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Montag

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Die Haustür schlug zu. Andreas Brander schreckte aus dem Tiefschlaf. Sein Herz schlug schneller, und er blinzelte benommen. Hinter den Vorhängen dämmerte mattes Licht. Der Tag hatte noch nicht richtig begonnen. Er drehte sich zu seinem Nachttisch, warf einen Blick auf den Wecker: Kurz nach fünf.

»Das war Nathalie.« Cecilia war anscheinend ebenfalls aufgewacht. »Ich hatte gehofft, dass es bis zu ihrem ersten offiziellen Einsatz noch ein bisschen dauert.«

Er hörte deutlich die Sorge aus der Stimme seiner Frau. »Wir werden ihr wohl eine Entschuldigung für die Arbeit schreiben müssen«, murmelte er.

»Sie ist achtzehn. Sie kann sich ihre Entschuldigungen selbst schreiben.«

»Ganz genau, Ceci.« Brander drehte sich zu ihr. Sie lag auf dem Rücken, die dunkelbraunen Haare vom Schlaf zerzaust. Selbst im Dämmerlicht konnte er die sorgenvollen Falten auf ihrer Stirn erkennen. »Sie ist achtzehn, und sie weiß, worauf sie sich eingelassen hat.«

Im August war ihre Pflegetochter volljährig geworden und hatte beschlossen, aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Ammerbuch zu werden. Sie war schon in den Jahren davor Mitglied der Jugendfeuerwehr gewesen, hatte zahlreiche Kurse absolviert und den Brandschutz im Hause Brander erheblich verbessert. Sie besaßen inzwischen sogar eine Strickleiter, um zur Not aus dem Fenster klettern zu können, wenn das Treppenhaus ihrer Doppelhaushälfte in Flammen stehen sollte. Als sie das Mädchen vor gut drei Jahren bei sich aufgenommen hatten, hätte Brander nicht gedacht, dass aus dem Wildfang jemals so eine verantwortungsvolle junge Frau werden würde.

»Kannst du dich erinnern, wie oft wir sie aus dem Bett zerren mussten, damit sie zur Schule geht?«, erinnerte er sich. »Wir hätten ihr schon damals so einen Piepser geben sollen.«

»Ja, das hätte sicher geholfen.« Cecilia kuschelte sich an ihn. »Hoffentlich passiert ihr nichts.«

»Sie ist ein Greenhorn. Ihre Kollegen werden gut auf sie aufpassen.« Er zog seine Frau an sich und schloss die Augen. Eine knappe Stunde Schlaf blieb ihm noch.

Als Branders Kollegin Persephone Pachatourides um halb acht vor der Tür stand, war Nathalie noch nicht von ihrem Einsatz zurück. Brander rief ihren Ausbildungsbetrieb an, um ihr Fehlen zu entschuldigen, bevor er in den in die Jahre gekommenen PT Cruiser seiner Kollegin stieg.

»Morgen, Peppi, du bist spät dran.«

»Stand ewig im Stau. Am Schopfloch hat es gekracht. Ein Kleinwagen ist mit einem Lkw zusammengestoßen.«

Brander stöhnte auf. Er dachte an Nathalie, die in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus geeilt war. War das der Einsatz, zu dem man sie gerufen hatte?

»Und?«

»Keine Ahnung. Ich gehöre nicht zu den Gaffern. Und Kollegen waren bereits vor Ort.«

Der späte Start verschaffte ihnen das Vergnügen, im stärksten Berufsverkehr auf der A 81 bis zum Stuttgarter Kreuz im Stau zu stehen. Die morgendliche Teamsitzung hatte bereits begonnen, als sie um kurz nach neun die Polizeidienststelle in Esslingen erreichten.

Kriminaloberrat Hans Ulrich Clewer, Leiter der Kriminalinspektion 1, begrüßte sie erfreut. »Sie beide kommen gerade recht. Wir haben einen Leichenfund –«

»Sagen Sie bitte nicht, in Tübingen«, unterbrach Peppi ihren Vorgesetzten. »Ich habe geschlagene zwei Stunden gebraucht, um hierherzukommen. Ich fahre jetzt nicht wieder zurück.«

Clewer erwiderte Peppis Blick mit seinen nüchternen grauen Augen gelassen. »Frau Pachatourides, lassen Sie mich doch bitte aussprechen.«

»Persephone, setz dich zu mir, kriegst auch ’nen Kaffee.« Stephan Klein zog einladend den Stuhl zu seiner Linken zurück. »Hans, jetzt lass die Kollegen doch erst mal ankommen.«

Diese Vertraulichkeit konnte sich nur Kriminalhauptkommissar Stephan Klein mit Clewer vor versammelter Mannschaft erlauben. Den einen Meter fünfundneunzig großen Hünen verband eine jahrelange private Freundschaft mit dem Inspektionsleiter.

Peppi nahm den angebotenen Platz an, Brander suchte sich einen Stuhl ihr gegenüber.

»Na, Persephone, schönes Wochenende gehabt?«

»Stephan, kannst du deinen Small Talk bitte auf die Pause verschieben?«, versuchte Clewer, sich wieder Gehör zu verschaffen.

Brander fragte sich, ob sein Chef es manchmal bereute, den Mann in sein Team geholt zu haben. Stephan hatte viele Jahre als verdeckter Ermittler im Bereich Organisierte Kriminalität gearbeitet und nicht nur sein Äußeres, sondern auch sein Benehmen entsprechend angepasst. Vielleicht war er aber schon immer so unverfroren gewesen. Dennoch durfte man sich von seinem losen Mundwerk nicht täuschen lassen. Hinter der faltigen Stirn arbeitete ein verdammt kluges Hirn. Und trotz seiner zweiundfünfzig Jahre und gut einhundert Kilo Körpergewicht war seine Fitness besser als die mancher Teenager.

Unwillkürlich wanderten Branders Gedanken wieder zu Nathalie. Sie hatte auch das Talent, ihre sensible Seite unter einer sehr rauen Schale und hinter einer oft äußerst ruppigen Sprache zu verstecken. Und jetzt hatte sie ihren ersten Einsatz bei der freiwilligen Feuerwehr. Ein Kleinwagen, der mit einem Lkw kollidiert war. Ein simpler Wasserrohrbruch oder ein kleiner Zimmerbrand wäre für den Anfang ein ausreichender Start gewesen, fand Brander. Er hoffte, dass es keine Todesopfer gegeben hatte, und nahm sich vor, am Abend mit ihr über ihren Einsatz zu sprechen.

