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Dienstag

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Es war noch dunkel, als Brander sich morgens um sechs auf sein Fahrrad schwang und durch das Ammertal zur Polizeidienststelle nach Tübingen fuhr. Die Luft war frisch und kühl, und er genoss die Bewegung. Peppi würde ihn später in der Dienststelle treffen und mit nach Esslingen nehmen.

In Tübingen erwachte der Tag gerade, als er die vertrauten Wege entlangradelte: am Westbahnhof vorbei, durch den Tunnel und über den Neckar und die Bahnschienen. Viel zu schnell erreichte er sein Ziel in der Konrad-Adenauer-Straße. Er tauschte Radkleidung gegen Jeans und T-Shirt. Wenig später stand er in Hendrik Marquardts Büro. Wie Brander gehörte er zu den Frühaufstehern. Seine Kollegin, Corinna Tritschler, mit der er sich das Büro teilte, war noch nicht da.

»Lange nicht gesehen«, stellte Hendrik fest.

Zuletzt hatten sie im Frühjahr gemeinsam den Tod eines Privatpiloten aufgeklärt. Obwohl Hendrik vor einigen Monaten vierzig geworden war, zeigte sich noch keine einzige graue Strähne in seinem dichten dunklen Haar, stellte Brander neidisch fest. Auch kämpfte er nicht mit Geheimratsecken und war trotz Vaterstress gut im Training. Kurze Arbeitswege, das sparte Zeit. Vielleicht hätte er sich damals bei der Reform doch überlegen sollen, in Tübingen zu bleiben, dachte Brander. Die tägliche Tour mit dem Rad zur Arbeit fehlte ihm. Aber nur ein kleiner Teil der Kripobeamten hatte damals bleiben dürfen. Paradoxerweise begann man jetzt wieder, einzelne Bereiche nach Tübingen zurückzuverlegen.

»Wie geht’s Anne und den Kindern?« Brander stellte seinen Rucksack ab.

Hendrik Marquardt war seit einigen Jahren mit Kriminaloberkommissarin Anne Dobler liiert. Seit der Geburt des zweiten Kindes befand sie sich jedoch in Elternzeit.

»Alle gesund und munter. Anne fängt bald wieder an. Wir wissen nur nicht, ob wir sie hierherbekommen oder ob sie nach Reutlingen oder zu euch nach Esslingen muss.«

Brander hätte die ehrgeizige Beamtin gern bei sich in Esslingen, aber mit den Kindern wäre das sicher eine unzumutbare Belastung.

»Kaffee?«, bot Hendrik an.

»Gern.«

Während der Kollege loszog, um ihm einen Kaffee zu organisieren, warf Brander einen Blick auf Hendriks Monitor: Er zeigte Bilder vom Tübinger Leichenfundort. Die Ähnlichkeit zu dem Fall in Wolfschlugen war nicht zu übersehen. Auch dieses Opfer war teilweise entkleidet und mit rosa Farbe eingesprüht worden. Der Täter hatte die Lage des Opfers ebenso arrangiert, wie sie Levin Goldmann aufgefunden hatten.

»Krass, oder?« Hendrik stellte Branders Tasse auf den Tisch neben die Tastatur.

»Ja. Wer ist der Tote?«

»Notker Hägele, sechsundfünfzig Jahre, ledig, Kundenberater bei Kreher. Die sitzen in Reutlingen, internationales Unternehmen, stellen irgendwelche Spezialwerkzeuge her. Er wohnt in Wannweil, hat da ein eigenes Haus. Dort wurde er gefunden. Seine Assistentin hatte sich Sorgen gemacht, weil er morgens nicht zur Arbeit gekommen war. Nachdem sie ihn telefonisch nicht erreichen konnte, hat sie seine Putzfrau angerufen, sie aber erst am Nachmittag erreicht – eine Frau Jaszczak. Sie hatte einen Schlüssel zur Wohnung und hat ihn dann gefunden. Er lag im Wohnzimmer.«

»Die haben die Putzfrau angerufen?«, wunderte sich Brander.

