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Torben strich sich mit den Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich wieder den Stapeln alter Fotoalben und Andenken zu, die er auf die noch vorhandenen Möbel im Wohnzimmer seiner Großeltern verteilt hatte. Seine Mutter hatte ihm bei der Auswahl von Erinnerungsstücken absichtlich den Vortritt gelassen, wohl wissend, dass es auf diese Weise für ihn leichter sein würde, endgültig Abschied zu nehmen.

Durch das Fenster zum Garten, der im Glanz der ersten warmen Frühlingssonne erstrahlte, konnte er seine Mutter Renate sehen, wie sie gerade Wilfried, einem ihrer Nachbarn, der sich angeboten hatte, beim Ausräumen des Hauses zu helfen, ein Glas Wasser reichte und sich dabei ihre Hände kurz berührten. Ein wenig überrascht und mit einem leichten Gefühl von Eifersucht stellte Torben fest, dass seine dreiundsechzigjährige, aber noch immer gut aussehende Mutter unter dieser Berührung nicht zurückschreckte, sondern dieses Zeichen von körperlicher Nähe und Verbundenheit fast dankend annahm.

Der Tod seines Vaters lag mittlerweile drei Jahre zurück und vor einigen Monaten hatte Torben bemerkt, dass Wilfried – ebenfalls bereits seit einiger Zeit verwitwet und für knappe siebzig noch recht rüstig – sich sanft seiner Mutter genähert hatte. Er hatte ihren Schmerz über den plötzlichen Verlust respektiert und ihr die nötige Zeit gelassen, sich an die neue Situation zu gewöhnen.

Wilfrieds Wohnung lag zwei Etagen unter der ihren und durch die alltäglichen Besorgungen oder das Annehmen von Briefen und Paketen kamen beide mehr als einmal miteinander ins Gespräch.

Wilfried – immer höflich und hilfsbereit – brachte irgendwann den Mut auf, sie zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, ihn zur Eröffnung einer neuen Ausstellung für zeitgenössische Malerei zu begleiten. Der Prenzlauer Berg, wo sie wohnten, war berühmt für junge Künstler, die – oft vergebens – auf ihren Durchbruch warteten. Sie sagte zu und aus dem Besuch der Vernissage wurden gemeinsame Spaziergänge, Ausflüge und stundenlange Gespräche. Beide genossen die Gesellschaft des anderen. Es wuchs Vertrauen, Vertrautheit und im Laufe der Zeit Zuneigung.

Der kurze Augenblick der Eifersucht war längst verflogen. Insgeheim war Torben froh, dass seine Mutter jemanden gefunden hatte, mit dem sie vielleicht wieder ihr Leben teilen würde. Wilfried würde sicherlich nie versuchen, die Stelle einzunehmen, die sein Vater für seine Mutter in den langen Jahren ihrer Ehe erlangt hatte. Ihm würde vielmehr ein kleines Stück Teilhabe an Renates Leben vollauf genügen.

Torben versuchte weiterzuarbeiten, aber es wollte ihm in diesem Zimmer, in dem er als Kind so viele glückliche Stunden verbracht hatte, einfach nicht gelingen, sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren.

Mit Mitte dreißig war er seit Langem beruflich unabhängig. Er hätte schon längst eine eigene Familie gründen können, aber er war noch immer oder genauer: mal wieder ungebunden. Um körperlich in Form zu bleiben und den beginnenden Fettanlagerungen an Hüfte und Bauch zu begegnen, hielt er sich, so oft es ging, mit Laufen und Schwimmen fit.

Seine Arbeit führte ihn jetzt zwar um die ganze Welt, den größten Teil seiner Kindheit hatte er jedoch in dieser kleinen, recht idyllisch anmutenden brandenburgischen Gemeinde vor den Toren Berlins in der ehemaligen DDR verbracht. Dass er seine Kindheit so positiv in Erinnerung hatte, war sicherlich auch ein großes Verdienst seiner Großeltern, die nach langen und schweren Krankheiten beide nun innerhalb weniger Wochen verstorben waren, ein weiterer Schicksalsschlag für seine nach außen so starke und innerlich doch so zerbrechliche Mutter. Torben fragte sich, wo sie nur die Kraft hernahm, alle Widrigkeiten des Schicksals so tapfer zu ertragen.

