Wetter ist gerade so schön …« Marina stemmte sich ein wenig ab und sah ihren Freund aufmerksam an. Seit jenem Abend, da er Zeuge jenes schlimmen Unfalls in der Nähe von Bachenau geworden war, lachte er nicht mehr. Der Schrecken saß ihm wohl noch immer in den Gliedern.
»Magst du denn nicht?« Schmollend verzog Marina den sorgfältig bemalten Mund.
»Eigentlich schon, aber …« Verlegen kaute Hans an der Unterlippe. Wenn es einen Punkt gab, in dem er sich mit Marina nicht verstand, dann war es das Mitgefühl, das er Unfallopfern entgegenbrachte.
»Sag bloß, dass du schon wieder etwas anderes vorhast.« Marina nahm ihre Arme von den Schultern ihres Freundes und trat beleidigt einen Schritt zurück.
»Nick hat angerufen und mich gebeten, zu kommen.«
»Nick, wer ist denn das schon wieder?« Marina stapfte mit dem Fuß auf wie ein ungezogenes kleines Mädchen.
»Der künftige Erbe von Sophienlust. Ein intelligenter, aufgeweckter Bursche. Er versteht eine Menge von Pferden und …«
»Aber du hast doch deinen freien Tag …«
»Natürlich. Ich könnte wegen des Pferdediebstahls ohnehin nichts unternehmen, da Polizeimeister Kirsch den Fall übernommen hat. Aber ich hatte vor, nach der kleinen Anja zu sehen.«
»Schon wieder?«, zischte Marina. »Das ist doch Unsinn. Das Kind geht dich überhaupt nichts an.«
Hans schüttelte lachend den Kopf. »Wenn man dich so hört, könnte man fast glauben, dass du eifersüchtig bist.«
»Unsinn. Aber du hast doch wirklich alles getan – mehr, als deine Pflicht war. Was kümmerst du dich noch um die Kleine?«
»Heute ist mein freier Tag. Ich gehe deshalb auch nicht in meiner Eigenschaft als Polizeibeamter nach Sophienlust, sondern als Anjas Freund.«
»Kommt es dir nicht lächerlich vor, der Freund eines fünfjährigen Mädchens zu sein?« Marina tippte sich unmissverständlich an die Stirn.
»Wenn du dich in die Lage dieses Kindes versetzt, ist es gar nicht mehr lächerlich«, widersprach Hans gereizt. »Anja ist auf eine ungewöhnlich grausame Art Waise geworden. Vielleicht wird sie die nächtliche Szene ihr ganzes Leben lang nicht vergessen können. Jedenfalls hat sie begriffen, dass sie allein ist. Ist es da nicht denkbar, dass sie über jeden Menschen, der nach diesem schrecklichen Ereignis nett zu ihr ist, froh und glücklich ist? In Sophienlust weiß man das und behandelt das Kind ausgesprochen liebevoll.«
»In Sophienlust«, äffte Marina seinen Tonfall nach. »Das scheint ein wahres Paradies zu sein.« Ihre hellen Augen glitzerten böse.
»Stimmt. Es ist wirklich ein Paradies für Kinder.« Hans tat, als habe er überhaupt nicht bemerkt, wie gehässig diese Anspielung war.
»Dann braucht dich dieses kleine Mädchen auch nicht«, protestierte Marina noch aufgebrachter als zuvor.
»Vielleicht. Aber mir liegt sehr viel an der Kleinen. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für sie. Ich habe sie am Straßenrand gefunden. Noch heute erinnere ich mich ganz deutlich an den durchnässten, zitternden kleinen Körper. Solche Minuten vergisst man nicht, Marina. Sie sind irgendwie bestimmend für das weitere Leben.«
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du so sentimental bist. Und so etwas will ein Mann sein!« Marina lachte spöttisch.
Hans Strasser unterdrückte die aufsteigende Verstimmung. Er musste sich wohl daran gewöhnen, dass er mit Marina über diese Dinge nicht reden konnte. Sie war zu oberflächlich, zu egoistisch. Eigentlich hatte er daran gedacht, sie zu seiner Frau zu machen. Doch nun musste er sich das noch einmal sehr gründlich überlegen. Das hübsche Engelsköpfchen hatte ihn begeistert. Wie hätte er ahnen sollen, dass sich dahinter ein herzloser Charakter verbarg?
»Wir können ja über Sophienlust an den See fahren«, lenkte er ein. »Es ist nur ein ganz kleiner Umweg. Und fürs Picknick bleibt bestimmt noch genügend Zeit.«
Marina wusste, dass dies der einzig mögliche Kompromiss war. Also musste sie wohl oder übel einwilligen. Beim nächsten Mal würde sie aber nicht nachgeben. Dann würde Hans gar nicht mehr den Mut finden, seine Freizeit zwischen ihr und dem fremden Kind aufzuteilen.
*
Niemand in Sophienlust ahnte, dass die größeren Kinder an diesem Abend nicht schliefen. Als Frau Rennert eine Stunde vor Mitternacht einmal ihre Runde machte, drückten Pünktchen, Fabian, Irmela, Frank und Angelika fest die Augen zu und regten sich nicht. Auch Nick schlief wieder einmal in Sophienlust. Das war allerdings nichts Besonderes. Er hatte ja in Sophienlust ein eigenes Zimmer.
Als Frau Rennert schließlich das Licht in ihrem Zimmer ausknipste, war es still und friedlich im Haus. In den alten Bäumen hinter dem Herrenhaus säuselte der Nachtwind, unten im Park plätscherte der Springbrunnen. Alles hatte seine gewohnte Ordnung.
»Seid ihr fertig?«, wisperte Nick vor den Zimmern der Mädchen.
Pünktchen huschte aus dem dunklen Raum. Die sommersprossige Kleine trug zwei dicke Pullover und eine Strickjacke darüber.
»Wir machen doch keine Polarreise«, flüsterte Nick und schüttelte missbilligend den Kopf.
Obwohl Pünktchen sonst viel auf Nicks Meinung gab, war ihr diese jetzt gleichgültig. Nur noch fester zog sie die Wollsachen um ihren Körper.
Fabian erschien und hielt seine Wanderschuhe in der Hand. Über der Schulter trug er einen dicken Stock.
Ähnlich ausgerüstet waren auch Frank und Angelika. Nur Irmela trug Jeans und eine leichte Bluse wie immer.
»Wenigstens jemand, der vernünftig ist«, flüsterte Nick. »Beeilen wir uns!«
Es war gut, dass Frau Rennert die kleine Gesellschaft, die im Dunkeln über die teppichbelegte Treppe schlich, nicht sah, sonst hätte sie sich vor den vermummten Gestalten wahrscheinlich gefürchtet.
In der Halle fasste Nick Waldi am Halsband. Zusammen mit ihm schlüpften alle Kinder durch die Terrassentür ins Freie. Um nicht in den Schein der Laternen zu kommen, schlichen sie dicht am Haus entlang, eines hinter dem anderen.
Pünktchen hielt sich immer dicht bei Nick. Sie hatte so viel Angst, dass es sie allerhand Mühe kostete, das Zähneklappern zu unterdrücken.
Bald waren die Kinder so weit vom Herrenhaus entfernt, dass sie von dort nicht mehr gesehen werden konnten. Am Waldrand blieben sie stehen.
»Was machen wir, wenn Tante Isi erfährt, dass wir, ohne zu fragen …« Angelika hatte ein schlechtes Gewissen und wäre am liebsten wieder umgekehrt.
»Angsthase«, schimpfte Frank verächtlich.
»Denk doch einmal daran, wie froh alle sein werden, wenn wir die Diebe schnappen. Dann bekommt Nicks Vati die Pferde zurück.« Irmela legte tröstend den Arm um Angelikas Schultern.
»Und vielleicht …, vielleicht bringt man auch etwas über uns in der Zeitung«, wisperte Fabian und sah sich furchtsam nach allen Seiten um. Bei Nacht durch einen finsteren Wald zu gehen, na, wenn das keine Heldentat war!
»Zuerst müssen wir diese gemeinen Kerle stellen.« Nick fasste Waldi fester am Halsband.
»Wenigstens Waldi hat keine Angst«, murmelte Pünktchen. Je weiter sie sich von Sophienlust entfernten, umso gefährlicher erschien ihr das Unternehmen. Wenn es nur nicht so stockfinster gewesen wäre. Schließlich konnte hinter jedem Baum ein Pferdedieb versteckt sein. Vielleicht hatte er sie längst entdeckt und beobachtete sie nun.
»Glaubst du, Waldi wittert eine Falle?«, wisperte Pünktchen.
»Eine was?« Nick versuchte immer wieder, rechts und links des Weges Einzelheiten in der Dunkelheit zu erkennen. Das nahm seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, dass er gar nicht verstand, was seine kleine Freundin meinte.
»Es könnte doch sein, dass sie uns in eine Falle tappen lassen.« Pünktchen zitterte, trotz der dicken Pullover.
»Sie wissen doch gar nicht, dass wir ihnen auflauern.«
»Und wenn sie uns gesehen haben?« Pünktchen ließ nicht locker. Sie war eine Kameradin, die mit ihren Freunden durch dick und dünn ging. Doch mit dieser nächtlichen Tour hatte sie sich mehr zugetraut, als ihre Nerven verkraften konnten.
»Ist doch gar nicht möglich, weil es viel zu finster ist.« Nick ging noch rascher. Vielleicht wollte er damit die Furcht überspielen, die nun auch in ihm aufstieg.
Hinter ihm keuchten Fabian, Angelika und Frank. Obwohl der Marsch für sie sehr anstrengend war, blieben sie dicht bei der Gruppe.
»Wir sind gleich da«, raunte Nick, teils um den anderen, teils um sich selbst Mut zu machen. »Es ist die Koppel zwischen den beiden Tannenwäldern.«
Die Freunde nickten. Was Nick gesagt hatte, wussten sie natürlich längst. Sehr gut kannten sie die weitläufige Wiese, die an drei Seiten vom Wald eingeschlossen war. Nach vorn gab es einen wundervollen Blick über die hügelige fruchtbare Landschaft. Man sah von dort das Kinderheim Sophienlust und das Gut Schoeneich. Die saftigsten Gräser und Kräuter wuchsen da oben. Deshalb fühlten sich die Pferde gerade auf dieser Koppel so wohl.
»Wir halten es genau wie verabredet. Pünktchen und Angelika kommen mit mir, Frank, Fabian und Irmela nehmen die andere Seite. Wenn die Diebe kommen, machen wir einen so ohrenbetäubenden Krach, dass sie nicht mehr wissen, was oben und unten ist. In ihrer Verwirrung werden sie dann leicht zu überwältigen sein.« So ganz sicher war Nick seiner Sache jedoch nicht mehr. Doch das wollte er sich auf keinen Fall anmerken lassen.
»Und dann schlage ich sie mit dem Prügel nieder.« Fabian ließ sich von Nicks Jagdfieber anstecken.
»Ich auch!«, wisperte Angelika.
»Hoffentlich sind es nicht so viele«, gab Pünktchen kleinlaut zu bedenken. Sie war sich des Sieges absolut nicht sicher.
Die Kinder traten aus dem Wald heraus auf das Weidegelände. Vorsichtig blieben sie stehen und überblickten die Koppel. Sie lag still und friedlich im nächtlichen Dunkel. Die hohen Gräser bewegten sich sanft. Es gab nichts Verdächtiges. Aber dort, wo sonst die Pferde standen, gähnte öde Leere.
»Mein Vati hat die Pferde in den Stall bringen lassen«, flüsterte Nick. »Aber das wissen die Diebe ja nicht. Sie kommen bestimmt, um sich weitere Tiere zu holen. Aber dann sollen sie etwas erleben!« Nick ließ Waldi los und ballte beide Hände.
Irmela zog eine kleine Trillerpfeife aus der Tasche, die sie auf einem Jahrmarkt gewonnen hatte. »Macht unheimlich Krach, das Ding. Wenn ich darauf pfeife, glauben die Kerle, Scotland Yard ist hier.«
»Prima«, freute sich Nick. »Also, dann marsch in die Verstecke. Hoffentlich müssen wir nicht zu lange warten.«
Nick ging mit seinen beiden Kameraden über die Wiese zu einem dichten Gebüsch. Dort ließ er sich mit den Freunden nieder. Aufmerksam beobachteten alle den Weg, der vom Dorf heraufführte. Dort mussten die Diebe auftauchen.
»Wir werden sie dicht an uns herankommen lassen«, raunte Nick.
»Und was ist, wenn sie Pistolen haben?« Trotz ihrer Vermummung fror Pünktchen ganz jämmerlich.
Nick schüttelte überzeugt den Kopf. »Das sind doch keine Bankräuber. Sie sind bestimmt nicht bewaffnet.«
Ein Raubvogel streifte mit seinen Flügeln die Äste einer hohen Tanne und krächzte schauerlich. Angelika fuhr erschrocken zusammen und presste beide Hände auf den Mund. Waldi ließ ein drohendes Knurren hören, und Pünktchen konnte nun beim besten Willen nicht mehr vermeiden, dass ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen.
Noch bevor Nick seine Freundin ein wenig trösten konnte, lenkte Waldi seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Das Tier sah unverwandt zum Waldrand hinüber. Nick sah angestrengt in dieselbe Richtung. Bewegten sich dort nicht die Zweige? Knackte nicht ein Ast?
Nick hielt den Atem an. »Dort«, flüsterte er so leise, wie es ihm nur möglich war.
Pünktchen und Angelika hielten sich an den Händen und rückten noch enger zusammen.
»Das sind sie«, wisperte Angelika und war dabei den Tränen nahe.
Nick hatte plötzlich überhaupt keine Angst mehr. Er dachte nur noch an die beiden Stuten, die diese feigen Diebe entwendet hatten. Wurde drüben nicht eine gebückte Gestalt sichtbar? Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre! Warum musste auch ausgerechnet Neumond sein?
Sie sind also nicht über den Weg vom Dorf heraufgekommen, überlegte er weiter. Sie haben sich durch den Wald geschlichen. Jetzt stellen sie fest, dass die Koppel leer ist und wollen wieder verschwinden. Wir müssen etwas unternehmen, wenn wir sie schnappen wollen.
*
»Du hast ein zweites Bett in deinem Zimmer aufstellen lassen?«, fragte David erstaunt. Er hatte Grit zum Hotel begleitet und war kurz mit heraufgekommen.
»Für Anja«, berichtete Grit arglos. »Ich habe auch bereits Kleider für sie gekauft und einige Spielsachen.« Die silberblonde Grit, die erst am Vormittag von den Beerdigungsfeierlichkeiten in Schweden zurückgekommen war, trug noch das schwarze Seidenkleid, in dem sie noch zierlicher und zerbrechlicher wirkte als sonst.
»Du willst das Kind also wirklich zu dir nehmen?« David Danner konnte sich nur mühsam beherrschen. Das, was Grit plante, passte ihm durchaus nicht.
»Anja hat doch nur noch mich. Es ist ganz selbstverständlich, dass ich für sie sorgen werde.« Dabei dachte Grit: Ich werde sie so lieb haben wie eine eigene Tochter. Doch das sprach sie nicht aus. Seit dem Besuch in Sophienlust wusste sie, dass David keine Kinder mochte und ein kleines Mädchen, das behindert war, schon gar nicht.
David zwang sich zu einem Lächeln. Scheinbar liebevoll legte er den Arm um Grit, wagte es aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Wenn Anja ein normales Kind wäre, könnte ich dich ja noch verstehen. Aber wer in aller Welt wird sich mit einem Krüppel befassen?«
»Anja ist ein normales Kind«, widersprach Grit leidenschaftlich. »Sie hat Furchtbares erlebt und braucht deshalb mehr Liebe und Verständnis als andere kleine Mädchen. Frau Dr. Frey ist überzeugt, dass Anjas Fähigkeit zu sprechen zurückkehren wird.«
David schüttelte den Kopf. »Frau Dr. Frey spricht für die Interessen des Kinderheims, das ist doch ganz klar. Und dort ist man natürlich darauf bedacht, Anja so rasch wie möglich loszuwerden.«
»Das ist nicht wahr! In Sophienlust hat man das Kind gern. Sonst hätte man meinem Wunsch, Anja sofort mitzunehmen, doch nicht widersprochen.«
»Alles Taktik. Und du fällst darauf herein. Eigentlich hätte ich dich für klüger gehalten, Grit.« David grinste verächtlich.
»Ich muss mich um Anja kümmern. Es ist meine Pflicht.« Ängstlich sah die junge Frau den geliebten Mann an. Eigentlich hatte es zuvor nie Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gegeben. Doch seit diesem Unglück wusste Grit, dass David herzlos sein konnte. War es vielleicht doch nicht die große Liebe, an die sie zuvor so fest geglaubt hatte?
»Du redest dir etwas ein, was überhaupt nicht stimmt. Du hast keinerlei Verpflichtung deiner Nichte gegenüber«, sagte David sehr bestimmt. »Du bist erst zweiundzwanzig, und niemand kann dir die Sorge um das Kind zumuten. Ich an deiner Stelle würde die Vermögensverwaltung beantragen und Anja selbst in ein Heim für behinderte Kinder geben.«
»In ein Heim für behinderte Kinder?«, wiederholte Grit entsetzt. Ruckartig befreite sie sich aus Davids Armen und sah ihn befremdet an. War das wirklich der Mann, den sie so selbstlos, so abgöttisch liebte?
»Es ist vielleicht schockierend für dich, aber ich bin sicher, dass man Anja in keinem anderen Kinderheim aufnehmen wird.«
»Aber sie ist doch normal begabt. Sie wird wieder sprechen lernen. Und wenn ich mit ihr die Fachärzte ganz Europas konsultieren muss.« Wilde Entschlossenheit sprach aus Grits wundervollen blauen Augen.
»Überlege, was das kostet.« David griff sich an den Kopf.
»Was spielt das für eine Rolle? Anja ist reich. Und wenn die Arztkosten ihr ganzes Vermögen verschlingen sollten, ich werde nicht ruhen, ehe dem Kind geholfen ist.«
David Danner sah ein, dass er Grit auf diese Weise nicht beikam. Sie war von ihrer fixen Idee besessen und würde nicht aufgeben.
»Und wie stellst du dir unsere Ehe vor?«, fragte er und verlegte sich nun aufs Schmeicheln. »Ich möchte allein mit dir sein, wenigstens die erste Zeit. Hast du nicht selbst gesagt, dass wir unsere Flitterwochen endlos ausdehnen wollen?«
»Aber damals wusste ich noch nicht, welches Unglück meinem armen Bruder zustoßen würde.« Tränen glänzten in Grits Augen.
»Gut. Die Sache mit deinem Bruder ist bedauerlich, aber wir selbst sind doch nicht davon betroffen. Wir sollten uns das Leben nicht unnötig erschweren, Grit. Wir wollen für unsere Liebe leben. Einverstanden?« David umarmte seine Braut und hauchte einen zärtlichen Kuss auf deren Wange.
»Wir dürfen uns der Verantwortung nicht entziehen. Anja wird uns nicht stören. Sie ist ein so liebes, ruhiges Kind. Vielleicht wird sie unser Glück sogar noch vergrößern.«
»Das ist eine seltsame Logik. Ich glaube, Grit, du bist noch zu unerfahren, um zu wissen, dass Kinder nur Ärger und Arbeit machen. Wenn du mich liebst, schlage dir die dummen Gedanken aus dem Kopf.«
Liebevoll strich David Grits Haare zurück. Seine Berührung war so weich und sanft, dass es Grit wirklich schwerfiel, an seinen Egoismus zu glauben. »Ich liebe dich, David«, flüsterte sie.
»Na also. Ich wusste es doch«, brummte er zufrieden. Er schlang seine Arme inniger um Grits schlanken Körper und küsste sie stürmisch.
*
Nick gab Waldi einen kleinen Stoß. Endlich lief der Hund in die angegebene Richtung. Doch er bellte dabei nicht böse, sondern wedelte freundlich mit dem Schwanz.
»Hat man schon einmal so einen dummen Hund gesehen?«, brummte Nick ärgerlich. Mit dem ausgestreckten Arm gab er seinen Freunden ein Zeichen. Der Angriff konnte beginnen.
Mit schauerlichem Indianergeheul lief Nick auf den Waldrand zu. Pünktchen und Angelika rannten hinter ihm und grölten aus vollem Hals. Die Angst gab ihren Stimmen ungeahnte Kraft.
Auch Irmela brach nun mit ihrer kleinen Mannschaft durch das Gebüsch. Sie hatte die Trillerpfeife zwischen den Lippen. Die Töne, die sie darauf erzeugte, waren so laut und kräftig, dass sie den Konkurrenzkampf mit einer Polizeisirene hätte aufnehmen können. Fabian schwang schreiend seinen Prügel, und Frank brüllte sich heiser.
