Читать книгу Der Erbe ...und die Glücksritter - Sybille A. Schmadalla - Страница 7

Amadeus Glück

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Noch immer lagen die unzähligen Briefe aus dem Tresor auf dem Küchentisch. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sie anzusehen. Alle waren als „unzustellbar“ zurückgekommen. Warum hatte Amadeus die alle aufgehoben?Jetzt hatte er Zeit und Muße, sich die Briefe anzusehen. Er fuhr mit der Klinge des Küchenmessers unter den Falz eines Umschlags, schnitt ihn vorsichtig auf, ohne den Inhalt zu beschädigen, und entnahm mehrere Blätter.Wieder sah er die schöne, akkurate Handschrift von Amadeus. Buchstabe um Buchstabe sorgfältig gesetzt, jede Schleife, jeder Anstrich im selben Winkel, derselben Größe, da kippte nichts. Gleichmäßig gefüllt jede Zeile, ein Buchstabe wie der andere, jede Seite wie eine Urkunde, so majestätisch und erhaben wirkte das Ganze. Hans war beeindruckt, dachte‚ dass Amadeus mit dieser Handschrift in der Schule sicher die Schönschreibwettbewerbe gewonnen hatte. Jede Seite war versehen mit Ort, Datum und Seitenzahl. Er las: Grafing den 21.9.1942Lieber sehr geehrter Herr Grandauer,ich hoffe es geht Ihnen gut und Sie sind gut in Amerika angekommen, wie Sie vermuteten hatten, waren Höller und seine Schläger zwei Tage nach Ihrer Abreise da und wollten Sie verhaften. So kurz nach der Trauerfeier für Ihren werten Herrn Vater und die anderen Gefallenen! Der Höller hatte noch nie Anstand. Es ist schlimm, wenn Menschen die keine Herzensbildung haben, ein Quäntchen Macht in die Finger bekommen. Der Höller hatte Schaum vorm Mund, dass Sie weg waren! Die haben mich ziemlich in die Zange genommen. Dann hat er mich bedroht, dass ich Jude sei und so, aber mit meinen Abstammungsdokumenten konnte ich beweisen, dass ich kein Jude bin, da ist er fast nochmal geplatzt, der konnte einem richtig Angst machen.Nachdem Sie das Erbe ja aufgrund Ihres Untertauchens nicht antreten konnten und Ihre sehr verehrte Frau Mutter und das ebenso verehrte Fräulein Schwester ja einen Vermögensbesorger brauchten, stand zu befürchten, dass Höller alles konfiszieren würde. Ich habe Ihrer werten Frau Mutter die Vollmacht vorgelegt, aber sie meinte, dass wir beide nicht gegen den Höller ankommen werden. Ich solle die Villa verwalten, die Brauerei – da muss eine andere Lösung her, hat sie gemeint. Da hat Ihre Mutter alles auf Ihren ehrenwerten Großvater Herrn Mittermair Senior umschreiben lassen. Aber die Brauerei heißt weiter Grandauer und zwei Buben aus der Mittermair Familie, der eine vierzehn und der andere fünfzehn Jahre, lernen jetzt das Brauerhandwerk. Es steht zu befürchten, dass die eingezogen werden, wenn sie fertig sind damit. Es ist gekommen wie Sie es immer vorhergesagt und befürchtet hatten, Deutschland kämpft an so vielen Fronten. Menschen verschwinden irgendwie aus der Stadt, man weiß nicht so recht, mussten die an die Front oder sind sie abgehauen oder wurden die abgeholt? Ich bin sehr vorsichtig mit wem ich was rede. Der Höller ist nicht mehr auszuhalten, so wichtig nimmt sich der.Ich hoffe die Adresse stimmt, sobald Sie sich bei mir gemeldet haben, sende ich Ihnen Nachricht damit Sie Rechenschaft haben, damit ich über ihr restliches Vermögen Bericht geben kann. Ich werde