Читать книгу Dem Tod davongelaufen - Suzanne Maudet - Страница 8
1. Tag SAMSTAG, 14. APRIL 1945, LEIPZIG-SCHÖNEFELD, ZWEI UHR MORGENS.
ОглавлениеDie tiefdunkle Nacht erfasst uns, noch halb benommen, hinter dem starken Scheinwerfer, der das Tor des Lagers ausleuchtet. Fünftausend Frauen sind, angesichts des Vormarsches der Amerikaner, in Fünferreihen von der SS auf die Straßen getrieben worden.
Zinka klammert sich an meinen linken Arm; mein rechter Arm hängt wie eine Klette an Lon. Mena hängt sich bei Lon ein, Guillemette bei Mena. Hinter uns marschieren Christine, Jackie, Nicole und Josée und noch eine weitere Frau – wir haben alle vergessen, wie sie hieß, denn wir kannten sie nicht. Es ist alles gut gegangen: Seit der Bekanntgabe des Abmarschs, seit ungefähr vier Stunden, haben wir davor gezittert, getrennt zu werden. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr würden wir uns eng zusammenschließen, die für uns so wertvolle Reihe bilden. Klar ist, dass wir zusammen gehen würden, egal wohin, egal wie schlimm es kommen würde – und niemand weiß im Grunde, wo dieser unheilvolle Marsch hinführt –, vorausgesetzt, unsere Reihe hält, was neun Monate der Fall war, neun Monate, die wir nur durch unsere Freundschaft halbwegs überstanden haben. (Neun Monate, denen viele andere, im Gefängnis oder in verschiedenen Konzentrationslagern, vorangegangen waren, aber da kannten wir uns noch nicht.)
Deutsches Befehlsgeschrei dringt durch die Nacht. Es scheint, als komme es aus allen Richtungen: Es ist die SS (Aufseherinnen und Posten),1 die uns bewachen soll und uns mit ihrem vertrauten Zartgefühl antreibt. Der Marsch verläuft furchtbar chaotisch: die meiste Zeit langsam, unterbrochen durch abruptes Stehenbleiben und sogar Kehrtmachen – man fragt sich ständig, warum; dann von einem Moment zum anderen das Gegenteil, jetzt unter Befehlsgeschrei in schnellem Laufschritt. Aber nach ungefähr einer halben Stunde pendelt sich der Rhythmus ein und wir sind nur noch etwa zwei Mal die Stunde Kurskorrekturen ausgeliefert.
Die Kolonne zieht sich auseinander, wird länger und langsamer; Pausen sind nicht vorgesehen, das ist fürchterlich, wenn man »Pipi machen« muss. Es ist jedes Mal ein echtes Drama; du musst warten, bis die Kolonne vollkommen zum Stillstand kommt, was hin und wieder aus unerfindlichen Gründen, aber in regelmäßigen Abständen passiert. Dann musst du dich davon überzeugen, indem du die Ohren spitzt, dass der Lärm der rollenden Kieselsteine unter den Holzpantinen vorne nicht sofort wieder losgeht, denn nur in diesem Moment kannst du dir den Gürtel von deinem Arbeitsanzug – die lange Fabrikhose, die wir fast alle tragen – aufschnallen (»Ziemlich praktisch so eine Hose zum Reisen«, haben wir anfangs gesagt, wir können ja nicht an alles denken … Tatsächlich werden wir sie frühmorgens, wenn es Tag wird, sehr nützlich und trotzdem noch zu dünn finden). Aber jedes Mal in diesem kritischen Moment setzt sich die Kolonne wieder in Bewegung.
Das Wetter ist schön. Sterne sind zu sehen. Unsere Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und wir suchen begierig nach Hinweisschildern. Das erste versetzt uns in Erstaunen. Es braucht noch weitere, um uns zu überzeugen, dass wir wirklich in Richtung Dresden laufen. Wir wissen, dass die russische Front nicht weit davon entfernt verläuft und hätten gedacht, man würde uns eher in Richtung Tschechoslowakei führen, die einzig mögliche Lücke zwischen beiden Frontlinien – dachten wir, aber vielleicht war das schon längst nicht mehr der Fall?