Renate Trebesius, geborene Schauweiler, war es erst nach drei Fehlgeburten und neun Ehejahren gelungen, einen gesunden Jungen auf die Welt zu bringen. Ein freudiges Ereignis, mit dem zu diesem Zeitpunkt niemand mehr gerechnet hatte. Vielleicht gerade deshalb schlug Torben in seiner Familie von frühester Kindheit an nur Liebe und Wärme entgegen. Er konnte sich tatsächlich im Moment nicht daran erinnern, ob und wann seine Eltern oder Großeltern ihn trotz seines Temperaments, das er laut seiner Mutter von einem unbekannten Verwandten geerbt haben musste, oder seines sprichwörtlichen Starrsinns je wirklich gescholten oder gar in irgendeiner Weise bestraft hätten.

Plötzlich sah er seine Großmutter vor sich, wie sie am Tisch mit ihm Bilder malte und Papierhüte faltete, oder seinen Großvater, der ihm höchst wissenschaftlich erklärte, wie man einen lockeren Zahn mit einem Garnfaden ziehen könnte, und dabei nach dem Kopf seines Enkels griff, um ihm dies sofort zu zeigen, was dazu führte, dass sich der Zahn vor Aufregung von selbst löste und der schmale sechsjährige Junge ihn verschluckte. Er erinnerte sich, dass er wochenlang vergebens darauf gewartet hatte, dass der Zahn wieder auftauchte, übrigens mit all den höchst unangenehmen, aber notwendigen Handlungen, die mit einer solchen Wartezeit und Suche verbunden waren. Seine Großmutter war es auch gewesen, der er vor allen anderen schüchtern und verlegen, wie er damals manchmal war, seine erste feste Freundin Julia vorgestellt hatte.

Torben hatte schon vor der sogenannten „Wende“ seine schriftstellerischen Fähigkeiten entdeckt und nutzte 1990 die neu gewonnenen Freiheiten, um mit einigen Freunden auf dem Gymnasium eine Schülerzeitung herauszugeben. In den letzten beiden Jahren seiner zwölfjährigen Schulzeit stieg er quasi zum Chefredakteur auf und blickte in dieser Funktion irgendwann in die schönsten und strahlendsten grünen Augen, die er je gesehen hatte.

Sie gehörten einem aufgebrachten, schwarzhaarigen, sechzehnjährigen Mädchen mit Pferdeschwanz, welches ihm lautstark erklärte, dass das Nichtveröffentlichen ihrer eingereichten Fotografie Zensur und er sowieso ein arroganter Idiot sei. Torben, der zwar nicht im Geringsten wusste, um welches Foto es sich handelte, und noch nicht einmal für die Auswahl der Aufnahmen verantwortlich war, stieg jedoch nur zu gerne in das Wortgefecht ein. Er erklärte ihr, dass ihre Aufnahme unscharf, nicht ausreichend belichtet und sie sowieso eine schlechte Fotografin sei. Das wiederum brachte die Besitzerin der grünen Augen dazu, sich fast auf ihn zu stürzen. Nur die Intervention seines damaligen besten Freundes Michael hatte Schlimmeres verhindern können.

Das anschließende Gespräch zwischen Torben und der schönen Unbekannten, die sich als Julia Hartwig vorstellte und etwa ein Jahr jünger war als er selbst, klärte das Missverständnis nicht nur auf, sondern war der Beginn einer sechsjährigen wundervollen und intensiven Liebesbeziehung.

Julia wurde als Fotografin fester Bestandteil des Redaktionsteams und folgte Torben später an seine Uni nach. Während er Journalistik studierte, schrieb sie sich für Grafik und Design ein. Das Ende ihrer Beziehung kam mit keinem lauten Knall oder gar durch einen Einfluss von außen. Sie brach irgendwann einfach auseinander, vielleicht war es die frühe Bindung, die beide eingegangen waren, und der Wunsch beider, noch etwas anderes erleben zu wollen, von dem sie aber eigentlich gar nicht wussten, was es sein könnte. Torben – immer verrückt nach interessanten Geschichten und neuen Grenzerfahrungen, die er beispielsweise als Anhalter trampend im Ausland erlebte – gab mit seinem unruhigen Geist den endgültigen Ausschlag für die Trennung und verließ Julia noch vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag – eine Entscheidung, an die er sich in sentimentalen Momenten, wenn Freunde und Bekannte sesshaft wurden oder Kinder bekamen und er sich dadurch einsam und allein fühlte, manchmal wehmütig erinnerte.