Fabio Esposito schob ihm eine Tasse über den Tisch zu. Der junge Kollege mit italienischen Wurzeln zwinkerte ihm zu. Er hielt Branders abwesenden Blick wohl für Müdigkeit. Montagmorgens blickte manch ein Kollege noch recht verschlafen aus der Wäsche. Nichtsdestotrotz nahm Brander den Kaffee dankbar entgegen.

»… auf einem Aussiedlerhof bei Wolfschlugen. Eine junge Frau hat ihren Lebensgefährten heute Morgen tot im gemeinsamen Haus aufgefunden. Die Kriminaltechniker sind vor Ort.« Clewer sah in die Runde. »Herr Brander, Frau Pachatourides, ich möchte, dass Sie das übernehmen.«

»Okay.« Der Kaffee hatte Peppi wieder milder gestimmt.

Brander sah verwundert zu seiner Kollegin. »Hast du nicht heute einen Gerichtstermin?«

»Geri… Oh, nee, den hab ich total vergessen.« Sie sah an sich herunter.

Sie trug Jeans, dazu eine rot-blau gemusterte Bluse. Die langen lockigen Haare waren etwas zerzaust, aber da konnte ein Kamm Abhilfe schaffen. Brander strich sich über die Glatze. In Sachen Frisur hatte er es eindeutig leichter.

Stephan Klein hob die Hand. »Ich kann mit rausfahren.«

***

»Ewig her, dass ich hier war«, stellte Stephan fest, als sie über die Filderebene das Ortsschild Wolfschlugen erreichten. »War mit meiner Süßen wandern.«

Stephans Süße war eine zierliche Opernsängerin gewesen, die so gar nicht zu dem von den Waden bis zu den Handgelenken tätowierten Koloss mit dem faltigen Gesicht einer Bulldogge passte. Für sie hatte er seine Arbeit in Sachsen, wo er als verdeckter Ermittler gearbeitet hatte, aufgegeben und war nach Esslingen gezogen. Dann war sie gestorben.

»Durch die Föllbachschlucht zum Ulrichstein«, fuhr Stephan fort. »Kennste den?«

»Der einzige Ulrich, den ich kenne, ist Käpten Huc.« Womit Brander seinen Inspektionsleiter Hans Ulrich Clewer meinte.

Stephan grinste. »Ist ’n Felsen hier in der Gegend, da hat sich Herzog Ulrich von Württemberg angeblich mal vor seinem Bruder versteckt. Nette Tour.« Sein Blick glitt zu einem Straßenschild. »Wo müssen wir eigentlich hin?«

»Einmal durch den Ort.«

Sie ließen die Häuser hinter sich und bogen wenig später in einen Landwirtschaftsweg ab. Eine schmale Straße schlängelte sich zwischen Feldern und einem Waldstück und endete auf einem gepflasterten Hof vor einem in die Jahre gekommenen Bauernhaus. Fassade und Fenster hätten eine Modernisierung gut vertragen können. Eine Kletterrose hangelte sich neben dem Hauseingang am bröckelnden Putz hinauf. Rechts des Hauses stand eine betagte Scheune, deren Tor schief in den Angeln hing.

Auf der Zufahrt zum Hof parkten die Wagen der Kollegen von der Kriminaltechnik und Schutzpolizei. Hinter der Absperrung auf dem Hof stand eine Ambulanz des Roten Kreuzes neben einem Kleinwagen in knalligem Pink. Ein Werbeschriftzug am Heckfenster wies auf ein mobiles Kosmetikstudio hin. Unbeeindruckt vom Trubel spazierte ein Huhn zwischen den Autos umher und pickte im Boden herum.

Der Kriminaltechniker Manfred Tropper stand an einem der Einsatzwagen. Er hatte die Kapuze seines Schutzanzuges in den Nacken geschoben und hielt die Tasse einer Thermoskanne in der Hand. Das dünne graue Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. »Da kommt ja unser Spurenvernichtungskommando.« Er sah ihnen mit gerunzelter Stirn entgegen.

»Das habt ihr doch schon erledigt, oder?«, flachste Brander zurück.

»Noch nicht ganz.« Tropper leerte seine Tasse.

Stephan mühte sich, seinen Körper in die Schutzkleidung zu zwängen. »Und jetzt stören wir deine gemütliche Kaffeepause in diesem morbiden Cottage-Charme. Was habt ihr denn Hübsches für uns?«

»›Hübsch‹ ist gut.« Tropper zog die Kapuze wieder über die Haare und deutete mit einem Kopfnicken an, ihm ins Haus zu folgen. Die Kriminaltechniker hatten einen Pfad im geräumigen Flur markiert. Eine Garderobe aus dunklem Eichenholz erstreckte sich über eine Wandseite, den Boden zierten dunkelgrüne Fliesen, die grün-beige gemusterte Tapete aus einem anderen Jahrzehnt, wenn nicht Jahrhundert, bedeckte den Rest der Wände. Über einem Ölbild, das eine Waldlandschaft mit Reh darstellte, hing ein Hirschgeweih. Ein seltsamer Geruch, den Brander nicht einordnen konnte, hing in der Luft, vermischte sich mit dem Verwesungsgeruch des Toten.

Vor einer Tür blieb Tropper stehen und gab die Sicht in das Wohnzimmer frei. Es war wesentlich freundlicher und moderner eingerichtet, als der Eingangsbereich vermuten ließ. Ein schwarzes Ledersofa war mit zwei ausladenden Sesseln um einen niedrigen Couchtisch aus hellem Buchenholz arrangiert, ein riesiger Flachbildschirmfernseher zierte eine Wand, der Boden war mit hellem Parkett ausgelegt. Und genau da blieb Branders Blick hängen.

»Bizarr« war das erste Wort, das ihm beim Anblick des Toten in den Sinn kam. Nicht nur ungewöhnlich, sondern unwirklich, geradezu grotesk. Der Tote lag auf dem Rücken, die Oberarme zur Seite ausgebreitet, die Unterarme waren nach unten angewinkelt. Die Beine hatte er gerade von sich gestreckt, leicht gespreizt. Es erinnerte Brander an die von Künstlern oder Designern verwendeten Holzgelenkpuppen oder schlicht an eine Marionette. Der Mann hatte sich garantiert nicht so zum Sterben bereitgelegt. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, die Lage sorgfältig zu arrangieren.

Und noch etwas sprach dafür, dass es keine vom Opfer freiwillig gewählte Position war. Der Leichnam war mit hellrosa Farbe bedeckt: der nackte Oberkörper, die Arme und Hände, die bloßen Füße und der gesamte Kopf. Die Jeans hatte man dem Opfer belassen; ob die Beine darunter ebenfalls gefärbt waren, war nicht zu erkennen.

