Читать книгу Mirjam - Himbeerküsse - Swantje van Leeuwen - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
A
m Donnerstag kam in Mirjam zum ersten Mal das Gefühl auf, dass Rebeccas Vertrauen in ihre Arbeitsleistung ein wenig gestiegen sei. Inzwischen waren ihr viel umfangreichere Aufgaben, einschließlich unmittelbarer Kontakte mit Kunden, von ihrer Chefin zugeschoben worden. Sie glaubte sogar, dass sich Rebecca ihr gegenüber etwas wärmer und persönlicher gab. Ihr war natürlich bewusst, dass es sich nur um ihre Arbeit handelte, der sie bestmöglich nachkam, freute sich aber dennoch darüber, dass sich der Umgang miteinander inzwischen ein wenig kameradschaftlicher gestaltete.
Die anfallende Arbeit hatte den Vormittag schnell vorbeigehen lassen. Mirjam hatte Rebeccas tägliche Routinen in den letzten Tagen sofort verinnerlicht – auch die, dass jeden Tag pünktlich um zwölf Uhr das Mittagessen anstand.
Nachdem sie einen kurzen Blick auf das Display ihres ›iPhones‹ geworfen und gesehen hatte, dass es gerade elf Uhr zweiundfünfzig geworden war, erhob sie sich vom Schreibtisch ihr direkt gegenüber und war überrascht, dass Rebecca es ihr nachtat. Sie hielt kurz inne und schaute sie an. »Was hast du vor?«, erkundigte sie sich, als diese nach ihrer sündhaft teuren Ledertasche griff.
»Nun«, setzte Rebecca lächelnd an, »ich dachte, etwas Abwechslung würde uns guttun. Wir könnten heute doch einmal gemeinsam zu Mittag essen. Es gibt da ein tolles Restaurant, das ›Señor Mostachio‹ an der ›Ruysdaelkade‹. Es ist noch nicht so bekannt und du würdest es vermutlich nicht allein finden, aber ich kann versprechen, dass es sich wirklich lohnt. Ich war schon eine Weile nicht mehr dort und denke, es ist mal wieder an der Zeit hinzugehen.«
Rebecca warf sich den Schulterriemen ihrer Tasche über, richtete ihre Jacke ein wenig und warf ihr einen erwartungsvollen Blick zu.
Mirjam wusste nicht genau, ob sich die Aussage, dass sie das Restaurant allein vermutlich nicht finden würde, eine freundliche Einladung war, sich ihr zum Essen anzuschließen, oder nichts weiter als eine erneute negative Äußerung betreffs ihrer Navigationsfähigkeiten war. Es stimmte, dass sie vor drei Tagen länger als erwartet benötigt hatte, um das Mittagsessen für Rebecca zu besorgen. Aber sie war kein völliger Trottel, wenn es darum ging sich in Amsterdam zurechtzufinden. Auch wenn ihr ›GPS‹ die Tendenz aufwies, sie lieber über malerischen Routen zum Ziel zu führen – und an diesem Tag hatte ihr die spektakuläre Aussicht eine verbale Verwarnung in Bezug auf ihr Zeitmanagement und Zuverlässigkeit eingebracht, kaum, dass sie das Büro wieder betreten hatte. Dieser Patzer war ihr direkt am Montag, ihrem ersten Tag, unterlaufen – hatte aber dazu geführt, dass sie anschließend sofort die Betriebsanleitung ihres Navigationsgerätes hervorgekramt hatte, um sich mit dem korrekten Programmieren zu beschäftigen. Auf keinen Fall wollte sie es sich mit ihrer Chefin bereits direkt in der ersten Woche ganz verscherzen.
Sie folgte Rebeccas Beispiel, und nachdem sie beide durch die Tür des Büros der Geschäftsleitung getreten waren, benutzte sie den ihr anvertrauten Schlüssel, um hinter ihnen abzuschließen.
Ihr gemeinsames Arbeitszimmer lag im hinteren Teil des riesigen Raumes, der sich zum Foyer hin öffnete, und in dem die Arbeitsplätze kabinenartig gestaltet worden waren. An den zahlreichen Schreibtischen saßen einige der künftigen Hoffnungsträger im niederländischen Immobiliengeschäft, die im Vorbeigehen kurz zu ihnen herüberblickten.
Mirjam bewunderte Rebeccas selbstbewussten Gang, den sich diese in all den Jahren beim Hinaufklettern auf der Karriereleiter zugelegt hatte. Für sie stand fest, dass bereits ihre hohen Wangenknochen und rabenschwarzen, kurzgeschnittenen Haare einschüchternd wirken mussten, gefolgt von ihrem hohen Wuchs und ihrem statuenhaften Profil. Auch konnte sie sich vorstellen, dass Rebecca all ihre Reize in Verbindung mit ihrer Habgier eingesetzt hatte, um dorthin zu gelangen, wo sie heute war – und dies vermutlich Zeit ihres Lebens.
In dem Moment, wo sie beide auf die Ausgangstür der Firma zugingen, hörte sie, dass Rebecca diesem oder jenem ihrer Angestellten noch eine klare Anweisung gab, was während ihrer Abwesenheit zu erledigen war. Zugleich machte sie noch einmal deutlich, dass die Mäuse nicht auf dem Tisch zu tanzen hatten, nur, weil sie, die Katze, aus dem Haus war. Sie wusste ja, dass es für ihre Kollegen die unausgesprochene Regel galt, selbst erst zum Mittagessen zu gehen, wenn sie wieder im Büro zurück war. Schließlich machte der Wohnungsmarkt ja auch keine Pause, nur um sich pünktlich zum Essen zu begeben, wie Rebecca ihnen immer wieder zu verstehen gab.
Während Mirjam hinter ihr her schritt, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, dass dies nicht einfach irgendeine Mittagspause mit ihr werden würde. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals mit einer Angestellten essen gegangen ist, dachte sie still, und die seltsamen Blicke der Belegschaft schienen ihr darauf die Antwort zu geben. Doch anstatt sich jetzt aufgeregt oder gar privilegiert zu fühlen, kam sie sich eher wie ein Haustier vor, das brav seiner Herrin folgte.
Sie war so darüber in Gedanken versunken, dass sie das grelle Sonnenlicht gar nicht richtig wahrnahm und zu spät die Augen zusammenkniff, sodass sie auf dem Bordstein fast mit Rebecca zusammenstieß, als diese kurz stehenblieb.
Rebecca, die Mirjams erschrockenes Keuchen wahrgenommen hatte, wandte sich ihr zu und hob fragend die rechte Augenbraue. »Habe ich gerade etwas verpasst?«, erkundigte sie sich, wissend, dass ihre Angestellten in diesem Moment über sie und Mirjam tratschten. »Ich denke, wir beide haben sie ein wenig aus dem Konzept gebracht, nicht wahr?« Bei ihren Worten umspielte ein süffisantes Lächeln ihre zart geschwungenen Lippen.
Ist das so? … Wissen meine Kollegen etwas, was ich nicht weiß?, fragte sich Mirjam, während wieder die Schmetterlinge in ihrem Bauch schlüpften und wie wild zu flattern begannen – ähnlich, wie sie es bereits am Montag getan hatten, nur diesmal weitaus heftiger. »Möglich«, antwortete sie ausweichend und zurückhaltend leise.