Im Grunde genommen, so anstrengend das Gehen auf der Straße zu Anfang für unsere Beine war, weil sich wegen der kurzen Schritte die Muskeln verspannten, ist es, sobald du dich an den Marschrhythmus gewöhnt hast, nicht mehr so schlimm, ja fast angenehm: Die Nacht ist klar, eine kleine Brise weht uns durch die Haare. Wir sind so oft – in Freiheit – unter den Sternen und egal zu welcher Jahreszeit gewandert, Rucksack auf dem Rücken und Hände in den Hosentaschen. Unsere schweren Schuhe klappern auf den Wegen. Wie wir dieses Wandern lieben für all die Erinnerungen, die es uns zurückbringt. Wir sehen nicht mehr diese Schatten in Uniform auf beiden Seiten der Straße, ihre feindlichen Worte berühren uns nicht mehr und wir hören die Maschinengewehre nicht mehr ununterbrochen rattern, als wir durch die Wälder laufen. Wir marschieren wie im Traum und singen dabei aus vollem Hals unsere alten Wanderlieder. Wir vergessen, wie lange wir nicht geschlafen haben (Josée, die vorige Nacht noch in der Fabrik war, kommt zusammengezählt schon auf 36 Stunden ohne Schlaf. Ein endloser Appell morgens, stürmische Verteilung der letzten Suppe, eine sechs Stunden dauernde ununterbrochene Orchestrierung polyglotten Geschreis und Spießrutenlaufens, schließlich die Aufregung des Abmarschs, all das hat verhindert, dass jemand ein Auge zumachen konnte.) Wir marschieren immer noch, erstaunt, wie einfach es geht, und denken, das muss eine Falle sein und es wird nicht lange so weitergehen …
Schließlich bricht der Tag an und mit ihm kommt ein extrem eisiger Wind auf; es ist eine traurige Prozession von Frauen, in ihre Wolldecken gehüllt und doch schlotternd, die bei Tagesanbruch in einer kleinen Stadt ankommt, von der wir ganz bestimmt nie den Namen erfahren werden. Dort treibt man uns auf ein Feld am Straßenrand und es sieht so aus, als ob wirklich eine Pause gemacht wird. »Das Wichtigste ist, jetzt erst mal etwas zu essen, um sich aufzuwärmen«, sagen wir uns mit einem gewissen Hang zum Selbstbetrug, denn wir wissen nur zu gut, dass wir die ganze Zeit nichts anderes als Hunger haben werden und es zwecklos und lächerlich ist, so etwas zu sagen.
Wir haben beim Abmarsch einen überwältigenden Reiseproviant bekommen: einen Viertel Laib Brot, ungefähr 300 Gramm; die Hälfte von einem Stück Margarine, das heißt vom Volumen her etwa gleich groß wie das Brot, dazu vier Suppenlöffel einer fürchterlichen Streichwurst, die auf der Stelle gegessen werden musste, sonst drohte die sofortige Zersetzung. Da wir seit drei Tagen kein Brot bekommen hatten, mussten wir uns gut zureden, davon einen atomisierten Rest für die Reise aufzuheben, und so bestehen die zwei Brotscheiben, die wir uns zum Frühstück bewilligen, aus ungefähr zwei Millimeter Brot und eineinhalb Zentimeter Margarine. Wir trösten uns: »Glücklicherweise ist es kalt … Das ist prima, weil die Margarine dann fest ist … Gut ist auch, dass das so eklig ist, dass du gar keinen Hunger mehr hast.« Mit Magengrimmen legen wir uns, den Kopf auf unserem Gepäck, zufrieden hin. Frauen laufen um uns herum von einer Gruppe zur anderen, Frauen, die nicht müde sind und sich untereinander besuchen. Du siehst erstaunliche Dinge: Wir haben natürlich die Nacht gut überstanden, aber wir sind jung, wir sind ans Laufen gewöhnt. Doch niemand scheint wirklich müde zu sein, weder die große Raymonde, die sehr wackelig auf den Beinen ist, seit sie in einem Alptraum ganz oben vom viergeschossigen Stockbett gefallen ist, noch die arme kleine Erstsemester-Studentin, die mit einer schlimmen, schlecht ausgeheilten Bronchitis aus der Krankenstation kam, noch die alten Frauen. Trotzdem ist es außergewöhnlich: Die Berichte der anderen »Transporte«, die in den letzten Tagen im Lager zu hören waren, haben uns glauben lassen, dass es das absolute Grauen ist. Kopf hoch! Das ist doch nur Stimmungsmache …
