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IV
ОглавлениеZwei Stunden später saßen sie in Torbens zehn Jahre altem VW Golf und fuhren in Richtung Wandlitz vor den Toren Berlins.
Sie hatten die Zeit genutzt, um noch etwas essen zu gehen, wobei Torben überrascht wurde, welche Menge an Kleinigkeiten in den Magen eines Chiwawas passten. Noch im Park hatte der Professor einen seiner ehemaligen Mitarbeiter angerufen und gebeten, etwas über die Dammsmühle in Erfahrung zu bringen. Offensichtlich genoss Professor Meinert noch immer ein hohes Ansehen bei seinen ehemaligen Angestellten, denn bereits vor dem Dessert rief dieser zurück.
Sie erfuhren, dass es sich bei der Dammsmühle, oder besser, dem Schloss Dammsmühle um ein neubarockes Herrenhaus nördlich von Berlin in der Nähe von Wandlitz handelt, das über den Ortsteil Waldsiedlung zu erreichen ist.
Dieser Ortsteil war 1950 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, als beschlossen wurde, die wichtigsten SED-Politbüromitglieder der kommunistischen DDR in einem gesonderten, speziell gesicherten Komplex unterzubringen, der vom Ministerium für Staatssicherheit leichter als die Stadthäuser in der Berliner Innenstadt abzuschirmen war. Die Bewohner lebten im Vergleich zu anderen DDR-Bürgern dort recht luxuriös. Das wenige Kilometer entfernte Schloss Dammsmühle wurde in diesem Zusammenhang vom Inlandsgeheimdienst der DDR vereinnahmt und diente über Jahrzehnte den roten Bonzen als Jagdschloss.
Der Name des Anwesens war im Übrigen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Mühle zurückzuführen, die sich im 16. Jahrhundert an gleicher Stelle befand.
Ursprünglich wurde das Schloss im 18. Jahrhundert von einem Berliner Lederfabrikanten als zweigeschossiges Palais in der Nähe des Mühlenbecker Sees errichtet. Später wurde es umgebaut, aufgestockt und unter anderem mit einem Turm mit Zwiebelhaube versehen. Die Besitzer wechselten mehrfach. Selbst Napoleon, Wilhelm II. oder Zar Nikolaus II. logierten hier.
Während der Nazizeit wurde der letzte Eigentümer, der Brite Harry Goodwin Hart, enteignet, der damals nicht nur Direktor von „Unilever“, sondern auch mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Auf diese Weise gelangte die Dammsmühle in die Hände von Heinrich Himmler. 1943 wurde sie kurzzeitig Außenlager des nahe gelegenen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Fünfundzwanzig Häftlinge hatten die „ehrenhafte“ Aufgabe, Himmlers Parkanlagen rund um Schloss und See zu pflegen. Kurz vor Kriegsende bezog der neue Kommandeur der Heeresgruppe Weichsel, Generaloberst Gotthard Heinrici, dort sein Hauptquartier.
Diese Information begeisterte den Professor regelrecht und er erachtete es als notwendig, Torben die Person des Obersts sofort näherzubringen. So erfuhr er, dass Heinrici kommandierender Offizier bei der „Schlacht um die Seelower Höhen“ war, die vor den Toren Berlins noch zu sehr großen sowjetischen Verlusten, vorrangig bei Panzern, geführt hatte. Weil er letztendlich doch den Rückzug befahl, wurde er jedoch am 29. April 1945 von Hitler – einen Tag vor dessen Freitod – seines Postens enthoben und sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Nach Hitlers Suizid wurde freilich auch dieser Befehl nicht mehr umgesetzt und Heinrici ergab sich Ende Mai den britischen Truppen.
Der Professor erklärte weiter, dass der Oberst bereits während des Russlandfeldzuges mehrfach Befehle ignoriert hatte und zweimal seines Kommandos enthoben wurde. Seine hervorragenden militärischen Kenntnisse, insbesondere über Rückzugsgefechte, sorgten jedoch dafür, dass ihm immer wieder Kommandos übertragen wurden. Er erachtete Heinrici an dieser Stelle zwar als – wie er sich ausdrückte – schillernde und interessante Persönlichkeit, eine Verbindung zu Bormann konnte er aber nicht erkennen. Er sah dagegen seine Vermutung bestätigt, dass sich auf der Dammsmühle, die ja als Hauptquartier von Heinrici bis zuletzt für die Koordination der Kampfhandlungen benötigt wurde, bis in die letzten Kriegstage hinein noch deutsche Truppen aufgehalten hatten.
