Читать книгу Der Erbe ...und die Glücksritter - Sybille A. Schmadalla - Страница 5

Hans im Glück

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Hans Glück fuhr an einem Sonntag mit seinem nicht mehr ganz taufrischem Ford Transit, seinem Firmenwagen, von Essen Karnap nach Grafing bei München. Auf dem Beifahrersitz stand eine Tasche, gut gefüllt mit verschiedenen Käse-, Wurst- und Schinkenbrötchen, alle sorgfältig verpackt in Frischhaltefolie, ein Päckchen Wienerwürstchen verschweißt und eine Thermoskanne Kaffee. So gerüstet ging es nun Richtung München. Laut Navi würde er fast sechs Stunden unterwegs sein – sofern er keine Pause machte oder im Stau steckte. Er rechnete eher mit sieben bis acht Stunden. Zeit, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Das Radio spielte die neuestens Popsongs, er hörte gar nicht wirklich zu. Hans Glück, hatte seinen Namen schon immer abgeschmackt und peinlich gefunden. Hans im Glück – unzählige Sprüche hatte er sich in der Schule anhören müssen: ‚Na, da hat der Hans aber kein Glück gehabt in der Mathearbeit‘ oder ‚Das Glück ist mit den Doofen‘ oder ‚Hans, tauschst du dein Schulbrot gegen meinen Stein?‘. Seine Mutter hatte ihm das Märchen ungezählte Male vorgelesen, sie fand den Schluss so schön: „Befreit von aller Last, wanderte Hans mit leichtem Herzen heim zur Mutter“. Was das bedeuten sollte, hatte er nie verstanden.Es gab nur noch wenige Glücks in Deutschland. In der Nazizeit galt „Glück“ als jüdischer Nachname. Tatsächlich stammte der Name aus dem Mittelalter, was nachweislich dokumentiert war. Trotz aller Nachweise war seine Familie verfolgt worden. So verschwanden die zwei kleinen Pünktchen über dem ‚ü‘ im Namen während der Nazizeit, da hieß man Gluck, das war mehr als achtzig Jahre her. Die Großmutter hatte nach dem Krieg darauf bestanden die beiden Pünktchen wieder einzuführen, zwei unschuldige kleine Pünktchen als Manifest der eigenen Unschuld und Verfolgung. Der Name - das war eine große Sache. Als Jugendlicher hatte er die Auskunft angerufen, ob es Personen mit dem Nachnamen ‚Hitler‘ in Westdeutschland gäbe, es gab keinen. In der DDR lebte ein Hitler – Romano-Lukas Hitler. Alle anderen hatten wohlweißlich ihren Nachnamen geändert. Name als Symbol. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken, wie die wohl nun hießen? Welche Namen die wohl gewählt hatten? Harmlose, urdeutsche Allerweltsnamen? Müller, Maier, Bauer, Huber, Schmidt oder Schulze, oder etwa jüdisch klingende, um keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen? Goldstein, Rosenzweig oder Wiesenthal?Aber jetzt war er Hans im Glück! Zum ersten Mal passten Name und Märchen zusammen, denn er hatte völlig unerwartet geerbt, fühlte sich reich. Hans hing seinen Gedanken nach. Sein Navigationsgerät im Auto zeigte 655 km, eventuell würde er übernachten müssen.Vor einigen Wochen hatte er einen Anruf erhalten von einem Erbenermittler. Er war völlig überrascht gewesen, denn nach seiner Kenntnis hatte er keine Verwandten mehr nach dem Tod seiner Mutter. Er war ein Einzelkind, geliebt, verwöhnt, verhätschelt von seiner Mutter und seiner Großmutter. Sein Vater war früh verstorben.Ein Amadeus Glück, geboren am 15.11.1915 in Grafing bei München, war am 5.3.2015 ebenda verstorben im Alter von knapp 100 Jahren. Der Erbenermittler machte die letzten lebenden Verwandten ausfindig. Hans war verblüfft und erfreut, aber auch misstrauisch gewesen, denn der Erbenermittler arbeitete nicht für Gotteslohn. Vorsichtig, wie er war hatte Hans erst einmal vermutet, dass es sich um eine Abzocke handelte. Der Mann war aber seriös, fuhr extra von München nach Essen, um ihm Dokumente vorzulegen, ohne jedoch zu viele Details preiszugeben. Herr Allmann – so hieß der Erbenermittler – erklärte ihm, dass er parallel einen weiteren ‚Pfad‘ prüfe, aber er gehe davon aus, dass er nicht, wie so häufig in anderen Fällen, mit zwanzig, dreißig oder mehr Personen teilen müsse. Fänden sich keine Erben, wäre das Vermögen an den Freistaat Bayern gefallen. Das Honorar war erst fällig nach Überschreibung des Vermögens, z. B. durch Ausstellung des Erbscheins, der Erbenermittler bekäme satte 20%. Hans hatte da – ganz der geschäftstüchtige Handwerker, der er war – nachverhandelt: 15,5%. Der Vertrag wurde unterzeichnet. Herr Allmann nannte den Namen des Verstorbenen: Amadeus Glück. Nie gehört. Der Verstorbene war über drei Ecken verwandt, er sah die Urkunden und Dokumente, irgendwie ein Großonkel, soweit er das verstanden hatte. Der hinterließ eine Jugendstilvilla mit Nebengebäuden, Baujahr 1912. Ein Haus auf einem 2500 qm Grundstück in der Nähe des Stadtkerns von Grafing bei München! Herr Allmann erklärte, dass der Grund allein an die zwei Million Euro wert war. Der Erbenermittler meinte lapidar, das Haus könne Hans abreißen und das Grundstück als Bauland verkaufen oder selbst zwei Dreispänner draufstellen. Er könnte jedes dieser Reihenhäuser für ca. 700.000 Euro verkaufen, also 4,2 Mio. abzüglich der Baukosten.Das war besser als der Goldklumpen im Märchen! Herr Allmann erklärte ihm, dass bei Immobilien nach Erbschaftssteuerrecht nicht der Verkehrswert zählte, sondern die Steuer nach dem Einheitswert von 1964 berechnet würde. Hans war jetzt Millionär. Man plauderte noch etwas. Herr Allmann erwähnte, dass seine längste Suche fast sechs Jahre gedauert hatte, die Suche nach Hans eine relativ kurze gewesen war. Als Hans die Türe hinter Herrn Allmann schloss, fiel sein Blick auf den Flurspiegel. Er sah sein Spiegelbild, er fragte sich was sich wohl ändern würde? Er beäugte sich aufmerksam, dachte an sein jetziges Leben: Hans war 52 Jahre ‚jung‘, ledig. 