»Levin Goldmann«, gab Tropper ihnen den Namen des Toten. »Höchstwahrscheinlich.«

»›Pink Lady‹ wäre treffender.«

Brander warf Stephan einen tadelnden Blick zu. Es gab Grenzen, und die waren eindeutig überschritten bei respektlosen Bemerkungen über einen Toten. Auch wenn Stephans Äußerung den Kern berührte – wenn man davon absah, dass der Farbton eher Rosa war und es sich nicht um eine Lady, sondern um einen recht zart gebauten jungen Mann handelte.

»Wie habt ihr ihn identifiziert?«, fragte Brander in Anbetracht der Lackierung.

»Es sind keine anderen männlichen Bewohner hier gemeldet. Papiere und Smartphone waren im Haus. Angaben zu Größe und Haarfarbe im Personalausweis stimmen überein. Ich hab mir erlaubt, ein wenig Farbe von den Haaren zu kratzen. Seine Freundin hat zwar nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen, aber sie sagt, dass er es ist. Der Todeszeitpunkt liegt mindestens zehn Stunden zurück, vermutlich länger, vielleicht ein bis zwei Tage, die Leichenstarre ist voll ausgeprägt. Ich bin mir nicht sicher, welchen Einfluss die Lackierung auf Leichenstarre und Körperkerntemperatur hat. Das muss Maggie uns verraten. Na ja, und Livores … Siehste ja selbst.«

Es gab nichts zu sehen. Die Totenflecken waren unter der Farbe verborgen.

»Wie wurde er getötet?«, fragte Brander.

»Totlackiert, siehste doch.«

»Stephan, kannst du dich bitte etwas zurückhalten?«

»Ich denke nicht, dass der Lack die Todesursache war«, erwiderte Tropper. »Es legt sich ja niemand einfach so hin und lässt sich mal eben rundum mit Lack besprühen und wartet auf den Tod.«

»Sprühlack?«

»Pinselstriche haben wir bisher nicht entdeckt. Man stirbt übrigens nicht gleich daran, wenn man mit Farbe besprüht wird«, kam Tropper auf Stephans Bemerkung zurück.

»Aber durch den Lack kann die Haut nicht atmen«, widersprach Stephan. »Da gab es mal diesen Bond …«

»Du meinst ›Goldfinger‹, wo eine Dame golden lackiert wurde«, wusste Tropper. »Ganz so einfach ist das nicht. Natürlich sollte die Haut atmen können, aber in der Hauptsache führt der Mensch seinem Körper den Sauerstoff über Mund und Nase zu.«

Brander ging neben dem Toten in die Hocke, um ihn genauer zu betrachten. »Die Gesichtspartien hat unser Täter nicht ausgespart. Also könnte das Opfer den Lack eingeatmet haben.«

»Durchaus möglich.«

»Andere Verletzungen?«

»Schuss- oder Stichverletzungen konnten wir auf den ersten Blick nicht feststellen. Er könnte stranguliert worden –«

»Machst du jetzt meine Arbeit?«, erkundigte sich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund. Kurz darauf stand die Rechtsmedizinerin Margarete Sailer bei ihnen. »Oh, was ist das?«

»Deine nächste Herausforderung«, erwiderte Tropper.

»So was hatte ich jetzt auch noch nicht.« Der Blick von Sailers blaugrauen Augen wanderte über den Leichnam. »Wolltest du deswegen, dass ich vor Ort komme?«

»Wir haben unseren Etat dieses Jahr noch nicht ausgereizt, und bevor er verfällt …«

»Ist die Farbe schon trocken?«

»Ja.«

Maggie verzog das Gesicht. »Klebt er am Boden?«

»Klebte, ja.«

Sie wandte sich an Brander, der noch neben der Leiche hockte. »Andi, bevor du fragst: Ich kann dir auf die Schnelle gar nichts sagen. Gewaltsamer Tod, ich denke, da sind wir uns einig. Alles Weitere nach der Obduktion.«

»Die ist wann?«

»Wann krieg ich ihn?«, gab die Rechtsmedizinerin den Ball an Tropper weiter.

»Wir werden hier noch eine Weile beschäftigt sein. Mit ein bisschen Glück hat der Täter uns einen Fingerabdruck auf dem Lack hinterlassen.«

»Na, der wird doch wohl Schutzkleidung getragen haben«, bemerkte Stephan. »In geschlossenen Räumen sollte er auch Atemschutz verwendet haben, um nicht zu viel von den Dämpfen einzuatmen.«

Brander erhob sich aus der Hocke. »Clewer sagte, seine Lebensgefährtin hat ihn gefunden?«

»Ja, ein junges Mädle, Chantal Birk.«

»Und wo ist Frau Birk jetzt?«

»Draußen. Eine Notfallsanitäterin kümmert sich um sie. Die Sanis waren übrigens als Erstes vor Ort. Eine der Damen hat das Opfer auf Vitalzeichen untersucht«, informierte Tropper die Rechtsmedizinerin.

»Echt jetzt?« Maggie sah stirnrunzelnd auf den Leichnam. »Rettungskräfte sind doch wahre Optimisten. Ich plane die Obduktion mal für morgen früh ein. Wer kommt und hilft beim Lackabkratzen?«

»Freddy und Stephan«, delegierte Brander. »Können wir uns ein bisschen im Haus umsehen?«

»Nur die abgesteckten Pfade«, erwiderte Tropper. »Wir stecken noch mitten in der Arbeit.«

Die Spurensicherung würde noch einige Stunden beschäftigt sein. »War außer Frau Birk sonst jemand hier?«

»Nicht dass ich wüsste. Allerdings …« Tropper zögerte. »Eine Sache haben wir entdeckt, die zeig ich dir gleich mal.«

Der Kriminaltechniker schritt ihnen wieder voran durch den Flur, bog in einen kurzen Seitengang ab und öffnete die Tür am Ende.

Brander hob erstaunt die Augenbrauen.

»In was für ’nem Club sind wir denn hier gelandet?«, kam es baff von Stephan.

Zu ihrer Linken war eine Badewanne inklusive Dusche mit Hebevorrichtung eingebaut worden. In der Mitte des Zimmers stand eine Massagebank, daneben ein geschlossener Rollcontainer. An der Längsseite des Raumes befanden sich zwei Sofas. Auf ihnen saßen sechs lebensgroße und unverkennbar weibliche Puppen, eingehüllt in weiße Bademäntel, als warteten sie auf ihre nächste Wellness-Behandlung.

»Sind das Schaufensterpuppen?«

»Andreas, mach die Augen auf, das sind Real Dolls«, antwortete Stephan.