Hendrik zuckte die Achseln. »Ihre Daten waren als Notfallkontakt in der Firma hinterlegt.«

Wie einsam musste der Mann gewesen sein, wenn er seine Putzfrau als Kontakt angab?, ging es Brander durch den Kopf. »Todesursache?«

»Erstickt oder erdrosselt, würde ich vermuten. Wir konnten keinerlei Anzeichen äußerer Gewaltanwendung erkennen. Aber die Lackierung kann natürlich Spuren gut überdecken. Die Obduktion wird uns hoffentlich mehr verraten.«

»Todeszeitpunkt?«

»Vermutlich irgendwann zwischen Sonntagmittag und Sonntagnacht.«

»Gab es Einbruchspuren?«

»Nach derzeitigem Stand – nein.«

Die nächste Parallele zum Fall Goldmann. Was hatten ein siebenundzwanzigjähriger Jungunternehmer und ein sechsundfünfzigjähriger Kundenberater gemeinsam, dass man sie tötete und auf die gleiche Art und Weise zur Schau stellte?

»Habt ihr in dem Haus Puppen gefunden?«

Hendrik hob erstaunt die Augenbrauen. »Puppen?«

»Sexpuppen, lebensechte Silikonpuppen.«

»Nicht dass ich wüsste.«

Lebensgroße Puppen waren schwer zu übersehen. Also schien es in der Richtung keine Gemeinsamkeit zu geben.

»Guten Morgen, die Herren«, erklang hinter ihnen die muntere Stimme von Corinna Tritschler.

Brander wandte sich zu ihr um und wurde von der einen Meter achtzig großen Frau herzlich umarmt.

»So möchte ich auch mal begrüßt werden, wenn ich morgens zur Arbeit komme«, beschwerte sich Hendrik.

»Dann erschießt mich Anne.«

»Ich muss es ihr ja nicht erzählen.«

Es war kein Geheimnis in der Dienststelle, dass Hendrik vor seiner Beziehung mit Anne nichts hatte anbrennen lassen. Und dass er sich so gut mit seiner attraktiven Bürokollegin verstand, war Hendriks Lebensgefährtin seit jeher ein Dorn im Auge.

»Cory, haben die Kollegen was davon gesagt, dass sie in Hägeles Haus Puppen gefunden hätten?«

»Lebensgroße Silikonpuppen«, konkretisierte Brander Hendriks Frage.

»Haben die was mit dem Mord zu tun? Chucky, die Mörderpuppe?«

»Unser Toter betreibt einen Online-Versandhandel für solche Puppen«, erklärte Brander. »Und durch das Arrangement der Leiche und die Farbe war unsere Überlegung, dass der Tod etwas mit seinem Puppenhandel zu tun haben könnte.«

Cory dachte nach. »Nein, Puppen gab’s keine, allerdings … warte mal.« Sie schob sich an Hendrik vorbei, um an seinen Computer zu kommen, und suchte den Bericht der Kriminaltechniker. »Er hatte Frauenkleider im Schrank. Keine Kleidergröße, die ihm gepasst hätte. Laut seiner Assistentin war er Single. Muss zwar nicht heißen, dass er seiner Assistentin alles erzählt hat, aber es stellt sich natürlich die Frage: Wessen Kleider sind das?«

»Eine verflossene Liebe«, schlug Hendrik vor.

Cory wollte die Datei wieder schließen, aber Brander bremste sie. »War Geschirr in der Spülmaschine?«

Sie scrollte durch das Dokument. »Ja, die Spülmaschine war rappelvoll, alles frisch gespült.«

Die Melodie von Branders Smartphone unterbrach sie. Er fischte es aus dem Top-Fach seines Rucksacks. »Käpten Huc«, zeigte das Display.