1,88 groß, wog 103 kg. Er sei halt ein bisschen ‚fest‘, wie Frau Prohaska immer meinte, pummelig passte besser. Sein volles mittelblondes Haar war durchzogen von ersten grauen Fäden, sein Teint leicht gebräunt. Nach landläufiger Meinung sah er einigermaßen gut aus und hatte Schlag bei den Frauen. Aber die, die ihn genommen hätten, wollte er nicht, und die, für die er sich erwärmt hätte, wollten ihn nicht. So war er Junggeselle geblieben und jetzt auf einen Schlag eine gute Partie. So musste sich ein Lottogewinner fühlen, dachte er.Als Handwerker musste er einfach zu viel arbeiten, das mochten die Frauen nicht, für die er sich interessierte. Vielleicht lag es auch an seinen kleinen Marotten: Er sah samstags immer die Sportschau. Er versäumte keine. Er mochte weder Gemüse und noch Obst, aß lieber Currywurst mit Pommes. Nie hatte er eine seiner Flammen großartig ausgeführt, das lag ihm nicht. Pommes rot-weiß, ein kühles Bierchen – das reichte. Sein Leben war geregelt und überschaubar. Um 8 Uhr Arbeitsbeginn und um 17.30 Uhr Feierabend, alle drei Wochen Wochenendbereitschaft. Er hatte Klempner gelernt, im Volksmund ‚Gas-Wasser-Scheiße‘ genannt, was seine Heirat-chancen auch nicht gerade erhöhte. Jetzt hatte er einen kleinen Handwerksbetrieb mit zwei Angestellten. Erika Prohaska machte die Buchhaltung, bediente das Telefon und kümmerte sich um das Büro. Sie war die gute Seele, Mitte fünfzig. Er und Martin Kersheimer fuhren im Blaumann zu den Kunden. Martin war Mitte vierzig und gehörte quasi zum Betriebsinventar. Er war Klempnergeselle, wortkarg, zuverlässig, aber unscheinbar. Jemand der nicht viel Aufhebens um seine Person machte. Das kleine Unternehmen gab allen drei ein vernünftiges Auskommen. Hans ging dienstags in den Männergesangsverein ‚Liederzirkel 1899 Essen-Karnap‘, um mit seinem Bass, den Liedern die nötige Tiefe zu verleihen. Freitags trafen sie sich alle im Brunswick zum Bowlen. Den Handwerkerstammtisch oder Treffen der IHK besuchte er gelegentlich. Er arbeitete viel, und in Urlaub fuhr er nach Holland, das war nicht weit. Er hatte eine Bekannte, die Elfriede hieß - ‚dat Fried‘schen‘ wie er sie nannte. Sie betrieb ein Büdchen in Altenessen. Mit ihr hatte er gelegentlich Sex, und manchmal fuhr sie mit ihm in Urlaub. Er war zufrieden mit seinem Leben. Und nun fuhr er nach Grafing und hing seinen Gedanken nach. Keinem der Dreien hatte er davon erzählt, erst wollte er sich das Ganze mal ansehen. Er hatte nur gesagt, dass er zur Beerdigung eines entfernten Verwandten fahren würde. Was man mit so viel Geld alles anfangen konnte?!Amadeus Glück war fast 100 Jahre alt geworden. Amadeus Glück aus Oberbayern. Hans versuchte sich eine Kindheit im krachledernen Oberbayern mit Xaver, Blasi, Anderl oder Hiasl als Spielkameraden vorzustellen. Wie war denn sein Rufname damals gewesen? „Ame?“ oder „De-us-al“? Er musste laut lachen bei diesem Gedanken. Der von Gott Geliebte, das bedeutete der Vorname, das hatte er extra nachgesehen. Amadeus Glück – der von Gott Geliebte Glück.Amadeus Glück war schon beerdigt, aber das wusste außer ihm ja keiner. Fried‘schen hatte ihm extra ein kleines Bukett besorgt. Zwei weiße Lilien und eine rosafarbene Cala, gebunden mit Gräsern, das wollte er auf dem Grafinger Friedhof seinem unbekannten Verwandten und nun Gönner zur Ehre und zum Dank niederlegen.Vorher würde er noch das Büro des Erbenermittlers in München aufsuchen, den Vertrag dazu hatte er schon unterzeichnet. So wie er geschätzt hatte, traf er nach gut sechs Stunden Fahrt in München ein. Er hatte alle Brötchen verzehrt, die Thermoskanne Kaffee geleert. Da er frühmorgens aufgebrochen war, war es jetzt kurz nach 13 Uhr, als die Autobahn in den Mittleren Ring überging. Das Navi dirigierte ihn durch den Englischen Garten. Zu seinem Erstaunen war München eine grüne Stadt: Es blühte überall, Vöglein zwitscherten, als er in die Pienzenauer Straße einbog, die ganz nahe an der Isar entlang führte. Der Erbenermittler residierte nobel. Er überreichte ihm weitere Fotos der alten Jugendstilvilla. Teilweise umrankt von Efeu sah sie renovierungsbedürftig aus. „Wie gesagt, das Haus müssten sie abreißen, aber das große Grundstück in Zentrumslage der Kleinstadt Grafing – S-Bahn Anbindung - also das ist was wert!“ meinte Herr Allmann über seine Kaffeetasse hinweg. Hans sah sich den Packen Fotografien genauer an: Ein schönes Haus, fand er. Es gab unter dem roten Dach auf der Giebelwand einen Hausspruch:

Die Welt mit ihrem Gram und Glücke

Will ich, ein Pilger, frohbereit

Betreten nur wie eine Brücke

Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.