Noch bevor Waldi den Waldrand erreicht hatte, traten drei dunkle Gestalten auf den Weg.
Nick rannte, als ginge es um sein Leben. In Gedanken hörte er schon das Lob, das man ihm und seinen Kameraden aussprechen würde. Doch dann war auch er den vermeintlichen Dieben so nahe gekommen, dass er erkennen konnte, dass es sich nicht um Verbrecher, sondern um seinen Vati und zwei seiner Knechte handelte.
Nick bekam heiße Ohren und wurde glühend rot. Doch das konnte zum Glück niemand sehen. Deshalb also hatte sich Waldi so sonderbar betragen!
Schlagartig verstummte Nicks Geschrei. Irmela fiel vor Schreck die Pfeife aus dem Mund. Fabian ließ seinen Stock sinken, und Angelika stöhnte: »Au Backe!« Pünktchen hätte sich am liebsten ihre Pullis weit über den Kopf gezogen. Doch auch das hätte ihr jetzt nichts mehr genützt.
»Mann, o Mann, waren wir blöd«, flüsterte Frank.
Nick sank ganz in sich zusammen. »Vati, du? Wir …, wir wollten …, wir dachten … Es sollte eine Überraschung für dich sein.«
»Die ist euch auch voll und ganz geglückt. Wenn die Diebe tatsächlich in der Nähe waren, sind sie jetzt mit Sicherheit verschwunden.«
Alexander von Schoenecker war richtig ärgerlich.
»Habt ihr auch auf die Pferdediebe gewartet?«, erkundigte sich Nick zerknirscht.
»Was glaubst du, weshalb wir uns bei Nacht im Wald verstecken?« Alexander unterdrückte einen Seufzer. Durch Nicks Übereifer war die Chance, Florina und Farka zurückzubekommen, nun vielleicht endgültig vertan. Wenn die Diebe wussten, dass man ihnen auflauerte, würden sie wahrscheinlich nicht mehr zurückkommen.
»Und jetzt haben wir alles verdorben.« Pünktchen ließ traurig den Kopf hängen.
»Wir haben es doch nur gut gemeint«, versuchte Fabian die Kameraden zu verteidigen.
»Bitte, nicht böse sein«, flüsterte Angelika, die noch immer am ganzen Körper zitterte.
Alexander von Schoenecker sah auf die zerknirschte kleine Schar. Ein wohlwollendes Lächeln umspielte seine Lippen. Nein, er konnte den Kindern tatsächlich nicht böse sein.
»Hätte Waldi uns nicht erkannt, wäret ihr wahrscheinlich mit Stöcken auf uns losgegangen. Wir haben Glück gehabt.« Alexander schmunzelte.
»Nein, Vati, ganz bestimmt nicht.« Am liebsten hätte sich Nick in die Arme seines Stiefvaters geworfen, um sich an seiner Brust auszuweinen. Doch bei so vielen Zuschauern konnte er das natürlich nicht tun.
»Weiß Frau Rennert eigentlich von eurem nächtlichen Ausflug?«
Sechs Kinder schüttelten wie auf Kommando den Kopf. »Bitte, erzählen Sie ihr nichts«, flehte Frank.
»Bitte, Onkel Alexander«, schaltete sich nun Pünktchen ein, die den Gutsherrn als einziges Sophienluster Kind so vertraulich anreden durfte.
»Ich werde es mir überlegen. Aber nur, wenn ihr mir versprecht, in Sachen Pferdediebstahl nichts mehr zu unternehmen. Das ist nämlich kein Spiel für kleine Jungen und Mädchen.«
»Wir versprechen es«, versicherte Irmela sofort.
Nick ließ den Kopf hängen. Mit dem Ausdruck »kleine Jungen« hatte ihn sein Vati schwer getroffen. Schließlich war er kein Kind mehr. Aber benommen hatten sie sich tatsächlich wie kleine Kinder. Noch nie hatte er sich so sehr geschämt wie in diesen Minuten. Heimlich streichelte er Waldi, der versöhnlich seine feuchte Schnauze in seine Hand stieß.
»Jetzt aber rasch in die Betten. Wir begleiten euch nach Sophienlust.« Alexander klatschte in die Hände.
*
»Ist das langweilig!« Heidi seufzte und verdrehte die Augen. »Seit zwei Stunden sitzen sie jetzt über den Schularbeiten und werden nicht fertig.«
Mitleidig sah sie auf die Schulkinder. »Pünktchen gähnt immerzu«, erklärte sie Anja. Längst war sie daran gewöhnt, von der kleinen Kameradin keine Antwort zu bekommen. Deshalb plapperte sie munter weiter. »Irmela stützt immerzu den Kopf in die Hände, und Fabian ist sogar richtig eingeschlafen.« Heidi kicherte vergnügt. Da sie nichts von dem nächtlichen Ausflug der Kameraden wusste, fand sie deren Verhalten so sonderbar, dass sie immer wieder in den Aufenthaltsraum lief.
Anja stand beim Fenster. Onkel Hans hatte ihr versprochen zu kommen. Obwohl Anja die Uhr noch nicht kannte und auch nicht nach der Zeit fragen konnte, wusste sie recht gut, dass es bald so weit sein musste. Lebhaft deutete sie nach draußen, als ein heller Kleinwagen auf den Parkplatz rollte.
»Oh, das ist ja Onkel Strasser! Darf ich mitkommen?« Heidi wartete die Antwort nicht ab, sondern griff kameradschaftlich nach Anjas Hand. So stürmten die beiden kleinen Mädchen ins Freie.
Marina, die neben Hans im Wagen saß, nickte vielsagend. »Du machst dich. Heute laufen dir schon zwei Kinder entgegen. Morgen sind es vielleicht fünf, und nächste Woche wirst du zum Gönner des Kinderheims erklärt.«
Hans Strasser achtete nicht auf die hasserfüllten Worte seiner Freundin. Er stieg rasch aus, ging in die Hocke und streckte lachend die Arme aus. Anja lief hinein und schmiegte sich schutzsuchend an ihn.
»Na, Spatz, wie geht es dir?«
Anjas dunkle Augen leuchteten so intensiv, dass sie gar keine Antwort zu geben brauchte. Es war klar, dass sich die Kleine hier wohlfühlte.
»Schau mal, ich habe dir Kaugummi mitgebracht.« Hans Strasser zog ein buntes Päckchen aus der Tasche. »Magst du das?«
»Hm«, antwortete Heidi für ihre kleine Freundin und klopfte sich dabei das Bäuchlein. »Spielst du wieder Ball mit uns?«
»Wenn ihr wollt.« Hans Strasser sah auf seinen kleinen Schützling. Anjas schöne dunkle Augen strahlten. Heftig nickte sie. Nur noch manchmal kam es vor, dass sie im Überschwang der Gefühle zu sprechen versuchte. Sehr rasch hatte sie sich daran gewöhnt, dass sie keinen Laut mehr hervorbringen konnte.
»Wo hast du deinen Ball?« Hans Strasser versuchte immer wieder, das Kind zum Reden zu bringen. Er würde wohl nie die Hoffnung aufgeben, dass Anja irgendwann wieder sprechen konnte.
Spontan streckte die Kleine den Arm aus und wies über den weitläufigen Rasen.
»Schwester Regine hat am Vormittag mit uns gespielt«, berichtete Heidi eifrig. »Anja hat die meisten Bälle gefangen.«
»Wunderbar! Komm!« Der junge Polizist nahm je ein Mädchen rechts, das andere links an die Hand und lief mit den beiden fröhlich über den Rasen. Er wusste, dass Marina ihnen beleidigt nachblicken würde. Doch warum schloss sie sich selbst aus? Warum verspottete sie ihn wegen des harmlosen Spiels mit Anja? Manchmal kam es ihm vor, als hasse sie das Kind. Sah sie denn nicht, dass er der Kleinen durch seine Anteilnahme neuen Mut schenkte? Verstand sie denn nicht, dass es in diesem Fall nicht damit getan war, seine Pflicht zu tun?
Für Hans war es ein beglückendes Gefühl zu sehen, dass Anja fröhlich hüpfte. Sie riss sich los, stürmte auf den bunten Ball zu und warf ihn in seine Richtung. Sofort war ein lustiges Spiel im Gange. Für Hans Strasser waren das nach dem anstrengenden Dienst erholsame Minuten. Niemals hätte er früher für möglich gehalten, dass ihm das Herumtollen mit den kleinen Mädchen so viel Spaß machen könnte. Doch das bedrückende Gefühl, von Marina verlacht zu werden, wurde er dabei auch nicht los. Immer mehr kam er zu der Überzeugung, dass Marina und er eigentlich nicht zueinanderpassten.
Hans Strasser spielte mit den Mädchen noch Fangen und Verstecken. Als er Anja zum Abschied zärtlich in die Arme schloss, war sie ein wenig außer Atem und müde, aber doch sichtlich glücklich und zufrieden.
»Morgen wieder«, raunte Hans ihr zu und küsste sie auf die dicken Bäckchen. Vielleicht freute er sich auf dieses Zusammensein sogar mehr als Anja. Hatte er nicht schon manchmal daran gedacht, Anja ganz einfach zu adoptieren? Aber im Moment gab es zu viele Schwierigkeiten. Einmal war er nicht verheiratet und zum anderen existierte eine Tante von Anja, die mit der Adoption einverstanden sein musste. Dabei hatte er diese Frau noch nie gesehen.
»Warum nimmst du deinen Goldschatz nicht mit?«, fragte Marina gehässig, als Hans zum Auto zurückkam.
»Das würde ich gern tun«, antwortete er arglos.
»Jetzt hört sich doch Verschiedenes auf«, entrüstete sich die junge Frau. »Auch meine Geduld hat Grenzen. Ich bin nicht gewillt, mir das noch länger anzusehen.«
»Und was gedenkst du zu tun?«, fragte Hans gleichgültig.
»Du wirst dich zwischen mir und dem stummen Gör entscheiden müssen. Da du erwachsen bist, wird dir wohl die Wahl nicht schwerfallen.« Marina lächelte kokett.
»Dass ich mich ein wenig um Anja kümmere, hat doch eigentlich nichts mit uns zu tun«, erklärte Hans. Er legte den Gang ein und gab Gas. Bevor er vom Parkplatz rollte, winkte er Anja noch einmal zu.
»Und ob das mit uns zu tun hat«, schimpfte Marina. »Du opferst deine gesamte Freizeit für ein fremdes Kind, und ich sitze herum und langweile mich.«
»Gesamte Freizeit«, wiederholte Hans ärgerlich, »das ist doch wohl eine Übertreibung.«
»Außerdem verwöhnst du die Kleine mit Süßigkeiten und Spielsachen. Ich bin der Ansicht, dass sich dies nicht mit deinem schmalen Einkommen als Beamter verträgt. Schließlich wollen wir auf eine eigene Wohnung sparen.«
»Ich soll sparen«, stellte Hans richtig. »Während du dich nur um Kleider und Friseur kümmerst.«
»Soll das ein Vorwurf sein? Hat es dir bisher nicht immer gefallen, dass ich mich schick gemacht habe? Ich glaube fast, der Gewitterregen damals ist dir nicht bekommen.«
Hans Strasser bog auf die Hauptstraße ein und schwieg verbissen. Er war einfach nicht dazu aufgelegt, mit Marina zu streiten. Vielleicht hatte sie recht, wenn sie behauptete, dass er seit jenem Abend ein anderer Mensch geworden war. Das, was er in diesen Stunden erlebt hatte, ließ sich einfach nicht übergehen.
*
Grit trug einfache Jeans und ein T-Shirt. Jung und mädchenhaft wirkte sie darin. Mehrmals drückte sie auf den Klingelknopf neben dem Eingang zu David Danners komfortablen Bungalow. Endlich erscholl eine verschlafene Stimme neben ihr aus der Gegensprechanlage. »Was gibt’s?«
»Ich bin’s, Grit.«
»Oh, das nenne ich eine freudige Überraschung. Wollen wir miteinander frühstücken?«
»Du hast mir doch versprochen, mich nach Sophienlust zu fahren.«
Davids gute Laune schien schlagartig verschwunden zu sein. »Sophienlust? Das muss ein Irrtum sein.« In der Gegensprechanlage knackte es, der Türöffner summte.
Grit lehnte sich sehr kräftig gegen den massiven Griff und stand im nächsten Augenblick in der geräumigen Diele. David hatte einen eleganten seidenen Morgenmantel übergezogen und war offensichtlich noch nicht gewaschen.
»Ich wollte Anja abholen.«
»Wir haben uns doch ausführlich darüber unterhalten, mein Herz, und sind zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, die Kleine vorläufig dort zu lassen, wo sie jetzt ist. Die Leute von Sophienlust werden später schon ein geeignetes Heim finden.«
»Ich will aber nicht, dass sie in ein Heim kommt!« Die sonst so nachgiebige Grit zeigte sich in dieser Sache unerwartet hartnäckig. »Anja ist ein empfindsames Kind. Der Aufenthalt in einem Heim würde sie seelisch stark belasten. Sie würde verkümmern.«
David ging zu der großen Hausbar, ließ sich auf einem der hohen Stühle nieder und schenkte sich Whisky ein. »Willst du auch einen?«, fragte er und zeigte auf sein Glas.
Grit schüttelte den Kopf. »Fährst du mich nach Sophienlust?«, fragte sie.
David ließ den Alkohol in seinem Glas kreisen. »Tut mir leid, mein Herz, aber ich habe heute wirklich keine Zeit. Geschäfte, weißt du. Zwischendurch habe ich nämlich auch zu arbeiten. Das verstehst du doch?«
Grit ärgerte der überhebliche Ton, in dem er mit ihr sprach. »Gut, dann werde ich mit der Bahn fahren«, erklärte sie.
David hob sein Glas und lachte. »Weißt du, dass Sophienlust überhaupt keine Bahnstation hat? Du musst vom nächsten Dorf aus mit dem Bus fahren, und wenn du Pech hast, darfst du laufen.« Er trank genussvoll seinen Whisky.
»Das macht mir gar nichts aus«, erwiderte Grit eigensinnig. Dass David schon am frühen Morgen Whisky trank, passte ihr überhaupt nicht. Eigentlich hatte sie ihn so noch nie kennengelernt. War dies wirklich der Mann, mit dem sie ein Leben lang zusammen sein wollte?
Zum ersten Mal stiegen Zweifel in Grit auf. In einer Woche schon sollte die Hochzeit sein. Bisher hatte sie sich unbändig darauf gefreut. Sie war überzeugt gewesen, dass sie mit David das große Glück finden würde. Doch nun war sie dessen nicht mehr so sicher. War es nicht denkbar, dass dieser Mann sie eines Tages ebenso herzlos behandelte wie Anja?
»Schätzchen, so sei doch vernünftig.« Wieder sprach David in einem überheblichen, herablassenden Ton. »Morgen können wir über diese Fahrt reden, nur heute habe ich wirklich etwas anderes vor. Es ist ziemlich wichtig. Und es wird uns eine Menge Geld einbringen.« Er lachte geheimnisvoll.
»Um was geht es denn?«, fragte Grit, neugierig geworden.
David sah seine Braut sekundenlang durchdringend an. »Ich möchte nicht, dass du dich damit befasst«, sagte er dann kalt und schneidend. »Eine verwöhnte Frau sollte sich nicht um die Geschäfte ihres Mannes kümmern. Außerdem mag ich es nicht, wenn man mir nachspioniert. Das ist alles.«
Grit schluckte. Heimlichkeiten und Misstrauen? War dies die richtige Basis für eine Ehe? Nein, so hatte sie sich das Zusammenleben mit David eigentlich nicht vorgestellt.
»Ich dachte nur, dass ich dir vielleicht helfen könnte. Ich habe zu Hause in Schweden im Büro meines Bruders eine sehr verantwortungsvolle Stelle gehabt. Er kam oft, um mich vor Geschäftsabschlüssen um Rat zu fragen.«
David Danner lachte belustigt auf. Fast mitleidig sah er auf Grit herab. »Ich möchte, dass meine Frau ganz allein für mich da ist und nicht den Kopf voller Geschäfte hat. Dafür bist du viel zu hübsch, Grit. Frag nun nicht weiter. Glaube mir, es gibt viele Mädchen, die überglücklich wären, wenn man ihnen ein so sorgenfreies Leben anbieten würde.«
»Vielleicht. Aber ich möchte mit meinem Mann gern alles teilen. Auch seine geschäftlichen Interessen, seine Sorgen und seine Erfolge.«
Tränen spiegelten sich in Grits blauen Augen. Sie fühlte sich erniedrigt, gedemütigt.
»Ich mag aber lieber die romantischen Mädchen, die nur von Liebe träumen und nicht von Bilanzen.« David füllte sein Glas erneut.
»Morgen hast du vielleicht wieder etwas anderes vor«, kam Grit auf ihr Anliegen zurück.
»Schon möglich. Ein erfolgreicher Geschäftsmann ist nie Herr seiner Zeit. Daran wirst du dich gewöhnen müssen, mein Herz.«
»Dann werde ich doch mit dem Zug fahren.«
David leerte sein Glas in einem einzigen Zug. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Seine dunklen Augen funkelten gefährlich. »Das wirst du nicht!«, erklärte er sehr bestimmt. »Aus dem einfachen Grund, weil ich es nicht will. Ich kann nicht zulassen, dass meine zukünftige Frau mit dem Zug fährt und in einen Bus umsteigt wie eine arme Landfrau. Ich werde dich schon nach Sophienlust bringen. Es hat doch überhaupt keine Eile. Außerdem könnte es doch auch sein, dass du dir die ganze Sache noch anders überlegst. So ein Kind ist eine Last. Das habe ich dir schon einmal gesagt.«
»Anja wird mir nie zu viel sein.«
Noch war Grit nicht bereit, nachzugeben. David sah es an dem unerschrockenen, furchtlosen Blick ihrer Augen und an den energisch zusammengepressten Lippen. War dies noch das Mädchen, das er so leicht beherrscht hatte? Das Mädchen, das ihm voll vertraut hatte?
»Hast du überhaupt schon mit der Heimleiterin gesprochen? Hast du ihr gesagt, dass du die Kleine mit dir nehmen willst? In Sophienlust muss man doch darüber rechtzeitig Bescheid wissen.«
Grit wurde es plötzlich heiß. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte sich in Gedanken immer nur mit Anja befasst, hatte überlegt, was der Kleinen Freude machen würde, und hatte sich Fachzeitschriften besorgt, um mehr über Schocks und deren Bekämpfung zu erfahren.
»Na, siehst du. Man sollte nie etwas überstürzen. Ich bin dafür, dass du heute zunächst einmal anrufst. Alles andere wird sich finden.« Davids Optimismus gewann wieder die Oberhand. Irgendwie würde das Problem Anja bestimmt zu lösen sein. Sicher würden ihm mit der Zeit so stichhaltige Argumente einfallen, dass sich Grit einer Überweisung der Kleinen in ein Heim nicht länger widersetzen würde.
»Dann sehen wir uns morgen. Rufst du mich an?« Grit hatte jetzt den dringenden Wunsch, das luxuriöse Heim ihres Verlobten so rasch wie möglich zu verlassen. Sie ekelte sich fast vor ihm. Liebte sie ihn vielleicht doch nicht so sehr, wie sie immer geglaubt hatte?
Grit hatte plötzlich Angst. Angst, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. Die Papiere waren eingereicht, der Hochzeitstermin stand fest. Es gab kein Zurück mehr.
»Okay, Schätzchen!« David war sehr zufrieden mit sich und kippte schon wieder einen Whisky. Als er das Glas absetzte, deutete er mit den Lippen einen Abschiedskuss an. Doch Grit erwiderte diese Geste nicht. Fast fluchtartig verließ sie den modernen Bungalow.
*
Seit jenem unglücklichen, nächtlichen Zwischenfall auf der Pferdekoppel waren die älteren Kinder von Sophienlust auffallend still. Auch ihr Appetit hatte merklich nachgelassen. Nur Waldi hatte keinen Schuldkomplex und fraß begeistert die jetzt so üppigen Reste.
»Bitte, spielt doch Versteck mit uns«, bettelte Heidi und hüpfte an Pünktchen hoch.
»Wir haben noch zu lernen.« Pünktchen sah auf Nick, als erwarte sie von ihm eine Bestätigung.
»Ist doch gar nicht wahr. Ihr habt eure Bücher schon eingepackt.«
»Na schön, euch zuliebe«, meinte Nick gnädig.
Heidi klatschte übermütig in die Händchen. Schon im nächsten Augenblick stimmten alle Kleinen von Sophienlust ein Freudengeschrei an. Wenn Nick und die älteren Kinder mitspielten, machte alles noch einmal so viel Spaß.
»Wir laufen zu der Pferdekoppel«, schlug der kleine Peter eifrig vor.