Allerdings ist es so kalt, dass, zumal wir auf diesem Feld festsitzen, kaum an Schlafen zu denken ist und wir ungeduldig auf das Signal zum Abmarsch warten. Die SS friert genauso wie wir – es wird nicht ewig dauern. Wir marschieren gestärkt weiter und singen der aufgehenden Sonne entgegen. Mit der Zeit begreifen wir, wie unsere Bewachung organisiert ist: Der Konvoi setzt sich aus Kolonnen mit jeweils tausend Personen und einem Kolonnenchef (Maschinenpistole und Gewehr) zusammen, aufgeteilt in Untergruppen mit jeweils hundert Personen und einem Dutzend Posten (Gewehr) und einer Aufseherin (Revolver und Peitsche). Unsere hundert Personen starke Gruppe hat Glück bei der Aufteilung – außer mit einem Posten, den wir bis zum Schluss le petit salaud, den kleinen Fiesling, nennen werden. Er verteilt immer wieder Ohrfeigen und Schläge. (Nicole wird es nicht vergessen, schließlich hat sie da ihre letzten Rippenstöße von der SS bekommen.) Der andere Posten ist auch sehr jung, aber viel sympathischer; er gibt uns die wenigen Informationen, die er hat herausfinden können, weiter und macht uns Mut. Die Aufseherin, eine junge Blonde mit sportlichem Aussehen, hat ihre Peitsche beiseite getan und trägt einen langen rosafarben blühenden Pfirsichzweig in der Hand. Diese poetische Anspielung interpretieren wir als gutes Zeichen und sind ein wenig traurig, als sie den Zweig ein paar Stunden später einem Soldaten gibt, der uns auf der Straße begegnet.
Die Landschaft ist sehr flach und wirklich nicht malerisch, aber alles kommt uns so wunderbar vor: Die Bäume blühen, die Ziegen haben Zicklein wie im Bilderbuch, die Luft duftet, es ragt keine Fabrikmauer in den blauen Himmel hinein oder das Dach einer Baracke. Aus den Häuserfenstern schauen uns kleine Mädchen mit nachdenklichem Blick hinterher, kaum drei Jahre alt und schon mit langen blonden Zöpfen über den schmalen Schultern, und weißhaarige Großmütter winken uns mit fragendem und schmerzerfülltem Gesichtsausdruck zu.
Wir laufen lächelnd vorbei, manchmal sogar herzhaft lachend, weil wir etwas trunken sind von der frischen Luft, weil wir wissen, dass dieser Frühling bald uns gehören wird, denn immer wieder fahren an uns staubige Lastwagen vorbei, beladen mit Gepäck, Fahrrädern, wettergebräunten Männern mit langen Gesichtern, Frauen mit grellen Halstüchern, und wir wissen nach den Erfahrungen von 1940 nur zu gut, dass es Gesichter der Niederlage sind … und schließlich weil wir – wir, die Gefangenen – sehr oft eine kindliche Freude dabei empfinden, uns über die Aufmachung der freien Deutschen lustig zu machen, die wirklich an Stillosigkeit nicht zu überbieten ist.
Gegen zwei Uhr erreichen wir Wurzen, eine kleine Stadt an der Mulde2, der Posten (genannt le Post) hat uns bereits vor einiger Zeit angekündigt, dass wir dort wahrscheinlich Pause machen werden. Als wir in die Stadt hineinkommen, drängen sich tatsächlich auf einer riesigen Wiese am Flussufer bereits eine Menge Menschen wie wir – offenbar Männer aus Buchenwald und Frauen aus dem Außenlager Taucha3. Dieser eigentlich grauenvolle Anblick von schmutzigen und müden Menschen – erstarrt in unruhigem Schlaf, erschöpft das dürftige Gepäck, das sie mitnehmen konnten, mit ihren Armen fest umklammernd – erfüllt uns dennoch mit einem gewissen Hochgefühl. Sind die Deutschen in Bedrängnis, weil sie so große Menschenmengen von Fremden planlos auf den Straßen von einer Front zur anderen eskortieren, so wie durch die Zerstörung ihres Ameisenhaufens überraschte Ameisen hektisch Eier, größer als sie selbst, in alle Richtungen wegschleifen?