Ihnen, wie versprochen regelmäßig berichten, wie es steht, über Alles welches ich getreulich zu verwalten gedenke, so wie ich es Ihnen am Tage Ihrer Abreise versprochen habe. Hans ließ das Blatt sinken. Das war des Pudels Kern, das war der Schlüssel! Amadeus hat das Vermögen von einem Herrn Grandauer verwaltet! Deshalb diese Akribie, die 213.560 € waren also seit 1942/43 angespart – das Ergebnis der Verwaltung – er rechnete kurz nach - erwirtschaftet in über siebzig Jahren. Hatte er alles später von Grandauer geerbt oder geschenkt bekommen? Er las weiter.Georg Höller hat alles dran gesetzt und ist tatsächlich der Vorsitzende der Milchbauernvereinigung geworden, als Ortsgruppenführer und Bauernführer kann er walten und schalten wie er will. Ein Nazi durch und durch. Er ist natürlich UK gestellt, während die anderen Männer an die Front müssen. Vermögen speziell von Juden wurden beschlagnahmt, aber damit nicht genug, sie verfolgen alle ob Kommunisten, Zentrumspolitiker, Sozialisten. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie – genau wie Sie immer gesagt haben. Es war sehr klug von Ihnen nach Amerika zu gehen. Die Einschüchterung läuft im großen Stil und ich hab Angst, dass sie mich trotzdem, dass ich ein Christ bin, holen. Die beiden Pünktchen sind ja schon weg, ich heiße jetzt Gluck – ob das wohl helfen wird? Ich bin in das Kutscherhaus gezogen und habe das Haupthaus und den Pavillon an – seien Sie versichert - ordentliche Menschen vermietet. Das Haupthaus habe ich vermietet an Herrn Lehrer Baumann mit Frau und Kindern. Er lehrt an der örtlichen Schule. Er ist Beamter auf Lebenszeit. Den Pavillon habe ich eigenhändig mit Umbaumaßnahmen für eine dauerhafte Bewohnbarkeit nutzbar gemacht. Es wohnt ein lediges Fräulein vom Rathaus drin - Maria Wildgruber. Ich glaube gar, dass Sie sie kennen. Ich selber habe im alten Kutschenhaus das ehemalige Kutscherzimmer bezogen und den Stall umgebaut, mit einer kleinen Küche und einem Bad. Alle Einnahmen gehen auf ein eigens eingerichtetes Bankkonto bei der örtlichen Sparkasse, der Direktor ist zwar kein Nazi, aber trauen tue ich dem auch nicht. Meine Aufstellungen umfassen die Einnahmen (Miete) und stellen die Ausgaben (meinen Lohn, sonstige Kosten und die Abgaben) dagegen. Einmal pro Jahr werde ich zum Steuerberater Herrn Dr. Baumgärtl am Marktplatz gehen und die Steuer ordnungsgemäß an das Finanzamt entrichten. Von allem werde ich getreulich berichten, so dass Sie sich keine Sorgen machen müssen, da Sie alles nachvollziehen können. Achten Sie auf Ihre Gesundheit - seit Kindesbeinen ist Ihr Herz ja nicht das Beste - und diese aufregenden Zeiten sind dem Herzen sicherlich nicht zuträglich. Ich hoffe, Ihre Reise ist gut verlaufen und Sie können im fremden Lande sich heimisch machen. Gott segne und beschütze Sie.Ihr getreulicher Amadeus GlückP.S. In der Hoffnung bald von Ihnen Nachricht zu haben Hans erinnerte sich, in der Schule gehört zu haben, dass vor der Machtergreifung der Nazis schon Zehntausende, meist bildende Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle, aber auch politisch Andersdenkende, Schriftsteller, Schauspieler, Theater- und Filmschaffende und eben die besonders verfolgten Juden das Land verlassen hatten und diese Emigration unvermindert anhielt während der