»Ja?«

»Wo sind Sie?«

»In Tübingen, wir hatten –«

»Haben Sie heute Morgen schon einen Blick in die Boulevardpresse geworfen?«

Es zwickte Brander böse im Magen. »Nein.« Er hatte nur das Tagblatt im Abo, und nicht einmal da hatte er am Morgen hineingeschaut.

»Jemand hat mit der Presse geplaudert. Ich schicke Ihnen den Artikel aufs Handy.«

»Okay.«

»Absolute Nachrichtensperre, geben Sie das an die Tübinger Kollegen weiter. Die Staatsanwältin kommt um neun. Schaffen Sie das?«

Brander warf einen Blick auf die Uhr. »Das wird sportlich.«

»Was ist los?«, fragte Hendrik, nachdem er aufgelegt hatte.

Brander hob abwehrend die Hand und wählte die Nummer seiner Kollegin. »Morgen, Peppi, du musst mich sofort abholen. Wir müssen nach Esslingen.«

»Hab’s schon mitbekommen. Bin unterwegs.«

Flüchtig fragte er sich, von wem sie die Information bekommen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Peppi und Staatsanwalt Schmid irgendwelche Klatschblättchen abonniert hatten und sich beim Frühstück daraus vorlasen. Er rief die Nachricht ab, die sein Inspektionsleiter ihm geschickt hatte, und überflog den Artikel.

»Verfluchter Mist.«

»Was ist denn?«, hakte Hendrik ungeduldig nach.

Brander hielt ihm das Display seines Smartphones entgegen. »Horrorfund auf Aussiedlerhof«, schrie es ihm in großen Lettern entgegen.

Mit Ausnahme von Manfred Tropper und Stephan Klein, die der Obduktion von Levin Goldmann beiwohnten, waren alle am Fall beteiligten Beamten im Konferenzraum zusammengekommen. Den Zeitungsartikel hatte inzwischen jedes Teammitglied gesehen. Nicht nur, dass Goldmanns Hof klar erkennbar mit Fuhrpark, Absperrband und Menschen in Schutzanzügen abgebildet worden war, der Bericht enthielt zudem die brisante Information, dass der Tote mit rosa Farbe lackiert worden war.

Hans Ulrich Clewers Blick glitt prüfend über die Gesichter. »Wer hat das an die Presse weitergegeben?«

Kein Finger hob sich.

Staatsanwältin Isabella Mertens hatte bisher schweigend mit grimmiger Miene neben Clewer gesessen. Jetzt erhob sie sich ebenfalls. Mit ihren eins achtzig und einer üppigen Körperfülle war sie eine beeindruckende Erscheinung. »Wenn einer von Ihnen das verbockt hat, dann haben Sie wenigstens das Rückgrat, dazu zu stehen! Wir werden herausfinden, wer es gewesen ist.«

»Frau Mertens, meine Leute haben dieses Rückgrat! Wenn sich niemand meldet, dann war es keiner von uns.«

»In dem Bericht steht, dass die Angabe zu der Lackierung bisher nicht von polizeilicher Seite bestätigt worden ist«, sprang Brander seinem Chef bei. »Es ist die Rede von einem Augenzeugen.«

»Und wer kommt dafür in Frage?«, zischte Mertens ihn an. Die geballte Empörung der Sechsunddreißigjährigen richtete sich nun gegen Brander. Sie hatten von ihrer ersten Begegnung an keinen guten Start miteinander gehabt. Auch wenn sie eine gute Staatsanwältin war, das gestand Brander ihr zu – der Ton, den sie ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen gegenüber anschlug, gefiel ihm überhaupt nicht.

»Wer war denn vor Ort außer Ihnen?« Sie streckte die Arme zur Seite, um damit alle im Raum Anwesenden einzuschließen. Mit ihrer weiten schwarzen Bluse, dem glatten blonden Haar und den zornigen Augen erinnerte sie Brander an einen Racheengel. Gleich würde ihr wahrscheinlich Qualm aus Nase und Ohren steigen.