Bevor wir in der Sonne einschlafen, essen wir den Rest des Brotes und der Margarine auf, dann legen wir uns mit dem Kopf auf den Gepäckbeutel hin … (Weniger aus Bequemlichkeit als um auf den besagten Beutel aufzupassen.) Christine, die, um besser schlafen zu können, es für schlau gehalten hat, ihre Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen, wird sich nach dem Aufwachen ziemlich über ihren merkwürdigen einseitigen Sonnenbrand wundern, der untere Teil ihrer braunen Backe glühte wie ein roter Ziegelstein, die obere Hälfte sah aus wie vorher, dazwischen verlief eine akkurate und gerade Trennungslinie – so als hätte die böse Königin von Schneewittchen ihren unheilvollen Apfel präpariert: »Mit welcher Hälfte deiner Backe willst du uns wohl vergiften?«, fragen wir sie vorsichtig.
Zwei Stunden später weckt uns ein gewaltiger Bombenangriff. Josée, die neben mir liegt, kneift wegen der Sonne ihre sanften, rehbraunen Augen zusammen und lächelt mir unter dem Maschinengewehrfeuer freundlich zu. Auf gut Glück und um nichts unversucht zu lassen, halten wir uns die Taschen über den Kopf, warten ruhig ab und stellen uns vor, wir wären ein Vogel Strauß. Natürlich ist das alles ziemlich beeindruckend, vor allem die Sirene, danach, wie abgestimmt, die Bomber im Sturzflug, gefolgt vom unerbittlichen Rattern der Maschinengewehre, aber wir können wirklich nichts anderes machen, als ruhig das Ende abzuwarten. Wir werden am Ende sehr gut gelernt haben zu warten und das in den verrücktesten Situationen … Frauen laufen panisch in alle Richtungen davon; sie haben in letzter Sekunde nichts Besseres gefunden, als sich unter die Brücke zu flüchten. Alle wissen natürlich, dass im Fall einer Bombardierung eine Brücke als letztes Ziel anvisiert wird und aufgrund dieser Tatsache den sichersten Schutz bietet.
Man weiß nicht, warum, plötzlich wird der Befehl zum Aufbruch gegeben: Eigentlich hätte die Pause laut unserem petit Post sechs Stunden dauern sollen, aber der Bombenangriff beunruhigt unsere SS sehr, die viel lieber im offenen Feld wäre als in so einer kleinen Stadt, mit ein paar Fabriken und verziert mit einer Brücke. Unter Maschinengewehrfeuer laufen wir dicht an den Mauern entlang durch Wurzen; Blut läuft die Sprunggelenke der Pferde herab, über die Wangen der Männer in den Straßen, wir sind ein bisschen blass und wir marschieren zügig voran.
Am Ortsausgang von Wurzen angekommen, sind keine Flugzeuge mehr zu hören und wir fragen unseren petit Post: Machen wir vor Einbruch der Dunkelheit noch einmal Pause oder laufen wir bis zum Morgengrauen durch? … Einige Frauen, die die Situation noch nicht verstanden haben, fragen sogar, ob wir etwas zu essen bekommen: Es ist eigentlich kaum zu glauben, aber wahr, dass es immer wieder Leute gibt, die nach einem Jahr oder viel länger Konzentrationslager immer noch von den »Rechten der politischen Gefangenen« sprechen … Tatsächlich ist alles Mögliche zu hören. Aber unser Posten weiß offensichtlich von all dem nichts.