Julia und er hatten natürlich wie viele andere Paare vor ihnen die Absicht, befreundet zu bleiben. Sie verloren sich aber schon nach wenigen Monaten aus den Augen. Jahre später las er eher zufällig ihren Namen unter einigen Fotoaufnahmen über moderne Architektur. Offensichtlich hatte sie doch noch ihre frühere Passion zum Beruf gemacht.

Da seine Familie Julia so gemocht hatte, verzichtete er danach meistens darauf, seine neuen Eroberungen vorzustellen, wohl auch deshalb, weil er bei keiner von ihnen das Gefühl hatte, dass sie die Frau sein könnte, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte, obwohl nicht wenige genau diese Hoffnung hegten.

So kam es, dass ihm bei den Nachfragen seiner Großmutter, die augenscheinlich stark auf Urenkel hoffte, regelmäßig sein Großvater zu Hilfe eilte und für ihn antwortete: „Kaum schläft man zwei, drei Mal mit einer Frau, schon sagen die Leute, man hat was mit ihr! Stimmt’s, Torben?“ Die Reaktion seiner Großmutter war immer die gleiche und ähnelte einer Moralpredigt für seinen Großvater, der diese stoisch und ihm zuzwinkernd über sich ergehen ließ. Torben jedoch war froh, auf diese Weise vom ursprünglichen Thema abzulenken und um eine Antwort herumzukommen.

Er musste unweigerlich schmunzeln, als er an jene Momente dachte, und urplötzlich wurde ihm bewusst, wie viel ihm beide über all die Jahre hinweg bedeutet hatten und wie sehr sie ihm fehlten.

Er stand auf und ging zu dem großen Bücherregal, das sein Großvater einst selbst gebaut hatte, und strich über die Buchrücken, um etwas vom Geist seiner Großeltern, die Bücher so sehr geliebt hatten, aufzunehmen. Sie hatten sich sogar erst in den Neunzigerjahren einen Fernseher angeschafft, als ihre Augen langsam schlechter wurden. Selbst dann vertraten sie noch immer die Meinung, dass das Fernsehen einen negativen Einfluss auf die Fantasie der Menschen hätte. Letztendlich war es sicherlich seinen Großeltern zu verdanken, dass er die Liebe zum Schreiben für sich entdeckt hatte.

Er genoss einen recht guten Ruf als Reisejournalist. Nicht, dass er es nicht mit investigativem Journalismus oder einer festen Anstellung in einer Redaktion versucht hätte, aber es war ihm schon immer schwergefallen, sich anderen unterzuordnen.

Die letzte diesbezügliche Erfahrung lag jetzt vier Jahre zurück. Er hatte damals acht Wochen bei den deutschen Truppen in Afghanistan verbracht und seine Erlebnisse als Leitartikel niedergeschrieben. Allerdings gefiel es seinem Redakteur nach Lektüre des Entwurfs überhaupt nicht, dass deutsche Soldaten mit Langeweile, Pornos, Computerspielen sowie Alkohol- und Gewaltexzessen die Freiheit am Hindukusch verteidigten. Als ein Koautor retten sollte, was noch zu retten war, entschloss sich Torben kurzerhand, das Gastspiel Festanstellung zu beenden, und nahm das Angebot eines anderen Verlagshauses für die mehrmonatige Berichterstattung über eine Südamerika-Rundreise einer Gruppe von Naturforschern an.

Torben musste sich eingestehen, dass das Bücherregal in seiner Erinnerung irgendwie eindrucksvoller und majestätischer gewesen war als jetzt, da er davorstand. Eigentlich waren es nur einige massive Bretter, die sein Großvater dunkel gestrichen und mehr schlecht als recht zusammengezimmert hatte, jedoch mit einem solch großen Erfolg, dass das Regal sechzig Jahre und länger seinen Dienst getan und alle Renovierungen und Veränderungen der Einrichtung durch seine Großmutter überstanden hatte. Als Junge hatte Torben anhand der unterschiedlich hohen Regalböden regelmäßig überprüft, ob er wieder ein Stück gewachsen war. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, ob es ihm je ohne Hilfsmittel gelungen war, das oberste Regal zu erreichen. Heute, mit einem Meter achtzig, würde es ihm aber zweifellos gelingen und er beschloss, sich anstelle der Fotoalben erst einmal den Büchern zuzuwenden, die seine Großeltern im Laufe der Zeit zusammengetragen hatten.