»Und?«

»Sexpuppen, mein Freund.«

Brander bedachte seinen Kollegen mit einem süffisanten Grinsen. »Und das hast du gleich auf den ersten Blick erkannt?«

»Seh ich heut nicht zum ersten Mal, du Dörfler.«

»Dies nur als kleine Denkanregung«, erklärte Tropper. »Könnte ja sein, dass diese Damen etwas mit dem Tod unseres Opfers zu tun haben. In Anbetracht der Auffindesituation.«

Die Wolkendecke war aufgerissen, gab ein Stück blauen Spätsommerhimmel frei. Sonnenstrahlen erwärmten den zugeparkten Hof. Brander hatte sich seines Schutzanzugs entledigt und ging zum Heck des Rettungswagens, in dem die beiden Rettungskräfte sich um die Lebensgefährtin des Toten kümmerten.

»Darf ich kurz stören?«

Die Notfallsanitäterin, die ihm am nächsten war, drehte sich zu ihm um. »Wer sind Sie?«

»Andreas Brander, Kriminalpolizei Esslingen. Ich hätte ein paar Fragen an Frau Birk.«

Die Sanitäterin kletterte aus dem Wagen und erklärte mit gesenkter Stimme: »Sie steht unter Schock.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Ich muss dennoch kurz mit ihr sprechen.«

Die Frau zögerte. »Seien Sie bitte behutsam.« Sie wandte sich ins Wageninnere. »Karin, kommst du kurz mit mir?«

Brander wartete, bis die Kollegin den Wagen verlassen hatte, und stieg dann selbst hinein. Die junge Frau, die auf der Trage lag, war blass. Auf der hellen Haut waren Reste der Schminke erkennbar, die durch ihr Weinen verwischt war. Die Augen waren rot geädert, die Lider geschwollen. Brander suchte eine Ecke, auf die er sich einigermaßen bequem setzen konnte, um nicht von oben auf sie herabzublicken.

»Frau Birk, mein Name ist Brander, ich bin von der Kriminalpolizei Esslingen.«

Ihr Blick wanderte langsam zu ihm. Sie reagierte. Er wertete das als gutes Zeichen.

»Sie sind die Lebensgefährtin von Herrn Goldmann?«

Sie blinzelte, als hätte sie Mühe, Branders Gesicht zu fokussieren. »Ja.«

»Ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen.«

»Okay«, erwiderte sie unsicher.

»Sie wohnen hier zusammen mit Herrn Goldmann?«

»Ja.«

»Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

»Nein … Ich war am Wochenende nicht hier.«

Die Antworten kamen kurz und klar über ihre Lippen, und dennoch hörte er den Aufruhr heraus, der in ihrem Inneren herrschte.

»Sind Sie sicher, dass der Mann im Haus Ihr Lebensgefährte ist?«

»Wer sonst?«

»Wann haben Sie ihn gefunden?«

»Heute Morgen. Ich … Er ist tot, oder?«

»Ich befürchte, ja.« Er konnte noch nicht hundertprozentig sicher sein, dass der Tote tatsächlich Levin Goldmann war. »Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte?«

Sie deutete ein Kopfschütteln an.

»Hatte Ihr Lebensgefährte mit jemandem Ärger oder Probleme?«

»Nein …«

»Sie sagten, Sie waren über das Wochenende nicht hier. Wann haben Sie Herrn Goldmann zuletzt gesehen?«

»Am Freitag.«

»Wann genau? Freitagvormittag? Oder -nachmittag?«

»Am Vormittag.«

»Und heute früh sind Sie zurückgekommen?«

»Ja.«

»Haben Sie zwischendurch mit Ihrem Freund gesprochen?«

»Nee, ich … ich habe ihn angerufen, aber er ist nicht ans Telefon gegangen.«

»Wann war das?«

Sie starrte an die Decke, als versuche sie, sich zu erinnern. »Am Sonntag … irgendwann …«

»Und er hat sie nicht zurückgerufen?«

»Nein.«

»Hat Sie das nicht gewundert?«

»Es … war nicht wichtig.«

»Wo waren Sie am Wochenende?«

»Bei meiner Mutter.«

»Wo lebt Ihre Mutter?«

»In der Stadt.«

Brander lächelte nachsichtig. »In welcher Stadt?«

»In Esslingen.«

Das war nicht weit entfernt. »Hatten Sie Streit mit Ihrem Freund?«

»Nein.« Sie richtete den Oberkörper mühsam auf, musste sich dazu mit den Armen abstützen. »Wie spät ist es?«

Brander sah auf seine Armbanduhr. »Gleich zwölf.«

»Ich muss zur Arbeit.«

»Nein, das müssen Sie heute ganz sicher nicht.«

»Um eins fängt meine Schicht an.«

»Wo arbeiten Sie? Wir informieren Ihren Arbeitgeber, dass Sie heute nicht kommen können.«

Sie nannte ihm den Namen eines Esslinger Drogeriemarktes. »Aber die mögen es nicht, wenn man kurzfristig absagt.«

»Unter den gegebenen Umständen wird man es verstehen. Sollen wir Ihre Eltern informieren? Oder gibt es eine Freundin? Einen Freund?«

Ihr Blick schweifte kurz ab. Sie schien zu überlegen. »Nee«, erwiderte sie schließlich.

»Frau Birk, erlauben Sie mir noch ein paar Fragen«, bat Brander. »Wissen Sie, ob Ihr Freund am Wochenende Besuch hatte? War er mit jemandem verabredet?«

»Glaub nicht … Ich weiß es nicht.«

»Und um wie viel Uhr kamen Sie heute Morgen hier an?«

»So gegen sieben.«

»Das ist aber früh.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte Brötchen geholt.«

Ein Frühstück zur Versöhnung? »Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie ankamen? War irgendetwas anders als sonst?«

»Nee.«

»Sie haben also geparkt und sind ins Haus gegangen.«

»Ja … da hab ich ihn gefunden …« Bei der Erinnerung presste sie die Lippen zusammen.

Brander gab ihr einen Moment, sich wieder zu fassen. »Sie haben Ihren Freund gefunden. Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich hab Panik bekommen, bin aus dem Haus gerannt. Ich … ich hab den Notruf gewählt.« Sie presste die Hände auf ihre Wangen, sah wieder ratlos zu Brander. »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll.«

»Sie sollten nicht allein bleiben. Entweder Sie fahren mit ins Krankenhaus, oder wir informieren jemanden, der Sie abholt. Und wenn es morgen Vormittag einigermaßen geht, kommen Sie bitte zu mir ins Büro.« Er suchte in den Taschen seiner Lederjacke nach einer Visitenkarte und notierte ihr den Termin auf der Rückseite.

Stephan Klein stand mit dem Rücken gegen den Dienstwagen gelehnt und war in das Display seines Smartphones vertieft, als Brander sich zu ihm gesellte.

