Читать книгу Tanz der Grenzgänger - Svea Dircks - Страница 5
2. Rhythmus
ОглавлениеJuliane lief los, wie nahezu jeden Morgen, vor dem Frühstück. Sie genoss die kühle Luft, jeder Schritt brachte sie vorwärts, raus aus dem Dorf. Gleich würde der Berner Sennhund bellen, wie jedes Mal, wenn sie vorbeikam. Dann lagen die Felder vor ihr. Immer wieder anders, im Raureif, im Regen, bei Gegenwind, bei Rückenwind. Kahl, gepflügt, mit spriessenden Hälmchen. Abgeerntet. Der Geruch eines reifen Kornfelds war wunderbar, unvergleichlich. Silbrig schimmernd, aber noch unreif und grün hinter dem Ohr neigten sich die Ähren mit den langen Grannen an ihrer Seite. Weiter, weiter. Kleine Vögel schreckten auf, einer setzte sich alle paar Meter zu ihrer Linken auf den Zaun, um erneut seinen Platz zu verlassen, wenn sie näher kam. Sie sog die Luft ein. Sonne am Himmel, ein Weg unter meinen Füßen, dachte sie. Ich bin glücklich.
Heute würde ihr Mann von seiner Geschäftsreise wiederkommen.. Sie müsste ihm von dem Abenteuer mit Mr. Perfect erzählen. Nicht haarklein natürlich. Er war sowieso kein geduldiger Zuhörer. Würde er eifersüchtig sein?
Sie hatte sich in den letzten Jahren ganz schön gemausert, war selber oft unterwegs, übernachtete in Hotels. Eine Affäre hatte es jedoch nie gegeben. Obwohl ... die Versuchung war immer da. „Die Brücken am Fluss“, diesen Film hatte Juliane schon dreimal gesehen. Vereinsamte Frau trifft für vier Tage auf Resonanz, Aufmerksamkeit, die nicht nur ihrem Körper gilt. Ein Mann, der zu ihr passt wie ein Puzzleteil. Und den sie dann aus Treue zu ihrer Familie im Regen stehen lässt. „Wie würde ich in diesem Fall handeln?“, dachte sie manchmal. Eine Antwort gab es nicht, weil es keinen solchen Mann gab. Ihre Ehe war nicht schlecht, - aber manchmal hatte sie das diffuse Gefühl, dass etwas fehlte.
Juliane hatte sich entwickelt, weg von den Vorstellungen und Gewohnheiten ihres Mannes. Es fing damit an, dass sie keinen Kaffee mehr trank, nur noch Tee, grünen Tee. Fleisch aß sie kaum noch und abends bevorzugte sie Salate und Brot statt deftiger warmer Mahlzeiten. Das Fernsehen übte noch nie Reiz auf sie aus. Im Lauf ihres Lebens hatte sie viele Abende davor verbracht, ohne Lust, war währenddessen eingeschlafen. Erst seit einigen Monaten war das gemeinsame Wohnzimmer eine Oase ohne Fernseher. Sie hatte sich ein eigenes Zimmer im Haus eingerichtet, in endloser Kleinarbeit das Zimmer des erwachsenen Sohnes renoviert. Unaufhaltsam, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug vollzog sich die Veränderung .
Ihr Mann hatte ihr vor Jahren zu einer Stelle im städtischen Sozial-Zentrum verholfen. Menschen, die auf ihrem Lebensweg irgendwie gescheitert waren, konnten in dieser Einrichtung neue Orientierung finden. Ihre Aufgabe war es, Gespräche zu führen, gemeinsam mit den Klienten herauszufinden, ab wann es schief gegangen war und wie sie wieder auf die gerade Bahn zurückkommen konnten. Wie es ihre Art war, hatte sie sich total rein gegeben und herzliche Kontakte zu vielen Menschen aufgebaut.
In diesem Sommer wollte Juliane das Ziel erreichen, auf das sie seit Jahren hingearbeitet hatte. Selbständig sein. Sie hatte irgendwann gemerkt, dass sie nicht mehr gern zur Arbeit fuhr. Immer zögerte sie die Abfahrt hinaus, fand noch etwas zu tun, Blumen gießen, telefonieren, die Spülmaschine ausräumen, die Katze füttern. Sie klebte regelrecht zu Hause fest, wollte nicht weg und kam fast immer zu spät.