ganzen Herrschaftszeit der Nazis. Wie wenig er sich davon gemerkt hatte! Geschichte war langweilig, aber wenn man plötzlich sah, was es für das Leben eines Mannes bedeutet hatte, sah das schon anders aus. Auf jeden Fall dürfte Bartholomäus Grandauer also auf eine große deutschsprachige Gemeinde getroffen sein, egal wohin er in den USA auch gegangen war. Was es wohl für einen Menschen bedeutete, alle Brücken hinter sich abzubrechen? Sich ins Ungewisse zu wagen? Alles neu anzufangen? Selbst die Sprache ist nicht die eigene! Darüber hatte er sich nie wirklich Gedanken gemacht und Gott-sei-Dank auch nie machen müssen. Er schätzte auf einmal sein wohlgeordnetes Leben, unspektakulär, gleichförmig aber eben auch ohne Angst vor Verfolgung. Die Briefe aus dem Tresor lagen als großer, farbig gesprenkelter wilder Haufen über den Tisch verstreut. Die Umschläge in weiß, braun oder gelblich, größere, schmalere, dickere und flachere: Alle lagen ungeordnet vor ihm. Wahllos griff er nach irgendeinem und öffnete ihn wie zuvor.Grafing den 1.8.1945Lieber sehr geehrter Herr Grandauer,noch immer weiß ich nichts über Ihren Verbleib und wie es Ihnen ergangen ist. Ich mache mir Sorgen, nach so vielen Jahren ohne Nachricht. Jetzt wo wir befreit sind, kommen Sie sicher wieder nach Hause. Oder ich kann mich auf die Suche nach Ihnen machen. Seit drei Monaten sind die Amerikaner hier. Sie glauben gar nicht wie froh wir alle waren. Die Amerikaner haben mich aus dem KZ befreit. Ich war zwei Jahre im KZ Außenkommando Ebersberg-Steinhöring gefangen, der Höller hat mich da reingebracht. Ich sei Jude hat er behauptet, aber er wollte nur die Villa und das Geld. Er hatte schon Monate gegen mich gehetzt und meine Papiere wurden einfach für ungültig erklärt! Es wurde alles beschlagnahmt und er hat zwei Jahre in der Villa gewohnt. Die konnten nicht glauben, dass ich nichts auf dem Bankkonto habe. Sie haben alles auf den Kopf gestellt, um das Geld zu finden, aber ich hatte ein sicheres Versteck, da ich schon ahnte, dass es so kommen würde. Sie haben nichts gefunden. Der Höller hat natürlich nicht bezahlt und alle anderen Mieter rausgeworfen, es gibt also keine Einnahmen für die Höller-Jahre. Ich war dann im KZ, deshalb habe ich Ihnen zwei Jahre nicht schreiben können, aber der Gedanke, dass Sie sich wenigsten rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben, der hat mein Herz erleichtert während all der Zeit.Ich bin am 21.3.1943 zu Hause um fünf Uhr in der Früh deportiert worden. Am Sonntag. Die haben an der Türe gepoltert und rumgebrüllt. Ich war noch schlaftrunken, im Schlafanzug haben die mich verhaftet. Stellen Sie sich vor, im Schlafanzug. Barfuß. Ich musste auf einen Wagen steigen, da saßen die alte Frau Roth und eine Familie, die ich nicht kannte. Sie brachten uns nach Grafing Bahnhof. Wir sind in einen Güterzug verladen worden und kamen dann in Dachau an. Dort wurden wir registriert, wir wurden alle kahlgeschoren – mit stumpfen Rasiermessern, ich habe heute noch Narben und Scharten davon. Auch die Frauen haben sie geschoren und die Kinder. Einige haben geweint. Alles immer im Laufschritt und immer wurden alle Befehle gebrüllt. Dann wurden wir selektiert, wir mussten uns ganz nackt ausziehen Männer und Frauen und die Kinder! Ich habe mich so