Der Garten sah verwildert aus. Efeu hatte sich um Bäume gewunden, diese fast verschlungen, schwankende, meterhohe Inseln von Grashalmen im Vorgarten. Es gab einen Pavillon im hinteren Grundstücksteil, man sah ihn hinter den Birken, und noch weiter hinten stand ein kleines, braunes Gebäude – vielleicht ein Stall? Das Haus war ehemals in einem warmen Gelb gestrichen worden, nun verwittert zu einem ockerfarbenen Ton. Es hatte Sprossenfenster in grün, einen Erker, darüber ein braunrotes Dach. Es strahlte friedliche Gelassenheit aus. Ein Zaun aus Holzlatten, das Weiß der Farbe war in langen Streifen abgeblättert, darunter lugte das verwitterte Grau des Holzes hervor. Jede Latte schloss oben mit einem kleinen Element in Blattform ab. Hans musste überlegen, es erinnerte ihn an etwas … Spielkarten! So sah Pik aus. Ein ehemals schöner Garten mit hohen Birken und einer riesigen Rotbuche. Hans gefiel das Haus, er steckte die Bilder in den Umschlag zurück, bedankte sich beim Erbenermittler und verließ das Büro. Zuvor musste er noch eine Erklärung unterzeichnen, dass er die Schlüssel erhalten habe. Er stieg ins Auto, gab die Adresse ins Navi ein. Von München fuhr er fast ein Stunde durch unzählige Vororte nach Grafing voll Vorfreude gespannt auf das Haus.Grafing war eine nette kleine Stadt mit einem von alten Häusern gesäumten Marktplatz. Es gab einen Wildbräu und ein Gasthaus namens Grandauer, so wie man sich Bayern eben vorstellt. Zwiebelturm und Blumenkästen mit üppig gedeihenden roten Geranien, eine Pracht. Er war durch die hügelige Voralpenlandschaft gefahren, die aber schon sehr zersiedelt war. Die Sogwirkung der Großstadt hatte einen ähnlichen Städtebrei wie in Nordrhein-Westfalen entstehen lassen. Aber eben im bayerischen Landhausstil.Am Marktplatz bog er zweimal ab, und sogleich ertönte die weiche aber distanzierte Frauenstimme seines Navis: „Sie haben ihr Ziel erreicht!“. Er stand vor der Villa. Die Schlüssel vom Erbenermittler in der Tasche. Morgen musste er zuerst zum Nachlassgericht, dort konnte er den Erbschein abholen. Es war Frühling, in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Die Villa sah ihm gelassen entgegen. Er schloss auf, und die Pforte sprang mit dem typischen Quietschen lange nicht mehr geölter Türscharniere auf. Er betrat den Garten. Ein kleiner Sandweg mit Inseln von Moos führte zum Haus und gab Zeugnis davon, dass der alte Herr die letzten Jahre wohl nicht mehr in der Lage gewesen war, dem Garten viel Pflege zukommen zu lassen.Er stieg drei flache Stufen hoch, stand auf einer Art Vorplatz vor der Eingangstür, die eine ovale Öffnung hatte, gefüllt von einem kleinen Gitter in der Mitte, dahinter Glas und dahinter ehemals weiße Spitze. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Auch hier das leise Quietschen ungeölter Türangeln, als er den Schlüssel im Schloss gedreht hatte und die Klinke niederdrückte. Die Luft wirkte abgestanden, das Haus war lange nicht gelüftet worden. Es roch nicht unangenehm, aber das Haus hatte einen Geruch. Vorsichtig trat er über die Schwelle. Jacken und Mäntel und ein abgeschabter Hut hingen an der Garderobe, ein Stock lehnte im Schirmständer, es wirkte alles so, als ob der Eigentümer jederzeit wiederkäme vom Einkaufen oder vom Arzt. Amadeus Glück hätte jederzeit durch die Türe treten können, stattdessen lag er nun kalt und steif auf dem Grafinger Friedhof. Hans spürte ein unbestimmtes Bedauern, nie hatte er Amadeus kennengelernt, und nun war es zu spät dafür. Neugierig wie ein Kind auf Entdeckungsreise sah er, noch unschlüssig im Flur stehend, in eine Küche der fünfziger Jahre, wenn nicht noch älter. Er ging durch den Flur ins Wohnzimmer. Die Versatzstücke der Vergangenheit reihten sich. Manifestierte Erinnerungen in Geschirr, Deckchen, Polstermöbel, eine monströse Schrankwand der siebziger Jahre. Dazwischen eine technologische Neuerung, ein riesiger Flachbildschirm, verbunden mit Kopfhörern, die an einer langen Verkabelung zum ebenso riesigen, britischen Ledersessel quasi den Weg wiesen. Eine altmodische Brille lag auf dem Tisch. Im Aschenbecher ruhte eine halbgerauchte Zigarre. Amadeus Glück schwebte noch in diesem Zimmer, obwohl er schon solange tot war. Es gab mehrere Zimmer im Untergeschoss. Als nächstes betrat er eine Art Gästezimmer, daneben ein winziges Bad, gefliest im moosgrün der sechziger oder siebziger Jahre und einem senfgelben Waschbecken, darüber ein kreisrunder Spiegel flankiert von zwei kleinen Kugellampen mit mattiertem Schirm, ein senfgelbes WC – ein Schick, der lange schon der Vergangenheit angehörte. Er öffnete die nächste Tür, ein achteckiges Holzschild kennzeichnete es als ‚Büro‘. Er blieb verdutzt stehen: Der ganze Raum bestand quasi aus riesigen, umlaufenden Regalen, unterbrochen von einem Sprossenfenster und einem seitlichen Durchgang, der den Blick auf weitere Regale in einem angrenzenden Raum freigab. In den Regalen standen feinsäuberlich aufgereiht Ordner. Alle beschriftet mit einer steilen, akkuraten Handschrift. Im Nebenraum standen ebenfalls Regale entlang der Wand, und einige Regale standen frei im Raum, es erinnerte ihn an eine Bibliothek. Er betrat den Raum. Es begann tatsächlich mit 1942! Pro Jahr standen Ordner, Mal mehr Mal weniger. Die Beschriftung lauteten Einnahmen, Ausgaben, Bankbelege, Steuer und Sonstiges, darunter immer die Jahreszahlen. Die Ordner gingen tatsächlich bis 2015, der alte Mann hatte bis zum Schluss akribisch seine Buchhaltung - oder was immer das war - geführt. Dreiundsiebzig Jahre feinsäuberlich dokumentiert.Hans überschlug für sich, dass in diesen beiden Räumen hunderte Ordner standen - er wusste sofort, was immer er je suchen würde: Hier würde er es finden! Im ersten Zimmer, stand vor den Regalen ein gewaltiger Schreibtisch der dreißiger Jahre, Eiche dunkel gebeizt, mit Löwenfüßen. Auf dem Schreibtisch eine alte Rechenmaschine mit Papierstreifen, daneben eine kleine Schreibtischlampe mit gläsernem Schirm in grün, dahinter ein alter Stuhl mit einem Sitzkeil als Polster. Der Schreibtisch stand vor einem großen Sprossenfenster, und er, der in der Türe stand, blickte in den Garten, in dem die Zweige einer großen Trauerweide leise im Wind schwankten. Quasi ein Stillleben gerahmt von Ordnern. Schreibtisch und Stuhl ließen aber denjenigen, der