»Die Leiche lag mutmaßlich sechsunddreißig Stunden in dem Haus. Wir wissen nicht, wer in der Zwischenzeit dort gewesen ist.«

»Und der hat dann bei der Zeitung angerufen, oder was? Wollen Sie mir gleich noch erzählen, dass es der Täter persönlich war?«

Brander bereute, dass er den Mund aufgemacht hatte. »Warum nicht? Es gibt Täter, die gern ein bisschen Prominenz wollen, und die Art und Weise, wie der Tote arrangiert wurde, spricht ja wohl dafür, dass unser Mann sich nicht nur mit der Ermordung seines Opfers zufriedengeben wollte.«

»Das fehlt uns noch! Ein Täter, der sich mit seinem Mord profilieren will!« Die Staatsanwältin schnaubte wütend. »Finden Sie heraus, wer diese Information an die Zeitung gegeben hat. Und sehen Sie zu, dass keiner von der Presse mit den Eltern spricht!«

»Wir haben bereits Kollegen zu Goldmanns Eltern geschickt«, erklärte Clewer.

»Diese Ermittlung hat absolute Priorität. Ich will so schnell wie möglich wissen, was auf diesem Aussiedlerhof geschehen ist.« Isabella Mertens räumte ihren Tablet-PC in ihre Aktentasche.

»Frau Mertens, eine Sache noch«, bremste Brander sie. »Die zweite Leiche …«

»Die zweite WAS?«

»In Tübingen gab es gestern einen ähnlichen Leichenfund.« Offensichtlich hatte die Staatsanwältin nichts davon gehört, und das Boulevardblatt hatte zum Glück auch keine Zusammenhänge gesehen. »Es gibt eindeutige Parallelen zu unserem Fall. Ich habe heute Morgen bereits mit den Kollegen gesprochen, die gestern vor Ort waren.«

»Wieso weiß ich nichts davon?« Der Zorn verfärbte Mertens’ Wangen rot.

»Ich hatte Ihnen gestern Abend noch eine Mail geschickt«, erwiderte Clewer.

»In so einem Fall rufen Sie mich gefälligst sofort an! Ich lese doch nicht ständig meine E-Mails, verdammt!«

Clewers Miene verhärtete sich. »Frau Staatsanwältin, ich habe vollstes Verständnis dafür, dass der Artikel Sie verärgert. Das hat er uns auch. Deswegen kann man dennoch vernünftig miteinander reden.«

Isabella Mertens erwiderte den Blick des Inspektionsleiters ohne ein Zeichen von Reue darüber, dass sie sich im Ton vergriffen hatte. Brander hätte gern gewusst, was im Kopf seines Vorgesetzten vor sich ging, aber dessen Gesicht war eine undurchdringliche Maske.

Nachdem keine Entschuldigung von der Staatsanwältin zu erwarten war, fuhr Clewer fort: »Dann lassen Sie uns jetzt am besten unsere Arbeit machen.«

Mertens räusperte sich vernehmlich, rollte die Schultern zurück und reckte das Kinn. »In Anbetracht dieser Vorkommnisse werden wir noch heute eine Pressekonferenz anberaumen müssen. Wir müssen verhindern, dass die Zeitungen noch mehr Interna und wüste Spekulationen in die Welt hinausposaunen.«

»Ja«, stimmte Clewer zu.

»Ich werde mit den Kollegen von der Tübinger Staatsanwaltschaft absprechen, dass wir die Fälle federführend übernehmen. Die Pressekonferenz bitte nicht vor vierzehn Uhr. Ich habe heute Vormittag eine Verhandlung in Stuttgart.« Sie nahm ihre Tasche. »Ich erwarte Ihren Bericht.«

»Wäre schön, wenn Sie ihn dann auch lesen«, schickte Clewer ihr hinterher, bevor die Tür zuschlug. Einen Moment lang verharrte sein Blick an der geschlossenen Tür. Sein Kiefer mahlte. Dann schluckte er seinen Ärger herunter und wandte sich mit neutralem Blick wieder seinem Team zu. »Herr Brander, was gab es in Tübingen?«

Brander berichtete, was er von Hendrik Marquardt erfahren hatte.