geschämt. Dann wurden alle erneut getrennt. Noch heute höre ich die Mütter und die Kinder, nachts. Ich will nicht klagen, ich lebe. Ich wurde als arbeitsfähig eingestuft und bekam einen Sträflingsanzug und eine Nummer in den Arm eintätowiert und dann wurde ich ins Außenlager Eberberg-Steinhöring verlegt. Wir arbeiteten für den Lebensborn, auch so eine Nazierfindung. Sie wollten besondere Arier züchten, also haben sie Frauen aus Deutschland, aber auch Frauen aus Norwegen, den Niederlanden und so hierher verschleppt, alle blond, blauäugig und groß. Deutsche Männer, die als Arier galten und alle von der Waffen SS, haben dann mit diesen armen Frauen Kinder gezeugt.Wir haben die dafür benötigten Einrichtungen geschreinert. Kinderwiegen, Kinderbetten, Kommoden und Alles in Stand gehalten. Wieso der Höller gedacht hat, ich sei Schreiner, kann ich nicht sagen, jedenfalls musste ich ganz schnell so tun, als ob ich einer sei. Am 1. Mai 1945 standen die Amerikaner vor den Toren, die Wachen waren schon vorher abgehauen, aber die Tore waren verschlossen. Die Amerikaner sind einfach mit dem Panzer durchgefahren! Das Geräusch, wie die das Tor niedergemalmt haben, klang wie der schönste Jubelgesang in meinen Ohren. Ich war froh. Mager und hungrig, aber so froh, ich habe geweint vor Freude. Die haben uns registriert, waren nett. Die Ärzte haben mich untersucht und ich habe Brot bekommen und Suppe. Wenn man so verhungert ist, darf man nicht zu schnell zu viel essen, da stirbt man dran. Die ersten Tage war ich in einer Art Lazarett, ich habe nur schöne, dicke Suppen bekommen, sie glauben nicht wie gut das geschmeckt hat. Einer der Offiziere hat Akten angelegt und ich durfte meine Geschichte erzählen. Dann bin ich wieder heimgekommen nach Grafing. Der Höller war weg! Den haben sie ein paar Tage später gefunden, im Gebüsch auf dem Weg nach Grafing-Bahnhof, erstochen. Man munkelt es waren die Zwangsarbeiter - die befreiten. Einer der Lagerdolmetscher lag daneben, auch erstochen. Die Amerikaner haben nicht nur uns KZler befreit sondern auch die Zwangsarbeiter. Jetzt plant der Offizier, den ich am 4 Mai kennengelernt habe, die Vermögensrückübertragung. Ich werde davon ausführlich berichten und Ihnen die Dokumente senden, sobald ich Ihre Adresse habe. Jetzt kommen Sie doch bald zurück, oder? Ich würd mich so freuen, Sie wohlbehalten wiederzusehen. Ach und das will ich Ihnen auch noch berichten:Der 4. Mai war ein toller Tag! Die Amerikaner haben in der Nähe der alten Kegelbahnen, hinten beim ehemaligen Wild-Bräu ein Lager mit 40.000 eingemauerten Flaschen Spirituosen gefunden! Eingemauert! 40.000 Flaschen Bier, Wein und Schnaps! Stellen Sie sich das vor. Ich sag Ihnen Herr Grandauer, da haben alle gefeiert! Die Grafinger – also die die noch übrig waren - und die befreiten Zwangsarbeiter und wir die überlebenden KZler aus Steinhöring und die Bauern und alle amerikanischen Soldaten, also das war eine Feier! Alle haben gefeiert und gesoffen was das Zeug hielt. Die Amerikaner haben dann ihre Musik angemacht, über ihre Lautsprecher auf den Durchsagewagen. Die Soldaten haben dann mit den ‚Froileins‘ wie sie unsere Mädchen nennen, getanzt. Wir haben getanzt auf der Straße, ich auch, und geweint und gelacht …und wieder getanzt - also nur die, die dazu nicht zu betrunken waren. Ein riesiges Volksfest, auf der Straße ‚Rum and Coca-Cola‘. Also eine ganz andere Musik, als wie bei uns, die Röcke der Dirndln sind nur so geflogen.Hans summte die Melodie vor sich hin, ein Lied das sogar er noch aus seiner Kindheit kannte: „Drinking rum and coca-cola, go down point Koomahnah, both mother and daughter working for the Yankee Dollar.