»Levin Goldmann betreibt einen Puppenhandel.« Stephan hob sein Smartphone und zeigte ihm die Website eines Internetshops: »Dollies – Partner fürs Leben«, prangte ihm entgegen.

»Also waren das in dem Zimmer tatsächlich moderne Gummipuppen.«

»Mein Reden.« Stephan sah wieder auf das Display. »Laut dem, was Levin auf seiner Website so schreibt, geht es um mehr. Puppen als Beziehungsersatz. Sie ist da, wenn du nach Hause kommst, ist geübt in leichtem Small Talk, erzählt dir, was in der Welt los war, und spielt deine Lieblingsmusik, hört zu, stellt keine lästigen Fragen … Interaktive Silikonpuppen, so was wie Alexa oder Siri, nur hübscher und um einiges teurer.«

»Was kostet so ein Ding?«

»Willste eine kaufen?«

»Seh ich so aus?«

Stephan lachte spöttisch auf. »Ich vergaß, bei Bruce Willis aus dem Ammertal stehen die Ladys Schlange.«

»Ich bin einige Jahre jünger als Bruce.« Brander strich sich über den kahlen Schädel. Mit seinen achtundvierzig Jahren war der Altersunterschied zwischen ihm und dem 1955 geborenen US-Schauspieler doch recht erheblich.

»Ab zweitausend Euro aufwärts. Je nachdem, welche Ausstattung du haben willst, sind’s gleich ein paar tausend Euro mehr.«

Auf Goldmanns Sofa saß offensichtlich eine kleine Kapitalanlage. Ob eine Puppe fehlte? Aber dafür einen aufwendigen Mord inszenieren? Und warum dann nicht gleich alle Puppen mitnehmen? Branders Blick wanderte zu dem Rettungswagen, dessen Türen geschlossen wurden, dann rollte er langsam vom Hof. Er hätte die Frau nach den Puppen fragen sollen.

»Was sagt Chantal?« Stephan war seinem Blick gefolgt.

»Sie war übers Wochenende bei ihrer Mutter in Esslingen.«

»Gab’s ’nen Streit unter Liebenden?«

»War auch mein erster Gedanke. Sie sagt, nein.«

»Und glaubst du ihr?«

Brander horchte in sich hinein. »Nein.«

»Ich hab die kleine Rothaarige befragt.« Damit meinte er die Notfallsanitäterin, mit der Brander kurz zuvor gesprochen hatte. »Sie sagt, das Mädel hätte da vorn an der Mauer zusammengekauert gehockt, als sie ankamen. Sie hätte am ganzen Leib gezittert und geweint.«

»Hat sie irgendwas gesagt?«

»Nur den Namen ihres Freundes: Levin. Unsere Kollegen vom Revier sind zeitgleich mit den Sanis eingetroffen. Sie haben die Leiche im Haus entdeckt.« Stephan steckte sein Handy zurück in die Jackentasche. »Und jetzt? Nachbarschaftsbefragung fällt ja wohl aus.«

Das Haus lag zu einsam und zu geschützt, als dass irgendwer zufällig ein Kommen und Gehen hätte beobachten können. Dennoch würde Brander die Kollegen bitten, die Bewohner der benachbarten Höfe zu befragen, ob sie etwas beobachtet hatten. Er sah unschlüssig zum Haus. Er hätte die Räume gern genauer in Augenschein genommen, aber er würde sich gedulden müssen, bis die Kriminaltechniker mit ihrer Arbeit fertig waren.

»Wir brauchen mehr Informationen über das Opfer«, erklärte er.

»Hab ich schon bei Fabio in Auftrag gegeben.«

»Guter Mann.«

»Hey!« Stephan streckte das Kinn vor. »Das ist mein Spruch.«

»Wir sollten zu Goldmanns Eltern fahren. Hast du die Adresse?«

»Yep, laut Fabio sind sie geschieden, wohnen beide in Kirchheim. Wen zuerst?«

Brander überlegte. »Die Mutter.«

Eine knappe halbe Stunde später standen sie in Kirchheims Innenstadt vor der Tür des Hofladens, in dem Maria Goldmann arbeitete. Der Laden hatte montagnachmittags geschlossen. Auch als sie wenig später an der Wohnungstür klingelten, reagierte niemand.

»Und jetzt?«, fragte Stephan.

»Versuchen wir es bei seinem Vater.«

Hans-Joachim Goldmann war Filialleiter eines Supermarktes am Stadtrand von Kirchheim. Stephan steuerte zielstrebig auf eine Kassiererin zu.

»Junge Frau, wir suchen Ihren Chef.«

Die junge Frau war mindestens Ende fünfzig und blickte kaum auf, als sie ihm ein beschäftigtes »Moment« entgegenwarf und die Waren über den Scanner zog. »Dreiundsechzig zwölf«, informierte sie die Kundin, die ihre Bankkarte zückte. Erst dann wandte sie sich den Kommissaren zu. »Worum geht es?«

»Wir müssen persönlich mit Herrn Goldmann sprechen.« Brander zeigte ihr seinen Dienstausweis.

Die Kundin, die gerade ihre Geheimnummer eintippte, schielte interessiert herüber und vertippte sich prompt.

Die Kassiererin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, gab einen zweiten Zahlungsversuch frei und drückte parallel auf einen Knopf. »Herr Goldmann, Kasse zwo, bitte.«

Der nächste Kunde war bereits abkassiert, als der Filialleiter erschien.

»Die zwei Herren möchten mit Ihnen sprechen.«

Hans-Joachim Goldmann war nicht besonders groß, knapp eins siebzig, schätzte Brander, Ende fünfzig, ein schmales, hageres Männlein. Unter Hemd und Anzughose ahnte man dünne Arme und Beine. Seinen Kopf zierte lichtes graues Haar.

»Was kann ich für Sie tun?« Sein Blick war unverbindlich, wenn auch leicht irritiert, als Brander ihm seinen Dienstausweis zeigte.

»Könnten wir vielleicht irgendwo ungestört miteinander reden?«

»Kommen Sie bitte mit.« Goldmann ignorierte den fragenden Blick seiner Mitarbeiterin und schritt ihnen voran entlang Süßwaren und Getränken zu einer Hintertür, die in einen Lagerraum führte. Durch eine weitere Tür gelangten sie in ein schmuckloses Büro. Goldmann wies auf zwei orangene Plastikstühle und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Die Lehne quietschte, als er sich zurücklehnte und die Finger in seinem Schoß verschränkte. »Worum geht es, bitte?«

»Sie sind der Vater von Levin Goldmann?«, begann Brander.

»Ja.« Zwischen den Augenbrauen bildeten sich tiefe Falten.

»Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu Ihrem Sohn?«

»Das ist schon eine Weile her. Am Samstagabend vor drei Wochen. Maria, meine geschiedene Frau, hatte Geburtstag und hat zu Kaffee und Abendessen eingeladen. Warum fragen Sie?«

Dieser Raum war trostlos, versprühte keinerlei Wärme. Grauer Schreibtisch, graue Aktenschränke, der weiße Putz an den Wänden war alt und verkratzt. Ein Firmenkalender war das einzige Schmuckstück, das etwas Farbe in den Raum brachte. Aber diese Nüchternheit machte es Brander nicht leichter, seine Botschaft zu überbringen. »Heute Morgen wurde im Haus Ihres Sohnes eine männliche Person tot aufgefunden. Wir gehen davon aus, dass es sich hierbei um Ihren Sohn Levin handelt.«

Goldmanns Mund öffnete sich, aber der Mann starrte Brander nur tonlos an. Die Kommissare gaben ihm Zeit, die Nachricht zu verarbeiten. Schließlich schlossen sich die Lippen wieder. Goldmann schluckte trocken. »Das kann nicht … Wie …?«

»Über die näheren Umstände kann ich Ihnen im Moment noch nichts sagen.«

»Aber … hatte er einen Unfall?«

»Wir wissen noch nicht, was geschehen ist. Es sieht allerdings nach einem Gewaltverbrechen aus.«

Hans-Joachim Goldmann hob die Arme, presste die Hände auf den Kopf. »Oh Gott, Levin …« Er rang nach Atem, konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Weiß Maria …?«

»Wir haben Frau Goldmann bisher nicht angetroffen. Wissen Sie, wo wir sie finden können?«

Goldmann senkte die Arme wieder, tastete seine Taschen suchend ab, entdeckte sein Smartphone auf dem Schreibtisch. Er griff danach.

»Ich denke nicht, dass Sie ihr die Nachricht per Telefon überbringen sollten«, bremste Stephan den Mann.

Er zog die Hand wieder zurück, presste sie stattdessen über Mund und Nase, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »Kann ich zu ihm? Ich … Ich möchte ihn sehen.«

»Das geht im Moment leider nicht«, erklärte Brander.

Der Filialleiter wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. Stephan reichte ihm ein Taschentuch. Goldmann schnäuzte sich, schien um Jahre gealtert, als er wieder aufsah. »Was ist mit Chantal? Ist sie auch …?«

»Sie hat das Opfer heute Morgen gefunden«, erwiderte Brander. »Sie kennen die Freundin Ihres Sohnes?«

»Ja, die beiden sind schon lange zusammen … zwei, drei Jahre. Sie ist ein nettes Mädchen. Wie … Wie geht es ihr?«

»Sie steht unter Schock.« Ebenso wie der Mann, der vor Brander saß. »Herr Goldmann, hatte Ihr Sohn irgendwelche Probleme? Gab es jemanden, mit dem er Schwierigkeiten hatte?«

»Das … Nein … Ich weiß es nicht. Er hatte finanzielle Sorgen, aber Genaues weiß ich nicht. Maria kann Ihnen sicher mehr helfen. Mit ihr hat er über seine Probleme gesprochen. Ich …« Goldmann zuckte die Achseln. »Auf mich war er nicht so gut zu sprechen. Die Scheidung damals … Er gab mir die Schuld.«

»Sie sind schon lange geschieden?«

»Wir haben uns vor neun Jahren getrennt. Es war nicht schön, aber wir haben einen Weg gefunden, miteinander umzugehen, Maria und ich.«

»Nach der Geburtstagsfeier bei Ihrer geschiedenen Frau haben Sie Ihren Sohn nicht noch einmal gesehen oder gesprochen?«

»Nein. Wir hatten auf der Feier einen kleinen Disput, Levin und ich. Ich bin früher gegangen.«

»Worum ging es dabei?«

Goldmann sah unsicher in die Gesichter der Beamten. »Warum fragen Sie das?«

»Um herauszufinden, was im Haus Ihres Sohnes geschehen ist, muss ich so viel wie möglich über ihn erfahren.«

Goldmann schnäuzte sich erneut. »Wenn Sie bei ihm waren, haben Sie vermutlich gesehen, womit er sein Geld verdient?«

»Ja.«

»Ich habe eine dumme Bemerkung dazu gemacht. Das hat ihn geärgert. Ein Wort gab das andere. Bevor der Streit eskalieren konnte, bin ich gegangen. Ich wollte Maria nicht den Geburtstag verderben, was ich aber vermutlich trotzdem getan habe.«

»Sie sind kein Fan seines Puppenhandels?«, erkundigte sich Stephan.

»Nein.«

»Was haben Sie denn zu Ihrem Sohn gesagt, das ihn so geärgert hat?«

»Das weiß ich nicht mehr. Vermutlich habe ich irgendeinen dummen Witz gemacht. Er war da etwas empfindlich.« Goldmanns Augen bekamen wieder einen feuchten Glanz.

»Haben Sie eine Idee, wo wir Levins Mutter finden könnten?«

»Montagnachmittags hat der Hofladen, in dem sie arbeitet, zu. Vielleicht ist sie in der Stadt, trifft sich mit einer Freundin. Sie ist mir ja keine Rechenschaft schuldig.«

»Könnten Sie uns bitte ihre Handynummer geben? Wir sollten sie so schnell wie möglich sprechen.«

Aber auch auf dem Handy war Maria Goldmann nicht zu erreichen. Brander hinterließ eine kurze Nachricht mit der Bitte um Rückruf.

***

Peppi saß an ihrem Schreibtisch, als Brander mit Stephan Klein in die Dienststelle zurückkehrte. Ihr dunkles Haar glänzte feucht, sie hatte anscheinend gerade geduscht.

Stephan hielt schnuppernd die Nase in die Luft. »Apfelblüte?«

»Kernseife«, erwiderte Peppi.

Stephan grinste. »Nie im Leben.«

»Haben die dich bei Gericht so in die Mangel genommen, dass du hinterher duschen musstest?«, fragte Brander besorgt.

»Ich war eine Runde laufen.« Sie schnaufte aufgebracht. »Erst haben die mich fast eine Stunde warten lassen, und dann stellt dieser Arsch von Verteidiger mir Fragen, als ob ich mir das Ganze nur ausgedacht hätte. Der Mann hatte die Frau fast zu Tode gewürgt. Ich war vor Ort! Ich hab die Frau gesehen. Es gibt ärztliche Gutachten …«

Brander hob beschwichtigend die Hände.