»Gibt es eine Verbindung zwischen beiden Opfern?«, fragte Clewer, nachdem Brander geendet hatte.

»Bis jetzt ist noch nichts bekannt.«

»Herr Esposito, Herr Sänger, forschen Sie da bitte nach. Notker Hägele und Levin Goldmann, da muss es einen Zusammenhang geben«, begann Clewer, die Arbeit zu verteilen. »Die Kirchheimer Kollegen haben Maria Goldmann gestern Nacht noch angetroffen. Ihr Ex-Mann war bei ihr. Er hatte sie bereits über den mutmaßlichen Tod ihres Sohnes informiert. Wenigstens hat sie das nicht erst aus der Zeitung erfahren. Herr Brander, Frau Pachatourides, sprechen Sie bitte mit den Eltern.«

»Ich hatte Chantal Birk gebeten, heute Vormittag herzukommen«, warf Brander ein.

»Das Gespräch ist sicher wichtig, aber vielleicht können Sie den Termin nach hinten verschieben.«

»Schade, dass Stephan nicht da war, das hätte richtig geknallt«, bemerkte Peppi, als sie wieder in ihrem Büro waren. »Ich verstehe nicht, wie Käpten Huc immer so ruhig bleiben kann.«

»Sei froh, sonst hättest du das eine oder andere Mal schon eins auf den Deckel gekriegt.« Brander suchte in seinen Unterlagen nach den Kontaktdaten von Chantal Birk.

»So eine Unverschämtheit wie die Mertens habe ich mir noch nicht erlaubt.«

»Nicht?«, fragte Brander mit gespieltem Unglauben.

Peppi hob drohend den Zeigefinger.

Brander fand, was er suchte, und wählte Chantal Birks Nummer. Er erreichte nur den Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht. »Dann lass uns mal zu Frau Goldmann fahren.«

»Wie geht’s eigentlich Nathalie?«, fragte Peppi, als sie die Treppe hinunter in die Tiefgarage zu den Dienstwagen gingen.

»Ganz gut, wieso?«

»Marco hat mir von dem Einsatz gestern erzählt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, weil nicht klar ist, wie es zu dem Unfall kam. Muss ziemlich heftig gewesen sein.«

»Mit Sicherheit.«

»Machst du hier einen auf Pokerface, oder hat sie dir wirklich nichts erzählt?«

Jetzt wurde Brander hellhörig. »Was hätte sie mir denn erzählen sollen?«

»Die Fahrerin war eingeklemmt und muss wohl sehr panisch gewesen sein. Nathalie hat es geschafft, sie zu beruhigen und ihr den Hörschutz aufzusetzen. Sie ist bei ihr geblieben und hat sie abgelenkt, während die Kollegen die Frau aus dem Wrack gefräst haben. Der Einsatzleiter war ziemlich beeindruckt, wie souverän Nathalie gehandelt hat, dafür, dass es ihr erster Einsatz war und dazu noch so ein dramatischer.«

Brander wusste, dass Nathalie schon vieles in ihrem jungen Leben durchgemacht hatte. Aufgewachsen ohne Vater, mit einer alkoholkranken Mutter, Prügel von deren Liebhabern, einsame Nächte auf der Straße, Sex gegen ein warmes Bett. Sie war eine Kämpferin, hatte sich nicht unterkriegen lassen, aber verarbeitet war noch längst nicht alles. Seine Gefühle schwankten zwischen Stolz auf seine Pflegetochter und der Sorge um ihr Seelenwohl.