“ Als Kind hatte er immer auf diese langgezogene Endung gewartet „working for the yaankee dollaaaaar …“. Ein echtes Gute-Laune-Lied! Er stellte sich die befreiten Menschen vor, befreit von Angst, befreit von der Last des Krieges, wie sie tanzten vor Freude, Jung und Alt! Alle Überlebende eines unmenschlichen Albtraums, alle Mitwirkende in diesem Albtraum, auf unterschiedlichen Seiten Mitwirkende, wenn er an Amadeus dachte. Er las weiter. „My dreams are getting better all the time“, „Don‘t fence me in“ oder Glenn Miller, hat mir alles gut gefallen. Ich habe einen Offizier kennengelernt. Charles J. Landin, der hat erst versucht gegen diese ‚Fraternisierung‘ einzuschreiten, aber dann hat er doch selber mit getan. Dem habe ich meine Nummer gezeigt und dann haben wir beide ein bisschen geweint und er hat mir seins erzählt und ich ihm meins und jetzt ist er mein Freund. Er kommt aus Omaha in Nebraska und seine Eltern sind 1930 nach USA gegangen und er heißt eigentlich Karl Johann Landin und er spricht fließend Deutsch, weil er in Dirmstein, Pfalz zur Schule gegangen ist. Wir sind beide Jahrgang 1915, aber nach dem KZ bin ich alt, er nicht. Meine Haare sind ganz grau und dünn geworden und ich bin nur noch Haut und Knochen. Der Charlie hat dort das Sagen und der ist jetzt mein Freund. Er hat mir versprochen, dass er persönlich die Vermögensrückübertragung veranlasst. Die Höllers sind alle weg, bei Nacht und Nebel abgehauen, keiner weiß wohin, aber der Höller steht noch im Grundbuch. Tot im Gebüsch ist er gelegen – habe ich ja schon geschrieben. Die Hausschlüssel habe ich gekriegt, die hatte er in der Hosentasche. Erstochen haben sie ihn - den Unmenschen. Freuen tut es mich trotzdem nicht, aber fürchten muss ich mich jetzt auch nicht mehr. Das war am 15. Mai, wo sie ihn gefunden haben und der Lagerdolmetscher lag daneben. Aber erstochen haben sie ihn früher – aber da will ich jetzt nicht dran denken.Aber der 4. Mai war so schön, alle Menschen waren so froh, dass es vorbei war. Alle haben gelacht und geweint und getanzt. Ich habe den ganzen Tag gefeiert. Ich habe allen meine Nummer gezeigt und dann haben die sofort mit mir angestoßen und ja mei, ich vertrag ja nix mehr. Ihr ergebener Diener Amadeus GlückPS Ich wohne in der Villa, ziehe aber wieder um ins Kutscherhaus, das ziemt sich besser und ist besser für die Mieteinnahmen, ich kann das Haus vielleicht an die Amerikaner vermieten.Hans musste lachen bei der Vorstellung, wie es da wohl zugegangen war an diesem 4. Mai 1945 in Grafing bei München. Jetzt ging er systematisch vor: Als Erstes ordnete er die Briefe nach Jahreszahlen. Er bildete Häufchen je Dekade auf dem Küchentisch. Briefmarken aus allen Dekaden zierten die Umschläge. In dieser Nacht schlief Hans keine Minute. Die Morgensonne lachte schon längst vom Himmel, als Hans noch lange nicht das letzte Blatt beiseitelegte. Tief war er eingetaucht in die Nazizeit, die