Nach der Kapitulation diente die Dammsmühle als Lazarett, später als Erholungsheim und Kasino der Roten Armee, bis sie der DDR zur Nutzung übergeben wurde.
Nach der Wiedervereinigung machten die jüdischen Erben von Hart, dem letzten rechtmäßigen Eigentümer, erfolgreich Rückübertragungsansprüche geltend und verkauften danach das Schloss samt Grundstück weiter. Während der letzten zehn Jahre versuchten immer wieder Veranstalter, dort verschiedene Projekte zu etablieren. Aber weder Open-Air-Konzerte, Restaurants noch Sportveranstaltungen fanden den rechten Anklang, sodass das Anwesen erneut dem Verfall preisgegeben wurde.
Nachdem sein ehemaliger Mitarbeiter seine Ausführungen beendet hatte, bedankte sich der Professor überaus freundlich für dessen Bemühungen und bat – ganz Gentleman der alten Schule – noch Grüße an dessen „verehrte Frau Gemahlin“ auszurichten.
Danach ließ sich Professor Meinert trotz eines dagegen protestierenden Torben nicht davon abhalten, die Rechnung für das Mittagessen zu übernehmen, sodass sich Torben im Gegenzug wenigstens als Chauffeur für den anstehenden Ausflug anbot.
Die Fahrt selbst war für alle recht amüsant. Der Professor, gesättigt und gut gelaunt, erklärte den Anfahrtsweg zur offiziellen Pause zwischen den Unterrichtseinheiten, die sowohl Lehrer als auch Student zum Ausruhen nutzen sollten. Er kündigte an, daher vorerst auf weitere Vorträge zu verzichten. Kurz vor ihrem Ziel, als ein Schild darauf aufmerksam machte, dass sie sich bereits im Naturpark Barnim befanden, musste Torben ihn und Gertrud dann auch wecken. Professor Meinert quittierte dies eilends mit der Bemerkung, dass er überhaupt nicht geschlafen habe. Als Torben das Gegenteil behauptete und lautstark mit Geräuschen belegte, stritt der Professor lachend jegliches Schnarchen ab und bat darum, dass sich alle wieder auf die vor ihnen liegende Aufgabe konzentrieren sollten.
Die letzten drei Kilometer führte sie das Navigationsgerät über eine schmale, offenbar kaum noch befahrene Straße durch einen dichten Mischwald, in dem die Laubbäume nach dem langen Winter endlich begannen, zaghaft ihr neues Grün zu zeigen.
Obwohl auf der rechten Seite einige leer stehende Wirtschaftsgebäude und halb zugewachsene Parkplätze darauf hinwiesen, dass sie sich unmittelbar vor ihrem Ziel befanden, waren der Professor und Torben doch von der erhabenen Eleganz überrascht, mit der das Schloss plötzlich hinter der nächsten Biegung des Weges auftauchte. Eingebettet in einer malerischen, wenn auch seit Jahren ungepflegten und dadurch wildromantisch wirkenden Parkanlage, grenzte das dreistöckige, in angenehmen rosa Farbtönen gehaltene Gebäude mit L-förmiger Grundfläche direkt an einen See mit kristallklarem Wasser.
Selbst der Professor musste bei dem Anblick zugeben, dass sich das Schloss eher als Filmkulisse für eine Jane-Austen-Verfilmung eignen würde, als dort den Rätseln alter Nazis nachzujagen.
Nord- und Ostflügel verfügten jeweils über Flachdächer, welche die Gefälligkeit der hohen Fenster im klassizistischen Stil eher betonten. Beide Gebäudeteile vereinigten sich in einem die Seitenflügel um das doppelte überragenden Turm mit einer runden zwiebelförmigen Kuppel. Eine großzügige von der zweiten Ebene zu erreichende Terrasse und mehrere über die gesamte Front verteilte Balkone mit dunklen Eisengeländern luden zu einem Blick auf den See und den das Schloss umgebenden Park ein.
Als Torben und der Professor aus dem Auto stiegen, fanden sie Palais und Parkanlage vollständig verwaist vor. Nichts vermittelte den Eindruck, dass das Schloss in den letzten Jahren aus seinem Schlaf geweckt worden war.
