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1. Auftakt

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In diesem Sommer fehlte es an Glühwürmchen. Die Tage waren hell und üppig und warm, aber die Nächte waren leer, fade, irgendwie unbelebt. Sie saß draußen, wie so oft, ein Glas Wein auf der Armlehne, die Füße auf dem anderen Lehnstuhl, allein. Fledermäuse jagten durch die Luft, ein mutiger Vogel hörte nicht auf zu singen, aber wo blieben die Glühwürmchen?

Juliane versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war immerhin psychologisch geschult. Bei anderen sah sie ganz klar die Spur, die logischen Zusammenhänge. Warum schaffte sie es nicht bei sich selbst?

Der Tag gestern hatte sie überrascht. Sie war mit einem fremden Mann mitgefahren, ohne, dass jemand davon wusste. Frank Bogner, Inhaber einer Autowaschanlage in Niedersachsen, wohnhaft in Sachsen-Anhalt. Überhaupt nicht ihre Wellenlänge und doch war sie fasziniert von ihm. 10 Jahre jünger als sie! Ein Geschäftsmann! Mit Leichen im Keller! Juliane fasste sich an den Kopf. Gleichzeitig musste sie lächeln. Irre, einfach irre!

Unerwartetes war passiert. Sie hatte sich darauf eingelassen, die Kontrolle aufgegeben. Naiv? Verführt? Oder nur einfach eine neue Facette ihres sonst so strukturierten Lebens?

Während der einstündigen Fahrt hatte Bogner eine CD eingelegt, mystische Songs, nichts dagegen einzuwenden, danach aus der Carmina Burana von Orff die Fortuna, das Glück. Am Anfang kaum hörbar, schwoll es plötzlich, unvorhergesehen, zu einem Krawall an, zu einer ungeahnten Leidenschaft. Er hatte sie angesehen, die Finger am Rädchen, leiser machen? Sie hatte mit den Schultern gezuckt, ist egal, dabei war es unheimlich laut, er hatte es so gelassen, sie hatte den Kopf an die Nackenstütze gelehnt, die Augen geschlossen und sich überlassen, dem Augenblick, der Musik, der Sehnsucht. Keiner von beiden hatte gesprochen.

****

Der Spaten glitt ab. Ein scharfes Geräusch. Der Mann stutzte. Schon oft war er auf Granit gestoßen, das Gestein, das unter seinem Haus zu finden war. Felsenfest sozusagen. Gutes Fundament. Das hier hörte sich anders an. Er stach noch einmal zu, hielt den Spaten quer. Beim Lockern liess sich die sandige Erde nicht so einfach hochnehmen. Nur wenig lag auf der Fläche, rutschte runter. Er stach tiefer, lockerte das Erdreich, bückte sich, tastete mit der Hand, berührte einen Knochen. Hatte wohl ein Hund mal vergessen. War ziemlich groß. Gelblich. Und rund. Der Mann legte den Spaten hin. Schaufelte mit der Hand. Er fuhr zurück.

Ein Schädel. Ein menschlicher. Das Gesicht von seinem Spatenhieb zerteilt. Da, wo einmal Augen gewesen sein mussten, war eine frisch gesplitterte tiefe Kerbe.

Dem Mann wurde übel.

Er verließ den Keller.

****

Juliane nahm einen Schluck Rotwein. Sie erinnerte sich an alle Einzelheiten. Sie hatte eingewilligt, seinen Keller aufzusuchen. Sie hatten sich verabredet. Natürlich wollte sie mit ihrem eigenen Auto fahren. Aber dann winkte er ab. „Steigen Sie bei mir ein. Ich fahre sowieso wieder zurück. Ist doch Quatsch, wenn wir da mit zwei Autos hinfahren.“ Ein Blick auf ihren kleinen Golf sagte alles. Es war lange her, dass sie darin sauber gemacht hatte. Sie wollte Bogner nicht mitnehmen.