Nick schüttelte den Kopf. Nein, von der Pferdekoppel wollte er nichts mehr sehen und hören. Dort hatte er sich unsterblich blamiert. Es würde noch lange dauern, ehe er die Schmach überwunden haben würde.
»Dann spielen wir auf der Fohlenweide«, schlug Vicky vor.
Damit waren alle einverstanden. Frau Rennert wurde verständigt, und dann zog die kleine Schar los. Die jüngeren Kinder schwatzten und lachten, während die Größeren wortkarg waren und bedrückt wirkten.
Die Fohlenweide war ein eingezäuntes Gelände nahe dem Gut Schoeneich. Sträucher und Büsche gab es hier in Hülle und Fülle. Außerdem war der Wald ganz nahe. Verstecke gab es also mehr als genug.
»Änne, Männe, Maus …«, zählte Fabian aus. Pünktchen wurde als »Suchdienst« ausgewählt. Sie musste einen Stock bewachen, der in der Mitte der Fohlenweide in die Erde gerammt wurde.
Nach allen Seiten stoben die Kinder auseinander, während sich Pünktchen die Augen zuhielt und langsam bis zwanzig zählte.
Anja lief mit den anderen dem Waldrand zu. Sie versteckte sich zunächst hinter einem hohen Felsbrocken und hörte, wie Heidi, die sich nicht gut genug versteckt hatte, gerufen wurde. Da lief sie noch tiefer in den Wald hinein. Sie stieg ein Stück bergan und blieb dann abwartend stehen. Ringsum war es ganz still. Nur ein Bächlein murmelte leise.
Am Rand des kleinen Wasserlaufs blühten leuchtend rote Gebirgsnelken. Anja lief hin und pflückte einige davon. Sie wollte Tante Isi das Sträußlein schenken.
Immer weiter stieg Anja bergan, immer mehr Stängel drückte sie zwischen ihre Fingerchen. Dabei achtete sie gar nicht darauf, dass sie sich weit von den anderen Kindern entfernte. Doch plötzlich horchte sie auf. Es knackte im Unterholz, Zweige bewegten sich. Gleich darauf sah Anja einen Mann, der eilig durch den Wald lief.
Neugierig reckte sich die Kleine. Der Mann, den sie nur von hinten sah, trug etwas Graues unter dem Arm. Am Waldrand blieb er stehen und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um.
Instinktiv duckte sich Anja hinter einen Brombeerstrauch. Sie hatte keine Angst. Aus purer Neugierde lief sie zum Waldrand, als der Fremde auf die Koppel zuging. Schwungvoll sprang er über den hölzernen Zaun und näherte sich einer Gruppe Pferde. Dort ließ er das Graue, das er unter dem Arm trug, zur Erde fallen.
Nun sah Anja, dass es vier seltsam geformte Klötze waren, die der Mann in aller Eile über die Hufe eines Pferdes stülpte. Dann saß er auf, sprengte über das Gatter und ritt weiter oben in den Wald hinein. Sekunden später war er verschwunden. Das Ganze war wie ein Spuk. Doch Anja wusste, dass sie nicht geträumt hatte. Sie hatte gehört, dass in Sophienlust von einem Pferdediebstahl gesprochen worden war. Und jemand, der so rasch im Wald verschwand, der konnte doch nur ein Dieb sein.
Anjas kleines Herz begann angstvoll zu pochen. Sie hatte ihn gesehen, den Dieb, und sie wusste jetzt, wie er die Pferde stahl. So rasch es ihre kurzen Beinchen zuließen, rannte Anja bergab. Ihre blonden Haare flogen, ihr Atem ging schnell. Immer rascher lief sie. Schon tauchte die Fohlenweide auf. Bei dem Stock standen Pünktchen und die anderen Kinder. Offensichtlich hatte Pünktchen bereits alle gefunden.
Doch das interessierte Anja im Moment überhaupt nicht. Sie wollte schreien, wollte den anderen zurufen, was sie entdeckt hatte. Sie öffnete den Mund, bewegte die Lippen. Aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Viel hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt hätte reden können.
»Anja ist Sieger«, rief Pünktchen. »Sie wurde zuletzt entdeckt! Anja, jetzt darfst du suchen.«
»Bravo, Anja!«, johlten die kleineren Kameraden.
Das blonde Mädchen rannte keuchend auf die Wiese. Direkt vor Nick blieb es stehen. Flehend sah es den Jungen an und versuchte zu sprechen. Verzweifelt bemühte es sich, seinen Gedanken Ausdruck zu geben.
»Sie will dir etwas sagen«, meinte Irmela und bohrte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. Zusehen zu müssen, wie Anja sich quälte, ohne ihr helfen zu können, war grausam.
»Was, Anja, was?« Nick beugte sich zu dem Kind hinab und strich ihm liebevoll das feuchte Haar aus der Stirn.
Anja deutete den Hang hinauf, zog Nick an der Hose. Es war klar, dass sie ihn bat, mitzukommen.
Doch Nick zögerte. »Du möchtest, dass wir zu der Pferdekoppel gehen?«
Anja nickte heftig. Sie war hochrot im Gesichtchen und glühte vor Erregung.
»Eigentlich wollte ich mich dort in nächster Zeit nicht mehr sehen lassen«, murmelte Nick.
»Wir müssen mitgehen. Anja will uns bestimmt etwas zeigen.« Pünktchen fasste die Kleine an der Hand und drückte beruhigend ihre Fingerchen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was es dort oben Aufregendes geben sollte.«
»Vielleicht die Pferdediebe«, meinte Vicky, die von dem nächtlichen Ausflug der Kinder nichts erfahren hatte.
»Aber die kommen doch nicht am helllichten Tag!«
Die Kinder gerieten so heftig ins Diskutieren, dass niemand auf Anja achtete, die diese Vermutung durch heftiges Kopfnicken bestätigte.
Schließlich war man oben am Gatter angelangt. Die Koppel lag still und friedlich da. Die Pferde grasten ruhig wie immer.
»Ist doch alles in Ordnung«, sagte Nick.
Anja machte einige verzweifelte Gesten. Doch das, was sie damit ausdrücken wollte, verstand niemand.
»Vielleicht hat sie ein Reh gesehen«, überlegte Angelika laut.
»Na, Kinder, habt ihr die Pferde besucht?« Einer der Knechte Alexander von Schoeneckers tippte grüßend an die Mütze. »Ich habe gerade eine Tasse Kaffee getrunken. Wie jeden Tag um diese Zeit. Aber nun bin ich wieder hier. Dein Vati, Nick, hat mich nämlich gebeten, etwas aufzupassen. Und da ich ohnehin den Zaun zu reparieren habe, geht’s in einem!« Der Mann in dem karierten Hemd schwang den Hammer.
Die Kinder wandten sich zum Gehen. Anja aber machte sich steif und ließ sich nicht mitziehen. Sie deutete auf den Waldrand, dann wieder auf die Koppel und versuchte den Vorgang in Zeichensprache zu schildern. Doch sie hatte darin zu wenig Übung. Niemand verstand sie.
»Ein Reh. Ich hab’s ja gleich gesagt«, sagte Angelika.
*
»Ist Tante Isi heute nicht hier?«, fragten die Kinder enttäuscht beim Abendbrot.
»Nein. Sie musste nach Gut Schoeneich hinüber. Dort hat man wieder ein Pferd gestohlen«, berichtete Frau Rennert, während sie den Kleinen ihre Brote in mundgerechte Happen schnitt.
»Ein Pferd?« Nick blieb fast der Brocken im Hals stecken.
»Man hat es erst bemerkt, als man die Pferde in den Stall brachte.«
»Welches Pferd?« Nick sprang hoch, setzte sich aber sofort wieder.
»Ich glaube, Patricius heißt es. Du weißt ja, ich kenne mich damit nicht so aus.« Frau Rennert machte ein betrübtes Gesicht.
»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte Nick und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Patricius hat schon zwei Rennen gewonnen«, berichtete Henrik weinerlich. Ihm war der Schreck ordentlich auf den Magen geschlagen. Entschlossen schob er den Teller weg.
»Ui, das ist doch der tolle Hengst mit der schwarzen Mähne!« Fabian pfiff nach Jungenart durch die Zähne. Das trug ihm einen strafenden Blick der Heimleiterin ein.
»Aber die Pferde sind doch die ganze Zeit über bewacht worden«, jammerte Pünktchen. »Wir haben den Mann, der den Zaun repariert hat, selbst gesehen.«
»Wie kann denn jemand am helllichten Tag ein Pferd in ein Auto verladen, ohne dass jemand etwas bemerkt?« Irmela ließ Messer und Gabel sinken.
»Wenn ein Auto zur Koppel gefahren wäre, hätten wir es doch sehen müssen.« Pünktchen bekam vor Aufregung ganz heiße Backen.
Alle beteiligten sich an der Diskussion, nur die kleine Anja konnte nicht mitreden. Dabei hätte sie manches zu erzählen gehabt. Doch alle hatten das seltsame Betragen des kleinen Mädchens längst vergessen.
Anja versuchte sich durch Gesten Gehör zu verschaffen. Doch da sie nicht beachtet wurde, gab sie es bald wieder auf. Stumm saß sie vor ihrem Teller. Das Stückchen Wurstbrot, das Frau Rennert ihr besorgt ins Mündchen geschoben hatte, wälzte sie appetitlos hin und her.
Warum konnte sie nicht mehr erzählen, was sie bedrückte? Warum kam kein einziger Ton aus ihrem Mund, obwohl sie sich so viel Mühe gab? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, was es bedeutete, stumm zu sein. Zum ersten Mal fühlte sie sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, fühlte sie sich einsam und allein. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, nach dem kleinen Bruder. Doch diese waren unerreichbar. Schwester Regine hatte gesagt, dass sie im Himmel seien. Aber lagen sie nicht draußen im Regen zwischen den verbogenen Metallteilen des Autos?
Anja presste die Augen zusammen, wie immer, wenn die schreckliche Erinnerung Besitz von ihr ergreifen wollte. Rasch befolgte sie den Rat von Tante Isi, an etwas anderes, an etwas Schönes zu denken. Sie stellte sich Onkel Hans vor, wie er sie lachend in die Arme schloss und hochhob. Übermütig schwenkte er sie über seinem Kopf hin und her. Und sie dachte an Tante Grit, die so wunderschöne blonde Haare hatte und so sanft und lieb war. Ja, Tante Grit hatte sie lieb. Fast so lieb wie ihre Mami. Tante Grit hatte gesagt, dass sie nun zusammenbleiben würden. Wann würde sie wiederkommen?
Vielerlei Sehnsüchte stritten in dem kleinen Mädchen, das so Furchtbares erlebt hatte, miteinander. Anjas dunkle Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen über die dicken Bäckchen, tropften auf das leichte Kleidchen.
Frau Rennert beobachtete ihre Schützlinge genau. Sie ahnte, dass sich Anja ausgestoßen fühlte, weil sie sich nicht äußern konnte wie ihre Spielgefährten, die nun alle durcheinanderschrien. Sie nahm Anja wie ein Kleinkind auf ihren Schoß und drückte sie liebevoll an sich. »Nicht traurig sein, Anja. Unsere Schreihälse beruhigen sich gleich wieder. Und dann haben sie auch wieder Zeit für dich. Du weißt doch, dass wir dich hier sehr lieb haben.«
»Glaubst du, wir sollten doch noch einmal aufpassen droben an der Pferdekoppel?«, tuschelte Fabian währenddessen Nick ins Ohr. »Es muss ja nicht nachts sein.«
Der große Junge schüttelte müde den Kopf. »Wir haben Vati versprochen, nichts mehr zu unternehmen«, meinte er resignierend.
»Wir können doch ganz zufällig vorbeikommen.« Fabian ließ sich von seinem Vorschlag nicht so schnell abbringen.
»Wenn man sein Wort gegeben hat, muss man es auch halten«, belehrte Nick den Jüngsten.
»Aber wenn diese Verbrecher noch mehr Pferde stehlen?«, überlegte Fabian.
Nick zuckte die Achseln. »Mein Vati hat bestimmt die Polizei benachrichtigt. Sie wird die Diebe schon stellen.«
»Glaubst du?« Fabian war skeptisch.
»Wenn ich einmal groß bin, werde ich Polizist«, erklärte Peter, der aufmerksam zugehört hatte. »Dann fange ich die bösen Diebe.«
»Das dürfte ein bisschen zu lange dauern.« Pünktchen lachte herzlich.
*
Diesmal sonderte sich Anja absichtlich von den anderen Kindern ab. Während die anderen Völkerball spielten, musste sie immerzu an den Mann denken, der Patricius mitgenommen hatte. Niemand außer ihr wusste, wann er es getan hatte. Und niemand ahnte, dass er nicht den Weg vom Dorf heraufgekommen war, sondern geradewegs aus dem Wald. Anja hätte auch Auskunft darüber geben können, weshalb die Polizei auch diesmal wieder keinerlei Spuren fand, doch sie konnte ja nicht sprechen und sich überhaupt nicht verständlich machen.
Langsam stapfte Anja bergan. Irgendwo da oben lag noch der Nelkenstrauß, den sie am Tag zuvor vor lauter Aufregung hatte fallen lassen.
Anja war froh, dass sie von den anderen Kindern nicht vermisst wurde. Wie von einer geheimnisvollen Macht angezogen, ging sie wieder an dem Bächlein entlang. Dabei sah sie immerzu in die Richtung, aus der der Dieb gekommen war. Sie hatte ihn zwar nur von Weitem und auch nur von hinten gesehen, doch sie war ganz sicher, dass sie die Gestalt wiedererkennen würde.
Anja war jetzt bereits in Höhe der Koppel und sah den Holzzaun zwischen den Bäumen und Sträuchern schimmern. Da war auch wieder der Mann, der einige Latten auswechselte. Aber jetzt wurde er gerufen. Langsam stieg er bergab.
Anja stellte sich auf einen abgesägten Baumstamm, um besser sehen zu können. Doch plötzlich fühlte sie etwas Hartes in ihrem Rücken. Sie wurde blitzschnell herumgedreht und sah in ein bärtiges Männergesicht.
»Was hast du hier zu schaffen, kleine Kröte?«, keuchte eine dunkle furchterregende Stimme.
Anja wollte vor Schreck aufschreien, doch sie bekam nicht einen einzigen Laut heraus.
»Aha, du bist’s! Ausgerechnet du! Na, mir kann’s recht sein. Du kannst wenigstens keinem etwas erzählen.«
Die Hand, die Anja noch immer hinten am Kleid festhielt, griff noch härter zu und schüttelte die Kleine.
Angstvoll sah Anja in das wutverzerrte Gesicht des Mannes.
»Wehe, wenn du jemanden hierherführst. Und wenn du zu berichten versuchst, dass du jemanden hier getroffen hast, dann bringe ich dich um. Weißt du, was das heißt? Es ergeht dir dann genauso wie deinem Vater, deiner Mutter und deinem kleinen Bruder. Nur mit dem Unterschied, dass du langsam sterben wirst. So etwa!«
Die Hände des Mannes legten sich um Anjas zarten Hals und drückten langsam immer stärker zu. Das Kind wand sich in panischer Angst und rang nach Luft.
»Du hast mich niemals hier gesehen, ist das klar? Du wirst überhaupt keinem sagen, dass du hier oben an der Koppel warst. Ich lasse mir von einer kleinen miesen Kröte, wie du es bist, die Tour nicht vermasseln, das merke dir! Und wenn du nicht gehorchst, hast du die längste Zeit geatmet!«
Anja hustete und bäumte sich in wilder Panik auf. Doch gegen den Griff dieses Mannes konnte sie nichts, aber auch gar nichts ausrichten.
»Überlege dir gut, was du tust. Du bist die letzte deiner Familie, und es wäre für manche Leute gar nicht ungeschickt, wenn es dich nicht mehr gäbe. Aber das wirst du nicht verstehen. Du weißt ja nicht, wie gut es ist, viel Geld zu haben.« Der Mann grinste höhnisch.
Anja wusste nicht, in welcher Gefahr sie schwebte. Trotzdem hatte sie wahnsinnige Angst vor dem Mann. Sie setzte all ihre Kräfte ein, um freizukommen, doch es gelang ihr nicht.
Der Mann, der die Kleine noch immer hinten am Kleid festhielt, schien eine satanische Lust daran zu haben, zuzusehen, wie das stumme Kind sich quälte, wie es zu schreien versuchte, wie es wild um sich schlug. Doch das war ihm noch nicht genug. Er wollte das Grauen mehren.
»Wie bist du überhaupt hierher gekommen?«, zischte er böse. »Weißt du denn nicht, dass es im Wald von wilden Wölfen wimmelt? Wenn du noch einmal hierher kommst, werden sie dich zerreißen. Sie werden sich über dich stürzen und dich auffressen. Kein Stückchen wird übrig bleiben.«
Der Fremde hatte dumpf und drohend gesprochen. Dabei hatte er das Kind hasserfüllt angesehen. Es war mehr dieser böse Blick, der Anja all ihre Kräfte aufbieten ließ. Sie trat gegen den Mann, warf sich gleichzeitig ruckartig nach vorn.
Das, was sie selbst nicht vermutet hatte, geschah. Sie kam frei. Kopfüber stürzte sie auf den Waldboden. Sie fühlte Erde und Pflanzenteile in ihrem schreckensweit aufgerissenen Mund, spürte stechende Schmerzen in beiden Knien, und hinter ihr lachte schadenfroh der Mann. Doch Anja achtete auf das alles nicht. Sie krabbelte hoch und rannte quer durch den Wald zurück, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Noch immer glaubte sie den Atem des Mannes hinter sich zu hören, sah sie in Gedanken seine ausgestreckten Hände, die nach ihr greifen wollten.
Sie stürzte über einen Stein, fiel in das Bächlein. Doch sie spürte gar nicht, dass sie durchnässt war. Kopflos hastete sie weiter. Sie stolperte über eine Baumwurzel, fiel in einen Graben. Und mit jeder Verletzung steigerte sich ihre Panik. Panik, die sich keinen Ausgleich durch Rufen oder Schreien verschaffen konnte.
In wilder Hast lief Anja weiter. Da war ein steiler Abhang. Anja sah gar nicht, dass sie sich an der ungünstigsten Stelle befand. Nur glatten Fels, bewachsen mit niedrigem Moos, gab es hier. Nichts, worauf die Füße hätten Sicherheit finden können. Anja hielt sich an den herabhängenden Zweigen einer Buche fest, doch ihre Füße rutschten ab, die Hände verloren den Halt.
Anja kullerte den Abhang hinab, überschlug sich und blieb liegen.
*
Voll Ungeduld ging Grit durch das große Haus ihres Verlobten, das schon in wenigen Tagen auch ihre Heimat sein sollte. Dann würde sie Davids Frau sein, würde hier mit ihm leben.
Grit hatte sich in den vergangenen Wochen sehr auf diese Zeit gefreut. Sie hatte Pläne gemacht, um dem luxuriösen Heim eine persönliche Note zu geben, um es gemütlicher zu gestalten. Doch heute, da sie viel Zeit für derartige Dinge hatte, dachte sie nicht mehr daran. Sie lief unruhig in den vielen großen Räumen auf und ab und wartete.
David hatte ihr versprochen, rasch zurückzukommen, um dann mit ihr nach Sophienlust zu fahren. Aber das war vor mehr als fünf Stunden gewesen.
Grit wurde immer nervöser. Würde es überhaupt noch möglich sein, nach Sophienlust zu fahren? Würde es nicht zu spät dafür werden? Wo blieb David nur so lange? Als sie sich, wie verabredet, am Vormittag mit ihm im Hotel getroffen hatte, war er sehr in Eile gewesen. Er hatte erklärt, gleich geschäftlich weg zu müssen. So rasch war er gegangen, dass nicht einmal Zeit für eine Erklärung geblieben war.
Seitdem wartete Grit. Was sind das überhaupt für Geschäfte, die er so dringend erledigen musste?, überlegte sie. Wieder fiel ihr ein, dass David es ablehnte, darüber zu sprechen. Musste sie nicht vermuten, dass auch sonst niemand davon wissen sollte? Dass er vielleicht sogar etwas tat, was ungesetzlich war?
Zum ersten Mal fragte sich Grit, woher der Reichtum ihres Verlobten stammte. Früher hatte sie angenommen, dass er von seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte. Doch durch Zufall hatte sie in den letzten Tagen erfahren, dass er von zu Hause aus arm war.
Grit fröstelte zwischen all den kostbaren Kunstgegenständen, den echten Teppichen und den wertvollen alten Möbeln. Ein Innenarchitekt hatte dieses Haus eingerichtet, und er hatte einen beachtlichen Geschmack dabei bewiesen. Doch wovon hatte David das alles bezahlt?