Nachkriegszeit und hatte erfahren, wie das Leben des Amadeus Glück verlaufen war. Grafing den 13. Februar 1949Lieber sehr geehrter Herr Grandauer,trotz aller Nachforschungen weiß ich noch immer nichts über Ihren Verbleib und wie es Ihnen ergangen ist. Ich frage mich allmählich ob die Nazi Sie nicht doch gekriegt haben und Sie gar nicht nach USA gekommen sind. Am Ende sind Sie vielleicht schon tot? So viele Jahre ist das nun alles her. Ich arbeite bei den Amis in der Instandhaltung und ich fahre LKW. So habe ich ein gutes Auskommen. Mein Freund Charlie hat mir damals den Job besorgt. Währungsreform war auch, wir haben jetzt DM. Nach der Reform war alles wieder da, jeder konnte Essen kaufen in Hülle und Fülle, vorher haben wir alles gegen Ami-Zigaretten tauschen müssen.Das Haus, der Pavillon und das Kutscherhäuschen hatten zuerst einquartierte Flüchtlinge, aber inzwischen sind sie gut vermietet und ich habe schon 1946 die Rückübertragung beantragt. Der Charlie hat das alles ganz schnell und gut erledigt. Jetzt steh halt ich im Grundbuch, aber ich versichere Ihnen, wenn Sie wieder da sind, gehen wir zum Notar und dann schreiben wir es wieder auf Sie um – so wie es seine Richtigkeit hat. Ich habe schon ganz viele Behörden in USA angeschrieben und der Charlie hat mir die Wörter gesagt und so habe ich über die Arbeit und die Briefe Englisch gelernt. Aber ich finde Sie einfach nicht. Ich habe den Mietern eingebläut, wenn Sie kommen, dass die mich sofort benachrichtigen. Ich wohne ja noch in Grafing. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Sie wiedersehen würde. Inzwischen werde ich getreulich berichten. Auch dieser Winter war wieder sehr kalt. So allmählich erholt sich Deutschland von den Nachkriegswirren. Die Flüchtlinge sind in Barackenlagern untergebracht, aber es wird auch gebaut, damit die Menschen wohnen können. Grafing und Umgebung hatte ja keine wirklich großen Bombenschäden, da ist München was anderes widerfahren. Lebensmittelkarten hat es auch gegeben aber mit der Einführung der DM war es vorbei, nun gibt es wieder alles. Mein Verdienst bei den Amis ist gut und in den nächsten Jahren sollte es mir nicht schwerfallen eine Frau zu finden. Aber im KZ bin ich so grau geworden und ich sehe viel älter aus. Ich gehe aber regelmäßig zum Tanz und wer weiß…Lieber sehr verehrter Herr Grandauer, ich vermisse Sie und hoffe, das Gott Ihnen alles zum Guten hat gedeihen lassen. Ich freue mich darauf, Sie hier wiederzusehen. Als nächstes schreibe ich nochmals die Einwanderungsbehörde in San Francisco an, vielleicht habe ich Glück …Ihnen alles Gute, Ihr ergebener Diener Amadeus GlückDas Handy klingelte: Frau Prohaska rief an, und Hans hörte die neuesten Nachrichten aus seiner Welt. Er besprach mit ihr, dass er im Laufe der nächsten Woche zurückfahren würde und dass in der Zwischenzeit sie alles so machen sollte wie immer.Nachdem er das Gespräch beendet hatte, klingelte das Handy erneut– die Nummer kannte er nicht. Er nahm das Gespräch an und sagte vorsichtig fragend „Ja?“„Spreche ich mit Herrn Glück? Mein Name ist Josef Friedenauer, ich bin Anlage- und Vermögensberater, und ich habe mit Sicherheit ein gutes Angebot für Sie …“Hans war irritiert und unterbrach den routinierten Redner schroff „Woher haben Sie meine Nummer?