„Außerdem können wir uns dann schön unterhalten“, fügte er einladend hinzu. „Na, gut!“ Nach einer Minute des Zögerns hatte sie “ja“ gesagt, intuitiv. Also saß sie in diesem Fahrzeug neben ihm, mit prickelnder Ungewissheit, gespannt, neugierig, Gefahr witternd. Die Landschaft wurde weit und hügelig. „Hier verlief früher die Grenze“, sagte er und hielt das Auto an. „Da habe ich abends immer auf die Lichter im Westen gestarrt und gedacht, wie die da wohl leben? Warum kann ich da nicht hin? Und jetzt fahre ich jeden Tag über die Grenze und mach’ mein Ding im Westen!“

Er trug eine schwarze Sonnenbrille, undurchdringlich. Das Auto, ein Chevrolet-Wohnmobil der Spitzenklasse. Ledersessel in hellgrau, geräumig, hinten ein Salon, holzvertäfelt, wie in einer Yacht. Lichterketten an der Seite und oben. Fernseher, Video, DVD, eine Decke, lose über ein Schaffell gelegt. Sie fragte sich die ganze Zeit, wie er wann und mit wem dort hinten sitzen würde. Kein Kühlschrank. Getränke gab es aus der Kiste neben dem Fahrersitz, aus der er allerlei CD’s und Literatur hervorzauberte. Nebenbei erzählte er, dass er mit seiner Frau am Wochenende auf mittelalterliche Märkte fahre oder an die Ostsee oder einfach nur so irgendwohin. Oder heute mit ihr zu seinem Keller. Über den ehemaligen Todesstreifen. Dabei hatte er verschmitzt gelacht. Einen Seitenblick riskiert.

Er besaß Waffen. Schon in seinem kleinen Büro hatte er ihr bei ihrem dritten Besuch in der Waschanlage großspurig Fotos davon gezeigt. Angeblich ein Hobby. Aber warum brauchte man Gewehre, wenn man kein Jäger war? Julianes Psychologeninstinkt mutmaßte allerlei: Potenzprobleme? Angst? Männlichkeitswahn?Wollte er sie gefügig machen ? Ein verkappter Graf Blaubart? Ein Psychopath in weißen Jeans? Juliane musste wachsam sein. Die Warnungen aller Mütter auf Erden klangen ihr im Ohr:“ Geh nie mit einem fremden Mann mit!“ Dabei passierten die größten Schweinereien innerhalb der Familie.

Der Tag gestern war eine Fahrt über die Grenze gewesen.

In jeder Hinsicht.

Ihre Welt war völlig geordnet. Verheiratet seit 26 Jahren, zwei erwachsene Kinder, beruflich gut orientiert, voller Pläne. Eine begabte Frau, an der die Wechseljahre spurlos vorüber gingen. Spurlos? Gut, sie nahm Hormone, um dieser demütigenden Hitze Einhalt zu gebieten, um jugendlich zu bleiben. Und irgendwie, diese Sehnsucht – war die nicht besser in den Griff zu kriegen? Aber sonst: die Figur mädchenhaft, auch das Lächeln, die Bewegung. Keine Zipperlein. Kein Fettgewabbel. Keine Müdigkeit. Ein Körper voller Lebenslust.

Wie war sie an diesen Mann geraten? Ihr Mann hatte Mr. Perfect empfohlen. Autowäsche, Super-Service, Extra-Vorwäsche. Sie hatte Angst vor Autowaschanlagen, aber der alte Golf war dreckig und sie war dran damit. Mr. Perfect (wie kann man sich nur so einen Namen zulegen?) kam ihr entgegen, lächelnd, schwungvoll, engagiert. Sie war erleichtert und amüsiert zugleich. Er übernahm das Auto, fuhr es auf die Schiene und überliess es dem Programm. Sie mochte nicht darin sitzen, nicht allein. Es war beängstigend, das Getöse, die Bürsten, das Vorwärtsgeschobenwerden.

Bis heute wusste sie nicht, wie sie ins Gespräch mit diesem Mann gekommen war, es wirkte belebend und persönlich auf sie, absolut nicht alltäglich. Er hatte gemerkt, was für ein Typ sie war, schlug genau die richtige Tonart an. Sie lachten viel. Beide hatten eins gemeinsam: engagiert sein bei dem, was man tut, ob es nun Autowaschen oder Seelenmassage ist. Anders kann man doch nicht leben. Danach fuhr sie nie wieder in eine andere Waschanlage.