»Und dann bittet die Frau ihren Anwalt, dem Gericht zu sagen, dass sie missverstanden worden wäre. Es wären SM-Spielchen in gegenseitigem Einvernehmen gewesen. Aus heiterem Himmel war das plötzlich alles nur ein Riesenspaß! Ich möchte wissen, wie viel die ihr dafür gegeben haben.«

»Die Frau ist Prostituierte. Der sind ein paar hundert Euro Cash lieber als ein Freier, der zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt wird und ihr die Kundschaft madig macht«, mutmaßte Stephan.

»Woher weißt du denn, wie viel die gekriegt hat?«, fauchte Peppi ihn an.

»Das weiß ich nicht, liebste Persephone. Sei nicht böse mit mir. Es sind die Juristen, die uns das Leben schwer machen. Mir mehr als dir.« Er zwinkerte ihr zu. Es war klar, dass der Hüne mit seiner Bemerkung gegen Peppis Lebensgefährten Staatsanwalt Marco Schmid schoss.

Sie seufzte kopfschüttelnd. »Womit habt ihr euch heute den Tag vertrieben?«

»Mit ’ner lackierten Leiche.«

»Wie bitte?«

»Details folgen gleich«, erwiderte Brander. »Käpten Huc wartet im Konferenzraum.«

»Was haben wir?«, erkundigte sich Kriminaloberrat Hans Ulrich Clewer wenig später, als das Team der Kriminalinspektion 1 sich zur abendlichen Besprechung versammelt hatte.

Brander gab die wenigen Fakten, die er bisher hatte, an die Kollegen weiter. Dann wandte er sich an Fabio Esposito. »Was kannst du uns über Levin Goldmann sagen?«

Der junge Kollege strich sich die etwas zu langen dunklen Haare aus der Stirn. »Levin Goldmann, siebenundzwanzig Jahre, gebürtig aus Kirchheim unter Teck, Einzelkind.«

»Siebenundzwanzig? Da ist er ja in bester Gesellschaft«, stellte Stephan fest.

Fabio sah irritiert auf.

»Jimi Hendrix, Janis Joplin, Kurt Cobain, Amy Winehouse …«

»Goldmann war aber kein Musiker«, erwiderte Fabio. »Er hat nach dem Abitur einige Jahre in Bottrop im Movie Park Germany als Veranstaltungstechniker gearbeitet. Vor drei Jahren kam er zurück und zog auf dem Hof der Großeltern ein. Der Hof gehörte seinen Großeltern mütterlicherseits. Der Opa starb vor drei Jahren, die Oma ist dement, lebt in einem Pflegeheim. Offiziell hat Goldmanns Mutter den Hof nach dem Tod ihres Vaters übernommen, sie wohnt aber weiterhin in Kirchheim und arbeitet in einem Hofladen. Seit gut zwei Jahren betreibt Goldmann einen Online-Versandhandel mit Silikonpuppen. ›Dollies‹ nennt sich sein Laden.«

Fabio studierte seine Notizen. »Ebenfalls wohnhaft auf dem Hof ist seine Lebensgefährtin Chantal Birk. Sie ist sechsundzwanzig, arbeitet in Teilzeit in einem Drogeriemarkt in Esslingen und ist nebenberuflich als Kosmetikerin selbstständig, ohne eigenes Studio, das heißt, sie macht Hausbesuche. Ihre Eltern wohnen in der Pliensauvorstadt. Beide arbeitslos.«

»Weißt du etwas über die finanzielle Situation von Goldmann?«, fragte Brander. »Sein Vater meinte, er hätte finanzielle Probleme.«

»Nein, so weit bin ich noch nicht.«

»Schau mal, was du herausfinden kannst. Vielleicht hatte er Ärger mit einem Geldgeber.«

Clewer bedachte Brander mit einem nachsichtigen Blick. Es war nicht an ihm, Aufgaben an die Kollegen zu verteilen. »Wir gehen also davon aus, dass es sich bei dem Opfer um Levin Goldmann handelt?«, hakte er nach.

»Es spricht einiges dafür.« Brander sah Bestätigung suchend zu Manfred Tropper, der nickte.

»Hundertprozentig können wir es erst nach der Obduktion sagen, aber es ist sehr wahrscheinlich. Über den Todeszeitpunkt habe ich mit der Rechtsmedizin gesprochen. Maggie schätzt, dass er zwischen Samstagnachmittag und Samstagnacht liegt. Zur Todesursache müssen wir die rechtsmedizinische Untersuchung abwarten. Keine offensichtliche Gewalteinwirkung. Die Lackierung erfolgte höchstwahrscheinlich postmortal. Da das Opfer nicht nur von vorn eingesprüht wurde, hat der Täter den Mann irgendwie gewendet. Wir haben bisher keine Fingerabdrücke gefunden. Es ist davon auszugehen, dass der Täter Handschuhe trug.«

»Wo hat das Ganze stattgefunden?«, hakte Clewer nach.

»Im Haus, im Wohnzimmer.«

»Auch die Lackierarbeiten?«

»Ja, höchstwahrscheinlich.«

Clewer betrachtete die Fotos von der Wohnung. »Hat der Täter hinterher geputzt, oder warum sind keine Farbspritzer zu sehen? So genau kann man mit Sprühlack doch gar nicht arbeiten.«

»Wir haben stellenweise feine Spuren von Sprühnebel gefunden. Wir vermuten, dass der Täter das Opfer auf eine Plane oder Ähnliches gelegt und ihn darauf eingesprüht hat. Dann hat er ihn so, wie wir ihn gefunden haben, auf dem Boden abgelegt, und er hat tatsächlich danach zumindest grobe Farbspuren weggewischt, die vermutlich beim Ablegen entstanden sind. Aber aus der Spurenlage können wir sicher noch mehr rausholen.«

»Wisst ihr schon, welcher Lack verwendet wurde?«, fragte Brander.

»Es müssen mindestens zwei oder drei verschiedene Lacke gewesen sein. Es gibt unterschiedliche Farbschattierungen. Wir haben Proben ans KTI geschickt.«

»Was ist mit Einbruchspuren?«

»Das ist der nächste interessante Aspekt: Es gibt keine. Entweder das Opfer hat den Täter hereingelassen, oder er hatte einen Schlüssel.«

»Also ist davon auszugehen, dass Täter und Opfer sich kannten.«

»Sie haben vermutlich sogar zusammen Kaffee getrunken. In der Spülmaschine haben wir Kaffeegeschirr gefunden. Zwei Tassen, zwei Teller, Besteck. Alles frisch gespült. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand für das bisschen Geschirr tatsächlich die Spülmaschine anschmeißt. Es sei denn, er hat etwas zu verbergen.«

Brander nickte zustimmend. »Konntet ihr feststellen, ob etwas gestohlen wurde?«

»Nicht konkret. Papiere, Geld, Smartphone, das war alles da. Aber für jemanden, der einen Online-Versandhandel betreibt, ist es bemerkenswert, dass wir keinen Computer gefunden haben.«

Brander machte sich eine Notiz. Er würde mit Chantal Birk einen Rundgang durchs Haus machen müssen. Er hoffte, dass die junge Frau dazu in der Lage war.