»Du solltest sie darauf vorbereiten.«

»Was?« Brander hatte nicht bemerkt, dass Peppi ihm noch mehr erzählt hatte.

»Es wird Ermittlungen geben, wie es zu dem Unfall kam. Nathalie hat mit der Fahrerin gesprochen. Sie wird sicher eine Aussage machen müssen.«

***

Dieses Mal hatte Brander Glück, als er mit Peppi in Kirchheim vor der Wohnungstür von Maria Goldmann stand. Sie öffnete ihnen kurz nach dem ersten Klingeln. Es war ihr anzusehen, dass sie in der Nacht kein Auge zugetan hatte. Sie war Ende fünfzig, schätzte Brander, und offensichtlich trug sie noch die Kleidung, die sie am Abend zuvor angehabt hatte: eine tief ausgeschnittene, buntgemusterte Bluse, dazu einen dunklen, engen Rock, der knapp die Knie bedeckte. Der Stoff war verknittert. Die am Vortag sicherlich sorgfältig frisierten blondierten Locken waren zerzaust und struppig wie ein zerrupfter Flokati. Reste eines kräftigen Make-ups waren im übermüdeten Gesicht erkennbar.

»Ihre Kollegen sind gerade gefahren. Sie sagten, ich soll nicht mit der Presse sprechen«, berichtete Maria Goldmann mit rauer Stimme. »Die haben schon drei Mal angerufen. Ich weiß gar nicht, woher die meine Nummer haben.«

Die Wohnung war klein, die dunklen Möbel betagt, aber gepflegt. Bilderrahmen standen auf einem Sideboard auf Häkeldeckchen. Auch auf dem niedrigen Couchtisch lag eine gehäkelte Decke. Neben dem Zweisitzer war ein Korb mit Wolle, auf dem Tisch standen benutzte Gläser. Vermutlich noch von dem Besuch ihres Ex-Mannes. Kalter Rauch hing in der Luft, der Aschenbecher quoll über.

»Stimmt das, was in der Zeitung steht? Ihre Kollegen wollten mir nichts sagen, und Hajo wusste nichts.« Sie setzte sich auf das Sofa, zündete sich eine Zigarette an.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Fenster öffne?«, fragte Peppi. Sie hasste Zigarettenqualm.

Maria Goldmann wedelte gleichgültig mit dem Arm. Sie richtete ihren Blick auf Brander. »Stimmt das?«

Früher oder später würde sie die Wahrheit erfahren. Brander setzte sich auf den Sessel ihr gegenüber, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Es tut mir leid, ja. Deshalb ist auch die Identität des Opfers noch nicht eindeutig geklärt, aber es spricht einiges dafür, dass es sich um Ihren Sohn handelt.«

Die Mutter inhalierte tief den Rauch ihrer Zigarette. Qualm kam aus Mund und Nase, als sie sprach. »Ich hab gewusst, dass das nicht gut geht. Diese verfluchten Dinger!«

»Welche Dinger?«, fragte Brander.

»Die Puppen! Haben Sie die nicht gesehen? Die hat er an diese Bekloppten verkauft.«

»Sie kennen die Kunden Ihres Sohnes?«

Sie starrte ihn angewidert an. »Nein! Aber mir war gleich klar, dass das alles Gestörte sind! Wer kauft sich denn so eine Puppe? Das ist doch …« Sie sog wieder energisch an der Zigarette. »Wissen Sie, was die Dinger kosten?«

»Ist Ihr Sohn denn mal von einem Kunden bedroht worden?«

Sie nahm erneut einen Zug, die Glut war bedenklich lang und würde es vermutlich nicht mehr bis zum Aschenbecher schaffen. »Keine Ahnung. Aber da gab es diese Schmierereien. Das müssten Sie doch wissen? Mein Sohn hat Anzeige erstattet.«

»Was für Schmierereien?«, fragte Peppi.