Wenige Augenblicke später hielt er die gesammelten Werke ­Goethes in zehn Bänden in den Händen, gefolgt von einer Fassung des „Bürgerlichen Gesetzbuches“ aus dem Jahre 1937, nebst „Jugendwohlfahrtsgesetz“, wie sein Großvater einst betont hatte, einem Roman aus dem Jahre 1913 von Karl Strecker namens ­„Lebensstudenten“ und der 1940 veröffentlichen „Königsbotschaft“ von Carl Schünemann. Er musste sich eingestehen, dass er von den beiden letzten Autoren noch nie etwas gelesen hatte, und entschied, es auch weiterhin dabei zu belassen.

Während er sich noch Gedanken darüber machte, ob seine Großeltern absichtlich auf eine systematische Ordnung ihrer Bücher verzichtet hatten, bemerkte er, dass hinter den gerade entnommenen Bänden ein weiteres, in rotes Leder gebundenes, größeres Buch zum Vorschein kam, das er vorher noch nie in dem Regal bemerkt hatte. Als er sah, dass auf dessen vorderem Deckel ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis prangte, wurde ihm klar, dass der Platz in der zweiten Reihe sicherlich nicht zufällig gewählt worden war. Nicht jeder x-beliebige Besucher sollte offensichtlich von seiner Existenz erfahren.

Der Buchrücken verkündete in altdeutscher Schrift, dass es sich bei dem Werk um die Grundlage der Ideologie des Dritten Reiches handelte: „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Der Fund erstaunte ihn, da seine Großeltern ihm gegenüber nie auch nur ansatzweise Sympathien für dieses noch am eigenen Leib erfahrene Kapitel der deutschen Geschichte geäußert hatten. Torben ergriff das Buch, das in einem erstaunlich guten Zustand und ohne jede Gebrauchsspuren war, ließ sich in einen großen alten Ohrensessel sinken und schlug es auf.

Nichts ahnend blickte er plötzlich in die Augen des selbst ernannten Führers aller Deutschen, dessen schwarz-weiße Porträtaufnahme die Mitte der ersten linken Seite einnahm. Die rechte Seite verkündete, dass es sich um eine ungekürzte Ausgabe handelte, die beide Bände, „Eine Abrechnung“ und „Die nationalsozialistische Bewegung“, vereinte. Aber das nahm Torben schon nur noch im Unterbewusstsein war, denn eine handschriftliche Widmung unter der Fotografie schlug ihn völlig in ihren Bann.

Der Eintrag – in blauer Tinte und leicht krakeliger Handschrift, die jeden Grafologen sofort zu diversen Deutungen verleitet hätte – lautete: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Adolf Hitler, Berlin d. 30.04.1945.“

Etwas weiter darunter stand, augenscheinlich mit noch unruhigerer Hand geschrieben, aber erkennbar vom gleichen Verfasser: „Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann!“

Selbst Torben, dessen Wissen über das Dritte Reich nicht über seine schon erheblich zurückliegende Schulbildung hinausging, wusste, dass der 30. April 1945 als offizieller Todestag Adolf Hitlers genannt wurde. Sollte die Widmung tatsächlich an diesem Tag gefertigt worden sein, hätte der Führer sie also unmittelbar vor seinem Tod geschrieben. War die Widmung echt? Könnte es sein, dass seine Großmutter oder wohl eher sein Großvater als Wehrmachtssoldat das Buch tatsächlich vom Führer des Tausendjährigen Reiches erhalten hatte? Aber wofür? Oder gehörte es jemand anderem und seine Großeltern waren nur zufällig in den Besitz des Buches gelangt? Und was bedeutete die geheimnisvolle Widmung? Fragen über Fragen, die sich zweifelsohne nicht nur ein Journalist bei einem solchen Fund stellen musste.

Er blätterte das Buch auf andere Eintragungen durch, aber der ursprüngliche Eigentümer, sollte es denn einen gegeben haben, hatte weder seinen Namen vermerkt, noch deuteten Randkommentare oder Unterstreichungen darauf hin, dass es überhaupt jemand gelesen hatte. Der Ursprung und die Bedeutung der Widmung ließen sich nicht so leicht entschlüsseln. Sie war und blieb mysteriös.