“ „Es spricht sich in einer kleinen Stadt schnell herum, wenn jemand eine solch wertvolle Immobilie erbt, und der Rest hat mit gutem Spürsinn und Recherche zu tun.“ lobte sich der Mann am anderen Ende der Leitung selbst.Hans schüttelte den Kopf „ich brauche keinen Anlage- und Vermögensberater …“ dann zögerte er etwas, was dem Gesprächspartner sofort dazu verhalf, die Pause zu füllen.„Die Bank zahlt Ihnen doch gar nichts, Zinsen sind im Keller, Geld ist ein Geschäft für Profis, wie sie einer sind!“ Es folgte eine kurze Kunstpause. „Zehn Prozent Rendite nach Steuern in Schiffsanlagemodellen oder zwölf Prozent bei offenen oder geschlossenen Immobilienfonds – dies sind die Anlagemodelle von erfolgreichen Unternehmern, einem Geschäftsmann, wie Sie es sind …“ plapperte er weiter. Hans unterbrach die Verbindung.Er ging in die Stadt, um bei der Sparkasse nachzufragen, ob Amadeus dort Konten gehabt hatte oder ein Schließfach, denn im Haus fand sich nur, was Herrn Grandauer betraf. Herr Moritz Huber, der Kundenberater von Herrn Amadeus Glück, lächelte Hans freundlich an „Mein Beileid!“ wurde von einer routiniert ausgestreckten Hand begleitet, die auf den Stuhl vor ihm verwies. Hans setzte sich. Er legte den Erbschein vor und seinen Ausweis, beides wurde kurz geprüft, dann wandte sich Herr Huber seinem Computer zu „Nun wollen wir mal sehen, was wir da so haben …“ Nach ein paar Augenblicken meinte er – konzentriert auf den Computer blickend – „Ja, wir haben ein Konto auf Herrn Amadeus Glück ausgestellt … es hat ein kleines Guthaben von 2.398,17 € … Schließfach haben wir keines … Aktiendepot auch nicht.“ Er blickte Hans offen an und fragte „Was haben Sie denn mit dem Haus vor? Wir, also die Sparkassen, bieten einen regionalen Immobilienservice. Sie können das Haus gerne über uns verkaufen lassen. Die 3,75 % Maklerprovision zahlt der Käufer, also für Sie sicher ein gutes Geschäft.“„Ich bin noch etwas unentschlossen, der Erbenermittler meinte, die Villa abzureißen und das Grundstück neu zu bebauen.“ Herrn Hubers Interesse war geweckt, er rutschte auf dem Stuhl nach vorne, der Oberkörper richtete sich auf. Hans registrierte diese kleine Veränderung, sein Banker in Essen behandelte ihn immer wie einen Bittsteller, den kleinen Handwerker, der war dann immer sehr gönnerhaft zu ihm, als ob ein Kredit ein persönlicher Gnadenakt wäre. Der hier war anders, Hans dachte bei sich: Ah, sein Jagdinstinkt ist geweckt!„Ein schönes Grundstück, wieviel Quadratmeter hat es denn genau?“ „2500 laut Grundbuch“ „Also da können Sie zwei Dreispänner draufstellen. Sechs Häuser mit 350 - 400 qm Grund. Da könne man ruhig eine engere Bebauung planen, dass kriegen wir beim Stadtrat durch, also zwei Vierspänner, heißt acht Häuser mit 250 qm Grund netto!“ Auf Hans‘ verständnislosen Blick reagierend ergänzte er „Zufahrten und Wege müssen wir ja abziehen.“ Und mit fester Stimme fuhr er fort: „Als Sparkasse finanzieren wir solche Projekte auch gerne, und wir haben hier einen bevorzugten Bauträger aus der Region, den ich Ihnen nur empfehlen kann“. Er schwieg einen Moment, überlegte und murmelte dann halblaut vor sich hin „8 Häuser zu 620.000 € … 650.000 € je nach Ausstattung … die Eckhäuser teurer … also 5 Millionen sollten drin sein!