Juliane wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Laufen war anstrengend. Aber gut. Sie wollte die Luft in die Lungen saugen, das Leben spüren. Die Gerste war schon reif, anders als der Weizen. Vom Kornfeld war ein geheimnisvolles Knacken und Knistern zu hören. Die Hülsen sprangen auf, gaben die Frucht frei. Einen Moment verharrte sie, um diesem Klang zu lauschen. Wie von einem unsichtbaren Dirigenten wurde dieses unberechenbare Orchester zum Spielen gebracht.
Zum Glück bekam sie wegen der Pünktlichkeit keine Schwierigkeiten in der Einrichtung. Die Einzelgespräche liefen routiniert. Sie kam schnell auf den Punkt, konnte ihn förmlich riechen. Bei den Klienten gab es viel Gemeinsames. Frühe Störungen in der Entwicklung, mangelnde Geborgenheit, Vater abwesend, Mutter überfordert, psychisch krank, materialistisch eingestellt, gefühlskalt, süchtig oder nur am Arbeiten. Die falschen Freunde kennen gelernt, das Verlassenheitsgefühl betäubt, sich endlich zugehörig gefühlt, ein Typ, dem man helfen wollte und der einen schließlich „drauf“ gebracht hatte. Süchtig geworden, Schule und Lehre abgebrochen, ewige Jagd nach mehr, Schulden, Anschaffen, Knast, Kinder weg, alles weg. Und dann Therapie.
Wenn die Klienten ihren Nachnamen hörten, fügte sie gern hinzu: Hoffmeister, ja, ich bin ein Meister im Hoffen, sonst könnte ich diesen Job nicht machen. Viele sahen in ihr eine Art Mutter. Es war eigenartig. Auf den ersten Blick regte sich in Juliane manchmal Abscheu, Widerwille. So ein Obdachloser oder ein Junkie konnte einen schon fertig machen. Wenn sie dann noch ungepflegt waren und stumpfsinnig ......Aber nach dem ersten Gespräch, wenn die Fetzen der Lebensgeschichte sich zu einem diffusen Bild zusammenfügten, tauchte mit ziemlicher Sicherheit tief aus dem Bauch Zuneigung auf, Wärme, Mitgefühl. Das war die Basis zum Arbeiten. Und nach einem halben Jahr verschwanden die Menschen wieder, deren besondere Persönlichkeit gerade eben unter den Verkrustungen hervorzuleuchten begann, um zurückzufallen in alte Verhaltensweisen. Frauen gingen zu Männern zurück, die sie misshandelten, Männer griffen wieder zur Flasche, Jugendliche drifteten ab in sinnloses Zerstören.
Wie ein Kunstwerk, das mitten im Entstehen von Vernichtungswillen gepackt wird. Wie der Tod mitten im Leben.
In den letzten Jahren hatte sie sich gefragt, ob sie diese Art von Arbeit bis zum Ruhestand durchhalten würde. Der schiere Horror hatte sie gepackt. „Alles, was ich tue, ist wie ein Tropfen auf den heissen Stein. Dabei will ich lieber etwas Neues, etwas Eigenes in die Welt setzen, etwas, was aus meinem Innersten kommt. Wo dürfen meine Träume, meine Ideen und Begabungen leben?“ Diese Gedanken, die mehr einer tiefen Sehnsucht glichen, wirkten wie ein innerer Motor, der sie zu Höchstleistungen antrieb. „Wenn ich jetzt nicht die Kurve kriege, ist es zu spät“, sagte sie sich.
Die Füße setzten gleichmäßíg auf. Sie hatte ihren Rhythmus gefunden.
Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Langsam. Momentan ist’s gut. Es ist okay. Alles auf dem Weg. Grönemeyers ‚Mensch‘ ließ grüßen.
Ihre Begabung lag eindeutig im Bereich der Kreativität. Neue Ideen. Ungewöhnliche Ereignisse arrangieren. Happenings, hatte man früher gesagt. Vieles lag verschüttet unter der alltäglichen Routine. Suchtkranke und Depressive brauchten Struktur, Sanktionen, ein festes Regelwerk, Wörter, bei denen sich ihr die Nackenhaare sträubten. Sie liebte Außerplanmäßiges, Verrücktes. „Gestalte jeden Tag so, dass er der schönste deines Lebens sein könnte“, war mit 17 ihr Wahlspruch gewesen. Später hatte sie geglaubt, dass das Leben nur sinnvoll sei, wenn man es für ein höheres Ziel einsetze, die Familie, politische Aktivität, ein Leben für andere, für Gott.