dort arbeitete, nur zur Tür oder auf die gefüllten Regale blicken. Der Schreibtisch war penibel aufgeräumt. Ein Schreiblock, auf dem ein billiger Kugelschreiber lag, sonst nichts. Daneben eine Ablageschale mit Büroklammern, ein Locher, ein Hefter und die Rechenmaschine. Hans ließ den Blick schweifen über den Kanon der Ordner. Es gab Jahre, da waren die Ordnerrücken blau, rot oder gelb, die meisten jedoch grau. Hans schüttelte den Kopf und schloss die Tür ganz leise, so als ob er niemanden stören wollte. Hans wunderte sich: War Amadeus ein Beamter gewesen? Ein kleinkarierter Erbsenzähler? Aber dazu passte die vorgefundene normale Unordnung im übrigen Hause nicht. Er stieg mit diesen Gedanken die abgetretene, breite Holztreppe hinauf, setzte seine Entdeckungsreise im Haus fort. Das Geländer, geziert von zwei Säulen, die ein stilisierter Löwenkopf am jeweiligen Ende unten und oben schmückte. Die Stufen knarzten. Im Obergeschoß gab es neben der Treppe eine Tür. Das Schlafzimmer mit einem Bett, einem großen Kleiderschrank mit Spiegeleinsatz, einem Stuhl. Auf dem Nachttisch der fünfziger Jahre wartete ein bäuchlings liegendes, aufgeschlagenes Buch auf seinen betagten Leser. Die kleine Leselampe, geziert von einem mattierten Glasschirm in Form einer Glockenblume, stand pflichtbewusst daneben, davor ein Glas mit einem dünnen Staubfilm. Hans öffnete die Tür zu einem kleinen Raum mit einer Balkontür, die den Blick in den schönen, weitläufigen Garten freigab. In diesem Zimmer standen unzählige Gegenstände, gesammelt, aufbewahrt oder abgestellt. Krempel. Altersschwache Gartenstühle. Kartons mit Büchern. Ein zusammenklappbares Bett mit Matratze. Mehrere altersschwache Reisekoffer. Eine Gießkanne. Hans wandte sich um, ließ seinen Blick über das Sammelsurium schweifen: Der völlige Gegensatz zum akkuraten Büro! Sedimentschichten eines Lebens: Die ältesten Sachen standen ganz hinten an der Wand, Reihe um Reihe, Jahr für Jahr stapelten sich die Dinge die Amadeus nie mehr in die Hand genommen hatte, aber zu schade fand, sie wegzuwerfen. Sein Blick fiel nun auf einen großen rechteckigen Gegenstand, der verhüllt in Schichten von Bettlaken oder Bettbezügen, mit Klebeband fixiert an der Wand lehnte, davor unzählige Kisten, Kartons usw. Er räumte den Plunder beiseite, hob das ziemlich große Rechteck heraus. Ein Bild, das hatte er sich schon gedacht, er fühlte durch die Tuchschichten den Rahmen.Es staubte. Im Sonnenlicht des späten Nachmittags tanzten die Partikel. Vorsichtig löste er das Klebeband, welches über die Jahre seine Fähigkeiten nahezu vollständig eingebüßt hatte – er musste nur zupfen, und in Fetzen fiel das Band ab. Sofort gab die Stoffhülle nach, sackte zu Boden. Staub wirbelte auf. Gab Teile von Farbe frei, kräftiges kornblumenblau. Es traf ihn ein Blick aus graugrünen Augen, umrandet von langen schwarzen Wimpern. Den Körper halb gedreht, den Kopf ihm zugewandt, über die nackte, rosige Schulter blickend, warf ihm eine dunkelhaarige Schönheit einen unergründlichen Blick aus eben diesen graugrünen Augen zu. Ein Blick, der ihn auf eine Art und Weise berührte, die er gar nicht beschreiben konnte.Ob er nun stundenlang oder minutenlang so gestanden hatte, versunken in dieses Bildnis, konnte er nicht sagen. Hans, der Pragmatische, der von Kunst keinen blassen Schimmer hatte, er, der nie in ein Museum, eine Ausstellung oder ins Theater ging: Er war aufs Tiefste berührt. Wer war diese Frau, die so distanziert den Blick des Betrachters erwiderte? Das lose herabgesunkene, seidene Oberteil eines Kleides, dessen Stoff sich um die schmale Taille bauschte, in einem tiefen, glänzenden, den Schimmer des seidigen Materials wiedergebenden Blau. Dieses fantastische Blau spielte von nachtblau in den Tiefen des Faltenwurfes, über royalblau bis in ein strahlendes Weiss, wo der Schimmer des Lichts die weichen Verformungen der Falten in der Seide nachzeichnete. Die untere Körperhälfte des sitzenden Halbaktes war von diesem Stoff verborgen, es blitzte weiße Spitze von einem Hemdchen, das ebenso herabgesunken war. Dieses strahlende Blau ließ den hellen, rosigen Teint der Haut noch zarter erscheinen. Sanft wölbte sich ein mädchenhafter Bauch, langgliedrige, schlanke Hände bedeckten knospende Brüste. Eine kleine Goldkette mit einem Stein aus Lapislazuli als Anhänger, schmückte einen edlen, langen Hals. Darüber ein offenes, junges, ebenmäßiges Gesicht, geschwungene schwarze Bögen der Augenbrauen. Eine füllige Lockenpracht in kastanienbraun war gebändigt, hochgesteckt in einen kleinen Dutt, der von einer Perlmuttspange gehalten wurde, die durch die Lockenpracht schimmerte und oben auf dem Kopf thronte, während weich und rund die Fülle der Haare bogenförmig die Kontur des Kopfes umspielten. Eine Frau, die sich gerade dem Liebhaber enthüllte? Eine Frau, die – sich zum Bade entkleidend – überrascht wurde? Die halbe Drehung des Oberkörpers, der Blick über die rosige Schulter, die Hände, die schützend die Brüste bedeckten. Das Gesicht faszinierte ihn, vielmehr der Ausdruck des Gesichts. Sie war jung, sehr jung, sie hatte eine prägnante Nase, einen offenen, unerschrockenen Blick, hohe Wangenknochen, kleine Ohren, verziert mit zarten Perlenohrsteckern. Sie sah aus dem Gemälde heraus ihn direkt an, egal wie und wo er sich im Raum bewegte, das machte es unheimlich. Sie war so unglaublich schön! Das Blau, der virtuos wiedergegebene Faltenwurfs, das Schimmern der Seide, das Filigrane der Spitze, der brillante Lüster, der Perlenohrstecker, die Feinheit der Haut, die weichen Flächen der Arme, feingliedrige Hände, die die Brüste schützend bedeckten … Er verstand nichts von Kunst, aber das hier war gut, das war große Kunst, das verstand sogar er als Laie.Wieso war dieses Kunstwerk in der Rumpelkammer versteckt? Warum hing es nicht im Wohnzimmer? Wer hatte es gemalt? Wer war die Schöne?Er war aufgewühlt, verwirrt – was für eine Entdeckung! Nach einer Weile legte er die Schutzschichten wieder darüber, lehnte das Gemälde an die Wand neben der Tür. Er war verwirrt, benommen. Er stieg die Treppe hinab in die Küche. Dort fand er alles, was ein Mensch zum Kaffeekochen brauchte. Er tigerte durch die Küche, darauf wartend, dass der Kessel pfeifen würde. Erst die Ordner, und nun das Bild! Was würde er hier noch alles entdecken? Halblaut sagte er in die Stille der Küche: „Na, Amadeus, du alter Schwerenöter?