Mit einem lauten Bellen, das Torben ihr gar nicht zugetraut hätte, kam Gertrud prompt ihrem natürlichen Bewegungsdrang nach. Während sie sich durch das hohe Gras der letzten und bereits verwelkenden Frühblüher des neuen Jahres einen Weg bahnte und dabei zwei Fasane aufscheuchte, umrundeten Torben und der Professor das Gebäude auf der Suche nach einem möglichen Eingang, da die Tür des Hauptportals abgeschlossen war. Sie stellten schnell fest, dass der Glanz vergangener Zeiten und die Aufwendungen verschiedener Investoren der Neunziger, die dem Gemäuer wieder Leben einhauchen wollten oder aber nur das schnelle Geld gewittert hatten, dem Vandalismus von weniger intelligenten Zeitgenossen zum Opfer gefallen waren. Viele der Fenster waren eingeschlagen und etliche Fensteröffnungen in der unteren Etage deshalb zugemauert oder mit Brettern vernagelt. Unrat und Dreck bedeckten die Wege. Am einst so herrschaftlichen Bootsanleger schwammen unzählige Plastikflaschen im Wasser. Beim genaueren Hinsehen zerfloss die ehrwürdige Schönheit des Anwesens und vor allem beim Professor wandelte sich die Stimmung in Wut und Trauer. Verächtlich sprach er vom Werk von üblen Barbaren und untätigen Behörden.
Seine Laune hellte sich erst ein wenig auf, als sie eine – wenn auch gewaltsam geöffnete – Seitentür fanden, die ihnen den Eintritt in das Gebäude ermöglichte. Es dauerte einen Moment, ehe sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Professor Meinerts Miene verfinsterte sich kurz darauf schon wieder, als er in dem dahinterliegenden Flur eine meterhohe und über den historischen Stuck reichende farbige Losung „All Cops Are Bastards“ erblickte. Eingerahmt wurde das unnötige Graffito von mehreren Darstellungen des Buchstaben A, die sich jeweils in einem Kreis befanden. Obwohl Torben wusste, dass es sich dabei um Anarchiezeichen der linksextremen Szene handelte, ließ er den Professor gewähren, als der ihm dazu einen seiner Kurzvorträge hielt und beifügte, dass die Verfasser – wären sie noch hier – die gewünschte Anarchie von ihm gleich am eigenen Leibe erfahren könnten. Die Brandrede sorgte jedoch wenigstens dafür, dass der Professor sich etwas abreagierte.
Torben fand nach seiner anfänglichen Euphorie ebenfalls auf den Boden der Tatsachen zurück und musste feststellen, dass er für eine Exkursion in leer stehende Gemäuer nicht ausreichend vorbereitet war, da ihm noch nicht einmal eine Taschenlampe zur Verfügung stand. Weil sich dem vorerst nicht abhelfen ließ, mussten sie gezwungenermaßen mit dem spärlichen Licht auskommen, das durch die schmutzigen oder gar vernagelten Fenster einfiel.
Außerdem fühlte sich Torben wie ein Eindringling und wusste nicht so recht, wonach er eigentlich Ausschau halten sollte. Und obwohl es nicht den geringsten Anhaltspunkt gab, hatte er das Gefühl, dass sie nicht allein im Schloss waren und irgendjemand sie beobachtete.
Die abgewohnten Räume, die sie betraten, waren meistens, bis auf ein paar kaputte Möbelstücke, Matratzen, Flaschen und anderen Müll, völlig leer. Zum Teil gelang es Torben nicht einmal zu erraten, welchem Zweck einzelne Zimmer früher gedient hatten, in solch einem schlechten Zustand befanden sie sich.
Eine Verbindung zum Deutschland des Jahres 1945 oder davor konnte er nicht ansatzweise finden. Der Lösung des Rätsels kamen sie so sicherlich nicht näher. Torben hatte den Eindruck, sie stocherten blind im Nebel, und sagte das auch Professor Meinert. Der teilte mittlerweile diese Ansicht, denn auch seine anfängliche Begeisterung für eine Reise in die Vergangenheit war in diesem leeren und deprimierenden Schloss verflogen.