Sie musste wenden, den gleichen Weg zurücklaufen. Die Autobahnbrücke schnitt ihr den Weg ab. An dieser Stelle erlaubte sie sich immer eine kleine Gehpause. Sie nahm die intensiven Farben der Feldblumen wahr, das Wogen der Gräser im Wind. Wie mit Bogner, dachte sie, während sie sich wieder in Trab versetzte. Schauen und genießen.
Ohne Fernweh hier und jetzt den Augenblick genießen. Sie spürte ihre Muskeln, ihre Eingeweide, ihre Knochen im Rhythmus der Schritte vibrieren.
Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Weiter. Weiter. Vor-wärts-kom-men. Langsam. Momentan ist’s gut. Es ist okay. Alles auf dem Weg.
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Bogner hatte den Spaten durch einen Spachtel ersetzt, kratzte vorsichtig die Erde weg. Beklemmende Stille im ganzen Haus. Seine Frau verbrachte einen Tag auf der Schönheitsfarm, Mandy und Alexander hatten irgendetwas vor, was, wusste er nicht mehr.
Mittlerweile hatte er an einer anderen Stelle noch eine Rippe gefunden, Schulterknochen und Reste einer menschlichen Hand. Er fragte sich, zu welchem Körper die Fragmente gehörten.
Er fand einen weiteren Schädel, mit eingedrücktem Gesicht. Pure, nackte Gewalt musste da am Werk gewesen sein. Abgetrennt vom Körper, verdreht und misshandelt. Das sollte niemand sehen. Ohne nachzudenken, hatte er eine kleine Grube gegraben, sie mit einem alten Handtuch ausgekleidet, den Schädel hineingelegt und zugedeckt. Ein Gebet konnte er nicht sprechen, aber danach war ihm zumute gewesen.
Seine Frau hatte nur die Nase gerümpft, als er ihr endlich von seinem Fund erzählt hatte. „Ist ja eklig, mach bloß schnell Fliesen drüber. Das will ich gar nicht sehen.“
Er musste den Boden des Kellers um mindestens 40 cm ausheben. Viele, viele Schubkarren würden nach oben befördert werden, über eine selbstgebaute Rampe, außen an der Treppe, bevor man Beton giessen konnte.
Mit dem Eifer eines Süchtigen arbeitete er weiter. Was sich abzeichnete, war ein Fuß, parallel dazu fand sich ein zweiter Fuß. Den Konturen eines menschlichen Skeletts nachgehend legte er tatsächlich Stück um Stück eines ganzen Körpers frei. Ein zweites Skelett. Es verschlug ihm den Atem. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Beine lagen nebeneinander, Becken und Rumpf wiesen keine Verletzungen auf, gefaltete Hände ließen auf eine christliche Beerdigung schließen. Der Kopf war seitwärts verdreht, mit aufgerissenem Kiefer. Lebendig begraben? Oder Opfer eines Kampfes? Er würde in der Geschichte des Dorfes forschen. Bis jetzt hatte er zwei komplette Skelette und diverse Knochen unterschiedlicher Größe gefunden, die er wie ein Puzzle ausgelegt hatte und ergänzte, je nachdem, was er fand. Es deutete sich an, dass mindestens fünf Körper in seinem Keller begraben lagen. War es womöglich ein Massengrab?
Manchmal, während er den Strahl des Hochdruckreinigers auf die Felgen eines Autos richtete, ertappte er sich bei dem Wunsch, mit derselben Wucht die Knochen zu säubern von allem Irdischen, sie frei zu machen von der Erde, die an ihnen haftete, die von Würmern durchpflügte. Dieser Mikrokosmos, der neues Leben hervorbringen würde, genährt vom Verfall. Er wollte so etwas raus haben aus seinem Haus. Er sah sich Skelette lieber im Museum an, mit historischen Etikettierungen.
Für heute hatte er genug gegraben. Bogner duschte, machte sich einen Cappuccino und setzte sich in die Sonne, um in der Chronik nach Ursachen für gehäufte Todesfälle zu suchen. Ein Auto hielt mit laufendem Motor vor dem Tor. Mandy schlurfte mit zwei Dosen Cola aus dem Haus. „Haste mal 20 €? Ich fahre mit Tommy zur Teufelsmauer, da ist ein Musikfestival.“ „Kann der den Motor nicht so lange ausmachen?“ Bogner gehörte zwar nicht zu den Umweltschützern, aber es stank einfach. Mandy zuckte nur die Achseln, pulte an ihrem Tattoo herum. Diese Tochter war ihm einfach zuwider, er ertrug ihren Anblick nicht, die geknickte Haltung, das Schlurfige, den Schlafzimmerblick, die zerrissenen Klamotten. Er wusste ganz genau, dass es nicht richtig war, ihr Geld zu geben. Aber für eine Diskussion fehlte ihm die Kraft. Und außerdem wollte er sie los sein, nicht länger um sich haben. „Hier. Viel Spaß!“, sein Portemonnaie war gut genug gefüllt. Sie nahm den Schein und kurz darauf hörte man das Auto, das mit quietschenden Reifen startete. Ein Grund mehr, sich über diese Tochter aufzuregen.