Grit fuhr erschrocken zusammen, als die Türglocke ihr melodisches Bim-Bam ertönen ließ.
»Ich möchte nur rasch die Zeitung kassieren«, meldete sich eine helle Bubenstimme aus der Gegensprechanlage.
»Moment, bitte.« Grit lief zur Garderobe. Hing da nicht ihre Tasche? Ach nein, die Tasche musste in Davids Wagen liegen. Er hatte sie doch vom Hotel abgeholt und sie dann gebeten, hier auf ihn zu warten.
»Ich war schon mehrmals hier. Und deshalb wäre ich froh, wenn Sie mir das Geld heute geben könnten«, meldete sich der Zeitungsjunge wieder.
»Ich werde nachsehen.« Grit eilte in Davids Arbeitszimmer und öffnete eine Schublade seines Schreibtisches. Doch außer einer Menge unbezahlter Rechnungen fand sie nichts darin. Flüchtig überflog sie die Mahnschreiben eines großen Modehauses. Eine Autofirma mahnte die Bezahlung eines Lieferwagens an. Wo war dieser Lieferwagen? Und wozu brauchte David ihn?
Grit griff sich an den Kopf. Draußen wartete der Zeitungsjunge. Sie musste sich beeilen. David musste doch Geld im Haus haben. Sie selbst hatte schon mehrmals beobachtet, dass er Münzen und Scheine aus einer großen Schatulle genommen hatte, die im unteren Fach des Schreibtisches stand.
Das Schreibtischfach war verschlossen. Hatte David nicht kürzlich dort aus der hohen Vase einen Schlüssel genommen? Grit eilte hin und griff hinein. Tatsächlich hielt sie zwei Schlüssel in der Hand. Wie sich gleich darauf herausstellte, war der eine für den Schreibtisch, der andere für die Kassette.
Grit dachte sich nichts dabei, als sie den Deckel der Kassette aufschnappen ließ. Sie wollte David weder nachspionieren, noch ihm etwas nehmen. Schließlich war sie es gewesen, die David eine große Summe vertrauensvoll zur Verfügung stellte. Ihr elterliches Erbe, das ihr der Bruder ausbezahlt hatte, war es gewesen. David hatte das Geld angeblich in sein »Geschäft« gesteckt. Nie hatte er ihr eine Abrechnung gezeigt. Existierte dieses »Geschäft« überhaupt? Grit zweifelte jetzt daran. Sobald die Sache mit Anja geklärt sein würde, wollte sie Rechenschaft von David verlangen. Sie würde sich nicht länger mit Lügen abspeisen lassen.
Eigentlich hatte Grit fast damit gerechnet, in der Kassette Scheine und Münzen vorzufinden. Doch es befand sich etwas ganz anderes darin. Kleine Plastikbeutel mit weißem Pulver waren es. Fast sah es aus wie Mehl und Zucker.
Warum bewahrte David dieses Säckchen unter Verschluss auf? Was war daran so Besonderes? War es vielleicht gar kein Mehl?
Grits Gedanken überstürzten sich. Sie vergaß, dass der Zeitungsjunge draußen wartete. Mit zitternden Fingern öffnete sie einen der Beutel, roch hinein.
Was hatte sie da durch Zufall entdeckt? War das nicht ein Fall für die Polizei? Aber durfte sie hinter dem Rücken ihres Verlobten …
In fieberhafter Eile verschloss Grit den Beutel wieder, schob die Kassette an ihren Platz zurück. In diesen Minuten wurde ihr so manches klar. David war nicht nur ein Lügner, es war viel, viel mehr. Und diesen Mann hatte sie aufrichtig geliebt.
Tränen der Enttäuschung liefen über Grits zarte Wangen. Was sollte nun werden? Wie sollte sie sich verhalten?
*
Gewöhnlich kündete lautes Kindergeschrei in Sophienlust drohendes Unheil an. An der Lautstärke konnte Denise meist recht genau ermessen, wie schlimm der Kummer des betroffenen Schützlings war. Doch diesmal wurde sie so überraschend mit dem Kummer eines Kindes konfrontiert, dass sie für Sekunden vor Schreck erstarrte.
Gerade hatte Denise im Büro die Abrechnungen durchgesehen, als die Tür aufflog und atemlos ein kleines Mädchen hereinstürzte. Es schrie nicht, aber es sah so jämmerlich und verängstigt aus, wie Denise noch nie ein Kind gesehen hatte.
Anjas Gesichtchen war schmutzig. Helle Tränenspuren zogen sich über die dicken Bäckchen. Das blonde Haar der Kleinen war unglaublich zerzaust und schweißnass, das Kleid hing ihr nur noch in Fetzen am Körper. Arme und Beine waren zerkratzt, zerschunden und blutverschmiert. Anja trug nur noch einen Schuh. Am schockierendsten aber waren Anjas schreckensweit geöffnete Augen, in denen sich die Angst eines Kindes spiegelte, das mehr Schlimmes erlebt hatte, als es ertragen konnte.
Keuchend rang Anja mit weit offenem Mund nach Luft. Sie stürzte sich, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, in Denises Arme und klammerte sich so wild und angstvoll an die schöne junge Frau, als befürchte sie, gewaltsam von ihr wieder getrennt zu werden.
»Anja, um Gottes willen«, entfuhr es Denise. »Was ist nur geschehen?« Beruhigend drückte sie das Kind an sich, umarmte es voll Zärtlichkeit. Sie fühlte das Zittern des kleinen Körpers, hörte das keuchende, stoßweise Luftholen und ahnte, dass dem Kind etwas Schlimmes widerfahren war. Doch das würde vielleicht nie geklärt werden können. Anja konnte ja nicht den geringsten Hinweis geben.
»Schon gut, mein Kleines. Du bist hier bei uns, und alles ist wieder in Ordnung. Niemand wird dir etwas tun, Anja.« Denise streichelte unaufhörlich das weinende Kind.
Lautlos liefen die Tränen über Anjas Gesichtchen. Gerade jetzt hätte sie so unheimlich viel zu erzählen gehabt, doch sie konnte sich nicht verständlich machen. Sie wollte von ihrem Sturz über den steilen Abhang erzählen, durch den sie einige Sekunden lang bewusstlos gewesen war. Doch das hatte sie in ihrer Aufregung überhaupt nicht registriert. Als sie wieder zu sich gekommen war, war sie sofort weitergerannt. Erst am Portal von Sophienlust hatte sie sich blitzschnell umgedreht. Der Mann war nicht mehr hinter ihr gewesen, doch sicher würde er gleich nachkommen.
Noch inniger presste sich Anja an Denise von Schoenecker. Zu ihr hatte sie Vertrauen, bei ihr wusste sie sich beschützt und behütet. Welche Erleichterung hätte es für sie bedeutet, der mütterlichen Frau das grässliche Erlebnis zu schildern. Anja probierte es. Sie bewegte die Lippen, machte Zeichen dazu. Doch sie war viel zu aufgeregt, um mit diesen fahrigen Bewegungen etwas andeuten zu können.
»War es ein Tier oder war es ein Mensch, der dich erschreckt hat?«, fragte Denise mitleidig.
Anja schüttelte heftig den Kopf. Denn gerade erinnerte sie sich daran, dass der Mann ihr gedroht hatte. Sie durfte nichts verraten, weil er sonst die großen harten Hände um ihren Hals legen und erbarmungslos zudrücken würde.
Das kleine Mädchen zuckte wie im Krampf.
»Hab keine Angst mehr«, flüsterte Denise tröstend. »Wir lassen nicht zu, dass dir jemand etwas tut, Anja. Du kannst ganz ruhig sein.« Während Denise das Kind in ihrem Arm liebkoste, wählte sie mit der freien Hand die Nummer der Hausärztin. »Frau Dr. Frey wird deine Arme und Beine verbinden und dir etwas geben, damit du dich wieder beruhigst«, erläuterte sie sanft. »Sie heißt auch Anja, genau wie du.«
Natürlich würde sie später, wenn Anja versorgt sein würde, sofort Nachforschungen darüber anstellen, was ihren kleinen Schützling so verstört hatte. Gab es jemanden, der daran interessiert war, dem unschuldigen Kind noch mehr Angst einzujagen, als es ohnehin schon hatte? Wer war das, und warum tat er es?
Denise atmete schwer, denn sie ahnte, dass es fast unmöglich sein würde, Antwort auf alle diese Fragen zu finden. Derjenige, der Anja so maßlos erschreckt hatte, musste wissen, dass sie nicht sprechen konnte. Doch was wollte er mit seiner Gemeinheit bezwecken?
Frau Dr. Frey meldete sich, und Denise bat die Ärztin, so bald wie möglich nach Sophienlust zu kommen.
»Jetzt kann gar nichts mehr schiefgehen«, flüsterte sie dem Kind zu, das jetzt müde und entspannt in ihren Armen lag. Dann schloss es erschöpft die Augen.
Denise setzte sich mit Anja in den großen bequemen Sessel am Fenster und beobachtete das Kind sorgenvoll. Anja war vor Erschöpfung eingeschlafen. Wie gern wollte sie dem bedauernswerten Mädchen helfen. Doch was konnte sie tun? Die Hoffnung der Ärztin, dass Anjas Fähigkeit zu sprechen zurückkehren würde, hatte sich zerschlagen. Oder war es dafür noch zu früh?
*
Hans Strasser summte leise vor sich hin, während er ein hübsches Kleidchen und einige Süßigkeiten in ein buntes Papier einschlug.
»Bist du fertig?« Marina betrat ungeniert die Junggesellenwohnung. Sie hatte den Vormittag beim Friseur, bei der Massage und im Schönheitssalon verbracht und sah in dem neuen modischen Sommerrock und der farblich dazu passenden Bluse überraschend gut aus.
Hans war jedoch so sehr mit seinem Päckchen beschäftigt, dass er das überhaupt nicht bemerkte. »Wir fahren noch rasch nach Sophienlust«, rief er Marina über die Schulter zu.
»Das darf doch nicht dein Ernst sein!«
»Es wird uns nur einige Minuten aufhalten.« Hans lächelte vergnügt. »Ich habe eine kleine Überraschung für Anja. Und ich möchte ihr Gesichtchen sehen, wenn sie auspackt.«
»Ich aber nicht«, erwiderte Marina kalt. »Ich möchte pünktlich bei der Modenschau sein. Du hast mir auch versprochen, dass …«
Hans nahm das Mädchen zärtlich in den Arm. »Wir werden pünktlich sein«, versprach er fröhlich.
»Hast du überhaupt schon bemerkt, dass …« Marina lehnte sich an ihn und sah ihn lauernd an.
»O ja, du hast ein neues Parfüm!« Hans kam sich reichlich dumm vor. Eigentlich waren seine Gefühle für Marina längst abgekühlt. Trotzdem ging er weiter mit ihr aus. Er war einfach zu gutmütig, um ihr zu sagen, dass er seine Absicht, Marina zu heiraten, aufgegeben hatte.
»Stimmt ja gar nicht«, empörte sich die rotblonde junge Dame. »Ich habe ein neues Make-up, eine neue Frisur, neue Kleider und neue Schuhe. Aber du bist zu dumm, um das zu sehen.« Marina war wütend. Niemals würde sie verraten, dass sie, wenn Hans Dienst hatte, mit dem flotten Dieter verabredet war. Er interessierte sich weniger für so kleine Mädchen wie Anja, dafür aber umso mehr für größere.
»Entschuldige«, sagte Hans verwirrt. Tatsächlich war ihm Marinas Eitelkeit schon so zuwider, dass er die junge Dame kaum ansehen mochte.
»Du magst mich eben nicht mehr«, meinte das Mädchen und hatte dabei den Wunsch, genau das Gegenteil zu hören. Trotz des Flirts mit dem flotten Dieter wollte es den treuen, zuverlässigen Hans auf keinen Fall aufgeben. Bei ihm war Sicherheit. Außerdem war er so gutmütig, dass er ihr die Liebelei mit dem anderen sicher gönnte.
Hans Strasser fühlte den Stich in seiner Brust recht deutlich. Das war die Gelegenheit, Marina zu erklären, dass sie nicht zusammenpassten und dass es besser war, wenn künftig jeder seiner eigenen Wege ging. Doch wieder einmal war er, der in seinem Beruf so tüchtig und unerschrocken war, zu feige. Er sah die hellen Augen des Mädchens erwartungsvoll auf sich gerichtet und brachte es einfach nicht fertig, Marina so hart zu enttäuschen.
»Du bist immer so schick, dass eine Steigerung einfach nicht möglich ist. Und deshalb fällt sie auch nicht so auf«, sagte er und machte sich rasch an seinem Paket zu schaffen. Marina jetzt anzusehen, wäre ihm sehr peinlich gewesen.
»Mit anderen Worten, ich gefalle dir«, freute sich die junge Dame.
»Hm.«
»Wir müssen uns beeilen.« Marina griff nach ihrer modischen Tasche, und Hans ging gehorsam hinter ihr zum Auto. Es war schon düster, als die beiden in Sophienlust eintrafen. Der Park lag ruhig und verlassen. Auch auf dem Spielplatz war kein Kind mehr.
»Ich werde rasch ins Haus gehen«, sagte Hans und griff nach seinem Päckchen.
»Und ich komme mit, damit du dich nicht zu lange aufhältst.« Marina stieg ebenfalls aus.
Von Frau Rennert erfuhr das Paar, dass sich Anja verletzt und Frau Dr. Frey ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte.
Hans eilte die Treppe hoch und lief zu den Schlafzimmern. Recht genau wusste er, wo das kleine Mädchen zu finden war.
Anja lag in ihrem Bettchen, hatte Stupsi, den zottigen Teddy, im Arm und sah zweifelnd auf die vielen Herrlichkeiten, die ihr die Kameraden geschenkt hatten und die jetzt auf ihrem Nachttisch lagen. Da gab es Spielsachen, Bücher und Blumen. Pünktchen hatte ihr sogar eine Perlenkette geschenkt, die sie selbst geknüpft hatte.
Obwohl die Kinder von Sophienlust den Grund für Anjas Verbleiben im Bett nicht kannten, hatten sie doch sofort gesehen, dass die Kleine sehr, sehr traurig war. Um sie zu trösten, hatten sie ihr lauter Dinge geschenkt, von denen sie annahmen, dass sie Anja Freude machen würden.
Ganz anders reagierte Marina, die hinter Hans ins Zimmer kam. In ihr stieg eiskalte Wut auf, als sie das hilflose Geschöpf sah.
Längst wusste Anja, dass es Onkel Hans gut mit ihr meinte und dass er sie gernhatte. Deshalb hing sie auch mit zärtlicher Liebe an dem Polizisten. Als sie ihn erblickte, wurden ihr das Leid und die Angst des Nachmittags wieder bewusst. Sie fühlte wieder den harten Griff im Nacken, hörte erneut die hasserfüllte Stimme, die schreckliche Dinge zu ihr sagte.
Angstvoll streckte Anja die Ärmchen aus, klammerte sich gleich darauf an Strassers Hals. Wie gern wollte sie ihm alles erzählen. Ihm, der ganz bestimmt dafür sorgen würde, dass der böse Mann nicht wiederkam. Anja keuchte. Sie bemühte sich voller Verzweiflung, Töne hervorzubringen. Doch alle Anstrengung war vergebens.
Hans Strasser schloss das Kind innig in seine Arme. Er spürte sofort, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste, dass Anja ihn brauchte.
»Sei ganz still, Anja, mein Liebes. Ich weiß, dass sie dich erschreckt haben. Doch das soll nicht mehr vorkommen. Wir werden schon dafür sorgen.« Unwillkürlich ballte er beide Hände zu Fäusten. Wer hatte dieses arme, hilflose, unschuldige Kind so eingeschüchtert? Mit diesem Schuft wollte er abrechnen! Irgendwann würde er ihn erwischen. Dann gnade ihm Gott!
Anjas kleine Finger krallten sich in Strassers Haut.
»Keine Angst, Anja, ich bleibe bei dir«, murmelte der Polizist und streichelte sanft den Rücken des Kindes.
»Täusche dich nicht, kleine Komödiantin«, sagte Marina gehässig. »Dein Onkel Hans fährt nämlich mit mir zur Modenschau. Er hat überhaupt keine Zeit für dich. Im Übrigen musst du dich daran gewöhnen, künftig weniger verhätschelt zu werden. Hans ist diese Süßholzraspelei schon lange leid.«
Das Kind in Strassers Arm zitterte fühlbar. Es war eindeutig, dass Anja jedes dieser gemeinen Worte verstanden hatte.
»Wie kannst du nur so etwas sagen?«, zischte Hans. »Und ausgerechnet jetzt. Siehst du denn nicht, dass Anja traurig ist?«
»Ein verwöhntes, verzogenes Gör ist sie, das verrückt spielt, um sich wichtig zu machen! Mittelpunkt will sie sein, das ist alles.«
»Marina, bitte, sei still! Das ist doch alles nicht wahr«, flehte Hans Strasser. Es tat ihm unsagbar weh, dass Anja diese Schmähungen mit anhören musste. »Ich habe dich ganz, ganz lieb«, raunte er der Kleinen ins Ohr. »Und ich will, dass wir immer gute Freunde sind.«
Hans Strasser hatte gehofft, dass Marina diese leisen Worte nicht verstanden habe. Doch ihre Reaktion zeigte, dass er sich getäuscht hatte. Spöttisch verzog sie den Mund und ließ ein gurrendes Lachen hören. »Hört sich fast echt an, ist aber doch eine Lüge, weil wir jetzt gehen werden. All deine Schauspielerei hat nämlich nichts genützt, du Gernegroß. Wenn du gedacht hast, uns den Abend verderben zu können, musst du dir etwas anderes einfallen lassen. Die Krokodilstränen kannst du dir auch sparen. Und wenn du geglaubt hast, du könntest dir so rasch einen Vater anlachen, hast du dich getäuscht. Waisenkinder wie du gibt es in Hülle und Fülle. Es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben, als in ein Heim zu gehen.«
Anja schmiegte ihr Gesichtchen dicht an den Hals des Mannes und wagte es nicht, sich zu bewegen. Nur die Tränchen liefen unaufhörlich über ihr blasses Gesicht.
Am liebsten hätte Hans Strasser seine Freundin lautstark zurechtgewiesen, doch er beherrschte sich. »Wir gehen«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Warte einige Minuten. Ich komme gleich zu dir zurück.« Den letzten Satz konnte diesmal nur Anja verstehen. Vertrauensvoll ließ sie sich zurücklegen.
*
»Hallo, Alexander. Wie schön, dass du vorbeischaust.« Ein Leuchten ging über Denises reizvolles Gesicht. Sie lief ihrem Mann entgegen und legte zärtlich die Arme um seinen Hals.
Der gut aussehende, breitschultrige Mann küsste sie behutsam auf beide Wangen. Es war eine zärtliche Geste inniger Vertrautheit.
»Leider ist der Grund meines Besuches weniger erfreulich.« Alexander war erleichtert, dass die Kinder von Sophienlust gerade alle im Speisesaal waren. So hatte er Gelegenheit, mit seiner Frau allein zu sprechen.
»Ärger?«, fragte Denise mitfühlend.
»Kranisch ist verschwunden. Ich bin gerade auf dem Weg nach Wildmoos. Polizeimeister Kirsch hat mich gebeten, aufs Revier zu kommen. Er hat Fotos von einigen Verdächtigen, die er mir zeigen will.«
Denise war merklich blass geworden. Nur zu gut wusste sie, wie diese Diebstähle an den Nerven ihres Mannes zerrten. Er hatte jetzt vier seiner besten Pferde verloren. Das war ein Verlust, der nicht zu ersetzen war. Keine Versicherung würde für den Schaden aufkommen. Wie sollte es weitergehen? Würde der gemeine Dieb nicht ruhen, bis Gut Schoeneich ruiniert war? Bis er auch das letzte Tier auf hinterhältigste Weise entführt hatte?
»Hast du Herrn Kirsch schon genau informiert?«
»Selbstverständlich habe ich ihn sofort angerufen. Er war auch oben an der Pferdekoppel. Aber natürlich hat er wieder keine Spuren gefunden. Niemand hat den Dieb gesehen, niemand hat ihn gehört. Es ist allen ein Rätsel, wie die Pferde entwendet werden. Hufe hinterlassen doch Eindrücke. Und Autoreifen ebenso. Wenn irgendwo in der Nähe der Koppel ein Wagen gehalten hätte, wäre er beobachtet worden. Auch ein Reiter wäre aufgefallen.« Alexander seufzte.