Zwischenzeitlich erreichten sie die zwar ebenfalls stark verschmutzte, aber zumindest lichtdurchflutete Haupthalle und standen nun vor einer geschwungenen Treppe, die in das erste Obergeschoss führte. Sie einigten sich gerade darauf, noch das von Reiher beschriebene Arbeitszimmer und den Küchentrakt, in dem er sich ja aufgehalten haben wollte, in Augenschein zu nehmen, als plötzlich Gertrud zu knurren anfing. Während sich der Professor in Richtung seines Hundes beugte, um ihn zu streicheln und zu beruhigen, sah Torben einen hageren, ungepflegten, bärtigen und – wie man an Augen und Gang deutlich sah – alkoholisierten Mann mittleren Alters vom oberen Treppenaufsatz auf sich zukommen. Seine Kleidung war verdreckt und seinen letzten Gang zur Toilette hatte er wohl nicht mehr rechtzeitig geschafft, wie man an dem dunklen Fleck im Schritt seiner Hose sehen konnte.
Torben, der sich nach einigen unangenehmen Erfahrungen auf seinen Auslandsreisen durch eine gewisse Vorsicht auszeichnete, schätzte die Begegnung nicht ganz gefahrlos ein und wollte den Professor gerade auf das Erscheinen des mutmaßlichen Obdachlosen hinweisen, als es hinter ihm ertönte: „Na, wen haben wir denn da?“
Die Stimme gehörte einem anderen, weit jüngeren Mann von nicht einmal zwanzig Jahren, der wohl – genauso verdreckt und sehr wahrscheinlich auch verlaust – wie sein Kumpan ein Leben auf der Straße führte und jetzt mit einem breiten, unsympathischen Grinsen seine gelben Zahnstümpfe zeigte. Sein Gesicht, sein Hals und wahrscheinlich auch der Rest seines Körpers wiesen einen unappetitlichen dunkelroten Ausschlag mit eitrigen Pusteln auf. Torben trat instinktiv einen Schritt zurück, um sich nicht der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen. Der Aussätzige, wie er ihn bereits gedanklich nannte, stampfte aus dem Zimmer, in dem er sich aufgehalten hatte, und blieb zwei Meter vor ihm stehen. Torben versuchte, seinen Würgereflex zu kontrollieren, denn die Entfernung war zu gering, um die Schweiß- und Alkoholausdünstungen seines Gegenübers nicht zu riechen.
Da er sich auf keinen Streit einlassen wollte, bemühte er sich, mit betont ruhiger Stimme zu sprechen, und sagte zum Professor: „George, ich glaube, wir lernen soeben zwei Bewohner des Hauses kennen!“ Während sich der Professor mit Blick auf die schäbigen Gestalten wieder aufrichtete und nur zustimmend brummte, antwortete dafür ein grobschlächtiger und glatzköpfiger Kerl, der seitlich unter der Treppe hervortrat. „Ich glaube, du irrst dich, du Lackaffe. Wir sind zu dritt! Her mit eurem Geld, Handys und was ihr sonst noch bei euch habt! Sonst steche ich zuerst den Köter und dann euch ab!“
Seine Forderung untermauerte er mit einem Springmesser, dessen Klinge er in diesem Moment mit einem schnarrenden Geräusch herausfahren ließ.
Torben – sicherlich nicht von ängstlichem Gemüt, aber einigermaßen von den Ereignissen überrascht – schätzte den Kerl wegen seines kräftigen Körperbaus und einem Gewicht von mehr als hundert Kilo als gefährlichsten der drei Männer ein. Just als er überlegte, wie sie am besten ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen konnten, und instinktiv seine Arme hob, um den Kerlen seine Bereitschaft zur Kooperation zu signalisieren, sah er, wie der Professor mit einer Schnelligkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, seinen Spazierstock hochriss und dem bulligen Typ, der von Torbens Armbewegung abgelenkt war, mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Die Nase des Glatzkopfes wurde von der Wucht des Schlages mit einem lauten Knirschen regelrecht zertrümmert und das Blut schoss aus seinen Nasenlöchern. Vor Schmerz schreiend, ließ er das Messer fallen und taumelte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Torben sah aus den Augenwickeln, wie sich der Aussätzige, um seinem Kumpan zu helfen, auf den Professor stürzen wollte. Er drehte sich deshalb blitzschnell zur Seite und gab dem Angreifer, als er auf seiner Höhe war, mit beiden Armen und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, einen Stoß in die Seite, sodass dieser laut fluchend in einen Haufen Sperrmüll stürzte und sich Hände und Knie blutig schlug.