Beim nächsten Mal erkannte er sie, freute sich. Sie musste lächeln. War das ein Trick, um Kunden zu binden? Da waren die Augen, ungewöhnlich in der Farbe, bis heute konnte sie sie nicht beschreiben. Sehr hell, grünlich-golden-klar, eigentlich unpassend zu dem Bild von Mensch, dass sie sich gemacht hatte. Wie alt mochte er sein? Ein jungenhafter Typ, da war das immer schwer zu sagen. Auf jeden Fall eine ganze Ecke jünger als sie, ungefährlich also. Eine Affäre war ausgeschlossen. Sauberes Auto, saubere Angelegenheit. Ungewöhnlich nur, dass ein fremder Mann ihr so viel erzählte. Sie begriff nicht, wovon er sprach. Außerdem war es so furchtbar laut. Sie hatte nicht richtig zugehört, war verwirrt, hielt ihn für einen Wichtigtuer. Aber er hatte auch nach ihr gefragt.

Welcher Mann fragt schon nach dem Beruf der Frau?

„Ach, Sie sind Psychologin? Das ist ja interessant. Wie machen Sie das, dass es den Menschen wieder besser geht? Haben Sie da ein Zaubermittel?“ Und sie konnte erzählen, hatte das Gefühl, dass er wirklich zuhörte. Er nahm sich die Zeit. Ja, Zuhören war das Zaubermittel. Welcher Mann hört schon zu, wenn die Frau von ihrem Beruf erzählt?

Juliane fröstelte. Es war fünf vor elf. Zeit ins Bett zu gehen. Ihr Mann war verreist. Sie genoss die Abende, das Alleinsein. Man konnte in die Luft gucken, ohne den Verdacht zu erregen, komisch zu sein. Gestern Abend hatte sie getanzt, noch spät, barfuß, ganz allein. Heute hatte sie im Garten gearbeitet, Zweige abgeschnitten, Ranken ausgerissen, Moos weggeharkt. Da, es gab doch noch ein Glühwürmchen, ein einziges, das wie ein Irrlicht durch den dunklen Garten geisterte, wer weiß, woher und wohin? Worte und Gefühle spielten mühelos Ping-Pong in ihrem Hirn und wollten aufgeschrieben werden. Sie fischte einen Briefumschlag aus dem Papierkorb und kritzelte mit dem Bleistift hintendrauf:

Zauberhaft irrt das Glühwürmchen

Durch den Garten bei Nacht

Glühend irre ich

Durch den Zaubernachtgarten

Irrend glüht die Zaubernacht

In mir Würmchen

Kleine Diamanten

Im dunklen Dickicht des Alltags

Juliane stand auf. Noch ein letzter Schluck und wieder war ein Tag ihres Lebens vorbei. Gestern war ein besonderer Tag gewesen. Der Schluckauf zwang sie, den Abend zu beenden. Schade. Aber der Körper hat immer Recht. Was zu viel ist, ist zu viel.

Irgendwann hatte er sich mit seinem richtigen Namen vorgestellt.

„Bogner, mein Name, Frank Bogner.“

Juliane Hoffmeister.“ Sie reichten sich die Hände.

Ein Wort gab das andere, Lächeln, harmloses Spiel, während ihr Polo durch die Anlage geschoben wurde.

„Haben Sie noch etwas Zeit?“

„Wieso?“

„Ich würde Ihnen gern etwas zeigen, hinten in meinem Büro.“

Sofort meldete sich die Alarmanlage in Julianes Hirn. War das gefährlich? Wollte er auf irgendetwas hinaus? Wohl nicht, hier waren ja viele andere Leute. Sie nickte, eine Mischung aus kitzliger Neugier und drohender Gefahr im Nacken. Sei doch nicht immer so misstrauisch !

Er fuhr ihr frisch gewaschenes Auto an die Seite, stellte den Motor ab.

Das Büro lag hinter der Waschanlage, in einem abgewrackten Lagergebäude, schmucklos, nüchtern. Es war überhitzt. Juliane schaute sich um. Akten, Blätter, Briefe, ein Kalender mit halbnackten Frauen an der Wand. Die Fotografie einer Schwarzhaarigen eingerahmt auf einem Regal. Durch eine Türöffnung sah man in einem weiteren Raum eine verlassene Bettcouch, verwühlte Kissen und Decken darauf, eine billige Wanduhr darüber. Ein Ledersessel hinterm Schreibtisch, ein Stuhl davor. Sie nahm Platz auf dem Stuhl Er lehnte sich zurück, sah sie durchdringend an.