»Hast du nicht erwähnt, dass jemand ständig oben an der Koppel ist?«
Ärgerlich winkte Alexander ab. »Ja. Ich habe Anweisung gegeben, dass die Pferde keine Sekunde aus den Augen gelassen werden. Aber unser Mann wurde ans Telefon gerufen. Er war nur wenige Minuten weg, und schon war’s passiert.«
»War es ein fingierter Anruf?«
»Das ist anzunehmen. Irgendjemand wollte eine Auskunft über Pferdezucht. Ich habe sofort veranlasst, dass die Tiere für die nächsten Tage in ihren Boxen bleiben. Doch ich bin fast überzeugt, dass der Kerl auch hier einen Weg finden wird, weitere Tiere zu entführen. Ein ganz gerissener Gauner muss das sein.«
Alexander schüttelte ärgerlich den Kopf. Dass die ersten Diebstähle so reibungslos geklappt hatten, das konnte er noch verstehen. Doch die Sache mit Kranisch hätte nicht passieren dürfen. Man konnte sich eben auf niemand mehr verlassen. In den nächsten Tagen würde er sich selbst auf die Lauer legen müssen.
Erst jetzt fiel Alexander auf, wie nachdenklich seine Frau geworden war. »Mach dir keine Sorgen, Denise«, bat er.
»Da war etwas mit Anja«, berichtete Denise in zunehmender Erregung. »Sie kam völlig verstört, mit zerrissenen Kleidern und zerschundenen Armen und Beinen nach Hause. Sie lief auf mich zu, schmiegte sich in meine Arme und weinte und weinte. Ich konnte mir das alles nicht erklären, zumal wir Nachforschungen angestellt haben, die ergebnislos blieben. Niemand konnte herausfinden, weshalb das Kind so erregt war. Es muss mehrmals gestürzt sein, als es vor jemandem flüchtete. Leider kann uns Anja selbst keinen Hinweis geben, aber jetzt …«
Alexander von Schoenecker hatte atemlos zugehört. »Du meinst, du hältst es für möglich, dass Anja den Dieb gesehen hat?«
»Es wäre denkbar. Anja war in einer schlimmen Verfassung. Mir kam es vor, als sei sie eingeschüchtert worden. Auf eine schlimme, grausame Art. Da sie nicht reden kann, ist das für sie eine Katastrophe. Ich glaube, sie fürchtet sich schrecklich.« Denises Hände zitterten leicht.
Beruhigend strich Alexander über ihre schlanken Finger. »Wir müssen Anja fragen«, schlug er vor. »Wenn wir es geschickt anstellen, braucht sie ja nur mit dem Kopf zu nicken oder durch Kopfschütteln ein Nein anzudeuten. Vielleicht sollte ich sie nach Wildmoos aufs Revier mitnehmen. Sie würde den Kerl vielleicht wiedererkennen. Ja, ganz bestimmt. Denn wenn er sie eingeschüchtert hat, muss sie ihn ja aus unmittelbarer Nähe gesehen haben. Sie wird ihn wiedererkennen.«
Angst und Sorge spiegelten sich in Denises ausdrucksvollen dunklen Augen. »Nein, Alexander, erinnere Anja bitte nicht an dieses schlimme Erlebnis. Frau Dr. Frey hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie ist eben dabei, über dieses grausame Erlebnis wegzukommen. Unsere Fragen würden ihr alles ins Gedächtnis zurückrufen, würden Angst und Aufregung in ihr erneut aufflackern lassen.«
»Aber sie könnte uns wertvolle Hinweise geben«, sagte Alexander eindringlich. »Immerhin wäre es möglich, dass unsere Pferde noch irgendwo in der Nähe sind und wir das Versteck durch Anjas Hilfe aufstöbern. Wir würden die Tiere zurückbekommen. Morgen kann es unter Umständen bereits zu spät sein.«
»Das Kind könnte schweren Schaden nehmen, wenn wir durch Fragen etwas berühren, was es seelisch nicht verarbeiten kann, weil es dazu unsere Hilfe bräuchte. Wir können Anja aber nicht helfen. Wir sind machtlos, weil wir keine Ahnung haben, was Anja eigentlich zugestoßen ist.«
»Man müsste einen Psychiater beauftragen, Anja so behutsam auszufragen, dass sie keinen Schaden nehmen kann.«
Denise lächelte wehmütig. »Was weiß ein Psychiater davon, was dieses arme kleine Mädchen durchgemacht hat? Anja hat den Schock noch lange nicht überwunden. Trotzdem hat man sie heute maßlos verängstigt. Ich bin richtig unglücklich darüber, dass es ausgerechnet hier in Sophienlust geschehen ist. Hier, wo alle Erwachsenen die Kinder von Herzen gernhaben.«
»Du hast recht, Denise. Wenn sich jemand in Anjas Situation hineinversetzen kann, dann bist du es. Niemand hat so viel Mitgefühl und so viel Verständnis wie du.« Alexander lächelte stolz. »Und wenn du es für richtig hältst, dass wir Anja nicht fragen, dann bin ich selbstverständlich damit einverstanden. Das Wohl der Kinder geht vor finanziellen Belangen. Auch wenn unsere Pferde noch so kostbar sind, Anja ist wichtiger, viel wichtiger.«
Denise von Schoenecker atmete erleichtert auf. »Ich bin froh, dass du so denkst, Alexander. Und ich bin dir von Herzen dankbar dafür.« Sie küsste ihren Mann liebevoll auf den Mund.
*
Eilig ging Hans Strasser zu seinem Wagen. Er öffnete, galant wie immer, für Marina die Tür und stieg dann selbst ein. »Warum warst du so hässlich zu der Kleinen?«, fragte er empört. Nur mühsam konnte er sich beherrschen.
»Ich weiß gar nicht, was du willst.« Marina tat ganz harmlos. Sie strich ihre Kleidung glatt und wartete darauf, dass er den Wagen startete.
Doch Hans Strasser dachte gar nicht daran. Er drehte sich so, dass er Marina in die Augen sehen konnte, und sagte: »Du weißt es sehr genau. Du hast dich unmöglich benommen, obwohl uns Frau Rennert zuvor mitgeteilt hat, dass Anja auf keinen Fall aufgeregt werden darf. Weißt du denn nicht, was du mit deinen herzlosen Reden anrichten kannst? Hast du denn gar kein Gewissen, Marina? Willst du schuldig werden am Unglück eines elternlosen Kindes?«
»Ach«, fauchte Marina ungeduldig. »Du übertreibst alles, was mit Anja zusammenhängt, maßlos. Das Kind ist doch nicht aus Glas. Es tut ihm gar nichts, wenn es endlich einmal die Wahrheit erfährt. Du bist ja doch zu feige, sie auszusprechen.«
Strassers Wut steigerte sich. »Kinder sind zwar nicht aus Glas, aber gefühlvolle, empfindsame kleine Menschen, die sehr leicht zu verletzen sind. Und was die Wahrheit betrifft, so kennst du sie offensichtlich noch immer nicht. Ich habe Anja gern – auch wenn du das nicht wahrhaben willst. Ich habe sie so lieb wie ein eigenes Kind. Das ist die Wahrheit.«
»Merkst du nicht, dass du dich lächerlich machst?« Marina lachte spöttisch. »Eine solche Auffassung passt vielleicht zu einer Großmutter, aber doch nicht zu einem Mann.«
»Das ist deine Auffassung. Im Übrigen interessiert sie mich nicht. Ich selbst kann es nicht als Schande empfinden, mitleidig zu sein.«
»Sie wird dich aber interessieren müssen«, zwitscherte Marina unbekümmert. »Schließlich werde ich deine Frau, nicht Anja.«
Hans Strasser holte tief Luft. Jetzt war der Augenblick da, dass endgültig reiner Tisch gemacht werden musste. Solange Marina ihn nur beschimpft hatte, war er nachsichtig gewesen. Jetzt aber gingen ihre Angriffe auf das unschuldige Kind über. Und das durfte er auf gar keinen Fall zulassen.
»Ich kann nicht mit einem Menschen zusammenleben, der so herzlos gegenüber einem Kind sein kann. Es war vielleicht früher einmal die Rede davon, dass wir beide heiraten. Aber jetzt denke ich anders darüber. Bitte, sei mir nicht böse, Marina. Wir können ja Freunde bleiben, wenn du magst.«
»Wenn ich dich recht verstanden habe, willst du dich von mir trennen.« Marina fuhr herum wie eine Schlange, die im Begriff ist, sich auf ihr Opfer zu stürzen. »Und nur wegen dieser kleinen Göre. Das ist doch lächerlich.«
»Bezeichne es, wie du willst. Ich kann nicht anders. Ich kann deine ewigen Sticheleien nicht länger ertragen.«
»Es kann dir doch nicht wirklich gefallen, dich mit einem kleinen Mädchen zu befassen und es durch allerlei Geschenke zu verwöhnen.« Marina wippte gekonnt mit den langen künstlichen Augenwimpern. Doch das machte keinen Eindruck auf ihn. Die flüchtige Verliebtheit, die er für Marina empfunden hatte, war endgültig verflogen.
»Es ist aber so«, antwortete er. »Aber du kannst das nicht verstehen, weil du kein Herz hast. An dieser Stelle sitzt bei dir ein Spiegel, in dem du dein eigenes Gesicht erblickst. Für mehr ist nicht Platz. Weder für einen Mann, noch für Kinder. Ich aber wünsche mir eine Frau, die mich ein bisschen gernhat, und Kinder, die behütet aufwachsen.«
»Für einen Mann bist du unglaublich romantisch. Hinter einem Polizeibeamten würde man das niemals vermuten. Im Film sind das harte Burschen, die …«
»Das Leben ist kein Film«, unterbrach Hans Strasser sie barsch. »Im Übrigen weißt du sehr genau, dass wir viel zu verschieden sind, um eine harmonische Ehe miteinander führen zu können.«
»Willst du eigentlich nicht losfahren? Wir kommen sonst zu spät.«
»Ich bringe dich hin, aber ich fahre sofort wieder zurück.«
»Du willst nicht mitkommen?«, fragte das rotblonde Mädchen entrüstet.
»Zum einen halte ich es unter diesen Umständen nicht für angebracht, und zum anderen habe ich Anja versprochen, zurückzukommen.«
»Du willst mich alleinlassen?«, schnupfte Marina.
»Da wir die ganze Zeit von Trennung reden, dürfte dich das doch nicht so sehr überraschen.«
»Ach, das ist doch alles nur Bla-Bla. Du bringst es ja gar nicht fertig, mich sitzenzulassen.« Marina lachte. Sie hatte den gutmütigen Hans ein für alle Mal zum Trottel abgestempelt.
Dass er es nicht war, bewies er sofort. »Ich nehme an, dass dich der flotte Dieter gerne trösten wird«, sagte er. Er wusste von Marinas Flirt. Aber dieses Wissen tat nicht weh, denn er liebte das Mädchen ja nicht mehr.
»Was weißt du von ihm?«, fauchte Marina böse.
»Dass du dich mit ihm triffst, wenn ich Dienst habe«, antwortete er unheimlich ruhig.
»Das ist ja nur eine ganz harmlose Bekanntschaft«, erklärte Marina.
»Vielleicht wird mehr daraus«, antwortete Hans gleichgültig.
»Er ist ein Windhund, das weißt du ganz genau.«
»Du liebst doch aufregende Männer.« Jetzt war es an Hans Strasser, spöttisch zu sein. »Männer, die sich nichts aus Kindern machen, sondern nur hinter jungen Mädchen her sind. Männer, die dir nicht Geborgenheit und Sicherheit schenken, sondern einen flüchtigen Flirt.«
»Du bist gemein«, zischte Marina.
»Mich hast du verlacht und verhöhnt, weil ich eine Familie wollte und ein harmonisches Eheleben. Also bist du doch mehr für die Anschauungen des flotten Dieters.«
»Du meine Güte, es hat mir doch nur Spaß gemacht, dich ein wenig zu reizen.«
»Du hast es zu weit getrieben, Marina. Das, was du vorhin zu der armen kleinen Anja gesagt hast, das war kein Spaß. Das war eine nicht zu überbietende Herzlosigkeit. Du hast genau gesehen, in welcher Verfassung das Kind ist. Wie du es dennoch wagen konntest, ihr den letzten Trost zu nehmen, das werde ich nie begreifen. Vielleicht ist dir in deinem Hass nicht so bewusst geworden, was du angerichtet hast. Auf jeden Fall rate ich dir aber zu beten, dass der Schaden durch Geduld und Liebe wieder behoben werden kann.«
»Eigentlich hatte ich für diesen Abend etwas anderes vor!« Marina war schon wieder hochmütig. »Worauf wartest du eigentlich noch? Fahr mich endlich nach Maibach. Wenn du schon eines neurotischen Kindes wegen auf die Modenschau verzichten möchtest, ich bin nicht so wild darauf, fremden Kindern Opfer zu bringen.«
Hans Strasser brauste los. Gar nicht rasch genug konnte er die Strecke zurücklegen. Jede Minute in Marinas Gesellschaft war ihm eine Qual.
Vor der Festhalle in Maibach stoppte er. Marina griff nach ihrem Abendtäschchen. »Also, bis morgen. Ich hole dich nach dem Dienst ab.«
Hans schüttelte sehr bestimmt den Kopf. »Nein, Marina. Unsere Trennung ist endgültig. Verabredungen gibt es nicht mehr.«
»Was willst du denn machen, wenn ich einfach vor dem Revier warte?« Marina kicherte vergnügt.
»Ich werde an dir vorbeigehen«, antwortete er in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er es ernst meinte.
»Du willst mich einfach stehen lassen?« Erst jetzt begriff das eitle Mädchen, dass es verspielt hatte.
»Ich hoffe, dass du mich nicht dazu zwingst. Schau mal, dort kommt der flotte Dieter. Wie wäre es, wenn du dich mit ihm über die morgige Freizeitgestaltung unterhalten würdest?«
Marina blinzelte in die angegebene Richtung. »Keine schlechte Idee«, murmelte sie und drehte sich auf dem Absatz ihrer modernen Schuhe herum.
Hans Strasser beeilte sich wegzukommen. Was Marina künftig tat, interessierte ihn nicht mehr. In diesen Minuten war nur Anja für ihn wichtig. Ihr wollte er beweisen, dass sie nicht allein auf der Welt war.
*
Grit ging rascher. So, als bemerke sie nicht, dass jemand eilig hinter ihr her lief. Sie betrat die große Bahnhofshalle und eilte zu den Schaltern, um sich eine Fahrkarte zu lösen. Doch dann musste sie warten. Vier Personen waren vor ihr. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen und hoffte, nicht gesehen zu werden.
Doch das war natürlich eine törichte Hoffnung. Da kam der elegante Herr mit dem gepflegten Bart auch schon zielstrebig auf sie zu. »Grit, wie gut, dass ich dich noch erwische. Ich habe im Hotel angerufen, aber du warst bereits weg. Beinahe hätten wir uns noch verpasst.«
Er tut ganz harmlos, dachte die junge Frau mit dem aparten Gesicht. So, als wäre er gestern tatsächlich biederen Geschäften nachgegangen. Ob er ahnt, dass ich etwas von den Päckchen in der Kassette weiß?
Grit hatte ihren Verlobten am Tag zuvor nicht mehr gesehen. Als er bei Einbruch der Dunkelheit noch immer nicht zurückgewesen war, hatte sie sein Haus verlassen und war ins Hotel zurückgekehrt.
»Ich bin auf dem Weg nach Sophienlust«, antwortete sie reserviert.
»Das dachte ich mir schon. Ich werde dich natürlich mit dem Wagen hinbringen.«
»Nicht nötig. Ich fahre sehr gern mit der Bahn.«
David fasste nach Grits Arm. »Du bist böse mit mir wegen gestern«, sagte er, scheinbar traurig. »Aber du tust mir unrecht. Ich war den ganzen Tag geschäftlich unterwegs. Komm, draußen auf dem Parkplatz steht mein Wagen. Du reist damit schneller und bequemer.«
Warum ist er nur so freundlich zu mir?, überlegte Grit fieberhaft. Sorgt er sich um das Geld, das ich ihm geliehen habe, oder befürchtet er, dass ich bei der Polizei ausplaudern könnte, was sich in seinem Schreibtisch befindet? Stur blieb sie in der Reihe der Wartenden stehen. Automatisch rückte sie vor, als einer der Reisenden abgefertigt war.
»Du warst doch noch nie dafür, dass ich nach Sophienlust fahre. Warum jetzt plötzlich?«, fragte sie misstrauisch.
»Oh, ich hab’s mir überlegt. Wenn es dein Wunsch ist, Anja zu dir zu nehmen, möchte ich nicht dagegen sein. Vielleicht ist es ganz gut, wenn du durch sie die Verbindung mit Schweden aufrechterhältst.«
»Warum?« Grit beobachtete ihn genau. In der vergangenen Nacht hatte sie lange über ihre Beziehung zu David Danner nachgedacht. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie niemals einen Mann lieben konnte, der dunkle Geschäfte machte. Das war kein Leben für sie. Sie würde daran zerbrechen.
»Es kann geschäftliche Vorteile haben. Das bleibt abzuwarten. Komm jetzt, lass uns zu meinem Wagen gehen, dann können wir in aller Ruhe über alles sprechen.«
Grit gab nach. Es gab tatsächlich vieles, was zwischen ihnen zu besprechen war. Doch zuerst musste sie wissen, was David tatsächlich tat, wenn er geschäftlich unterwegs war. Aber das würde sie nur herausfinden, wenn er sich in Sicherheit wiegte. Sie durfte ihm keine Veranlassung zum Misstrauen geben.
»Ich wollte dich bitten, mir etwas Geld zu geben«, meinte Grit, als sie bereits über die Autobahn fuhren. »Wenn Anja zu mir kommt, habe ich viele Auslagen, und arbeiten kann ich ja nicht mehr. Ich dachte an die Zinsen aus meinem Vermögen, das ich dir überlassen habe.« Von der Seite her beobachtete sie ihren Partner.
David zuckte kurz zusammen, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt.
»Selbstverständlich, mein Herz. Ich werde gleich morgen in der Bank anrufen. Hm …, da fällt mir ein, dass die Kosten für Anja eigentlich aus dem Erlös des schwedischen Werks bestritten werden könnten.«
»Ich werde den Geschäftsführer bitten, Anja eine entsprechende Summe auszusetzen, die dann monatlich überwiesen wird. Aber es wird einige Zeit dauern, bis diese Regelung perfekt ist.«
»Hast du eigentlich schon einmal daran gedacht, das Werk zu verkaufen?« David sah auf die Straße. Nichts in seinem Gesicht verriet, was er dachte.
»Ich habe ja überhaupt keine Anteile mehr.«
»Aber du wirst zu Anjas Vormund ernannt werden. Also hast du auch die Entscheidungsgewalt.«
Jetzt wurde Grit klar, was der Mann neben ihr wollte. Er hatte sicher Erkundigungen über die Fabrik in Schweden eingezogen und dabei erfahren, dass es sich um ein gut gehendes, modernes Unternehmen handelte. Es würde nicht schwer sein, den Komplex an die Konkurrenz zu verkaufen. Und David spekulierte auf den Erlös.
»Ich werde auf jeden Fall versuchen, das Werk für Anja zu erhalten«, antwortete Grit trotzig.
»Und was hättest du davon? Nichts als Ärger. Es ist äußerst schwierig, ein Unternehmen mit lauter fremden Leuten zu halten.«
»Der Geschäftsführer war schon für meine Eltern tätig und ist sehr vertrauenswürdig.« Heimlich schwor sich Grit, dass David Danner Anjas Anteil an der Fabrik nicht bekommen sollte. Hatte er denn nicht genug kassiert, damals, als er ihr das gesamte Erbe genommen hatte?
Grit wusste jetzt, was sie von seinen Liebesschwüren, von seiner Freundlichkeit zu halten hatte. Sie war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Diese Erkenntnis tat weh. Aber musste sie nicht froh sein, dass sie noch rechtzeitig kam? Bevor sie ihm ihr Jawort gegeben hatte? Eigentlich hatte sie es Anja zu verdanken, dass sich David zu erkennen gegeben hatte.
»Na ja, das alles hat Zeit«, bemerkte er kühl. Eigentlich war er böse darüber, dass Grit ihm neuerdings widersprach, dass sie versuchte, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Würde sie je wieder jenes anschmiegsame junge Mädchen werden, das willig auf all seine Vorschläge eingegangen war? Voller Verbitterung dachte er an die kleine Anja. Mit ihr hatte alles angefangen. Es gab verschiedene Lösungen für dieses Problem. Doch würde er Grit dazu überreden können?