Der Betrunkene auf der Treppe rannte inzwischen den Aufgang hinunter, um sich ebenfalls auf den Professor zu stürzen, und nahm dafür immer drei Stufen gleichzeitig. Professor Meinert eilte ihm hastig entgegen, und gerade als der Bärtige den Fuß der Treppe erreicht hatte, stieß er ihm das untere Ende seines Spazierstockes mit voller Kraft in den Solarplexus. Der Oberkörper des Landstreichers kam augenblicklich aus vollem Lauf heraus quasi in der Luft zum Stillstand und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz zu einer Grimasse. Der Rest seines Körpers blieb noch im Vorwärtsdrang, sodass er, als sich seine Beine weiter nach vorn bewegten, rückwärts nach hinten kippte, mit dem Kopf auf die untersten Steinstufen aufschlug und reglos liegen blieb.
Dem Professor blieb keine Gelegenheit festzustellen, ob der Angreifer endgültig außer Gefecht gesetzt war. Während Torben versuchte, mit gezielten Schimpftiraden, Tritten und Faustschlägen, die ihm Atem und Kraft raubten, dafür zu sorgen, dass der Aussätzige im Müllhaufen liegen blieb, denn festhalten wollte er ihn immer noch nicht, und Gertrud mit ihrem Bellen den Kampf ihres Herrchens begleitete, wandte sich der Professor wieder dem glatzköpfigen ersten Angreifer zu.
Der hatte sich von dem Schlag ins Gesicht zwar noch nicht ganz erholt, aber mit blutender Nase und irrsinniger Wut in den Augen wollte er sich erneut auf den Professor stürzen. Dieser hatte jedoch, als er erkannte, dass er mit dem Stock bei dem tobenden Berserker nichts mehr auszurichten vermochte, blitzschnell den Griff an seinem Spazierkopf mit einer leichten Drehung des Handgelenks gelöst, sodass eine etwa siebzig Zentimeter lange, dreikantige Klinge zum Vorschein kam, die er jetzt in die nach dem Messer greifende Hand des Glatzkopfs fahren ließ. Der markerschütternde Schrei, den der Kerl ausstieß, als sein Handrücken durchbohrt wurde, sorgte dafür, dass auch der Aussätzige beschloss, seine Gegenwehr fürs Erste einzustellen, nun selbst die Arme in die Luft streckte, sich fluchend in den Müll zurückfallen ließ und es sich dort widerwillig bequem machte.
Der Professor zog mit einem kurzen Ruck den kalten Stahl aus der Hand seines Gegners, wischte mit einem Taschentuch, das er danach wegwarf, die Klinge ab und ließ den Stockdegen wieder in seinen Schaft verschwinden. Er wandte sich von dem Verletzten ab, der mit seiner gesunden Hand auf die blutende Fleischwunde drückte und wegen der gebrochenen Nase beim Atmen schwer schnaufte. Der Professor ging zu dem noch immer vor Aufregung zitternden und unter Adrenalin stehenden Torben, nickte ihm anerkennend zu und sagte zu dem Pickligen: „Schnapp dir deine beiden Kumpane und verschwindet von hier. Lasst euch nicht einfallen, noch einmal aufzutauchen!“
Das ließ dieser sich nicht zweimal sagen. Er kroch zuerst zu dem Glatzköpfigen und half ihm beim Aufstehen. Ohne ein Wort zu verlieren, versuchten sie dann zu zweit, den bewusstlosen Bärtigen wachzurütteln, der noch immer auf den Treppenstufen lag. Gott sei Dank gelang es ihnen, und Torben atmete innerlich auf. Sich gegenseitig stützend, verließen die drei Galgenvögel gleich darauf den Korridor in Richtung Nordflügel. Offenkundig gab es noch andere Möglichkeiten, ins oder aus dem Schloss zu gelangen, als den Weg, den Torben und der Professor genommen hatten. Professor Meinert ließ es sich nicht nehmen, den Landstreichern hinterherzurufen, dass Sie es nicht wagen sollten, jemals wieder Graffiti anzubringen.