„Ach, ich weiß auch nicht.“ Er druckste rum. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ich kenne Sie jetzt schon so lange,...“

„Sie kennen mich lange? Sie kennen mich kaum!“, wehrte Juliane sich.

„Naja, ich finde Sie irgendwie sympathisch, man kann mit Ihnen so gut reden“, jungenhaftes Lachen, „da hab‘ ich mir gedacht,... egal“, er winkte ab, „...ich wollte Ihnen was erzählen.“

Hilfe! Was kommt jetzt? Sie war nicht in der Praxis. Wollte er Probleme abladen? Vielleicht könnte sie ihn als Klienten gewinnen, also erstmal zuhören.

Mit professioneller Miene, angesiedelt zwischen Interesse und Gleichmut, saß sie in diesem heißen Glaskasten und versuchte, das Chaos auf dem Schreibtisch, die Nacktbilder und das ungemachte Bett nebenan zu ignorieren. Er zog eine Schublade heraus und holte Fotos hervor. Gespannter Gesichtsausdruck.

„Hier, das ist mein Haus. So sah es früher aus, ... ein ehemaliges Pfarrwitwenhaus. Hab‘ ich alles wieder hergerichtet, war ganz schön verfallen... Das ist der Innenhof, und hier, die Ansicht von der Straße.“

„Sieht ja sehr akkurat aus... und groß!“ bewunderte sie.

Es folgten einige Bilder von innen, auf einem war er selber zu sehen, gekreuzte Waffen im Hintergrund an der Wand.

„Das ist in meinem Büro zuhause. Ich habe eine Waffensammlung. Das ist ein Hobby von mir. Sie wissen ja, dass ich im verkehrten Zeitalter geboren bin.“ lachte er. Sie hatten sich über seine Vorliebe für Rittertum und Helden unterhalten.

„Jaja, eigentlich müssten Sie säbelschwingend über ein Schlachtfeld galoppieren, statt hier die angestaubten Hochglanzkarossen der Bonzen einzuseifen!“

Ein bedeutungsvoller Blick!

„Hier, das ist das Gewölbe unterm Haus, da will ich mir einen Weinkeller einrichten.“

„Oh , das kann ich mir gut vorstellen. Sieht ja urig aus!“

Er lehnte sich zurück, wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Den Boden muss ich ausheben, sonst kann man darin nicht stehen.“

Sie sah ihn an. Irgendwas war verändert. Sie sagte nichts.

Er sprach nicht weiter.

Dann zog er plötzlich ein Foto hervor. „Passen Sie mal auf, das hab‘ ich da gefunden.“

Menschliche Knochen, nicht zusammenhängend. Ein Schädel. Kein Rückgrat, aber Beine.

Juliane war dankbar für ihre gute Ausbildung. Obwohl 1001 Gedanke durch ihren Kopf schossen, - war er doch ein Psychopath, ein Gewalttäter ???, - immerhin besaß er Waffen - was hatte er vor ?, wollte er ein Geständnis ablegen ?, suchte er einen Mitwisser oder hatten die Knochen nichts mit ihm zu tun ? - , blieb sie ganz ruhig und kommentierte einfach, was sie sah.

„Teile eines menschlichen Gerippes.“

Bogner beugte den Oberkörper vor, faltete die Hände über dem Papierchaos.

„Stellen sie sich vor, was das für ein Schock war, als ich darauf gestoßen bin. Das ist schon ein komisches Gefühl.“

„Glaub‘ ich Ihnen auf’s Wort. Was haben Sie da gemacht?“

„Bin erstmal an die frische Luft, habe nachgedacht. Immerhin wohne ich schon lange in dem Haus – und dann stelle ich auf ein Mal fest, dass da ‘ne Leiche im Keller ist. Die Frage ist doch, wie kommt die dahin?“

Er nahm ihr die Frage aus dem Mund.