Das junge Paar war für den Rest der Fahrt recht schweigsam. Jeder hing seinen Gedanken nach. Erst als Grit in Sophienlust nach den beiden umfangreichen Paketen griff, die auf dem Rücksitz lagen, fragte David unsicher: »Willst du länger bleiben?«
»Nein. Ich habe einige Geschenke für die Kinder von Sophienlust gekauft«, erwiderte Grit leise. »Sie waren alle so lieb zu Anja, dass ich ihnen auch eine Freude machen möchte.«
David unterdrückte ein spöttisches Grinsen. Noch ernster wurde er, als nur einige Schritte von ihnen entfernt Hans Strasser aus seinem Kleinwagen stieg. Der Polizist, der an diesem Tag während der Mittagspause vorbeischaute, trug noch die Uniform. Er sah mehrmals herüber, betrachtete David und Grit sehr genau.
David wurde es heiß. Galt das Interesse des Polizeibeamten seiner hübschen Begleiterin, seinem auffälligen amerikanischen Wagen oder ihm selbst?
Grit schien überhaupt nicht zu bemerken, dass sie beobachtet wurde. Arglos beugte sie sich noch einmal in den Wagen hinein, um eine kleine Reisetasche herauszunehmen. Lauter Süßigkeiten waren darin. Anja durfte sie später an ihre Kameraden verteilen.
»Nach den Schilderungen von Frau Rennert sind Sie Anjas Tante«, sagte plötzlich eine dunkle sympathische Stimme hinter Grit.
Die junge Frau sah erstaunt hoch und blickte in zwei dunkle Augen. Es war, als knisterte es zwischen ihnen. Jener berühmte Funke schien überzuspringen. Doch diese Empfindung verlöschte ebenso jäh, wie sie aufgekommen war. Grit wollte sie nicht wahrhaben. Sie wollte nie mehr einem Mann vertrauen, nachdem sie so unsagbar enttäuscht worden war.
David Danner verfolgte die Szene mit finsterem Gesicht. »Grit Möllendiek ist meine Verlobte«, mischte er sich ein.
Hans Strasser war es, als bekomme er eine eiskalte Dusche. Eben hatte er das hübscheste Mädchen entdeckt, das er je gesehen hatte, und nun war sofort ein anderer da, der seine Besitzerrechte verteidigte. Es konnte ja nicht anders sein. Ein so schönes junges Geschöpf wie Grit fand natürlich viele Bewunderer.
Sie ist viel, viel reizender als Marina, stellte Hans Strasser mit Bewunderung fest. Ein Traum von einem Mädchen! Flüchtig dachte er daran, dass Grit genau die Frau war, auf die er unbewusst immer gewartet hatte. Doch was waren das für törichte Gedanken? Ein kleiner Beamter hatte bei einer solchen Frau niemals Chancen. Das war nur etwas für reiche Männer. Für Männer wie dieser bärtige Modejüngling mit dem protzigen amerikanischen Wagen.
»Sie sind sicher der Mann, der Anja damals nach Sophienlust gebracht hat«, erinnerte sich Grit. »Ich habe Ihnen sehr zu danken. Sie haben schon in der Auswahl des Heims Anja sehr geholfen. Dass Sie die Kleine auch weiterhin besuchen, ist sehr nett von Ihnen.«
Eigentlich hatte sich Hans Strasser vorgenommen, mit Anjas Tante über die Adoption des Kindes durch ihn zu sprechen. Doch nun, da er Grit gegenüberstand, wusste er, dass seine Hoffnung sinnlos war. Bei dieser hübschen jungen Frau war Anja natürlich viel besser aufgehoben als bei ihm. Sie hatte Zeit für das Kind und konnte Anja, schon finanziell gesehen, viel mehr bieten als er.
Schmerzliche Enttäuschung fühlte Hans Strasser in sich. Er war bereit gewesen, um Anja zu kämpfen. Ihr zuliebe hatte er sein Verhältnis mit Marina gelöst. Wie ein Vater hatte er zu Anja sein wollen. Doch das alles erschien ihm jetzt richtig lächerlich. Anja brauchte ihn überhaupt nicht. Sie hatte eine Tante, die ganz bestimmt gut für sie sorgen würde. Hans Strasser wusste, er musste mit dieser Tatsache fertig werden. Vielleicht hatte Marina doch recht gehabt, als sie ihm vorgeworfen hatte, dass er sich albern benehme?
»Ich wollte gerade zu Anja«, sagte er resignierend. »Aber jetzt …«
»Kommen Sie ruhig mit«, bat Grit freundlich.
Doch Hans Strasser schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht stören. Vielleicht warte ich im Park, bis die erste Wiedersehensfreude abgeklungen ist.« Er deutete eine kurze steife Verbeugung an und ging langsam zu seinem Wagen zurück.
*
Anja, die gerade den sprechenden Papagei Habakuk mit Nüssen gefüttert hatte, erkannte ihre Tante sofort. Sie lief auf Grit zu und schmiegte sich innig in ihre Arme.
»Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen, Anja«, sagte das silberblonde Mädchen leise. »Es wird dir sicher bei mir gefallen. Ich möchte immer gut zu dir sein, kleine Anja. Denn ich habe dich doch lieb. Sehr lieb.«
Anja sah aufmerksam in Grits schönes Gesicht. Sie spürte sehr genau, dass ihre Tante es ernst meinte, dass sie sich bei ihr sicher und geborgen fühlen konnte. Stürmisch schlang sie beide Ärmchen um Grits Hals und brachte so ihre Freude und Zustimmung zum Ausdruck.
»Du sollst wieder eine Heimat haben, Anja, und wissen, wohin du gehörst. Ich will dir helfen, alles Schlimme zu vergessen und wieder froh zu sein.« Diese Worte klangen wie ein Schwur, und so meinte es Grit auch.
Anja nickte voll Dankbarkeit. Sie war noch zu klein, um ermessen zu können, was dieser Entschluss für eine junge Frau wie Grit bedeutete. Doch sie nahm sich fest vor, ihre Tante nie zu ärgern und immer lieb zu ihr zu sein.
Grit ließ das Kind kurz los und wandte sich den mitgebrachten Geschenken zu. David Danner, der sich bis jetzt im Hintergrund des Raumes mit Frau Rennert unterhalten hatte, trat aus dem Schatten der hohen Blattpflanzen und übergab Grit die beiden Pakete. Sofort beugte sich Grit darüber und begann auszupacken. Die übrigen Kinder, die im Wintergarten waren, kamen neugierig näher.
In diesen spannenden Minuten achtete niemand so richtig auf Anja. Sie sah mit großen staunenden Augen zu dem bärtigen Mann empor. Zunächst spiegelte sich Verwunderung auf ihrem hübschen Kindergesicht. Doch dann schien sich mehr und mehr Gewissheit herauszuschälen.
Anja schluckte. Für sie versank die friedliche Welt im Wintergarten und machte einer schlimmen Erinnerung Platz. Nur zu gut wusste sie jetzt, wo sie dieses Gesicht schon gesehen hatte. Oben im Wald bei der Pferdekoppel war es gewesen.
Unverwandt sah das Kind den Mann an. Immer größer, immer ängstlicher wurden Anjas dunkle Augen. Sie fasste sich an den Hals, als spürte sie zwei grobe würgende Hände dort.
David Danner fühlte sich im Kreis der Kinder plötzlich nicht mehr wohl. Er wusste, das, was er nie geglaubt hätte, war eingetreten. Anja hatte ihn erkannt. Nur gut, dass sie sich nicht verständlich machen konnte. Wenn er ganz ruhig blieb, würde sicher niemand den Zusammenhang ahnen.
Vorsichtig blickte er in die Runde. Alle Kinder sahen gespannt zu, wie Grit auspackte. Sogar die Heimleiterin beugte sich ein wenig vor, um einen Blick in den großen Karton werfen zu können.
Warnend hob David Danner den Zeigefinger. Seine dunklen Augen funkelten Anja zornig an. Er wollte das Kind mit dieser Geste einschüchtern. Dass er damit die maßlose Angst, die die Kleine noch immer beherrschte, nur noch vergrößerte, ahnte er nicht.
Die Woge der grausigen Furcht schlug über Anja zusammen. Sie begann zu zittern. Klappernd schlugen ihre Zähne aufeinander. In panischer Angst versuchte sie zu schreien. Sie warf die Ärmchen in die Höhe und zuckte wie im Krampf. Keuchend rang sie nach Luft.
Grit, die die Veränderung zuerst bemerkte, wandte sich erschrocken zu ihrer kleinen Nichte um und nahm Anja wie ein Kleinkind auf den Arm. Doch das Mädchen hatte sich bereits so sehr in seine panische Angst hineingesteigert, dass es keine tröstenden Worte hörte, dass es überhaupt nicht wahrnahm, dass Grit es beschützen wollte. Keine Sekunde wandte es den Blick von David Danner, der sich jetzt hinter den hohen Blattpflanzen zu verbergen versuchte. Schweißperlen bildeten sich auf Anjas runder Kinderstirn. Wild schlug sie um sich. Und plötzlich löste sich ein hoher schriller Ton aus Anjas Mund. Ein zweiter Ton folgte, ging über in ein heiseres, wildes, angsterfülltes Gurgeln.
Grit und Frau Rennert standen wie erstarrt. Sollte jetzt das eintreffen, woran niemand mehr so richtig glaubte? Sollte Anja wieder Laute hervorbringen können?
Grässliche, fast tierische Laute waren es, die jetzt über Anjas Lippen kamen. Sie hörten sich so furchtbar an, dass die Erwachsenen erschraken und die Kinder sich entsetzt die Ohren zuhielten.
»Sie gehört in eine Anstalt«, sagte David Danner, der völlig ruhig zu sein schien. Er hatte sich längst wieder in der Gewalt und war der Überzeugung, dass sich Anjas Äußerungen auf diese tierischen Laute beschränken würden. Damit konnte sie ihm nicht gefährlich werden.
»Anja, bitte, beruhige dich doch. Es tut dir niemand etwas. Alle haben dich gern. Alle sind lieb zu dir. Du brauchst keine Angst zu haben.« Grit hielt die Kleine mit aller Kraft fest.
»Er …, er …«, keuchte Anja plötzlich und deutete auf David Danner.
Alle sahen auf den Mann in dem modischen Freizeitanzug. Er stand breitbeinig neben dem Philodendron und schüttelte lachend den Kopf. »Völlig übergeschnappt, die arme Kleine!«
»Pferde«, schrie Anja voll Verzweiflung. »Im Wald!«
»Jetzt wird mir die Sache aber zu dumm«, meinte David Danner voll Hochmut. »Grit, ich werde dich gegen Abend abholen.« Er winkte den Kindern lässig zu. Doch in Wirklichkeit saß ihm die Angst im Nacken. Es war ihm nun klar, dass Anja noch mehr ausplaudern würde. Dinge, die äußerst unangenehm für ihn werden konnten.
Grit achtete gar nicht auf ihren Verlobten. Fassungslos wechselte sie einen Blick mit Frau Rennert. »Mein Gott, Anja, du redest ja wieder«, sagte sie ergriffen. Für Grit war das, was die Kleine mühsam hervorbrachte, im Moment gar nicht so wichtig. Viel wichtiger war für sie die Tatsache, dass Anja überhaupt wieder Worte formen konnte. Sie hatte sich bereits mit namhaften Ärzten in der Schweiz und in Schweden in Verbindung gesetzt, um Anja von ihnen behandeln zu lassen. Alle waren hinsichtlich der Erfolgschancen skeptisch gewesen.
Und nun löste sich dieses Problem auf ganz natürliche Weise. Das war mehr, als Grit je zu hoffen gewagt hatte. Sie war dem Schicksal dafür so unendlich dankbar, dass für sie im Moment alles andere nebensächlich wurde.
»Es muss die Erregung sein, die die Sperre gelöst hat«, flüsterte Frau Rennert. »Ich werde gleich Frau Dr. Frey anrufen.«
»Rede weiter, Anja«, spornte Grit das Kind an. Noch dominierte in der jungen Frau die Angst, die wiedergewonnene Sprechfähigkeit könnte schwinden.
»Böser Dieb«, schrie das Kind, noch immer voll Furcht und Schrecken. Es starrte David Danner nach, der eben mit langen Schritten den Wintergarten verließ.
Grit, die nichts von den Pferdediebstählen wusste, strich beruhigend über Anjas feuchte blonde Haare. »Nicht aufregen, mein Schatz. Du kannst wieder sprechen, ist das nicht wundervoll?«
Anja hörte nicht auf sie. »Er nimmt die Pferde mit«, schrie sie und bäumte sich auf. Ihr Gesichtchen glühte vor Erregung. Weit beugte sie sich nach vorn, als könnte ihr ausgestreckter Arm den Mann, hinter dem sich eben die Tür schloss, noch erreichen.
*
»Komm mit!« Nick fasste Pünktchen unsanft an der Hand und zog sie hinter sich her aus dem Wintergarten.
»Was willst du denn?«, fragte das Mädchen.
»Hast du nicht gehört, was Anja gesagt hat?« Nick rannte durch die Halle.
»Das hat sie aufgeschnappt, als Schwester Regine erzählte, dass Kranisch gestohlen wurde.« Pünktchen versuchte ihre Hand freizubekommen.
»Kann sie gar nicht, weil sie gestern nicht beim Abendbrot war. Frau Dr. Frey hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Mir kam das die ganze Zeit über schon so komisch vor. Jetzt weiß ich, warum.«
»Anja ist beim Spielen hingefallen«, meinte Pünktchen und dachte an das, was Frau Rennert ihnen erzählt hatte.
»Nicht beim Spielen«, brummte Nick. Diesmal waren die Falten über seiner Nasenwurzel sehr tief. »Sie ist auf der Flucht gestürzt.«
»Auf der Flucht?« Pünktchen rümpfte das Stupsnäschen.
»Sie muss den Pferdedieb gesehen haben«, behauptete Nick.
»Und jetzt …, und jetzt hat sie ihn wiedererkannt.« Pünktchen presste vor Schreck beide Hände auf den Mund.
»Der Schuft hat fest damit gerechnet, dass Anja ihn nicht verraten kann, weil sie ja stumm war.«
»Nick, was machen wir nur?« Pünktchen sah sich ängstlich um. Aber David Danner war bereits verschwunden.
»Ich habe Herrn Strasser draußen gesehen. Er muss uns helfen.«
»Und wenn …, wenn wir uns täuschen? Wenn alles ganz anders war?«
Nick seufzte laut. »Dann haben wir uns eben wieder blamiert. Aber wir müssen es wagen. Wenn dieser Millionär tatsächlich unsere Pferde geklaut hat, fährt er jetzt weg, um sie in Sicherheit zu bringen. Er muss doch nun damit rechnen, dass Anja noch mehr verrät.«
Nick lief aus dem Haus. Als er über den Parkplatz rannte, heulte der Motor von David Danners Wagen auf.
Der Polizist in der schmucken Uniform kam den beiden Kindern entgegen. Es war ihm ohnehin schon zu langweilig geworden, zwischen den Rosenbeeten im Park von Sophienlust auf und ab zu gehen. Die Unterhaltung mit Nick und Pünktchen würde eine willkommene Abwechslung für ihn sein. »Na, was macht die Schule?«, fragte er lachend.
»Sie müssen sofort dem amerikanischen Wagen nachfahren«, keuchte Nick, ohne auf Strassers Frage einzugehen.
»Und warum?« Hans Strasser ließ sich nicht so rasch aus der Ruhe bringen.
»Danner ist der Pferdedieb«, wisperte Pünktchen und fühlte, wie ihr eine Gänsehaut über den Körper rieselte.
»Dieser reiche Verlobte von Grit Möllendiek?« Hans wischte sich über die Stirn. Ein wenig eifersüchtig war er schon auf den bärtigen Millionär.
»Bitte, beeilen Sie sich doch«, drängte Nick und sah ungeduldig zum Tor, durch das Danners schwerer Wagen eben in beachtlichem Tempo auf die Straße hinausrollte. »Wir werden Ihnen später alles erklären.«
»Moment, Kinder. So einfach ist das nicht. Welchen Sinn soll es denn haben, wenn ich Danner jetzt nachfahre?«
»Er führt Sie bestimmt dorthin, wo er die Pferde versteckt hat.«
»Aber das geht leider nicht, weil ich in einer Stunde wieder im Revier sein muss. Mein Dienst beginnt. Außerdem wisst ihr doch, dass Polizeimeister Kirsch für diesen Fall zuständig ist. Ich darf nichts unternehmen.« Hans schüttelte den Kopf. So ganz konnte er das, was Nick und Pünktchen ihm erzählten, nicht glauben. Warum sollte ein Mann, der so reich war wie Grits Verlobter, Pferde stehlen?
»Wir rufen für Sie im Revier an und sagen, dass Sie verhindert sind und dass man Sie vertreten soll. Als Privatmann können Sie diesem Kerl doch nachfahren.« Die Worte sprudelten nur so von Nicks Lippen.
Noch zögerte Hans Strasser. »Wieso kommt ihr denn darauf, dass Danner …«, fragte er und zog die Stirn in Falten.
»… weil Anja ihn wiedererkannt hat«, unterbrach Pünktchen ihn.
»Er hat sie eingeschüchtert. Deshalb war sie gestern so verängstigt.« Nick ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte dem gemeinen Pferdedieb bittere Rache geschworen. Würde es möglich sein, ihn zu stellen?
Jetzt war Hans plötzlich hellwach. Obwohl Anja ihm nichts hatte erzählen können, hatte er am Tag zuvor doch gespürt, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste.
»Vor ihm hatte Anja so schreckliche Angst. Sie hat eben sogar geschrien«, berichtete Pünktchen.
»Geschrien? Mein Gott, dann kann sie ja wieder sprechen.« Hans Strasser setzte sich jetzt in Bewegung. Ihm war plötzlich klar, dass Nicks Vermutung nicht aus der Luft gegriffen sein konnte. Wenn etwas daran war an dieser Sache, dann war es sträflicher Leichtsinn, David Danner jetzt entkommen zu lassen. Wie er eben davongerast war, das hatte tatsächlich nach Flucht ausgesehen.
Hans Strasser lief so rasch zu seinem Kleinwagen, dass Nick und Pünktchen kaum zu folgen vermochten. »Drückt mir die Daumen«, schrie er zurück und startete im nächsten Moment.
Natürlich war sich Hans Strasser klar darüber, dass er mit seinem leichten Fahrzeug Danners schnellen Wagen nicht mehr einholen würde. Doch er kannte einige Abkürzungen, die ihm Vorteile verschaffen konnten.
*
Hans Strasser nickte zufrieden, als der protzige amerikanische Wagen auf der nahen Landstraße an ihm vorbeibrauste. Sofort startete er seinen Kleinwagen und bog aus dem Feldweg heraus, auf dem er im Schutz einiger Bäume gewartet hatte.
Da die Fahrt gleich darauf durch die Stadt ging, war es für ihn nicht schwierig, dicht hinter David Danner zu bleiben. Doch als er an einer Ampel warten musste, schweiften seine Gedanken ab. Er dachte an die zauberhafte Grit. Für ihn war sie fast so etwas wie eine Märchengestalt. Niemals hätte er geglaubt, dass es ein Mädchen geben könnte, das seiner Idealvorstellung von einer Frau so vollkommen entsprach.
Doch Grit Möllendiek gehörte zu dem Mann, den er verfolgte. War dieser tatsächlich ein Dieb, wie Nick und Pünktchen behaupteten? Wusste Grit davon? Nein, das war ganz unmöglich. Wenn David Danner krumme Sachen drehte, dann hatte die silberblonde Grit davon bestimmt keine Ahnung. Sie war ein Mensch, der nichts Böses, nichts Falsches tun konnte.
Die Ampel wechselte, hinter Hans Strasser hupte bereits ein ungeduldiger Fahrer. Du liebe Zeit, träumte er mit offenen Augen? Was war denn los mit ihm?
Hans Strasser beeilte sich, über die Kreuzung zu kommen. Längst war David Danner nicht mehr vor ihm. Der junge Polizist konnte nur ahnen, welche Route er genommen hatte.
Hans Strasser presste die Lippen zusammen. Er war ärgerlich auf sich selbst. Durch seine albernen Träumereien hatte er Danners Spur verloren. Einem Polizeibeamten durfte so etwas eigentlich nicht passieren. Nick würde sehr enttäuscht sein, wenn er davon erfahren würde.
Stur fuhr Hans Strasser weiter. Er verließ die Stadt und behielt die nördliche Richtung bei. Ob er mit seiner Vermutung recht hatte, wusste er nicht. Zu dumm, dass er sich heute nicht konzentrieren konnte. Immer wieder brachte die silberblonde Grit all seine Überlegungen durcheinander. Es war ihm klar, dass er sich unsterblich verliebt hatte. Verliebt in ein Mädchen, das für ihn unerreichbar bleiben würde.
Wozu fuhr er eigentlich weiter? Der große amerikanische Wagen war und blieb verschwunden. War es nicht klüger, zurückzufahren und seinen Dienst anzutreten?