Gertrud hatte sich mittlerweile beruhigt und strich nun wieder schwanzwedelnd durch die Beine ihres Herrchens. Mit einem um Verständnis bittenden Blick und noch leicht bebender Stimme wandte sich der Professor an Torben: „Mein lieber Freund, ich hoffe, diese kleine Begebenheit bleibt unser beider Geheimnis! Bedauerlicherweise ist es in Deutschland nämlich nicht gestattet, einen Stockdegen zu besitzen.“
Torben, von der ungewohnten Anstrengung keuchend und noch völlig gefangen von den Ereignissen der letzten Minuten, war der Einwand im Augenblick schlichtweg egal und er winkte ab. „Wenn das Ihre einzige Sorge ist, wird Ihre Bitte gewährt! Aber die Waffe anzuwenden, steht bestimmt noch unter einer höheren Strafe, meinen Sie nicht? – Wie haben Sie es nur geschafft, so schnell zu reagieren, und woher können Sie mit dem Stock, der Waffe oder was auch immer Sie da haben, so gut umgehen?“
Professor Meinert lächelte. „Sie meinen sicher, wie bekommt ein alter Mann das noch hin? – Zu meiner Zeit existierten keine über Weltfrieden, Gleichberechtigung und regenerative Energiequellen philosophierenden Studentenverbindungen, aber es gab schlagende Burschenschaften. Und ebenso wie der ehemalige Hausherr der Dammsmühle Heinrich Himmler war auch ich aktives Mitglied einer solchen! – Aber genug davon, ich mag zwar gerade äußerlich die Ruhe selbst sein, aber innerlich bin ich so aufgeregt wie vor meiner ersten Hochzeitsnacht!“
„Erste Hochzeitsnacht?“, fragte Torben.
„Ja, aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich will hier so schnell wie möglich raus. Zum einen, weil ich diesem Gesindel nicht traue, und zum anderen, weil ich zur Beruhigung meiner Nerven dringend einen Schluck Rotwein brauche. Ich schlage vor, wir reduzieren unsere Suche auf das Arbeitszimmer, in dem Reiher damals das Zusammenpacken beobachtet haben will. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Himmler viel Zeit in der Küche, die wir uns auch noch ansehen wollten, verbracht hat. Reiher hat Ihnen etwas von einem Zugang über den Salon im Ostflügel erzählt. Der Raum müsste dort den Flur entlang zu finden sein. Kommen Sie, mein junger Freund, sputen wir uns!“
Torben stimmte dem Professor zu und gemeinsam durchquerten sie recht eilig den Flur. Das schnellere Gehen half beiden, sich zu beruhigen und die durch den Stress ausgeschütteten Hormone abzubauen. Langsam gelang es Torben, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Plötzlich schlug ihm ein ekelerregender Gestank entgegen. Der Professor, der ebenso die Nase rümpfte, winkte ihn zu einem Zimmer auf der linken Seite. „Offensichtlich haben wir die Toilette unserer drei neuen Freunde gefunden!“, raunte er Torben zu und ging schnell weiter. Torben starrte jedoch noch einen Moment lang völlig ungläubig auf einige alte Zehnliterfarbeimer, die wie der Großteil des Fußbodens mit Kot und wahrscheinlich Urin gefüllt waren. Er kämpfte – während er die Luft anhielt – verzweifelt mit seiner Übelkeit und wandte sich schnellstmöglich ab. Er lief weiter den Korridor entlang, bis er sich halbwegs sicher sein konnte, wieder atmen zu können, ohne sich zu erbrechen. Gierig sog er die frischere Luft ein. Als er kurz darauf wieder zum Professor aufschloss, fragte er: „Was um alles in der Welt war denn das?“
„Es sieht so aus, als ob sich unsere neuen Freunde hier länger aufgehalten haben. Vielleicht haben sie den ganzen Winter hier verbracht. Ich nehme an, das Schloss verfügt über Kamine, die man noch nutzen kann. Sie haben den Müll verbrannt und es sich dabei gemütlich gemacht. Allerdings mussten sie auf den Luxus von fließendem Wasser verzichten. – Die Vorzüge eines Wasserklosetts lernt man erst schätzen, wenn einem keines zur Verfügung steht. O Gott, ich habe den Gestank immer noch in der Nase. Wir können nur froh sein, dass es noch nicht so warm ist, sonst hätten uns sicherlich die Insekten aufgefressen. Und jetzt lassen sie uns endlich unsere Suche fortsetzen! Ich vermute, dass die zweiflüglige Tür am Ende des Korridors zum Salon führen könnte.“
Torben zeigte ein zustimmendes Nicken. „Beeilen wir uns! Ich brauche nämlich dringend eine Dusche!“
Lediglich Gertrud schien der Gestank überhaupt nichts ausgemacht zu haben. Sie drängte augenscheinlich vielmehr danach, in den letzten Raum zurückzukehren, da der Professor sie mehrmals rufen musste.