“, aber das – fühlte er – das war es nicht. Das Gemälde hatte eine andere Geschichte. Er schlürfte den heißen Kaffee, verbrannte sich trotz Pustens die Zunge, wanderte über den kleinen Flur mit dem abgeschabten Teppich ins Wohnzimmer und sank in den Sessel. Die Nachmittagssonne schien in den Raum und machte ihn hell und freundlich. Sein Magen knurrte laut und vernehmlich, also sah er sich in der Küche erneut um. Ein steinhartes Brötchen – nein danke. Im Kühlschrank eine nicht geöffnete, aber abgelaufene Packung Edamer. Flugs riss er die Folie weg, roch daran. Er legte den Käse auf einen Teller. Mit dem Messer säbelte er im Stehen große Stücke vom viereckigen Laib, schlang eilig alles hinab. Die Gedanken sprangen nur so umher. Was das Kunstwerk wohl wert war? Er hatte keinen Namen gesehen, wer war der Maler? Wie war es gerahmt? Es fiel ihm jetzt erst auf, auf wie vieles er nicht geachtet hatte, magisch angezogen von diesem Blick. Er musste das Bild einfach genauer untersuchen. Lange hielt er es in der Küche nicht aus. Das Bildnis der unbekannten Schönen zog ihn magisch an. Die Stufen mit zwei Schritten auf einmal nehmend eilte er die knarzende Treppe wieder hoch, erneut seinem Fund entgegen. Die Sonne warf rötliche Stahlen und gab dem Zimmer einen warmen Schein. Er entfernte die alten Bettbezüge erneut. Es staubte wieder. Wieder war er fasziniert von diesem Blick, diesem Gesicht. Immer noch gebannt, aber nicht mehr so überwältigt wie beim ersten Mal. Wie er es sich vorgenommen hatte, begutachtete er jetzt alles sehr genau. Das Gemälde war gerahmt. Umlaufend eine Holzleiste, die an den Ecken ähnlich dem Pik Zeichen, das er am Gartenzaun schon gesehen hatte, kleine Auskragungen hatte, die in einer leicht abgerundeten Spitze mündeten. Zwischen den Ecken verlief der Rahmen schmaler, es sah aus, als ob der Leisten eine Taille hätte. In diesen Leisten war – der Außenlinie folgend – innen eine Linie umlaufend graviert. Der Rahmen war auch alt, das sah man, er war bronziert, das blätterte. Wie wurde dieser Stil genannt? Davon hatte er keine Ahnung. Der Rahmen gefiel ihm. Er besah sich die Malerei selbst nochmals genau. Die kleine, feine weiße Spitze, die hervorblitzte zwischen der rosigen Haut und den blauen Falten des herniedergesunkenen Kleides, das war alles so fein, so zart, aber auch sehr exakt gemalt. Die Falten zeigten Lichtreflexe, der Stoff war tiefblau und glänzend. Das Schimmernde war präzise wiedergeben. Die Haut, so rosig, die Hände so feingliedrig. Hans war überzeugt, das war ein Meisterwerk. Leider fand er keine Signatur. Schließlich kam er auf die Idee, das Bild umzudrehen. Volltreffer: In einer merkwürdig steilen Schrift, jeder Buchstabe sorgfältig gesetzt, stand dort offenbar eine Widmung. Das Papier, welches auf das Holz des Rahmens geklebt war, sah zerschlissen, gelblich, brüchig aus. Ein Stempel oder Signet daneben. Cara Sophia … Möller, Höller, Köller, konnte er entziffern, oder war das ein „t“? Mötter, Hötter, Kötter? Er war etwas ratlos. Cara Sophia, das war eindeutig. Eine so schöne Frau konnte nur so einen exotischen Namen haben, fand er. Cara Sophia - las er, sprach es laut in die Stille des Raums. Cara Sophia. Darunter las er „Im Atelier“ … erneut wieder Unleserliches, gefolgt von einer Jahreszahl 1906 - 8.8.1906. Das Bild war weit über 100 Jahre alt – älter, als Amadeus Glück geworden war. Sie war jung. Und doch so alt. Er schätzte sie auf zwanzig oder jünger. So zart, so knospend, sechzehn? Achtzehn? 1906 unter zwanzig, dann war sie 1886 geboren oder etwas später, oder doch davor? Ewige Jugend hielt dies Bildnis fest. Cara Sophia war schon lange tot. Das war Gewissheit. Hans fühlte ein Bedauern, gefolgt von einer unendlichen Dankbarkeit: Cara Sophia blühte hier in der unvergänglichen Schönheit ihrer Jugend - für immer. Er fühlte diese unbestimmte Dankbarkeit, dass er eine gealterte Cara Sophia nie hatte kennen lernen müssen. Jetzt sah er die Signatur, einen Namen: Leo Putz. Nie gehört. Leo Putz. Das musste der Maler sein. Es klingelte! Hans war erstaunt und verblüfft. Eilte die knarzende Treppe hinunter und öffnete die Tür. Vor ihm standen ein Polizist und ein junger Mann. „Polizeiobermeister Grundler, Polizeiinspektion Ebersberg!“ stellte sich der Uniformierte mit fester Stimme vor „Wer sind Sie, und was haben Sie in diesem Haus zu suchen?“ „Ich bin der Erbe von Amadeus Glück.“ Er bat beide Herren herein und zeigte dem Polizisten die Dokumente des Erbenermittlers, die er zuvor aus seinem Wagen holte. Der Polizist prüfte die Dokumente und fragte nach dem Personalausweis, prüfte erneut alles und schließlich verabschiedete er sich mit einem „Nix für Ungut“. Hans bedankte sich und meinte, der Polizist tue nur seine Pflicht, und das wäre ja gut zu wissen.Während er die beiden wieder hinaus begleitete, fragte er den jungen Mann nun seinerseits, wer er denn wäre. Der klärte ihn auf, er sei der Mieter im Pavillon. Er heiße Matthias Baumgärtl und studiere im vierten Semester in Rosenheim Holztechnik. Er solle es ihm nicht übel nehmen, aber als er Hans im Haus gesehen habe, habe er gedacht, es sei ein Einbrecher im Haus. Herr Glück habe immer gesagt, dass alle Verwandten im KZ umgekommen seien und er keine Verwandten mehr habe. Im Übrigen kümmere er sich um die beiden Hühner, Berta und Babette, ob er das nun übernähme? Hans nickte und fragte Matthias wo denn die Hühner residierten. Matthias zeigte ihm nun den weitläufigen Garten, und sie gingen zu seinem kleinen Pavillon, der ehemals nur als Sommerfrische gedient hatte. Amadeus Glück hatte den achteckigen Bau, der ursprünglich rundherum Fenster hatte, so umgebaut, das ein kleines Badezimmer mit WC und Dusche Platz fand und eine kleine Küchenzeile unterhalb der Fenster entlang lief. Es war eine Ein-Zimmer Wohnung mit Holzofen und einem sagenhaften Panoramablick in den Garten mit Birken, Trauerweiden und einem kleinen Teich.Matthias erwähnte auch, dass es im hinteren Teil das alte Kutschenhaus gab, bewohnt von einem Finanzbeamten aus Ebersberg, der am Wochenende immer heimfuhr nach Zwiesel und der gerade im Urlaub sei. Herr Hölzl. Matthias fragte Hans, was der denn mit dem Haus vorhabe, ob er denn weiter hier wohnen können