Hans Strasser trat plötzlich hart auf die Bremse. Denn dicht vor ihm gingen die rotweißen Schranken eines Bahnübergangs nieder. Auch das noch! Die Wartezeit dauerte hier mindestens fünf Minuten. Damit schwand die Hoffnung, Danner noch einmal einzuholen, fast völlig. War es nicht klüger, gleich zu wenden?
Hans sah in den Rückspiegel. Hinter ihm hielt eben ein Lieferwagen. Um noch weiter zurückschauen zu können, lehnte er sich jetzt aus dem Fenster. Sogleich erkannte er den Fahrer des Lieferwagens. Dieser trug zwar eine große Sonnenbrille, aber trotzdem wusste Hans Strasser, dass es sich um David Danner handelte. Wie kam dieser hierher? War er in der Stadt in den Lieferwagen umgestiegen und hatte seinen amerikanischen Superschlitten abgestellt?
Die Gedanken des Polizisten überstürzten sich. Er wusste, dass er nur wenige Minuten Zeit hatte. In dem Augenblick, da die Schranken hochgehen würden, würde David Danner davonfahren. Möglicherweise würde auch der Lieferwagen schneller fahren als sein kleines Auto. Was sollte er tun? Er musste Danner irgendwie am Weiterfahren hindern. Aber wie?
Hans Strasser stieg aus und ging um seinen eigenen Wagen herum. Möglichst wenig beachtete er den Lieferwagen. Sollte Danner ruhig glauben, dass er ihn nicht erkannt habe. Langsam ging er dann an der Straße entlang. Drang nicht ein dumpfes Poltern aus dem geschlossenen Kasten? War da nicht ein Schnauben wie von Pferden?
Das Herz des Polizisten klopfte rascher. Hatten die Kinder von Sophienlust doch recht gehabt? War David Danner tatsächlich der Pferdedieb?
Ein ängstliches Wiehern beseitigte auch die letzten Zweifel von Hans Strasser. Er sah an sich herab. Er trug noch die Polizeiuniform, obwohl er im Moment nicht im Dienst war. Aber das konnte David Danner ja nicht wissen. Er musste ihn täuschen. Würde es gelingen?
Hans Strasser trat an den Wagen und klopfte ans Fenster. »Dürfte ich Ihre Papiere sehen?«, fragte er so sachlich, wie er es Tag für Tag tat. Die Augen Danners suchten blitzschnell nach einem Fluchtweg. Doch noch war die Schranke geschlossen. Außerdem hielt der Kleinwagen vor ihm. Auch hinter ihm hatte sich bereits eine Fahrzeugkolonne gebildet. Seitenwege gab es nicht. Die Landstraße war zu einer Falle geworden.
»Warum denn das?«, fauchte er und kurbelte das Fenster herunter.
»Verkehrskontrolle«, antwortete Hans. Verlangend hielt er Danner die Hand entgegen.
»Muss das denn sein?« David tat, als suche er nach den Papieren. »Warum kontrollieren Sie nicht zuerst die anderen?«, fragte er, denn gerade fuhr der Zug durch. In wenigen Sekunden schon würde die Schranke geöffnet sein.
»Würden Sie mir bitte …«
»Kennen wir uns nicht?«, fragte David Danner plötzlich. Um den Polizeibeamten abzulenken, war ihm jedes Mittel recht. »Ja, natürlich. Wir haben uns doch in Sophienlust gesehen. Na, dann ist die Kontrolle ja erledigt. Alte Bekannte werden einander doch keine Schwierigkeiten machen.«
»Schwierigkeiten?« Hans sah den Bärtigen vielsagend an.
»Im Vertrauen gesagt, ich habe es eilig. Sehr eilig sogar.«
»Sobald ich die Papiere überprüft habe, können Sie starten.« Heimlich wünschte sich Strasser, dass noch ein Gegenzug kommen möge, damit er etwas mehr Zeit habe.
»Moment, ich weiß noch gar nicht, wo …« David unterdrückte einen Fluch. Wann würde endlich die verdammte Schranke hochgehen?
»Was haben Sie geladen?«, fragte Hans Strasser so harmlos, als handele es sich um eine routinemäßige Überprüfung.
»Obst«, antwortete Danner. »Ich komme vom Großmarkt und will nach …«
»Haben Sie eine Genehmigung?«
»Ich wusste gar nicht, dass man so etwas braucht.«
»Für Tiertransporte ja.« Strassers Gesicht war undurchdringlich.
»Tiertransporte? Wie kommen Sie denn darauf?« Wie gebannt blickte David auf die Schranke. Sobald sie sich aufwärts bewegen würde, wollte er blitzartig starten.
»Weil der Großmarkt um acht Uhr morgens schließt. Deshalb ist unwahrscheinlich, dass verderbliche Ware erst nachmittags verladen wird.«
»Das ist schließlich meine Sache«, knurrte David unfreundlich.
Im gleichen Augenblick hörte man ein lautes, durchdringendes Wiehern.
»Also doch ein Tiertransport«, meinte Hans zufrieden. »Würden Sie bitte den Laderaum öffnen?«
»Nein«, keuchte David. Er war entschlossen, sich dieses Geschäft nicht verderben zu lassen. Eben bewegten sich die Schranken. Er trat die Kupplung, legte den Gang ein und gab Gas. Hans Strasser konnte sich eben noch durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen.
Doch was war das? Mit hoher Geschwindigkeit raste eben ein Polizeiwagen an ihm vorbei und kam unmittelbar neben seinem Kleinwagen zum Stehen. David, der wegen des einsetzenden Gegenverkehrs nicht ausweichen konnte, musste anhalten.
»Sie haben Ihren Wagen, amerikanisches Fabrikat, in der Stadt so verkehrswidrig geparkt, dass er zu einem Hindernis geworden ist. Deshalb sind wir Ihnen nachgefahren. Es ist nötig, dass Sie sofort umkehren.« Strassers Kollegen legten grüßend die Hand an die Mütze.
»Verdammte Schweinerei«, schimpfte Danner und sah ein, dass es keinen Sinn hatte, jetzt noch zu fliehen. Außerdem hielt nun ein weiteres Polizeiauto am Straßenrand. Polizeimeister Kirsch, begleitet von zwei Helfern, stieg aus. Er interessierte sich ausschließlich für die Ladung des Lieferwagens.
»Donnerwetter, heute hat Nick aber ganze Arbeit geleistet«, murmelte Hans.
»Die Pferde sind mein Eigentum«, behauptete David Danner. Nur widerwillig schloss er die Türen des Kastenwagens auf.
»Das werden Sie beweisen müssen.«
Polizeimeister Kirsch wich ein wenig zurück. Denn das, was er sah, hätte jeden Tierfreund erschreckt. Auf engem Raum waren vier edle Pferde zusammengepfercht. Die Tiere wirkten mager und müde.
»Ich fürchte, Sie werden sich nicht nur wegen schweren Diebstahls, sondern auch wegen Tierquälerei zu verantworten haben«, sagte Polizeimeister Kirsch. »Sie müssen die Pferde halb betäubt haben, um sie in diesen engen Käfig zu bringen.« Die Augen des Polizeimeisters blitzten zornig auf. »Wahrscheinlich hätten Sie sie ohnehin nicht lebendig nach Schweden gebracht.«
»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich …«, meinte Danner verblüfft.
»Es gibt da einen Jungen, der sehr gut aufgepasst hat.«
»Nick?«, erkundigte sich Hans Strasser respektvoll.
»Er hat die Anzeigen in den Fachzeitschriften verfolgt. In Schweden zahlt man momentan für Zuchtpferde die höchsten Preise.«
*
»Vati, bist du böse, dass ich das Polizeirevier in Wildmoos angerufen habe?«, fragte der große dunkelhaarige Junge zerknirscht. In seinem begreiflichen Eifer war ihm zunächst gar nicht bewusst geworden, dass er etwas getan hatte, was Alexander von Schoenecker ihm ausdrücklich verboten hatte. Doch jetzt plagte ihn das schlechte Gewissen. Denn mit seinem Vati wollte er es sich doch auf gar keinen Fall verderben.
»Da deine Aktion so erfolgreich war, kann ich dir ja nicht böse sein«, antwortete Alexander schmunzelnd.
»Weißt du, ich hätte dich ja zuerst gefragt, aber du warst doch oben bei der Koppel, und da ist kein Telefon. Dich zu rufen, das hätte viel zu lange gedauert.«
»Das sehe ich ein.« Alexander nickte zufrieden. »Ich muss mich langsam daran gewöhnen, dass du erwachsen und selbstständig wirst. Ich bin sehr stolz auf dich, Nick.«
»Wirklich?«
Der Junge lief rot an und bekam glühend heiße Ohren. Es kam nicht oft vor, dass sein Vati ein so großzügiges Lob verteilte. Aber wenn es geschah, war es ernst gemeint. »Trotz der Sache am Waldrand?«
»Das ist längst vergessen. Es weiß niemand davon. Also brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Kameradschaftlich legte Alexander dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Wie war eigentlich die Sache mit Herrn Strasser?«, erkundigte er sich, da er noch lange nicht alles wusste, weil er zunächst eigenhändig die zurückgebrachten Pferde versorgt hatte.
»Herr Strasser?« Nick machte ein Gesicht, als fielen ihm alle Todsünden ein. »Er war gerade zu Besuch in Sophienlust, weil er einige Stunden dienstfrei hatte. Ja, und da habe ich ihm von Danner und Anja erzählt. Pünktchen war auch dabei. Wir …, wir haben gemeint, dass David Danner verdächtig wäre.« Nick stieß hörbar die Luft aus.
»Daraufhin ist Herr Strasser sofort losgebraust?«, fragte der Gutsherr mit gespieltem Ernst.
Nick legte den Kopf schief und blinzelte ihn prüfend an. »Weißt du, Vati, ich glaube, Danner war ihm auch nicht sympathisch. Weil …, ja, weil ihm Anjas Tante gefällt und weil sie doch mit Danner verlobt ist.«
Alexander von Schoenecker fuhr sich seufzend über die Stirn. »Woher weißt du denn das schon wieder?«
Nick grinste nach Lausbubenart. »Vati, so etwas sieht man doch.«
»Du vielleicht. Weil du ständig damit rechnest, dass es in Sophienlust wieder einmal eine Hochzeit gibt. Du bist unverbesserlich.«
»Diesmal stimmt’s wirklich, Vati.« Leicht beleidigt schob Nick die Unterlippe vor. »Sind eigentlich Farka und Florina wieder munter?«, fragte er, um das verfängliche Thema abzutun.
»In einigen Tagen werden sie die Strapazen überwunden haben. Aber es war höchste Zeit, dass sie aus ihrem Gefängnis befreit wurden.«
»Haben sie denn die ganze Zeit in diesem Lieferwagen gestanden?«
»Die Polizei hat festgestellt, dass man die Tiere in einer Garage mitten in der Stadt untergebracht hatte. Damit sie sich ruhig verhielten, hat man ihnen Beruhigungs- und Schlafmittel gespritzt.«
»So eine Gemeinheit«, empörte sich Nick. »Und wie hat man sie überhaupt von der Koppel geholt?«
»Das hätten wir vielleicht nie erfahren, wenn Anja nicht wieder reden könnte. Danner hat den Tieren Kunststoffklötze über die Hufe gestülpt und ist mit ihnen durch den Wald geritten. Auf der anderen Seite des Tales hatte er seinen Lieferwagen stehen. Er brauchte noch nicht einmal einen Helfer.«
Nick zog die Stirn in viele Falten. »Er ist quer durch den Wald geritten? Über Stock und Stein?« Ungläubig sah er seinen Vati an.
»Niemand, der Pferde auch nur ein bisschen mag, würde so etwas tun. Denn die Gefahr, dass sie stürzen, ist viel zu groß. Danner scheint das nichts ausgemacht zu haben. Er nimmt auf Menschen keine Rücksicht und noch viel weniger auf Tiere.«
»Er ist ein Schuft«, empörte sich der Junge. »Wir müssen froh sein, dass er Glück gehabt hat und nichts passiert ist.«
Denise von Schoenecker, die eben die Halle von Schoeneich betrat, ahnte sofort, um was es bei diesem Gespräch ging. Auf Gut Schoeneich und in Sophienlust gab es an diesem Abend nur ein einziges Thema: Der Pferdedieb.
Leichtfüßig eilte Denise zu ihrem Mann und zu dem großen Sohn, die beide am Fenster standen und sie noch gar nicht bemerkt hatten. »Anja schläft«, berichtete sie leise. »Nur die übrigen Kinder denken gar nicht daran, sich zur Ruhe zu begeben.«
»Was sagen sie?«, fragte Nick interessiert.
»Sie bewundern dich.« Denise lächelte charmant. Natürlich war sie stolz auf ihren Sohn, wenn sie das auch nicht so offen zum Ausdruck brachte.
»Pünktchen auch?« Nick ärgerte sich, dass er dabei rot wurde.
»Pünktchen am allermeisten«, berichtete Denise wahrheitsgemäß und lehnte sich sanft an ihren Mann. »Es tut mir leid, dass Danner Anjas wegen nach Schoeneich kam«, sagte sie leise.
Alexander legte zärtlich den Arm um Denises Schultern. »Es war gut so. Denn ich habe das Gefühl, dass Danner noch wegen anderer Gaunereien gesucht wird. Vielleicht hätte man ihn nie erwischt, wenn er nicht diesen tolldreisten Diebstahl verübt hätte.«
»Grit Möllendiek ist mit Herrn Strasser in die Stadt gefahren, da man dringend ihre Aussagen braucht.« Denise seufzte. Das war wieder einmal ein wirklich aufregender Tag gewesen.
»Auch für sie war es gut«, sagte Alexander leise. »Beinahe wäre sie ahnungslos ins Verhängnis geschlittert.«
»Ist es nicht sonderbar, dass durch Anja zwei Paare auseinandergekommen sind?« Denise sah ein wenig ratlos auf ihren Mann.
»Beide haben nicht zueinandergepasst. Also war es ein Glück.« Alexander machte eine kleine Pause und meinte dann geheimnisvoll: »Vielleicht gibt es bald ein neues Paar.«
»An wen denkst du?« Für Denise hatte es an diesem Tag so viel Arbeit gegeben, dass sie gar keine Zeit gehabt hatte, über solche Dinge nachzugrübeln.
»Nick hat da eine Andeutung gemacht, und du weißt ja, dass er ein recht sicheres Gefühl für romantische Begebenheiten hat.« Alexander schmunzelte.
»Manchmal glaube ich, er weiß es eher als die Betroffenen selbst.«
»In diesem Fall ganz bestimmt.«
»Denkt ihr an Hans Strasser und Grit Möllendiek?«, fragte Denise verwundert.
»Kluge kleine Frau«, flüsterte Alexander.
»Für Anja wäre es ein Segen. Aber ich weiß nicht …« Denise machte ein besorgtes Gesicht.
»Abwarten!« Der Gutsherr schmunzelte. »Was hältst du davon, wenn wir noch ein Gläschen Wein miteinander trinken? Immerhin haben wir etwas zu feiern.«
»Einverstanden.«
Denises ausdrucksvolle Augen strahlten. Die schlimmsten Sorgen der letzten Wochen waren nun von ihr genommen.
*
Wie ein gefangenes Tier lief David Danner im Sprechzimmer des Untersuchungsgefängnisses auf und ab. »Sie müssen mich freilassen!«, forderte er. »Sie haben keinerlei Beweise.«
»Ich glaube, du hast dich immer zu sicher gefühlt«, meinte Grit leise. Es hatte sie Überwindung gekostet, dem Vorschlag des Kommissars zu folgen und David hier zu besuchen.
»Wie meinst du das?«, fragte er lauernd. Unsicher sah er zu dem Beamten hinüber, der scheinbar unbeteiligt am Tisch saß.
»Es ist nicht das erste Mal, dass du versuchst, gestohlenes Gut zu verkaufen. Du hast es mit Gemälden und Teppichen, und sogar mit Schmuck, probiert.«
David lachte bitter auf. »Bist du der Staatsanwalt? Wer hat dir denn diese Märchen aufgeschwatzt? Kein Wort daran ist wahr.«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn du jetzt endlich aufrichtig sein würdest.« Grit sah bedrückt zu Boden. Das, was sie auf dem Polizeirevier erfahren hatte, war noch viel schlimmer als das, was sie vermutet hatte. David Danner war kein kleiner Gauner. Er war ein seit langem gesuchter Schwindler, Betrüger und Räuber.
Grit konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie ausgerechnet diesen Mann geliebt hatte. In ihrer Unerfahrenheit hatte sie sich von ihm belügen lassen. Doch das war endgültig vorbei. Die Liebe zu David existierte nicht mehr.
»Ich bin immer aufrichtig.« David klopfte sich selbstgefällig an die Brust. Ganz nah trat er dann an Grit heran und zischte leise: »Nimm die Kassette aus meinem Schreibtisch. Die Bullen werden mein Haus durchsuchen. Bei dir werden sie nichts vermuten.«
»Ist das so wichtig?« Grit war unheimlich ruhig. Seit sie wusste, was sich in dieser Kassette befand, glaubte sie David kein Wort mehr.
»Frag doch nicht lange, Grit. Behalte sie, bis ich hier herauskomme. Das tust du doch für mich? Schließlich sind wir verlobt.«
»Hast du noch nicht daran gedacht, dass ich die Verlobung unter diesen Umständen lösen werde?«
»Nur weil ich durch falsche Anschuldigungen in Untersuchungshaft gekommen bin? Aber das ist doch kein Grund, die Verlobung zu lösen. Es wird sich alles aufklären. Man wird mir eine Entschädigung zahlen müssen.«
»Nein, weil du mich belogen hast.« Unwiderruflich klangen diese Worte. So bestimmt, dass David nicht einmal zu widersprechen wagte.
»Notlügen …, nichts als Notlügen«, stammelte er schwer atmend. »Wenn ich hier herauskomme, ist alles wieder in Ordnung. Dann machen wir zuerst einige Wochen Ferien, und dann ist Hochzeit.«
Grit schüttelte sehr entschieden den Kopf. »Daraus wird nichts. Ich kann keinen Mann heiraten, der fragwürdige Geschäfte betreibt. Außerdem werde ich Anja zu mir nehmen, und das würde dir ohnehin nicht gefallen.«
»Die kleine Verrückte? Aber das ist doch …« David schnappte nach Luft.
»Anja ist ein völlig normales Kind. Vielleicht wird sie noch einige Zeit unter den Nachwirkungen des Schocks leiden, aber bei liebevoller Behandlung werden auch diese vergehen.«
»Muss ich das so verstehen, dass wir uns nie mehr wiedersehen?« David stemmte die Arme in die Seiten und schaute Grit verwundert an.
»Ja«, antwortete das silberblonde Mädchen kurz.
»Hast du dir auch schon überlegt, wovon du leben willst mit deiner Nichte?«
»Ich wollte dich bitten, mir mein Erbteil zurückzugeben.«
Danner grinste spöttisch. »Wolltest du!«
»Du hast mir doch erzählt, dass du alles in deine Firma gesteckt hättest. Es muss doch möglich sein, dass du einen anderen Kredit aufnimmst und mir das Geld zurückgibst.« Grit glaubte allerdings selbst nicht an diese Möglichkeit. Ihr war richtig bange vor dem, was David antworten würde.
»Meine Firma«, krächzte David wie im Rausch, »war die Spielbank. Dort kann man über Nacht ein reicher Mann werden. Ich habe manchmal Glück gehabt. Aber dann setzte die Pechsträhne ein. Ich verlor alles.«
»Du hast alles verspielt?« Grit schluckte mehrmals. Wie dumm war sie gewesen, als sie diesem Mann ihr Vermögen anvertraut hatte. Anja und sie hätten von den Zinsen dieses Geldes sorglos leben können. Und jetzt?
»Warum hast du mich in dem Glauben gelassen, das Geld wäre gut angelegt?«
»War es doch auch. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass ich es eines Tages zurückgewinne. Du musst nur etwas Geduld haben, Schätzchen.«
»Nenne mich nicht so«, wehrte sich Grit. Die Enttäuschung lag wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Davids Nähe wurde ihr mit jeder Minute unerträglicher.
»Je eher ich hier herauskomme, umso rascher kann ich mein Glück auf der Spielbank versuchen. Es liegt auch an dir.«
»Ich habe keinerlei Einfluss darauf.«
»Da täuschst du dich. Wenn du die Kassette verschwinden lässt und sagst, dass ich gestern den ganzen Tag bei dir war …« David äugte vorsichtig zu dem Beamten hinüber. Eigentlich konnte dieser nichts verstanden haben, denn er hatte nur flüsternd gesprochen.
»Wir werden uns trennen«, sagte Grit, ohne auf Davids Vorschlag einzugehen.