Wenige Augenblicke später erreichten sie den Salon der Dammsmühle. Außer der Tür, durch die der Professor und Torben traten, verfügte der Raum jedoch zu Torbens Überraschung über keinerlei Zugänge zu anderen Räumlichkeiten. Das Zimmer war etwa einhundert Quadratmeter groß. Die Wände waren komplett mit einem dunkel gebeizten Holz verkleidet. Die Decke wies aufwendige Stuckelemente auf, die augenscheinlich Jagdszenen zeigten oder gezeigt hatten, denn der Großteil des Putzes hatte im letzten Jahrzehnt der Schwerkraft keinen Widerstand mehr leisten können und lag als Schutt am Boden. Etliche Scheiben der großen Fenster, die von drei Seiten Licht in den Raum ließen, waren wie viele andere im Schloss eingeschlagen. Das dadurch eindringende Regenwasser hatte das Parkett und die Wandverkleidung angegriffen. An vielen Stellen schienen sie brüchig und verfault. Bis auf einen Stapel von Bauholz, der in der Mitte des Raumes gelagert war, damit man sicher sein konnte, dass er trocken blieb, war der Raum leer.
Torben, den Salon durchschreitend und darauf achtend, nicht irgendwo einzubrechen, sagte laut: „Dies kann nicht der richtige Raum sein. Er ist eine Sackgasse!“
Als die Reaktion seines Begleiters ausblieb, drehte er sich zu ihm um. „George, haben Sie gehört? Es ist der falsche Salon! Was machen wir nun, schauen wir uns doch noch weiter um?“
Der Professor, der nur etwa zwei Meter in den Raum getreten war, stand mit dem Rücken zu Torben und blickte auf den oberen Abschluss des Türrahmens, den beide soeben durchschritten hatten. Er sagte: „Multi quarent intrare et non poterunt.“
„Bitte? Was haben Sie gesagt?“, fragte Torben nach, da er mit der Bemerkung nichts anfangen konnte.
„Multi quarent intrare et non poterunt“, wiederholte der Professor und zeigte auf den Türrahmen. „Ich kenne diesen Spruch. Die Übersetzung lautet: Viele wollen eintreten und können es nicht!“
Torben ging zurück und sah, dass das Holz des oberen Rahmens diese Inschrift aufwies. Als er Professor Meinert fragend anblickte, bemerkte er, dass dieser lächelte.
„Dieser lateinische Satz, mein junger Schüler, weist auf das Recht des Schlossherrn hin, darüber zu entscheiden, wer sein Haus betritt. Eigentlich müsste er über dem Eingangstor des Schlosses stehen.“
„Wir sind aber schon im Inneren!“, gab Torben zu bedenken.
„Richtig! Die Frage ist nun, warum wurde er dennoch hier angebracht.“ Der Professor ließ seinen Blick an der Holzverkleidung links und rechts neben der Tür entlangschweifen. Plötzlich hielt er inne, trat einige Schritte nach rechts und ging zielstrebig an die Wand heran. Er dreht sich lächelnd zu Torben um und sagte: „Willkommen im Arbeitszimmer Heinrich Himmlers!“ Er griff in eine Vertiefung in der Holzverkleidung, die Torben bislang nicht bemerkt hatte, und zog ein Teil des Holzes wie ein Portal auf. Dahinter kam eine schwere Holztür zum Vorschein.
„Wirklich nicht schlecht, George! Seien Sie sich meines größten Respekts gewiss!“, lachte der überraschte Torben.
„Moment, Moment!“ Um größtmögliche Ernsthaftigkeit bemüht, obwohl er augenscheinlich gern in das Lachen einfallen wollte, griff der Professor die Türklinke und sagte: „Jetzt also der zweite Versuch: Willkommen im Arbeitszimmer Heinrich Himmlers!“
Die Tür ließ sich völlig mühelos und mit einem leichten Knarren öffnen. Sie gab den Blick auf ein etwa zwanzig Quadratmeter großes, quadratisches und durch zwei Fenster gut erhelltes Zimmer frei. Zu Torbens großer Enttäuschung war es aber bis auf eine dicke Staubschicht, die Boden und Fensterbänke bedeckte, völlig leer. Der Professor, der offenkundig auch mit einer etwas anderen Entdeckung gerechnet hatte, trat noch vor Torben ein und blieb in der Mitte des Raumes stehen.