Die Schrift in der Chronik war schwer zu entziffern, deswegen nahm er die Sonnenbrille ab.
1850-1855 hatte die Cholera viele Opfer gefordert, am 15.Mai 1889 hatte sich ein furchtbares Unwetter ereignet: „...dunkle Gewitterwolken zogen sich über dem Dorfe zusammen. Unter beständigen Blitzen und Donnern strömte ein wolkenbruchähnlicher Regen vom Himmel herab und überschwemmte bald alle Straßen des Dorfes. Schwere Wagen und Ackergeräte, ja das Vieh aus den Ställen wurde vom Strome fortgetrieben, das Straßenpflaster aufgerissen und weidende Schafherden mussten im Hochwasser ertrinken.
Gewaltige Wassermassen hatten auch die Wände aus den Häusern gerissen bis auf die kahlen Fachwerke, ja, selbst die Gräber auf den Friedhöfen unterwühlt und die begrabenen Leichen ohne weiteres nach den benachbarten Ortschaften fortgespült, wo sie tags darauf wieder gesucht und an ihre Ruhestätte zurückgebracht werden mussten.“
Grausige Vorstellung. Das Hochwasser hatte jedoch keine Menschenleben gekostet. Aber eine Typhuswelle im Jahr 1889 konnte vielleicht die Erklärung liefern für seine Skelette. Dann wären sie 114 Jahre alt. Vielleicht lag die Ursache aber auch weiter zurück oder es war ein ganz normales Familiengrab auf dem Friedhof gewesen, über das Gras gewachsen war.
Die Sonne verschwand hinter weißen Cumuluswolken, während Schwalben unbeirrt über den Sommerhimmel jagten. Bogners Blick fiel auf den Apfelbaum, an dem sich sich erste kleine Früchte zeigten.
Er interessierte sich für Geschichte, besonders für die Kriege und Kämpfe der früheren Völker. Stundenlang konnte er sich vertiefen in die Kämpfe der Ottonen, der Hunnen, die Eroberungszüge der Kreuzritter. Jetzt fand er Hinweise auf eine große Schlacht in der Nähe seines Heimatdorfes. Heinrich der Vogelsteller, hatte seine zahlenmäßig unterlegene Heerschar ermutigt, sich dem Hunnenheer zu stellen. „ We sollen hir wissen, dat we manne sin, we sollen anlike fechten vor unsere kindere, ja, gott is in de sake. Se sin heiden, we sin christe.“ Etwa 20 000 Hunnen waren in die Senke getrieben worden und dort elend umgekommen. Was für ein Wahnsinn. Ein Grund mehr, sich von der Kirche fernzuhalten.
Bogner dachte an seine eigenen Waffen, die teilweise dekorativ an den Wänden seines Zimmers zu Hause angebracht waren, Dolche, Schwerter, eine Lanze, auch ein Messer aus fein geschliffenem Stein, das zum Häuten der erlegten Tiere gedient hatte, als die Männer noch Jäger und Sammler waren. Frank Bogner war beides. Und er liebte Waffen. Frauen und Waffen. Die wirklich gefährlichen Waffen hatte er in seinem Tresor verschlossen. Kleinkaliber, Pistole und Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr. Er würde niemals wehrlos sein. Konnte sein Hab und Gut, seine Familie verteidigen, ein Ritter des 21.Jahrhunderts. Aber Massen niedermetzeln nach den Kommandos eines Feldherrn war nicht seine Sache.
Über seine Züge glitt ein Lächeln, als er daran dachte, wie Frau Hoffmeister sich trotz ihrer Angst, die sie vor ihm verbergen wollte, ausgerechnet auf den Ledersessel neben seinem Waffenschrank gesetzt hatte, Axt und Schwert gekreuzt an der Wand über sich. Sie hatte sich selbst nicht gesehen. Er hätte ein Foto machen sollen.. Zwiespältige Frau, sehr besorgt und kontrolliert einerseits, naiv und vertrauensvoll andererseits. Er sah sie vor sich, .....wie ein neugieriges junges Reh .... obwohl sie schon über 50 war. Interessante Frau.