Torben – völlig in seinen Gedanken versunken – bemerkte nicht, dass zwischenzeitlich seine Mutter das Zimmer betreten hatte, und erschrak ein wenig, als er plötzlich ihre Stimme sehr nah neben sich vernahm. „Was siehst du dir da an? Wolltest du dir nicht ein paar Fotos heraussuchen?“

„O Gott, musstest du mich so erschrecken?“, entgegnete Torben. „Und ja, klar wollte ich das! – Aber du müsstest mich eigentlich kennen, die Bücher haben mich irgendwie abgelenkt.“

Er schlug das Buch zu und reichte es seiner Mutter mit den Worten: „Sag mal, hast du das schon einmal gesehen?“

Die Reaktion seiner Mutter ähnelte seiner eigenen wenige Minuten zuvor. „Ach du meine Güte ‚Mein Kampf‘, nein, das kenne ich nicht. Mit so etwas hatten deine Großeltern doch nichts am Hut. Sag bloß, es stand hier im Regal?“

„Ja, es lag hinter der obersten Reihe Bücher. Schau dir bitte die Widmung an!“, forderte Torben sie auf.

Seine Mutter las die Widmung offensichtlich zwei Mal und blickte danach Torben skeptisch an. „Dein Großvater hat mir nie gesagt, dass er Hitler getroffen hat, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er im Krieg irgendetwas Besonderes getan haben kann, was eine solche Begegnung oder gar ein persönliches Geschenk gerechtfertigt hätte. Also, die Antwort auf deine Frage, die du mir sicherlich gleich stellen wirst, lautet: Nein, ich habe keine Ahnung, was die Widmung bedeutet.“

„Du scheinst mich recht gut zu kennen“, entgegnete er schmunzelnd.

„Du bist mein Sohn! Ich habe dich neun Monate mit mir herumgetragen und danach aufwachsen sehen. Auch wenn du mir jetzt nicht mehr alles erzählst, wenn dich einer kennen sollte, bin ich das!“ Sie lachte und fuhr ihm mit einer Hand durch die Haare, als ob er noch immer ein kleiner Junge wäre.

Torben lies es geschehen und bohrte weiter: „Okay, du hast gewonnen! Aber fällt dir keine Erklärung dafür ein? Ich weiß, dass Großmutter während der letzten Kriegsjahre auf dem Land gewohnt hat. Sie kann das Buch meiner Meinung nach nicht geschenkt bekommen haben. Großvater wiederum hat mit mir über den Krieg oder was dort passiert ist, nie wirklich gesprochen. Seine Erlebnisse haben mich natürlich trotzdem interessiert und ich habe ihn ziemlich oft danach gefragt, aber er wollte partout nicht antworten. Ich vermute, die Erinnerungen haben ihn zu stark belastet. Ich meine, er wollte wohl nicht, dass alte Wunden aufgerissen werden. Eigentlich weiß ich nur, dass ihn die drei Jahre, die er in russischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, fast umgebracht haben.“

„Mit deiner Großmutter hast du recht. Sie wurde hierhergeschickt, weil es durch die ständigen Bombardierungen in Berlin zu gefährlich war.“ Seine Mutter war, während sie sprach, zum Wohnzimmertisch gegangen, nahm sich jetzt ein abgegriffenes rotes Fotoalbum und schlug es auf. „Hier, kennst du dieses Foto?“

Torben blickte in das Gesicht eines mageren, ernsten jungen Mannes, der vielleicht zwanzig Jahre alt war.