»Irgendeinen Mist, den irgendwelche radikalen Emanzen an die Hauswand geschmiert haben.«

Davon hatte Tropper nichts gesagt, und Brander war ebenfalls nichts aufgefallen, als er vor Ort war. »Wann war das?«

»Irgendwann, vor ein paar Monaten.« Sie inhalierte gierig den Qualm. »Möchten Sie Kaffee?«

»Danke, nein.«

»Ich brauche einen.« Sie drückte die Zigarette am Rand des Aschenbechers aus und stand auf.

Brander folgte ihr. Ein moderner chromglänzender Kaffeevollautomat stand auf der moosgrünen Arbeitsfläche der Küchenzeile, die wie das restliche Mobiliar in der Wohnung aus einer anderen Ära zu stammen schien. Das Fenster war zur Hälfte mit einer vergilbten Häkelgardine bedeckt. Maria Goldmann hatte offensichtlich ein Hobby, mit dem sie ihre gesamte Wohnung dekorierte.

»Wo waren Sie gestern? Wir haben mehrfach versucht, Sie zu erreichen.«

Goldmanns Mutter hatte eine Tasse unter den Automaten gestellt und verharrte mit dem Rücken zu ihm, während die Maschine einen Cappuccino ausspuckte. Auch wenn er ihr Gesicht nicht sah, spürte Brander, dass seine Frage sie verunsicherte, vielleicht sogar erschreckte. Als das Getränk durchgelaufen war, nahm sie die Tasse und drehte sich zu ihm. Er wartete.

»Ich hatte am Montag frei … langes Wochenende … Ich bin am Samstag nach der Arbeit zu meinem Freund gefahren und kam erst gestern Nacht zurück.«

»Und bei Ihrem Freund gab es keinen Handyempfang?«

»Ich hatte das Handy stumm gestellt. Herrgott, es rechnet doch niemand mit so etwas!«

Nein, sicherlich nicht. Aber sie hätte dennoch sehen können, dass jemand mehrfach versucht hatte, sie zu erreichen. »Wir benötigen Name und Adresse Ihres Freundes.«

»Wozu?«

»Das ist Routine, Frau Goldmann.«

Sie zögerte dennoch. »Moussa … Moussa Mambety. Er lebt in Heidelberg. Ich will aber nicht, dass er Schwierigkeiten bekommt.«

»Warum sollte er?«

»Sie wissen doch, wie unser Staat mit Flüchtlingen umgeht, oder nicht? Sein Asylantrag ist noch nicht durch, und wenn Sie jetzt von der Polizei dort auftauchen und Fragen stellen, kommt er doch gleich auf die rote Liste.«

»Kannte Ihr Sohn Herrn Mambety?«

»Nein. Ich habe ihn erst vor Kurzem kennengelernt. Ich habe bisher niemandem von ihm erzählt. Das Gerede der Leute. Sie wissen schon.«

»Wie hat Ihr geschiedener Mann Sie denn gestern erreicht?«, wechselte Brander das Thema.

»Er hatte vor dem Haus auf mich gewartet.« Sie seufzte vergrämt. »Ich dachte schon, das geht jetzt wieder los.«

Brander hob fragend die Augenbrauen.

»Er ist eifersüchtig, ein Kontrollfreak, war er schon immer. Wollte immer wissen, wo ich war. Selbst wenn ich aufs Klo gegangen bin, musste ich mich abmelden. Er hat mich erdrückt!« Die Wut über den Druck, den ihr Ex-Mann auf sie ausgeübt hatte, war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Hat er sie bedroht?«

»Was?« Sie sah ihn befremdet an. »Nein. Es waren seine Fragen. Immer wieder die gleichen Fragen: Wo gehst du hin? Wo warst du? Mit wem? Fragen, Fragen, Fragen! Als Levin nach Bottrop gegangen ist, bin ich ausgezogen. Ich konnte das erste Mal wieder atmen.«

Brander bemerkte ein Zittern ihrer Hände. Auch wenn sie sich bereits vor Jahren getrennt hatte, die Erinnerung setzte ihr noch immer zu. »Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Sohn gesprochen?«, fragte er.