würde. Hans sagte wahrheitsgemäß, dass er sich erst einmal einen Überblick verschaffen müsse und im Moment noch gar nicht wisse, was er tun würde. Bis auf Weiteres könne er natürlich hier wohnen. Matthias druckste etwas herum, er erwähnte, dass er morgen eine Klausur schreibe und lernen müsse und er wolle ihn ja nicht hinauswerfen, aber er müsse jetzt lernen. Hans bedankte sich bei dem sympathischen jungen Mann und wünschte ihm viel Glück für die morgige Klausur, schüttelte ihm die Hand und ging zurück ins Haus. Es war spät geworden, die Kirchenglocken riefen zur Abendmesse. Er beschloss im Haus zu übernachten. Er musste ein paar Lebensmittel einkaufen im Stadtzentrum oder einer Tankstelle. Es war ein lauer Abend. Er rief Erika Prohaska kurz an, fragte nach, wie es denn im Geschäft lief und schilderte die Fahrt. Vom Bild oder Haus sagte er keinen Ton. Im Auto sah er die Blumen liegen, die schon matt die Köpfe hängen ließen. Friedhof! Das hatte er ganz vergessen. Amadeus Glück würde ihm nicht davon laufen, andererseits war der Friedhof mitten im Ort. Grafing war eine kleine Stadt, die Kirche mit Zwiebelturm und Friedhof keine fünf Fahrminuten entfernt, also wendete er den Wagen. Der Himmel zeigte jetzt das tiefe, abendliche Blau der aufkommenden Dämmerstunde, rosafarbene Schleier wiesen darauf hin, wo die Sonne gerade untergegangen war, abendliche Kühle und Stille lag über dem Friedhof, als er ihn betrat. Amadeus Glücks Grab fand er an der Außenmauer. Der Erdhügel war eingesunken, verwelkte Blumen ließen in brauner, zerbrechlicher Trockenheit ihre Köpfe hängen. Ein schlichtes Holzkreuz und ein weißer Zettel unter Folie. Amadeus Glück geb. 15.11.1915 gest. 5.3.2015. Hans stand davor und legte nun sein kleines Bukett auf den Grabhügel, das neben dem welken Braun der Anderen in neuer Frische erstrahlte. Er dachte: „Na, Hundert wärst du wohl gerne geworden“ Als Kind hatte er im Religionsunterricht das „Vater unser“ gelernt, mühsam stoppelte er sich den Text zusammen, aber er war unkonzentriert und musste wieder von vorne anfangen.Wer warst du? Warum hatten Mutti oder Oma nie was von dir erzählt? Was hatte es mit dem Kunstwerk auf sich und den Ordnern? Er wanderte über diesen Friedhof. Viele alte Gräber, Grabplatten mit geschnörkelten Inschriften, schmiedeeiserne Kreuze, schwarzer Granit, segnende Marmorengel, frische Holzkreuze. Ein leises Knirschen vom Kies begleitete jeden seiner Schritte auf zurückweichendem Grund, während er die Wege zwischen den Gräbern abschritt. Er wusste selber nicht, was er da suchte. Las die Namen Wildgruber, Grandauer, Moser, Leitner, Gruber, Kreitmair, Fritzmayer, Huber, Haberer oder Mair. Las Inschriften der Gedenktafel der Gefallenen der beiden Weltkriege und Jahreszahlen auf den Gräbern 1889, 1965, 2001 oder 1977. Er schritt zwischen den Gräbern umher, sah liebevoll gepflegte Grabstätten mit Blumenampeln, ewigem Licht, einem Weihwasserbecken, registrierte schlichte Gräber mit einer Steinplatte aus Granit und einer kleinen Pflanzschale, rote Kerzen und kleine Windlichter, und während er so umherging, ahnte er was er suchte: Das Grab von Cara Sophia. Schließlich fand er das Familiengrab einer Familie Höller im hinteren Teil des Friedhofs, direkt an der Mauer. Ein kleines Mausoleum, eine Familiengruft, die große aus tiefschwarzem Granit, senkrecht aufragende Platte mit den Namensinschriften, flankiert von zwei gewundenen Steinsäulen, auf denen kleine Engel knieten und um die in Stein gemeißelter Efeu rankte. Die Schrift auf der Gedenktafel mit Blattgold ausgelegt, eine alte, verschnörkelte Schrift. Die Gruft hatte eine Granitumrandung und darauf zwei Platten, die jeweils von einem erhabenen Steinkreuz geziert waren. Obenauf eine steinerne Pflanzschale, die mit verschieden hohen immergrünen Gewächsen bepflanzt war. In der darunter befindlichen Gruft lagen die sterblichen Überreste der Familie Höller. Die Inschriften leuchteten verhalten golden vom schwarzen Untergrund. Sein Blick sprang unstet umher, dann fand er, was er gesucht hatte: „Cara Sophia Höller 23.10.1890 gest. 13.7.1909.“ Es traf ihn trotzdem völlig unvorbereitet. Drei Jahre nach Entstehung des Gemäldes war sie gestorben! Mit neunzehn Jahren? Wie war sie gestorben? Unfall? Krankheit? War sie gar ermordet worden? Er war heute so froh gewesen, dass er einer alten Cara Sophia nicht begegnen musste, aber ihr früher Tod erschütterte ihn, berührte ihn seltsamerweise. Er kannte sie doch gar nicht – und doch sah er sofort diesen koketten und zugleich scheuen Blick aus grau-grünen Augen vor seinem geistigen Auge. Ihn fröstelte. Was sich hinter solch dürren Zahlen an Schicksalen verbarg! In Ruhe las er jetzt die ganze Inschrift. Hier ruhen im Namen des Herren Herr Jakob Höller 21.1.1863 bis 24.3.1939 Großbauer und seiner geliebte Ehefrau Katharina Höller geb. Grundler 19.6.1866 bis 3.5.1948. Darunter standen weitere Namen Georg Höller geb. 30.3.1885 gest. 15.5.1945, es folgten noch drei Geschwister, alle in den sechziger Jahren verstorben. Die Mutter Katarina Höller, die den Mann und zwei ihrer Kinder beerdigen musste. Er seufzte tief und verließ den Friedhof. In Gedanken war er beschäftigt mit Cara Sophias Schicksal. Jetzt meldete sich der Magen, aber die Läden waren schon geschossen, also kaufte er an der Tankstelle zwei verpackte Sandwiches, ein Bier und Schokoriegel, hungrig schlang er alles direkt in der Tankstelle herunter. Zu Hause richtete er sich einen Schlafplatz auf der alten Couch im Wohnzimmer, denn im Bett des Erblassers wollte er nicht schlafen, das konnte er nicht. Die ganze Nacht träumte er von dem Bild. Er schlief schlecht. Cara Sophia, wer warst du? Kann ich nach hundert Jahren etwas über dich erfahren? Wie bist du gestorben? Wieso hing dieses phantastische Bild nicht im Wohnzimmer? Wie kam Amadeus Glück an dieses Kunstwerk? Wie wertvoll war es? Wen konnte er fragen? Wer war Leo Putz?Im Morgengrauen fiel er in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen, ehe er in die Stadt zum Frühstücken ging, stieg er die Treppe hoch, enthüllte das Gemälde, schaute lange in diese graugrünen Augen und packte es wieder ein. In einem kleinen Café am Stadtplatz ging er ordentlich Frühstücken. Es gab Butterbrezeln und Weißwürste, nur das dazugehörige Weißbier lehnte er ab. Er