„Das ist dein Großvater Hans Schauweiler als junger Wehrmachtssoldat. Er war weder Offizier noch Angehöriger der Waffen-SS, noch hat er Heldentaten in diesem Krieg vollbracht. Ich weiß, dass er an die Front nach Frankreich musste, nachdem er wie Tausende andere auch eingezogen worden war, und dort einer Artillerieeinheit angehörte. Jedenfalls hat er immer erklärt, dass er sich seinen Hörschaden dort geholt habe. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie befand er sich, zumindest glaube ich das, mit seiner Einheit irgendwie ständig auf dem Rückzug. Die letzten Monate des Krieges hat er Berlin mit verteidigt. Wenige Tage vor der Kapitulation der Nazis kam er aber ziemlich erschöpft und in ziviler Kleidung nach Hause. Er sagte immer, dass er deine Großmutter noch einmal sehen und sie bitten wollte, auf ihn zu warten, da er wusste, dass eine Internierung oder Inhaftierung aller Wehrmachtsangehörigen durch die Siegermächte unausweichlich war. Großmutter sollte wissen, dass er zumindest bis zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war und die Kämpfe überstanden hatte. Er wurde einige Tage später dann auch in diesem Haus von russischen Soldaten verhaftet und deportiert. Alles andere weißt du bereits. Die nächsten drei Jahre konnten sich deine Großeltern nur ein halbes Dutzend Briefe und Karten schreiben und er kam – von schwerer körperlicher Arbeit gezeichnet – krank und geschwächt aus der Gefangenschaft zurück. Die Russen haben die Deutschen verständlicherweise nicht unbedingt gut behandelt. Deine Großmutter hat ihn gemeinsam mit ihrer Familie aber wieder aufgepäppelt. Und die nächsten sechs Jahrzehnte haben beide zusammen hier gelebt.“

„Was nach 1945 geschehen ist, weiß ich, aber hat er dir – seiner einzigen Tochter – nicht irgendetwas vom Krieg, von den Kämpfen in Berlin oder den Orten seiner Stationierung erzählt? Überleg doch bitte noch einmal!“, ließ Torben nicht locker.

„Vielleicht liegt es ja daran, dass ich kein Mann bin. Mich hat das weder interessiert, noch hatte ich das Gefühl, dass dein Großvater darüber sprechen wollte. Seien wir ehrlich, niemand hat diesen Krieg ohne Narben an Körper und Seele überstanden. Therapien oder so etwas Ähnliches gab es damals noch nicht. Die meisten haben ihre Erlebnisse einfach verdrängt und dein Großvater gehörte eindeutig zu ihnen.“

„Ich weiß nicht, ob ich es jetzt finde“, sagte seine Mutter, während sie sich durch die restlichen Fotoalben wühlte, „aber dein Großvater hat mir irgendwann einmal ein Foto mit einer Gruppe Soldaten gezeigt. Es handelte sich, wenn ich mich recht erinnere, um eine Aufnahme aus seiner Grundausbildung. Darauf waren bestimmt zwanzig junge Männer zu sehen, die vor einem Flakgeschütz standen. Eigentlich kann man sie gar nicht als Männer bezeichnen, sondern eher als Jungs. Die meisten von ihnen waren bestimmt das erste Mal von zu Hause weg; aber alle sahen so glücklich und lebensfroh aus. Dein Großvater sprach sehr euphorisch über diese Zeit. Als ich ihn fragte, was aus den anderen geworden ist oder ob er noch Kontakt zu ihnen hat, änderte sich seine Stimmung schlagartig. Ihm traten die Tränen in die Augen und er sagte, sie seien alle gefallen. Er sei der Einzige, der diesen elenden Krieg überlebt hat.“

Nachdem seine Mutter den nächsten Stapel Fotos durchgesehen hatte, sah sie auf und sagte: „Es tut mir leid, Torben, ich kann das Foto einfach nicht finden.“

„Es ist schon gut, Mom, das ist nicht so wichtig“, entgegnete Torben. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte er sie jedoch: „Du sagtest, Großmutter und Großvater haben sich während der Gefangenschaft geschrieben, das haben sie doch bestimmt auch schon während des Krieges. Wie ich meine sentimentale Großmutter in Erinnerung habe, hat sie diese Briefe doch bestimmt aufgehoben.“

Bevor er weiterreden konnte, fiel ihm seine Mutter ins Wort und sagte: „Oh, Torben, wie gut deine Großmutter dich doch kannte! Schon einige Monate vor ihrem Tod bat sie mich, alle Briefe zwischen deinem Großvater und ihr, die sie tatsächlich aufgehoben hatte, gemeinsam mit einigen anderen Sachen zu vernichten. Und das habe ich auch getan. Nachdem dein Opa gestorben war, hat sie alle Briefe nochmals gelesen. Sie sagte mir, sie seien sehr persönlich und sie wolle nicht, dass andere Menschen sie jemals zu Gesicht bekommen. Der Inhalt gehe nur Hans und sie etwas an. Mit einem Lächeln hat sie hinzugefügt: Und wir wollen doch nicht, dass der Junge eine kitschige Liebesgeschichte daraus macht! Wir haben beide damals so darüber gelacht. Rückblickend war es eines der letzten Lachen, das ich von ihr gehört habe. Ach Torben, sie haben dich beide so geliebt. Weißt du das eigentlich?“