„Und was haben sie mit dem Gerippe gemacht? Das sind ja einzelne Teile, wie man hier sieht. Wo ist der Rest?“

„Das ist noch lange nicht alles.“ Er zog ein weiteres Foto hervor, „Skelett ohne Arme, ...

und hier, noch ein Schädel, ... und hier Beckenknochen, die lagen unter einem Balken.“

Juliane verschlug es die Sprache. Sie sah eine Reihe Fotos an. Knochen von allen Seiten. Zwischen Feldsteinen, unter einem gemauerten Sockel lag wie eingepasst ein Unterschenkelknochen, lose Rippen im Sand, ein Schädel von allen Seiten, hohnlachend, aberwitzig, seltsam lebendig, wie mit Augen die nicht sehen.

Das einzige Geräusch im Raum war das Ticken der Uhr von nebenan.

Ein Brummer stieß von außen gegen die Tür. Immer wieder. So ein Blödmann.

„Ich weiß auch nicht, wie lange die schon in meinem Keller liegen. Keine Ahnung, was passiert ist.“ Er versuchte das Gespräch wieder aufzunehmen.

„Haben Sie auch Särge gefunden? Oder Kreuze? Vielleicht war der Friedhof früher da, wo jetzt Ihr Haus steht.“

Es musste irgendwas gesagt werden. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. „Haben Sie vielleicht einen Schluck Wasser für mich?“

Er stand auf. Im Nebenraum klappte eine Kühlschranktür. Mit zwei Gläsern und einer Flasche Mineralwasser kam er zurück, goss ein und setzte sich wieder.

Im Märchen von Graf Blaubart findet die jüngste Tochter im Keller hinter der verbotenen Tür lauter Frauenschädel, ein Schicksal, das auch sie erwarten würde, käme sie nicht vom Blaubart los. Juliane versuchte zu spüren, ob ihr Körperempfinden ihr eine Warnung übermitteln wollte, aber es regte sich nichts. Das kalte Wasser tat gut.

„Das habe ich noch niemand erzählt, nur meiner Frau - und die will davon nichts wissen. Die würde alles in den Container befördern.“, hörte sie ihn reden. „Ich bin noch dabei, die anderen Teile zu suchen. In meiner Freizeit grabe ich Stück für Stück um, jetzt natürlich vorsichtiger als früher. Wissen Sie, für mich sind das nicht einfach Gerippe, die man mit dem Bauschutt zusammen auf die Müllhalde bringt. Ich bin zwar ein moderner Mensch, aber irgendwie hab ich sowas wie Ehrfurcht, Achtung, verstehen Sie, was ich meine? Ich ... , das war doch mal ein Mensch wie Sie und ich, ... man muss den doch irgendwie zusammensetzen, ganz machen. Und dann begraben oder so, wo er seine Ruhe hat, bestatten, stattlich, würdevoll. Und ich mag auch nicht über Leichen gehen, wenn ich mir eine Flasche Wein hole.“

„Das ist ganz schön unheimlich ... und trotzdem, beeindruckend, wie Sie das so sagen ...“ , sie legte die Fotos aus der Hand.

Er kratzte sich am Kopf. „Wollen Sie nicht mal kommen, sich das ansehen?“

Sie sah überrascht auf. Warum sollte sie das tun?

„Ich weiß nicht. Wissen Sie, wie alt die Knochen sind?“

„Ich hoffe, dass sie sehr alt sind. Sonst fällt womöglich Verdacht auf mich. Meinen Sie, die Kripo kommt ins Haus?“

Julianes Fantasie überschlug sich. Fantasie war mehr Fluch als Segen. Vielleicht war er ein Grabschänder. Hatte ein absurdes Hobby. Zelebrierte grausige Kulthandlungen. Als Therapeutin hatte sie gelernt, auf verschiedenen Ebenen wahrzunehmen, Hypothesen zu erstellen und gleichzeitig emotional die Contenance zu behalten, deswegen hörte sie sich trotz ihrer Hirngespinste ganz sachlich sagen:

„Ich glaube, das müssen Sie nicht fürchten ..... Die werden vielleicht untersuchen, wie lange das Skelett, bzw. die Teile davon schon bei Ihnen im Keller liegen. Vielleicht können die Archäologen ja das genaue Alter feststellen. Moment mal, Sie sagten vorhin ‚Pfarrwitwenhaus‘. Haben die etwa damit was zu tun? Es gab doch diesen Pastor hier in der Gegend, der seine Frau erschlagen hat. Es könnte gut sein, dass die Pfarrwitwen auch mal zuschlagen.“

„Na, der Mann von ‘ner Witwe ist doch schon tot. Wen sollte sie sonst erschlagen?“

„Wer weiß?“ Beide lachten. Der Bann war gebrochen, das Unheimliche verflüchtigte sich.