Torben, der ihm folgte, fiel es sehr schwer, seine Niedergeschlagenheit zu unterdrücken. „Irgendwie habe ich mir das Arbeitszimmer anders vorgestellt.“
„Mein lieber junger Freund, ich muss Sie um Verzeihung bitten!“ Der Professor seufzte. „Ich habe mich in meiner Arroganz einen kurzen Moment dazu hinreißen lassen, mir vorzustellen, dass wir die Ersten sein könnten, die dieses Arbeitszimmer gefunden haben. Ich hatte nicht bedacht, dass Rote Armee und Staatssicherheit das Schloss über Jahrzehnte hinweg genutzt haben. Die Existenz eines geheimen Raumes, wohlgemerkt sogar im Erdgeschoss des Schlosses und von außen sichtbar, wäre ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben. Natürlich wurde der Raum gefunden, gut durchsucht und alles Wichtige konfisziert.“
Mittlerweile von der Entdeckung völlig unbefriedigt, entgegnete Torben mit sarkastischem Unterton: „Alles Wichtige? Hier wurde auch alles Unwichtige mitgenommen! – Also endet unsere Suche hier, richtig? Die Prügelei war demzufolge völlig umsonst!“
„Keineswegs, mein Sohn!“ Der Professor lächelte und legte den Kopf in den Nacken. „Es ist alles hier, was wir benötigen, um den Weg fortzusetzen!“
Torben folgte dem Blick des Professors und sah an der Decke des Raumes ein im Durchmesser etwa zwei Meter kreisrundes Symbol. In dessen Inneren befand sich ein zweiter, etwas kleinerer Kreis. Von der Mitte des Symbols zum Rand des äußeren Kreises verliefen zwölf Linien, die durch ihre harmonische Anordnung das Zeichen in zwölf gleichgroße Teile stückelten. Die Linien verliefen jedoch nicht vollständig gerade. Kurz nach Durchstoßen des ersten inneren Kreises knickten sie nach rechts ab, um kurz darauf mit einem zweiten Knick, diesmal in die linke Richtung, ihren Weg zu ihrem Endpunkt, dem äußeren Kreis, fortzusetzen.
„Das Symbol über unseren Köpfen“, erklärte der Professor, „wird Schwarze Sonne oder Zwölfarmiges Hakenkreuz genannt! Die offizielle Bedeutung des Zeichens ist ebenso unbekannt wie der Künstler, der es entwarf. Sollte ich vor der Aufgabe stehen, das Zeichen zu interpretieren, würde ich sagen, dass es sich möglicherweise um zwölf in Ringform gefasste und gespiegelte Sigrunen handelt. Sie kennen Sigrunen auch. Im Nationalsozialismus wurde die Sigrune als Emblem des Deutschen Jungvolks in der Hitlerjugend und in der doppelten Ausführung als Emblem der Waffen-SS verwendet, was uns wieder zu Himmler führt. Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie vielleicht die Sigrunen zwischen dem äußeren und dem inneren Kreis. Eine Sigrune ähnelt einem S, allerdings mit drei geraden Strichen geschrieben. Der ursprüngliche Name der germanischen Rune lautet Sowilo und bedeutet so viel wie Sonne. Sie wurde im Nazideutschland aber fälschlicherweise als Sig- oder Siegrune umgetauft und in Anlehnung an den Begriff Sieg verwendet.
Aber zurück zur Schwarzen Sonne. Das Symbol an sich ist ein reines Fantasieprodukt und seine Entstehung lässt sich mit der NS-Germanenideologie Himmlers in Verbindung bringen. Heutzutage wird es sehr häufig als Erkennungszeichen in der rechtsextremistischen Szene verwandt, da man sich anderer Symbolik des Dritten Reiches ja nicht bedienen darf, ohne sich der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen.“
„Aber George, was bedeutet das für uns?“, wollte Torben, nun doch wieder interessiert, wissen.
„Das Symbol der Schwarze Sonne wurde im Tausendjährigen Reich nicht gerade inflationär gebraucht. Es gibt – oder ab jetzt muss ich wohl sagen – gab nur eine einzige überlieferte Verwendung.“ Er machte es betont spannend, indem er den Satz in die Länge zog. „Als Bodenornament im Obergruppenführersaal der Waffen-SS in der Wewelsburg.