“ Er nickte Hans aufmunternd zu, griff gut gelaunt zum Telefonhörer, und mit leicht geröteten Wangen sprach er geschäftsmäßig in die Muschel „Frau Gradl, bringen Sie uns doch bitte Kaffee, Plätzchen usw. ins kleine Konferenzzimmer!“ Den Hörer auflegend zu Hans gewandt erklärte er: „Grafing ist Einzugsgebiet von München mit S-Bahn-Anbindung, also da haben sie entsprechend hohe Immobilienpreise. Ich darf Ihnen doch vorstellen, wie wir solche Projekte begleiten und was die üblichen Konditionen wären, oder?“ Hans war etwas überrumpelt, nickte aber und folgte Herrn Huber in das Konferenzzimmer. Eineinhalb Stunden später verließ er mit rauchendem Kopf und gestärkt mit Kaffee und Plätzchen das Konferenzzimmer mit der Zusicherung, dass Herr Huber ihm jederzeit gerne alle Fragen beantworten würde und er sich jederzeit an Herrn Huber, der ihm eine Visitenkarte reichte, wenden könne. „Meine private Handynummer schreibe ich Ihnen auch noch drauf.“ Er zögerte kurz und ergänzte: „Spielen Sie Golf?“ Die Antwort gar nicht abwartend schlug er vor „Wir haben hier einen wunderschönen Platz, es entspannt und man lernt so viele interessante Menschen kennen, also herzlich gerne führe ich sie dort ein!“ Hans schüttelte bedauernd den Kopf „Nein diesen Sport betreibe ich nicht.“ Nach ein paar weiteren Floskeln verließ Hans die Sparkasse. In den nächsten Tagen wurde er geradezu bombardiert von zahllosen Anrufern. Bauträger-Gesellschaften, Börsen-Anlagespezialisten, Vermögensberatern, Steuerberatern, Crowd- Finanzierern, Investorenberatern und anderen Experten zum Thema „Geldanlagen aller Art“. Alle wollten nur sein Bestes – nämlich sein Geld. Sie hofierten ihn „Er als Unternehmer wisse doch sicher, dass …“ oder schmeichelten ihm „als reicher Anleger“, als „Mann von Welt“ oder malten düstere Untergangsvisionen an den Horizont „ … wohlüberlegte Splittung in verschiedene Anlageformen hilft einen totalen Vermögensverlust abzuwenden, und dazu benötigt man fachliche Expertise, wie ich sie Ihnen bieten kann!“.Hans fühlte sich zunehmend unwohl. Dem Banker hatte er von dem vielen Bargeld gar nichts gesagt und auch nicht von dem Kunstwerk. Der Banker hatte von Eigenkapital und Absicherung gesprochen, dass das Grundstück im Wert die Baukosten sicher abdecken werde und hatte ihn mit zahllosen Details bombardiert.„Die Eile kommt vom Teufel“ war in seiner Familie ein geflügeltes Wort gewesen, also beschloss er, sich nicht bedrängen zu lassen. „Gut Ding will Weile haben“. Jetzt würde er erst einmal die Briefe weiterlesen und sich um die Wertermittlung des Gemäldes kümmern. Er setzte Kaffeewasser auf, öffnete seinen Laptop und recherchierte unter dem Stichworten ‚Auktion‘ ‚Bilder‘ ‚Kunst‘ und ‚Leo Putz‘. Tatsächlich fand sich ein hoch renommiertes Haus in München, das vor Jahren auch Werke von Leo Putz aus einem Nachlass versteigert hatte. Er notierte Adresse und Telefonnummer, zückte sein Handy und rief dort an. Nach einigem Hin und Her hatte er einen Termin zur Vorstellung des Kunstwerks vereinbart. Der Wasserkessel pfiff, er brühte den Kaffee auf und freute sich darauf, in die Welt des Amadeus Glück einzutauchen, seinen Ahnen ein bisschen besser kennenzulernen und vor allem die dahinter liegende Geschichte zu ergründen.

Der Erbe ...und die Glücksritter

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