Allgemeinplätze. Small Talk. Nach einer Weile erhoben sich beide und gingen zu Julianes Auto. Sie war auf eine neue Weise irritiert. Warum erzählt er mir das alles? Wie immer, wenn sie sichergehen wollte, verlegte sie sich auf die analytische Rolle, sachlich distanziert.

Die Begegnung zwischen Tod und Leben hatte sie immer schon fasziniert. Neugierig war sie, eine Grenzgängerin. In unbekanntes Terrain hinein tasten. Das hatte er wohl gewittert.

„Ich glaube, ich würde mir das gern mal anschauen.“ Sah ihn nachdenklich an, überlegte fieberhaft.

„Ja, kommen Sie, rufen Sie vorher kurz an.“

Sie genierte sich über ihre plötzliche Courage und wollte sich absichern. „Ich spreche erst mal mit meinem Mann, wann er Zeit hat. Dann kommen wir zusammen.“

So waren die Verhältnisse klargestellt. Juliane fühlte sich besser.

„Haben Sie meine Telefonnummer?“ fragte er. „Hier, ich schreibe Ihnen auch die Handy-Nummer auf. Für alle Fälle, falls Sie Fragen haben oder so.“

Sie gab ihm ihre Visitenkarte, es war ihr alles etwas peinlich, aber sie tat souverän, schlug die Autotür zu, hob die Hand und lächelte.

Es hatte dann nicht geklappt. Zuviel Termine, ihr Mann war nicht begeistert und so wichtig war es auch nicht gewesen. Aber dann hatte Bogner bei ihr angerufen, er habe etwas Neues gefunden. Und bald käme Beton darüber. Sie solle sich beeilen. Daraufhin hatten sie sich an seiner Waschanlage verabredet. Er wollte eigentlich vor ihr her fahren, um ihr den Weg zu zeigen. Naja, es war alles anders gekommen.

****

Krass! Ein Blick auf’s Außenthermometer zeigte 29°, dabei war es schon Abend. Angenehm kühl im Inneren des Chevrolet. Lässig und selbstzufrieden lehnte er sich zurück. Er konnte mit dem Knie steuern, der Tempomat tat das Übrige. Angenehm, ja , er hatte die Möglichkeit, sich sein Leben angenehm einzurichten. Er schob noch einmal die CD mit den mystischen Songs ins Fach und drehte auf volle Lautstärke.

Gerade hier, an der ehemaligen Grenze, am großen Graben, waren sie ausgestiegen und er hatte ihr seine Heimat gezeigt. Er fuhr über die Brücke. Vor der Wende war hier der Todesstreifen gewesen, Sumpfland, kontrolliert durch russisches Radargerät. Es gab kein Entrinnen. Wie war er nur dazu gekommen, ihr von der Sehnsucht zu erzählen, die er als Junge gehabt hatte? Das weite Land, durchgeschnitten. Drüben sah man die Fensterscheiben im Abendlicht glänzen. Zum Greifen nah war die Freiheit gewesen und doch unerreichbar. Wie er das System gehasst hatte.

Sie hatte ihm zugehört, nicht mitleidig, zum Glück, naja, sie war ja auch geschult im Zuhören. Trotzdem, soviel Interesse an seiner Person hatte er selten erlebt. Mücken und Bremsen hatten ihn attackiert. Er hatte mit den Armen um sich geschlagen, ohne Erfolg. Sie war ruhig geblieben: „Eine Bremse sitzt auf Ihrem Hemd. Wenn ich sie erschlage, wird Ihr Hemd blutig.“ Sie hatte nicht geschlagen. Mit einem leichten Fächeln entfernte sie die Bremse. Dann waren sie weiter gefahren. Er zeigte auf Hügel und nannte sie beim Namen. „Da, eine Kirchturmspitze genau am Ende der Straße. Gucken Sie mal in den Rückspiegel, da ist auch eine.“ Sie war verblüfft gewesen. Kilometerlange gerade Straße durch die Hügel des Ostens, vorne und hinten eine Kirche. Wie Zeigefinger und Wachtturm, bloß freundlicher. Vielleicht war Gott doch da gewesen.