»Warum stiehlt jemand einen Computer, aber lässt Geld und Smartphone da?«, fragte Peppi.

Tropper zuckte die Achseln. »Smartphones kann man orten. Und wir sind uns doch alle einig, dass das hier kein klassischer Einbruchdiebstahl ist, oder?«

Das war Peter Sängers Stichwort. »Was machen wir mit der Presse? Die scheinen Lunte gerochen zu haben, dass wir es mit einem recht ungewöhnlichen Tötungsdelikt zu tun haben.«

Clewer verzog das Gesicht. »Es darf auf keinen Fall eine Info über die Lackierung der Leiche an die Öffentlichkeit gehen. Ich informiere die Kollegen von Ö.« Damit meinte er die Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit. Er wandte sich an Brander. »Mit den Eltern haben Sie gesprochen?«

»Mit dem Vater. Hans-Joachim Goldmann war sichtlich erschüttert, als wir ihn über den mutmaßlichen Tod seines Sohnes informierten. Allerdings war die Beziehung zwischen Vater und Sohn laut Aussage von Goldmann nicht besonders gut. Frau Goldmann haben wir bisher nicht antreffen können. Ich habe eine Nachricht auf ihrem Handy hinterlassen, und die Kollegen vom Polizeirevier Kirchheim schauen, ob sie sie vielleicht heute Abend zu Hause erwischen.«

Es war spät geworden, stellte Brander fest, als er wieder in sein Büro zurückkehrte. Peppi drängte zum Aufbruch, und auch er wollte nach Hause, um noch mit Nathalie zu sprechen. Er hatte sich gerade von seinem Computer abgemeldet, als das Telefon klingelte. Eine bekannte Tübinger Nummer erschien im Display.

»Hendrik, was gibt’s? Ich bin gerade auf dem Sprung.«

Hendrik Marquardt war Kriminalhauptkommissar beim Kriminalkommissariat Tübingen. Brander hatte bis zur Polizeireform 2014 einige Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Mit der Reform war ein Großteil der einstigen Kriminalinspektion 1 von Tübingen zur Kriminalpolizeidirektion nach Esslingen umgezogen. Hendrik war in Tübingen geblieben.

»Ihr habt eine lackierte Leiche, habe ich gehört.«

Da hatte sich der bizarre Leichenfund also schon bis in die Universitätsstadt herumgesprochen. Brander schaltete den Monitor aus. »Ja.«

»Wir auch.«

***

Cecilia saß auf der Bank neben dem Hauseingang, als Brander vor der Doppelhaushälfte in Entringen aus dem Wagen seiner Kollegin stieg. Es war bereits nach zehn. Nach dem Telefonat mit Hendrik hatte er Käpten Huc informiert und die weitere Vorgehensweise besprochen. Er hatte mit seinem Vorgesetzten und Hendrik vereinbart, am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit in Tübingen haltzumachen, damit sie sich über die Fälle austauschen konnten. Im ersten Augenblick hatte Brander befürchtet, dass es sich bei der zweiten Leiche um die Mutter von Levin Goldmann handeln könnte. Aber auch das zweite Opfer war männlich.

Brander schob die Gedanken an die Arbeit beiseite, als er auf seine Frau zuging. Sie hatte eine Stola um ihre Schultern gelegt. Tagsüber war es zwar noch spätsommerlich warm, doch abends kühlte es deutlich ab.

»Du kommst spät.«

»Viel zu tun.« Er gab ihr einen Kuss und setzte sich neben sie. »Und warum sitzen Sie hier draußen in der Kälte so allein, schöne Frau?«

Er erntete ein Lächeln für sein Kompliment.

»Bis gerade hatte ich Gesellschaft. Nathalie ist vor zehn Minuten raufgegangen.«

»Wie geht es ihr?«

Cecilia schürzte abwägend die Lippen. »Es war kein leichter Einsatz. Zwei junge Frauen sind mit ihrem Kleinwagen frontal mit einem Lkw zusammengestoßen. Die Fahrerin war eingeklemmt. Es hat Stunden gedauert, bis sie sie aus dem Wrack befreit hatten. Die Beifahrerin war anscheinend auf der Stelle tot.«

»Oh Gott!« Brander rieb sich über das Gesicht. »Hat Nathalie mit dir über den Einsatz geredet?«

»Nein. Sie kam gegen Mittag nach Hause, hat sich umgezogen und ist zur Arbeit gefahren. Meine Informationen beruhen auf dem Dorffunk. Ich habe versucht, mit Nathalie zu reden, aber sie wollte nicht. Sie sagt, sie will die Bilder einfach nur vergessen.«

Einfach nur vergessen – so leicht war das nicht, wusste Brander aus eigener Erfahrung. »Meinst du, ich sollte es mal versuchen?«

»Bedräng sie nicht.«

»Ich schau trotzdem kurz nach ihr.«

Cecilia folgte ihm ins Haus. Brander stieg die Treppe zu Nathalies Zimmer hinauf. Auf sein Klopfen folgte ein gemurmeltes »Ja?«, und er öffnete die Tür.

Nathalie lag im Bett. Sie drehte sich zu ihm um, als er sich auf die Bettkante setzte.

»Na, Feuerwehrfrau.« Er sah in ihr angespanntes Gesicht. »Wie geht’s?«

»Müde.«

»Willst du reden?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber friss es nicht in dich rein. Das ist nicht gut. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Sie hielt die Lippen dennoch fest verschlossen.

»Darf ich dich mal kurz in den Arm nehmen?«

»Boah ey, ihr macht alle so einen Aufstand, Mann.« Sie verdrehte die Augen. »Mir geht’s gut.«

Ganz sicher nicht. Dazu kannte Brander seine Pflegetochter gut genug. »Aber mir nicht«, erwiderte er. »Ich hatte heute nämlich auch einen ziemlich schweren Tag.«

Sie musterte ihn abwägend, schließlich erbarmte sie sich, setzte sich im Bett auf und legte ihm die Arme um den Hals, als müsse sie ihn trösten. Er zog sie fest an sich. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie sich der freiwilligen Feuerwehr angeschlossen hatte. Bei den Übungen hatten sie solche Einsätze wieder und wieder trainiert.

Aber der Ernstfall fühlte sich anders an.

Schwabentod

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