Wir marschieren bis zum Dunkelwerden und dann beginnt zweifellos die Albtraum-Nacht, unsere schlimmste Nacht in Deutschland: Marschieren … immer weiter marschieren … lautes Schrittgetrappel, das nie aufhört … dieses quälende Aufschlagen des Holzes auf dem Pflaster … blind mit der Stirn auf den Rücken der Vorderleute auflaufen … und ständig denen vor dir auf die Hacken treten … die Streitereien und die bissigen Kommentare … die Beinmuskeln, die derartig schmerzen und trotz allem automatisch ihren Dienst tun … die bloßen Füße brennen in den Holzpantinen und sind voller Blasen … und jeder Aufbruch ist so mühsam nach dem kleinsten Halt … die Augen, die unter den schweren Augenlidern trüb werden … und die Augen, die, wenn man sie öffnet, etwas sehen, was nicht existiert (warum schneidet mir der Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer, der hinter den kurzen Holzlatten eines Fabrikwagens hervorlugt, so schreckliche Grimassen? Die ganze Nacht lang hat Jackie einen Mann gesehen, der am Straßenrand saß und seine Zeitung las: »Aber wie macht er das? Er sieht doch gar nichts«, sagte sie.) Und die Augen, die sich öffnen und nur das sehen, was wirklich da ist: die verkrampft am Straßenrand liegenden Leichen, die armen abgemagerten Leiber, die vor Erschöpfung oder im Maschinengewehrfeuer gestorben sind, die Hände noch in einer flehenden Geste vor das Gesicht gehoben.
Aber die Erschöpfung kommt und geht; gegen zwei Uhr haben wir einen Energieschub. Christine und ich, wir laufen etwas links von der Kolonne und geben den Schritt vor, um die anderen mitzuziehen, wir singen mit lauter Stimme unsere Wanderlieder, unsere Lieder des Lebens, der Liebe und der Hoffnung. Wir wissen jetzt, dass wir uns davonmachen werden. Vielleicht wird es hart werden, aber wir wollen leben und werden es wagen, weil wir dieses wunderbare, freie, abenteuerliche Leben zurückhaben wollen, den Wind der Landstraßen, die Sonne, das Gras, die Kameradinnen, die Kameraden, und den Kampf unserer Jugend.
Wir marschieren den Kopf im Nacken und warten angsterfüllt auf das Verblassen der Sterne, die schon lange aufgegangen sind. Wir haben den Eindruck, sie strahlen nicht mehr so hell, aber laut unserem Posten ist es erst drei Uhr. Wir sehen um uns herum fast keine SS mehr; vielleicht sind sie in irgendeinen Straßengraben gestürzt. Das wäre genau der richtige Moment, um zu fliehen, aber wir haben wirklich keinen Mut mehr, uns einen einzigen Schritt weg zu bewegen: Christine hat mich spontan danach gefragt, aber ich habe nur abwinken können und sie hat unsere Reihe nicht verlassen …
Der Posten weiß immer noch nichts Genaues, außer dass wir wahrscheinlich bis zum Morgen weitergehen müssen und dass wir dann vielleicht zu einem Lager kommen. Herrliches Wort … Die Trugbilder wiederholen sich: Wir glauben, überall Baracken zu sehen, Rauchschwaden, die aufsteigen, aber nichts davon existiert, um uns herum nur trostloses Flachland. Jedenfalls sind die Sterne schließlich verschwunden. Ein eiskalter Wind kommt bei Tagesanbruch auf. Es ist viel kälter als am Vortag zur gleichen Zeit oder ist es vielleicht die Müdigkeit?
Ich glaube, in der Ferne die Turmspitzen einer Kirche zu sehen: Nach zehn Minuten, als ich sicher sein kann, dass ich nicht schon wieder träume, sage ich es laut. »Aber nein«, antwortet Zinka mit dünner, müder Stimme. »Sei ruhig, das ist wieder nur eine Halluzination, das sind nur zwei Pappeln …« Aber ich hatte recht: Wir erreichen Oschatz und der Posten versichert uns, dass dort das Lager ist.
Merkwürdiges Lager: ein Park bestenfalls – wie ein Schafpferch – oder ein Schulhof, nicht die kleinste Baracke. Unsere unendlich lange Kolonne strömt dort hinein und sinkt eigenartig in sich zusammen, die Menschen drängen sich auf dem Boden in Grüppchen eng aneinander, die Köpfe unter den Decken, um die Wärme zu halten beziehungsweise um sich aufzuwärmen. Wieder Leichen am Eingang des Lagers, doch wir sehen gar nicht mehr hin; wir sind praktisch achtundzwanzig Stunden ohne Unterbrechung gelaufen und Oschatz liegt etwa sechzig Kilometer von Leipzig entfernt.
Wir denken nur noch ans Ausruhen und spüren selbst den Hunger nicht mehr. Das ist gut so, denn es gibt nichts mehr zu essen. Also legen wir uns auch eng aneinander – zu einem kleinen Häufchen ohne Kopf.