Er hatte es jedenfalls ohne Gott geschafft. Rauszukommen aus dem System, aus seinem alten Beruf. Der Job lief gut. Sein Haus konnte sich sehen lassen. Nicht wie die anderen im Dorf, an denen nur notdürftig der Verfall beseitigt war. Er war eben auch in diesen Dingen formvollendet. Er hatte genügend Geld, für jeden Tag in der Woche ein anderes Auto, Frau und Kinder und einen Hund. Viel Arbeit, na klar. Jetzt war er dabei, sich einen Weinkeller einzurichten.

Während er mit den Fingern der rechten Hand das Schlagzeug imitierte, dachte er wieder an den grauenhaften Abend, als er im Keller auf den ersten Schädel gestoßen war. In Bruchteilen einer Sekunde waren ihm verschiedene Reaktionen in den Sinn gekommen. Schnell wieder zuschütten, weglaufen, die Polizei rufen, schreien, seine Frau holen oder einfach da bleiben. Das tat er nicht.Er hatte sich einfach hingesetzt und nachgedacht, auf der untersten Stufe der Kellertreppe.

Mein Gott, war das ein Schreck gewesen. Es lief gerade „Wetten, dass...“ im Fernsehen. Er fand es so absurd, das Gottschalk-Geplapper von oben zu hören, während er auf einen Leichenfund starrte. Jemand anders hätte sich erstmal eine Zigarette angezündet, aber er war Nichtraucher. Schließlich hatte er lose Erde über das grausige Ding gehäuft, die Pappe eines Bierträgers darüber gelegt, das Licht gelöscht, sich die Hände gewaschen und war nach oben gegangen.

Monika, seine Frau, hatte mit Mandy auf dem Ledersofa gelegen, auf dem Tisch Erdnussflips und Cola neben halbverblühten Astern. Er nahm wahr, dass Mandy schon wieder eine neue Haarfarbe hatte, ziemlich orange, eine kirschrote Strähne hing vor dem Gesicht. Musste man mit 15 so aussehen? Mutter und Tochter hingen am Bildschirm. Irgendeiner wollte aus einer Küchen-Arbeitsplatte ein Einrad machen. In drei oder vier Minuten. Egal. Schafft er’s oder schafft er’s nicht? Egal. Bogner war rausgegangen, brauchte Luft.

Rex, der alte Schäferhund, hob den Kopf. Springen konnte er schon lange nicht mehr. Die Hüften waren kaputt. Bogner hatte sich sich zu seinem treusten Freund gekauert, ihn zwischen den Ohren gekrault..

Bald würde er ihn begraben müssen. Ihn schauderte bei der Vorstellung, dass auch von Rex nur Knochen bleiben würden. „Komm, wir gehen ein Stück, alter Junge.“ Im Garten roch es nach faulen Äpfeln. Massenweise lagen sie unterm Baum, Wespen surrten bösartig durch die Luft, die untergehende Sonne hatte den Himmel helllila gefärbt. Bogners Grundstück grenzte an die Kirchenmauer. Große, graue Feldsteine, seit Jahrhunderten aufeinander ruhend. Genau das Richtige jetzt.

Er hatte seine Finger über den rauen, leicht bemoosten, kühlen Stein gleiten lassen, seine Stirn dagegen gelehnt und ein – aus – ein – aus geatmet. Manchmal ist Atmen das Beste, was man tun kann, hatte er gedacht.

Scharfe Bremsung. Die Ampel sprang auf rot. Er atmete hörbar aus. Bogner stellte die CD ab, sah aus dem Fenster und lächelte einer attraktiven Frau auf dem Gehweg zu. Hübsch. Im Sommer hat man viel mehr von den Frauen. Wenigstens ansehen durfte man sie ja. Neulich hatte eine 22jährige ihm Avancen gemacht. Obwohl er sich mit seinen 42 Jahren geschmeichelt fühlte, war er nicht darauf eingegangen. Das war nichts für ihn. Mit einem Ruck fuhr er wieder an und dachte an die Montageteile, die er reklamiert hatte. Morgen würden sie hart arbeiten müssen. Drei Minuten später war er zu Hause.

Tanz der Grenzgänger

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