trank lieber Kaffee. Als er gut gestärkt zurückkam, fütterte er zuerst die Hühner, die ihn hungrig und ungeduldig gackernd am Gartentor empfingen. Die hatte er gestern total vergessen. Bei der Fütterung am Abend liefen die Hühner von selbst in den kleinen Stall. Beide waren hochbetagt und legten keine Eier mehr, aber niemand hatte es übers Herz gebracht, sie zu schlachten. Hühner in Rente sozusagen. Danach holte er sein Tablet, sein Handy und den Laptop aus dem Wagen, ging ins Büro, rückte Block und Rechenmaschine beiseite und legte den Laptop in die Mitte. Über sein Handy stellte er die Verbindung zum Internet her. Er checkte die Emails, nichts Besonderes. „Leo Putz Maler“ tippte er in die Suchleiste von Google, und im Nu stand eine gewaltige Auswahl zur Verfügung. Er las in Wikipedia: „Leo Putz, geboren 18.Juni 1869 in Meran, Südtirol; gestorben 21. Juli 1940 in Meran, Südtirol. Er war ein Tiroler Künstler. Das künstlerische Werk von Leo Putz umfasst den Jugendstil, den Impressionismus und die Anfänge des Expressionismus. Schwerpunkt seines Werkes sind Figuren-, Akt-, und Landschaftsbilder. Ab 1889 hatte er an der München Akademie der bildenden Künste studiert, später an der Académie Julien in Paris. In München hatte er den Spitznamen „Der Italiener“. Er las unter anderem, Schwerpunkt des frühen Werks von Leo Putz war „das Bild der schönen Frau“, das er sehr variationsreich behandelte … Hans nickte zustimmend.Einem plötzlichen Impuls folgend holte er das Bild und stellte es im Büro vor eines der Regale auf. Sie sah ihn an. Die schöne Frau sah ihn an. Plötzlich fiel ihm auf, dass in der Ordnerreihe hinter dem Gemälde etwas nicht stimmte: Es gab nur einen einzigen Ordner, auf dem „bis April 1943“ stand, das Jahr 1944 fehlte ganz, und gefolgt von ebenfalls nur einem Ordner „Ab Juni 1945“. 1946 hatte dafür sechs Ordner, einer beschriftet mit „Rückübertragung“. Er kippte den Rahmen nach vorne und zog diesen Ordner raus. Er enthielt zahllose Papiere, alle damit befasst, das Vermögen, das einem Bartholomäus Grandauer enteignet und von einem Georg Höller übernommen worden war. - Ein Nazi? schoss es Hans durch den Kopf, und gleich darauf die Frage, ob der etwa ein Bruder von Cara-Sophia war? Grandauer hatte es offenbar seinerseits einem Amadeus Glück abgenommen, einem Juden, der von Juni 1943 bis zur Befreiung durch die Amerikaner am 28. April 1945 im KZ-Außenkommando Kreis Ebersberg-Steinhöring gefangen gehalten worden war. Hans fand ein Dokument darüber, dass es sich um handwerkliche Arbeiten für den Lebensborn handelte und dass 27 männliche Häftlinge befreit wurden. Schockiert las er, dass allein das KZ Dachau 169 Außenlager für Männer und 24 Außenlager für Frauen in ganz Deutschland unterhalten hatte. Alle KZs hatten solche Außenlager über Deutschland verteilt. Er überschlug für sich, dass es also an die tausend solcher Lager gegeben haben musste. Hans schüttelte den Kopf. Die Eltern und Nachbarn, alle hatten immer erzählt, dass die Bevölkerung davon nichts gewusst habe – aber das konnte er angesichts dieser Unterlagen wirklich nicht mehr glauben!Dann fand er ein Dokument, das sich mit dem Gemälde beschäftigte, eine Originalrechnung von 1935. Das braune, brüchige Papier vergilbt, ein gedruckter Briefkopf „Firma Grandauer Brauerei & Baustoffhandel“, geschnörkelte Buchstaben, Sitz im Markt Grafing, Datum 21.6.1935. Die Schreibmaschinenschrift ungleichmäßig angeschlagen. Herr Professor Leo Putz bezog Dachziegel im Wert von 1200 Reichsmark für einen Hausbau in Gauting bei München – das war alles mit Schreibmaschine geschrieben. Es folgte ein handschriftlicher Zusatz, dass Herr Professor Leo Putz dies mit einem Kunstwerk bezahlen werde, einem Bild mit dem Titel „Dame in Blau“: Ein Halbakt in Öl von 1906. Sein Gemälde! Vom Künstler Leo Putz und vom Erwerber Bartholomäus Grandauer unterzeichnet. Hinter der Rechnung war fein säuberlich gelocht und abgeheftet die Rückübertragungsurkunde aus dem Jahre 1946 durch die amerikanische Standortverwaltung München.So hatte Amadeus Glück bewiesen, dass das Kunstwerk zwar Herrn Grandauer gehörte, aber wieso hatte er es rückübertragen bekommen? Wieso eigentlich Jude? Amadeus Glück war getaufter Katholik, das hatte der Erbenermittler in den Dokumenten nachgewiesen, zudem lag er auf dem katholischen Friedhof! War er einer Verwechslung zum Opfer gefallen?Zweifelsfrei war er zwei Jahre im KZ gewesen, aber warum? War er vielleicht politischer Häftling gewesen? Ein Schwuler? Ein Spion? Die Nazis hatten alles verfolgt, eingesperrt und vernichtet, was ihnen nicht passte oder suspekt war.Auch Leo Putz war als entarteter Künstler verfolgt worden, hatte er beim Überfliegen des Textes gesehen. Und wer war Bartholomäus Grandauer, und was war aus dem geworden? Und der andere – Hans blätterte zurück und las in der Urkunde den Namen: Georg Höller – der Bruder von Cara-Sophia, der sich alles unter den Nagel gerissen hatte und dann enteignet wurde, und das mit erheblicher Geschwindigkeit, denn das war ja bereits 1946 passiert! Hans ahnte, dass er noch allerlei Überraschendes finden würde! Er stellte den Ordner zurück ins Regal, lehnte das Bild wieder an die Stelle und ging zurück zum Schreibtisch. Der Laptop zeigte immer noch die Wikipedia Seite mit Leo Putz. Er lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute an die Decke. Er sinnierte, was wohl aus seinem Leben werden würde, jetzt, wo er steinreich war. Irgendwie fühlte er sich im Moment nicht anders als vorher, vielleicht kam das später. Neugierig zog er an der Schreibtischschublade. Die war nicht verschlossen, und er musste mit dem Stuhl zurückrutschen, damit er sie ganz herausziehen konnte. Heftklammern, Stifte, Bürokleinkram, und in einem kleinen, länglichen Schälchen zog ein Schlüssel seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er sah aus wie ein Tresorschlüssel. Sein Jagdinstinkt war geweckt: Irgendwo im Haus gab es einen Tresor! Aber wo? Und wenn er ihn finden würde, wie käme er an die Zahlenkombination?Amadeus Glück war akribisch gewesen, Hans war sicher, dass er einen Hinweis finden würde, er musste nur verstehen, wie Amadeus gedacht hatte. Er drehte den Schlüssel in den Händen hin und her. All das Ordentliche, das Akribische war hier in diesem Raum, kein anderer Raum sah auch nur ansatzweise so aus, also tippte er darauf, dass sich der Tresor hier im Raum befinden musste. Am wahrscheinlichsten wohl hinter den Ordern. Er würde das auf einer mittleren Höhe getan haben, also stand Hans auf und zog Reihe für Reihe die Ordner soweit vor, dass er die Wand dahinter sehen konnte. Nichts. Könnte eine dünne Staubschicht ihm den entscheidenden Hinweis offenbaren? Es war hier schon lange nichts mehr herausgezogen worden, also sah er sich die Regale genau an: Wo fehlte die dünne Staubschicht? Das aber war leider nicht sehr hilfreich, denn seit Amadeus‘ Tod hatte niemand mehr Staub gewischt. Er ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und ging mit dem Becher zurück ins Büro. Er rückte den Laptop beiseite und hätte dabei fast die kleine Schreibtischlampe umgeworfen, sie kippte, er fing sie in einem Reflex auf – und entdeckte einen kleinen Zettel auf der Unterseite der Standfläche. 