»Aber ich liebe dich doch.«
Grit lächelte schmerzlich. »Du hast nur mein Geld geliebt, und du bist bei mir geblieben, weil du darauf spekuliert hast, noch mehr zu bekommen. Fast wäre es dir gelungen. Wenn Anja nicht gewesen wäre …«
»Welcher Mensch ist ohne Schwächen«, murmelte David theatralisch. »Du solltest nicht so nachtragend sein. Ich liebe dich wirklich. Was glaubst du, weshalb ich das alles getan habe?« Erschrocken hielt er inne. Hatte der Beamte gelauscht? Hatte er sich eben selbst verraten?
»Ich muss gehen. Tut mir leid, dass ich deine Wünsche nicht erfüllen kann. Es hätte ohnehin keinen Sinn, weil die Polizei nämlich längst von dem Rauschgift in der Kassette weiß.« Grit wandte sich zum Gehen.
»Schweinerei«, zischte David hinter ihr.
*
Anja hüpfte fröhlich und unbekümmert zwischen Grit und Hans Strasser über die Spazierwege in der Umgebung von Sophienlust. Leise trällerte sie ein Lied vor sich hin. Erstaunlich rasch hatte sie sich damit abgefunden, dass sie wieder sprechen konnte. Inzwischen gingen ihr die Worte flüssig und leicht von den Lippen. Kein Fremder hätte geahnt, dass das kleine Mädchen noch vor zwei Tagen so schwer behindert war.
»Gibt es etwas Neues aus dem Untersuchungsgefängnis?«, fragte Grit leise. Sie hatte kein Mitleid mit David Danner, doch die ganze Sache beschäftigte sie natürlich.
»Nichts Erfreuliches«, antwortete Hans Strasser bedrückt. Er hatte in Zusammenhang mit der Aufklärung des Pferdediebstahls in Schoeneich zu tun gehabt und dann in Sophienlust vorbeigeschaut, um Denise von Schoenecker Bescheid zu sagen. Dass er Grit und Anja im Park treffen würde, das hatte er nicht zu hoffen gewagt. Das kleine Mädchen war ihm sofort entgegengelaufen und hatte gebettelt: »Machst du einen Spaziergang mit uns, Onkel Hans?« Da er gerade dienstfrei hatte, hatte er gern eingewilligt.
»David Danner war der Chef einer Schmugglerbande, die vor einigen Monaten aufgeflogen ist. Man hatte damals alle Mitglieder geschnappt, nur den Boss nicht. Er war so gut getarnt, dass keinerlei Verdacht auf ihn gefallen war. In den letzten Wochen muss er versucht haben, seine Organisation neu aufzubauen. Aber das scheint nicht so richtig geklappt zu haben. Die Lieferanten in Schweden waren gewarnt und wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Deshalb kam er so oft nach Schweden. Dadurch haben wir uns kennengelernt«, bekannte Grit zerknirscht. »Ich wollte, ich hätte ihn nie getroffen.«
»Ich kann Sie gut verstehen, Frau Möllendiek.« Voll Bewunderung sah Hans auf das silberblonde Mädchen an seiner Seite. Noch war Grit blass, aber unverändert tiefblau leuchteten ihre schönen Augen. Sie trug einen hellen Rock, der wie eine duftige Wolke um ihre hübschen Beine pendelte. Die schmale Taille zierte ein breiter Ledergürtel. Die Bluse mit den zarten Spitzen und den verspielten Rüschen passte ausgezeichnet zu der schlanken Grit. Weich und glänzend fiel das wundervolle Haar auf ihre Schultern.
Hans hatte den fast unbezwingbaren Wunsch, dieses Haar einmal zu berühren, einmal darüber zu streicheln. Doch er fuhr fort: »David Danner sah gut aus, war ein Mann von Welt und bei den Damen sehr begehrt. Er hatte alles, was jungen Mädchen imponierte. Ein selbstbewusstes Auftreten, Geld in Hülle und Fülle und die Manieren eines Don Juan.« Hans biss sich auf die Lippen. Es war ihm bewusst, dass er mit all dem nicht dienen konnte. Er hatte nur sein kleines Gehalt und war kein Charmeur.
»Ich möchte gar nicht mehr daran denken«, antwortete Grit gequält. »Wie hoch wird seine Strafe sein?«, fragte sie leise.
»Das wird die Verhandlung ergeben. Allgemein wird mit einer harten Strafe gerechnet. Danners Haus und sein Wagen werden versteigert.«
»Und der Erlös?«, fragte Grit rasch.
»Reicht noch nicht einmal aus, um seine zahlreichen Gläubiger zu befriedigen.«
»Schulden hat er auch?«, fragte Grit überrascht.
»Mehr, als man sich vorstellen kann. Weder das Haus noch der Wagen waren bezahlt. Danner hat es offensichtlich verstanden, seine Gläubiger immer wieder hinzuhalten.« Hans seufzte. »Es sind leider keine guten Nachrichten, die ich Ihnen bringe, Frau Möllendiek. Es tut mir leid.«
»Aber Sie können ja nichts dafür.« Grit war richtig froh, mit Hans Strasser über alles sprechen zu können. Er war ein Mann, der für jede Situation Verständnis hatte, der tröstete, ohne aufdringlich zu werden. Er war ein Mann, zu dem man Vertrauen haben konnte.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Hans interessiert. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er Anja beobachtete, die jauchzend auf dem Weg voraushüpfte. Hier und dort pflückte sie ein Blümchen.
»Frau von Schoenecker hat mir angeboten, einige Tage in Sophienlust zu bleiben, weil ich eventuell noch einmal aussagen muss. Ich habe dieses Angebot dankbar angenommen. Schon Anja zuliebe. Es wird gut sein, wenn sie noch einige Tage bei ihren vielen kleinen Freunden bleiben darf.«
»Und danach?«, erkundigte sich Hans ängstlich.
»Es bleibt mir nichts anderes übrig, als nach Schweden zurückzukehren. Vielleicht kann ich dort halbtags in der Fabrik arbeiten, die meinen Eltern gehörte. In meiner Heimat werde ich auch eher jemanden finden, der bereit ist, währenddessen Anja zu betreuen. Eigentlich wäre ich recht gern hier geblieben. Denn ich liebe dieses Land.«
Das Herz von Hans Strasser klopfte laut und stürmisch. »Was Sie da sagen, ist für mich sehr schmerzlich. Denn es bedeutet, dass wir bald Abschied voneinander nehmen müssen. Das wird mir sehr schwerfallen.«
»Ich weiß«, antwortete Grit, ohne aufzusehen. »Sie haben Anja sehr gern.«
»Nicht nur Anja«, sagte er und wunderte sich, woher er den Mut zu diesem Geständnis nahm. »Ich liebe Sie, Grit. Ich möchte Ihnen so gern helfen, die schlimme Enttäuschung zu überwinden. Ich möchte, dass Sie wieder froh sind, dass Sie lachen und vergessen, was hinter Ihnen liegt. Ich möchte Sie glücklich machen. Das ist mein größter Wunsch.«
Hans Strasser wusste, dass es diesmal die große, die ganz große Liebe war. Sie entzündete sich nicht an Grits Schönheit, sondern an dem Menschen selbst, an seinem Charakter.
»Ich werde Sie ewig lieben, Grit«, raunte er. »Auch dann, wenn sich unsere Wege trennen sollten. Ich werde Sie lieben, auch wenn Sie krank werden sollten, auch wenn Sie eines Tages alt sein werden. Nicht die Zeit und keine äußeren Einflüsse werden dieses übermächtige Gefühl abschwächen können. Mir ist, als hätte ich endlich den Menschen gefunden, der mir vom Schicksal bestimmt ist. Den Menschen, dem ich freudig alles geben möchte, was in meiner Kraft steht.« Hans atmete schwer. »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, Ihnen all das zu sagen. Ich bin nicht der Mann, der zu Ihnen passt. Ich bin nur ein kleiner Beamter, der nicht nach den Sternen greifen sollte. Außerdem kennen wir uns erst kurze Zeit. Ich hätte ja auch nicht davon angefangen, wenn ich nicht befürchten müsste, dass Sie bald abreisen, Grit.«
Das junge Mädchen blinzelte in die rotgoldenen Sonnenstrahlen, die schräg durch die Zweige der Bäume fielen. Hatte es nicht schon mehrmals daran gedacht, dass es wunderschön sein müsste, sich der Führung eines Mannes anvertrauen zu können, der so grundehrlich, so aufrichtig und vertrauenswürdig war wie Hans Strasser? Er besaß all jene Eigenschaften, die Grit an David Danner schmerzlich vermisst hatte. Was waren dagegen schon Reichtum und Protzerei?
»Mitgefühl und echte Zuneigung haben nichts mit Geld zu tun«, antwortete Grit fast fröhlich. »Sie sind viel kostbarer als alle Schätze dieser Erde. Ich mag Sie, Hans. Sie haben mir sofort gefallen. Nicht, weil ich momentan in einer schwierigen Lage bin, sondern weil es Menschen wie Sie nur selten gibt. Menschen, die fähig sind, selbstlos zu lieben. Sie haben es bei Anja bewiesen, Hans. Ich bewundere Sie.«
»Sie könnten sich also denken, dass wir …, dass Sie und ich …« Hans Strasser geriet vor lauter Aufregung ins Stammeln und kam nicht weiter.
»Ich könnte mir vorstellen, dass wir ein glückliches Leben zu dritt führen.« Grit lächelte charmant und sah dabei so süß aus, dass Hans noch verwirrter wurde.
»Anja gehört natürlich zu uns. Sie lieben Anja, ich liebe sie. Das Kind würde in unserem Leben die Hauptrolle spielen.« Hans bohrte die Fingernägel ins Fleisch seiner Handflächen. Was redete er nur für einen Unsinn? Warum nahm er die zauberhafte Grit nicht einfach in die Arme? Warum hatte er nicht den Mut, den lockenden roten Mund zu küssen?
»Ich bin sehr glücklich darüber, dass Sie das sagen«, meinte Grit ernst. Sie war ausgesprochen froh, dass Hans ihr Zeit ließ, die Überraschung zu überwinden. Solche Rücksicht hatte David Danner nie gekannt. Deshalb hatte sie sich auch immer ein wenig vor ihm gefürchtet.
»Das mit Danner«, forschte Hans vorsichtig, »tut es noch sehr weh?«
Grit schüttelte temperamentvoll den Kopf. »Es war schon zuvor alles zu Ende. Es war enttäuschend, aber weh … hat es eigentlich nicht getan. Dazu war die Beziehung zu oberflächlich. Ich glaubte verliebt zu sein und war doch nur geblendet von einem Schwätzer und Schöntuer. Heute bereue ich sehr, dass ich nicht auf die Warnung meines Bruders gehört habe. Er hat das alles vorausgesehen.«
Tröstend griff Hans nach der schmalen Hand seiner Begleiterin und strich zart über Grits Finger. »Werden Sie jemals wieder einem Mann voll vertrauen können, Grit? Nach allem, was man Ihnen angetan hat?«
»Ich glaube, ich habe eine Menge dabei gelernt«, antwortete die junge Frau nachdenklich. »Ich kann jetzt unterscheiden zwischen Heuchlern und Menschen, die es ehrlich meinen. Sie, Hans, gehören zu der letzten Gruppe. Ihnen vertraue ich.«
Aufmerksam sah Grit in die Augen des Mannes. Sein Blick faszinierte sie. Immer langsamer wurden ihre Schritte. Es war, als ob sie in diesen gütigen braunen Augen eine ganz neue Welt entdeckte. Eine Welt ohne glitzernden Flimmer und künstliches Licht. Eine Welt der Ruhe, der Geborgenheit und des Glücks.
Wie unter einem geheimen Zwang blieb Grit stehen. Sie sehnte sich danach, von Hans in die Arme genommen zu werden, seinen Mund auf ihren Lippen zu spüren.
Hans empfand ähnlich. Der Wunsch, Grit möglichst nahe zu sein, war so übermächtig in ihm, dass er ihn nicht länger unterdrücken konnte. Er las in Grits blauen Augen, dass sie ihn gern hatte. Ein nie gekanntes Glücksgefühl beherrschte ihn plötzlich, behutsam und doch innig zog er das geliebte Mädchen an sich.
»Wie schön du bist«, flüsterte er andächtig. »Wie wunderschön …« Fast schüchtern berührte er das duftige silberblonde Haar, fuhr über die zarten Wangen.
Grit hielt ganz still. Es war ein riesiger Unterschied zwischen Davids temperamentvollen Umarmungen und der zarten, behutsamen Liebe, die Hans ihr entgegenbrachte.
»Noch nie war jemand so lieb zu mir«, flüsterte sie glücklich.
»Das ist erst der Anfang. Unsere Liebe wird wachsen und von Jahr zu Jahr größer und schöner werden, weil sie nicht auf Äußerlichkeiten beruht, Grit, sondern aus dem Herzen kommt. Wir werden sehr, sehr glücklich sein. Willst du meine Frau werden, Grit? Ich kann dir nicht so viel bieten wie Danner. Aber ich werde dir Treue beweisen, ein ganzes Leben lang.«
»Ich will«, flüsterte sie lächelnd. »Weißt du nicht, dass Reichtum nichts mit Glück zu tun hat? Auch wenn unser Heim bescheiden sein wird, wird doch das Glück darin wohnen. Ist das nicht viel, viel mehr wert als aller Luxus?«
Hans zog die schlanke Grit noch inniger an sich. Voll Zärtlichkeit legte er seinen Mund auf ihre Lippen und küsste sie unendlich liebevoll.
Erst jetzt hatte Anja bemerkt, dass das Paar stehen geblieben war. Temperamentvoll drehte sie sich um und lief den Weg zurück. Etwa zwei Meter vor Hans und Grit blieb sie stehen und legte das Köpfchen schief. Was dieser Kuss, den die beiden tauschten, zu bedeuten hatte, ahnte sie sofort. Hatte Nick nicht am Frühstückstisch getuschelt, dass es bald eine Hochzeit auf Sophienlust geben würde? Erst jetzt begriff Anja, was er damit gemeint hatte.
»Zur Verlobung«, schrie Anja und hielt Hans und Grit ihr Sträußchen entgegen.
Ein wenig erschrocken fuhren die beiden auseinander. Im Überschwang der Gefühle hatten sie Anja ganz vergessen. Jetzt blinzelten sie überrascht in das lachende Kindergesicht.
»Woher weißt du denn …«, stammelte Grit, die sich als Erste wieder gefasst hatte.
»Weil ihr euch geküsst habt«, erklärte Anja altklug. »Nick sagt, das macht man bei jeder Verlobung.«
Hans nickte strahlend. »Komm mal her, Anja«, bat er leise. »Wir haben eben beschlossen, recht bald zu heiraten. Und dich wollen wir als unser Töchterchen adoptieren. Was hältst du davon?«
Anjas hübsches Gesichtchen wurde ernst. »Brauche ich dann nicht in ein Heim?«, erkundigte sie sich misstrauisch.
»Nein«, versicherte Grit rasch. »Du bleibst bei uns, und wir wollen immer gut zu dir sein. Du sollst froh und glücklich aufwachsen.«
Anja sah von dem einen zum anderen. »Euch habe ich am allerliebsten«, beteuerte sie. »Seid ihr dann wie Vati und Mutti für mich?«
»Ja, Anja.« Hans strich über die blonden Haare des Kindes. Es war eine zärtliche, liebevolle Geste.
»Bekomme ich auch wieder einen kleinen Bruder?« Anjas dunkle Augen glänzten sehnsüchtig.
Überrascht sahen sich Grit und Hans an. »Vielleicht«, antworteten sie dann gleichzeitig.
»Und wenn es ein Schwesterchen wäre?« Grit lächelte spitzbübisch.
»Dann soll sie Heidi heißen, nicht wahr?«
»Einverstanden!« Hans legte den einen Arm um Grit, den anderen um Anja. So gingen die drei langsam den Weg zurück.
*
»Spielst du mit uns Pferdedieb?« Heidi und Vicky zupften gleichzeitig an Pünktchens dunkelblauem Faltenrock. »Waldi ist das Pferd, und Fabian ist der Dieb. Du darfst Polizeimeister Kirsch spielen.«
Pünktchen schüttelte energisch die Plagegeister ab. Seit einigen Tagen war das Pferdedieb-Spiel Favorit bei den Freizeitbeschäftigungen in Sophienlust. »Ich habe keine Zeit.«
»Willst du vielleicht lieber Herr Strasser sein?«, erkundigte sich Heidi.
»Ich habe Frau Rennert versprochen, ihr ein bisschen zu helfen«, erklärte Pünktchen und faltete geschäftig Servietten zusammen. »Ihr wisst doch, dass wir am Nachmittag draußen im Park Kaffee trinken. Es soll ein richtiges kleines Fest werden.«
»In Magdas Küche stehen schon sooo viele Kuchen!« Vicky machte eine weit ausholende Handbewegung. »Man darf heute überhaupt nicht rein.«
»Ich weiß auch, warum«, tuschelte Heidi geheimnisvoll. »Weil sie Erdbeereis macht. Das soll nämlich eine Überraschung sein.«
»Dann darfst du es doch nicht verraten«, rügte Pünktchen.
»Och, das vergesst ihr doch wieder«, rechtfertigte sich Heidi.
»Wollt ihr den Tisch mit Blumen schmücken? Justus hat schon alles aufgestellt, und Schwester Regine lässt sich eben von Frau Rennert die Tischtücher geben.«
»So, wie bei einem Kindergeburtstag?«, erkundigte sich Vicky.
»Ja. Um jeden Teller einen hübschen Kranz.«
»Wiesenblumen oder Gartenblumen?« Heidi legte den Zeigefinger ans Stupsnäschen, wie immer, wenn sie unschlüssig war.
»Beides. Aber reißt keine Knospen ab!« Das Falten der bunten Servietten ging Pünktchen immer rascher von der Hand.
Irmela und Angelika schleppten bereits die Körbe mit dem Geschirr in den Garten. Es herrschte überall eine fröhliche Betriebsamkeit. Frau Rennert, die ihre Schützlinge überwachte, hatte ihre helle Freude daran.
Zwei Stunden später war alles gerichtet. Vicky und Heidi überprüften stolz ihr Werk und waren ganz sicher, dass die Tische noch nie so schön gewesen waren.
Denise und Alexander waren von Schoeneich herübergekommen, und sogar der Polizeimeister Kirsch war eingeladen worden. Nick hatte einen Ehrenplatz bekommen, und Henrik saß stolz neben ihm. Um dem bewundernswerten älteren Bruder recht ähnlich zu sein, ahmte er Nicks Bewegungen nach.
Während die Köchin Magda große Portionen Erdbeereis und Schlagsahne verteilte, klopfte Hans Strasser an die Kaffeetasse und erhob sich feierlich. Überraschend gut sah er im leichten Sommeranzug mit dem modischen Hemd aus.
»Da wir alle gerade so nett beisammen sind, möchte ich unsere verehrten Gastgeber und euch, liebe Kinder, davon unterrichten, dass Anjas Tante und ich uns gestern verlobt haben.«
Hans sah in lauter lachende, fröhliche Gesichter. Niemand an der hübsch geschmückten Tafel schien überrascht zu sein. Oder war er nicht richtig verstanden worden?
»Grit Möllendiek und ich werden nächsten Monat heiraten und Anja zu uns nehmen«, wiederholte er, ein wenig unsicher geworden.
»Aber das wissen wir ja schon«, platzte Vicky heraus.
»Ja, deshalb haben wir auch den Tisch so schön geschmückt wie zum Geburtstag«, erklärte Heidi und reckte stolz das Köpfchen.
»Dann hat Anja euch schon davon erzählt?« Hans lachte glücklich. Er fasste nach Grits Hand und drückte sie zärtlich.
»Nein, Anja hat nichts verraten. Solche Sachen weiß man in Sophienlust immer im Voraus«, erklärte Pünktchen und blinzelte Nick vielsagend zu.
»Na, hab ich recht gehabt?«, raunte Nick und sah dabei seine Eltern triumphierend an.
»Ist doch gut, dass wir dich haben«, raunte Alexander mit nicht überhörbarem Stolz. Er und Denise erhoben sich, um dem jungen Paar zu gratulieren und ihm von Herzen Glück zu wünschen.
Die Kinder schlossen sich an, und auch Herr Kirsch drückte dem Kollegen wohlwollend die Hand.
Im allgemeinen Durcheinander stibitzte Waldi sich eine Portion Erdbeereis, die Magda auf einem Gartentischchen abgestellt hatte. Als der Diebstahl bemerkt wurde, lag Waldi längst unter dem nahen Fliederstrauch und leckte sich genießerisch die Schnauze.
»War mein Teller«, erklärte Anja großzügig. Sie war heute so glücklich, dass sie ohnehin keinen Bissen hinunterbekommen hätte.