Durch den Kloß in seinem Hals, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, schaffte es Torben nur, ein kehliges „Ja!“ als Zustimmung auszustoßen. Er kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an und wandte sich wieder den auf dem Wohnzimmertisch angehäuften Erinnerungen zu.

In den nächsten Minuten betrachteten seine Mutter und er gemeinsam und schweigend die Fotoalben und losen Fotos. Hunderte Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Farbfotografien zeigten die – wie viele lachende Gesichter verkündeten – meist glücklichen Momente ihrer Familie in den letzten fast einhundert Jahren. Er sah die Eltern seiner Großmutter beim Bau des Hauses. Er sah seinen Großvater als bereits hoch aufgeschossenen Jugendlichen mit seiner viel jüngeren Schwester an der Hand, die später bei der Bombardierung Magdeburgs sterben sollte. Er sah seine Großeltern mit ihrer achtzigköpfigen Hochzeitgesellschaft. Er sah sich selbst mit seinem Vater unter dem Weihnachtsbaum.

Plötzlich sagte seine Mutter: „Möglicherweise gibt es aber jemanden, der dir weiterhelfen kann zu erfahren, wie dein Großvater die letzten Kriegstage in Berlin verbracht hat.“

„Wirklich? Wer soll das sein? Ich dachte, die meisten seiner damaligen Freunde und Bekannten sind verstorben?“

„Du kennst ihn auch“, erwiderte sie. „Er war auf der Beerdigung deines Großvaters, ein hagerer alter Mann. Er lief an Krücken, und das sehr schlecht. Du hast ihn gestützt, als er damit in der weichen Friedhofserde einsank. Erinnerst du dich?“

Torben nickte zwar, aber seine Erinnerung an den Mann, von dem seine Mutter sprach, war nur sehr vage. Es war ein regnerischer und trüber Nachmittag gewesen. Das Wetter hatte zu dem Anlass gepasst. Sollte er irgendjemandem geholfen haben, so hatte er es als nicht besonders wichtig erachtet und einfach vergessen.

Sein Mutter redete weiter: „Sein Name ist Konrad Reiher. Dein Großvater und er haben sich wohl im Krieg kennengelernt und vor einigen Jahren – wie sollte es in ihrem Alter auch anders sein – auf der Beerdigung eines gemeinsamen Bekannten wiedergetroffen. Sie haben danach ab und zu miteinander telefoniert. Reiher wohnte zu diesem Zeitpunkt schon in einem Pflegeheim. Ich glaube, es befindet sich am Crossinsee. – Mir fällt gerade ein, bei der Beisetzung deiner Großmutter habe ich ihn gar nicht gesehen. Es wäre sicherlich sehr schade, aber vielleicht ist er ebenfalls schon verstorben. Er müsste ja auch bereits weit über achtzig Jahre alt sein und gesund sah er schon damals nicht aus. Einen besseren Rat kann ich dir wirklich nicht geben. Es tut mir leid.“

„Das muss es nicht! Vielleicht besuche ich ihn einmal, danke für den Hinweis. Möglicherweise lasse ich die Geschichte aber auch auf sich beruhen“, antwortete Torben und meinte es auch so. Im Augenblick waren das Buch und dessen rätselhafte Herkunft für ihn nicht so wichtig.

Er nahm den rechten Arm und zog seine Mutter an sich. Zwar tat er das, um ihr durch die körperliche Nähe etwas Kraft zu vermitteln, aber eigentlich – so gestand er sich ein – war es schon immer genau umgekehrt gewesen.

Seine Mutter, die instinktiv wusste, wie lange solche Momente dauern durften, ohne für Torben peinlich zu erscheinen, raffte sich kurz darauf auf – obwohl sie die Umarmungen ihres Sohnes so genoss – und sagte: „Genug gefaulenzt, lass uns jetzt mit dem Ausräumen weitermachen. Wilfried glaubt sonst noch, er muss hier alles alleine machen!“

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