21 04 19 10 stand da in der steilen Handschrift, die ihm inzwischen vertraut war. Ein Geburtsdatum? Der Zahlencode? Aber wo war der verdammte Tresor? Systematisch räumte er nun Ordner für Ordner die Regale aus, sah dahinter und stellte sie wieder zurück, der Vormittag war vorbei - nichts. Der Kaffee war inzwischen kalt. Frustriert verließ er den Raum. Er trug das Gemälde wieder nach oben, verpackte es und stellte es an seinen ursprünglichen Platz. Klar: In diesem Chaos würde keiner suchen, also musste in diesem Zimmer der Tresor sein! Er begann nun, das Gerümpel von einer Seite auf die andere zu schichten – und nach weiteren zwei Stunden war auch hier die Suche vergebens gewesen!Wie denken alte Menschen? Wo verstecken die etwas? Vielleicht im Schlafzimmer? Er ging einen Raum weiter, sein Magen knurrte – Mittag war lange vorbei. Im Schlafzimmer stand ein großes Bett, ein schwerer Schrank, beides Jugendstil – eventuell hinter dem Schrank? Er stemmte sich dagegen und schob mit aller Kraft, der Schrank rückte einen Spaltbreit. Er schob und zog ihn ein Stück nach vorn, lugte in den Spalt – und tatsächlich: Hier war das Viereck eines Tresors zu sehen.Das verlieh ihm neue Kräfte. Der Schrank stand nun quer im Raum, und insgeheim wunderte er sich, dass Amadeus diese Kraftanstrengung als hochbetagter Mann bewältigt haben sollte, aber jetzt entdeckte er des Rätsels Lösung: Der Schrank hatte auf der Rückseite eingelegte Vierecke, das sah aus wie ein Muster in der Rückwand, aber eines dieser Vierecke war herausnehmbar. Amadeus musste also nur die Kleiderbügel rücken, ein Viereck herausnehmen – und schon konnte er an den Tresor. Jetzt puhlte er erst einmal den Zettel und den Schlüssel aus der Hosentasche, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte das Rädchen 21- 04-19-10: Mit einem leisen Click sprang die Tür auf. Er öffnete sie ganz: Der Tresor war proppenvoll. Im oberen Fach lagen Umschläge, im unteren Fach stapelten sich Bündel von Geldscheinen. Hans konnte es nicht fassen! Er stand da, starrte auf die Bündel, dann holte er das erste Päckchen raus, Geldscheine sorgfältig gebündelt. Die Banderole trug die inzwischen vertraute, steile Handschrift von Amadeus „2015 - Jahresüberschuss nach Steuern: 4.790 €“. Jedes Geldbündel trug die gleiche Beschriftung: Jahreszahl, Jahresüberschuss nach Steuern: und es folgte ein Wert in €. In DM-Zeiten waren diese Jahre akribisch umgerechnet mit dem Wechselkurs 1,95583 der DM zu €, und vor 1948 Reichsmark in DM. Der pingelige Amadeus hat offenbar die Konten jedes Jahr auf Null gestellt und den verblieben Überschuss auf- oder abgerundet in den Tresor gepackt. Zweiundsiebzig Jahre lang …Er begann zu zählen, holte die Rechenmaschine aus dem Büro. Irgendwann endete er bei 213.560 €! In bar! War der Reichtum vorher abstrakt erschienen – jetzt lag er handfest in unzähligen Bündeln auf dem Bett verteilt vor ihm. Er sprang im Raum umher, hörte sich mit überschlagender Stimme juchzen: „Ich fass‘ es nicht“. Er lachte, fasste sich an den Kopf: „Ich bin reich“, „Wow“. Er erinnerte sich an ein Lied aus Kindertagen, sprang auf und grölte lauthals los: „Wenn ich einmal reich wär – o je wi di wi di wi di wi di wi di wi di bum“. Er summte die Melodie weiter, da er den weiteren Text nicht mehr wusste. Dazu tanzte er, was er für Sirtaki hielt. Er stopfte sich ein Bündel in die Tasche, 4.100 € - mal eben so. Jetzt meldete sich der Verstand wieder. Er rief sich zur Ordnung „Bleib cool! Mach‘ mal halblang Junge! Räum‘ es wieder ein!“.Das tat er. Denn das hier war nicht unproblematisch, er musste dieses Geld auf ein Konto einzahlen, er konnte ja nicht gut ein Auto bar bezahlen, oder? Versteuert war es offenbar. Erbschaftssteuer und Erbenermittler konnte er nun locker bezahlen. Jetzt sah er sich die Papiere an. Er nahm eine Reihe von Briefumschlägen heraus – manche fast so dick wie ein Päckchen. Er schloss den Tresor, verdrehte das Rädchen, zog den Schlüssel heraus, schob den Schrank an seinen Platz. Die alten, etwas abgetragenen Anzüge schaukelten bedächtig. Niemand konnte ahnen, was sich dahinter verbarg. Amadeus hatte offenbar nicht sehr viel für sich genommen.Sein Magen hing in den Kniekehlen. Er eilte in die Küche, warf unzählige Briefumschläge schwungvoll auf den Küchentisch – einige fielen auf den Boden. Er hob sie wieder auf und legte sie zuoberst auf den Haufen.Sein Kühlschrank gähnte ihn an. Es war sehr später Nachmittag, als er das Haus verließ, um einkaufen zu gehen. In der Metzgerei am Marktplatz erstand er zwei Brötchen, die Leberkas-Semmeln hießen, gierig aß er sie an Ort und Stelle auf. Dann ging er einkaufen bei einem Discounter.Um 18.30 Uhr war der Kühlschrank prall gefüllt. Auf dem Tisch stand ein kühles Bier zusammen mit Brot, Butter, Käse, Kassler und Salami. Die Hühner waren gefüttert, und sein innerer Aufruhr hatte sich etwas gelegt.Er war überwältigt von der Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge entwickelten. Jetzt hatte er die Muße, sich die Papiere anzusehen. Zahllose Schreiben an Herrn Bartholomäus Grandauer, die alle als „unzustellbar“ zurückgesandt worden waren. Alle Briefe waren in die USA gesandt worden, mit unterschiedlichen Adressen – aber alle waren zurückgekommen. Wieso hatte Amadeus sie alle aufgehoben?

Der Erbe ...und die Glücksritter

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