»Er …« Sie wich seinem Blick aus, öffnete mit fahrigen Fingern die Besteckschublade, nahm einen Löffel heraus und rührte in der Tasse herum. »Er hat mich Samstagmittag angerufen. Ich kam gerade von der Arbeit und war auf dem Sprung … meine Verabredung. Er wollte vorbeikommen. Er hatte wohl Streit mit Chantal. Aber ich hatte doch die Zugfahrt gebucht …«

Sie hatte keine Zeit gehabt, ihrem Sohn zuzuhören, ihm Trost zu spenden. Und jetzt war er tot, und sie würde ihm nie wieder beistehen können. Brander konnte nur ahnen, welche Vorwürfe sie sich machte. »Hat er gesagt, worum es bei dem Streit ging?«

»Vermutlich um Geld. Es ging immer um Geld.«

»Inwiefern?«

»Die beiden waren ständig klamm. Aber wie hätte ich ihnen denn helfen sollen? Schauen Sie sich um. Ich komme selbst kaum über die Runden. Ich habe die beiden mietfrei auf dem Hof wohnen lassen, nur die Steuern, das habe ich Levin von Anfang an gesagt, die Grundsteuer, die müssen sie übernehmen. Ich wollte den Hof damals verkaufen, aber er brauchte Platz für seine spinnerte Idee. Einen großen Versandhandel wollte er aufbauen. Deutschlandweit. Europaweit. International.« Sie schüttelte den Kopf. »Und jetzt? Jetzt ist er tot! Irgend so ein perverses Schwein …« Sie schluchzte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie suchte eilig ihre Zigaretten und zündete sich die nächste Kippe an.

»Hatte Ihr Sohn Schulden?«

»Natürlich. Wie hätte er denn sonst das Unternehmen gründen sollen?«

»Und bei wem hatte er die Schulden?«

Sie sah ihn irritiert an. »Bei der Bank.«

Wusste sie das so genau? Hätte er es seiner Mutter gesagt, wenn er Geld von einem Kredithai geborgt hätte?

»Frau Goldmann, sagt Ihnen der Name Notker Hägele etwas?«

Sie schürzte nachdenklich die Lippen. »Nein, nie gehört.«

Sie hatten Kirchheim hinter sich gelassen und fuhren über die Landstraße zur B 10 nach Esslingen. Der September zeigte sich von seiner freundlichen Seite. Blauer Himmel strahlte über Feldern und Wäldern und ließ den bevorstehenden Herbst in die Ferne rücken. Dennoch verfärbte sich hier und da bereits das Laub an den Bäumen.

»Hat Levin Goldmanns Tod etwas mit diesen Puppen zu tun?«, grübelte Brander.

»Zumindest waren weder Papa noch Mama Goldmann begeistert von seiner Geschäftsidee, und seine Mutter traut den Kunden offensichtlich einiges zu«, erwiderte Peppi.

»Aber welchen Grund sollte ein Kunde haben, Goldmann zu töten und derart herzurichten?« Brander schüttelte den Kopf. »Dann vielleicht eher eine Partnerin.«

»Ich würde Marco was erzählen, wenn er mit einer Sexpuppe nach Hause käme.«

»Siehste.«

»Also checken wir Goldmanns Kunden?«

»Wäre ein Ansatz«, stimmte Brander zu. »Aber wie passt der Hägele da rein? Der hatte weder eine Puppe noch eine Freundin.«

»Seine Assistentin wusste nichts von einer Freundin, das heißt nicht, dass es niemanden gab. Ich hab damals auch nicht gleich jedem erzählt, dass Marco und ich zusammen sind.«

»Nee, du bist nur grinsend durchs Büro getanzt«, frotzelte Brander. »Lass uns zu Goldmanns Hof fahren.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Wozu?«

»Maria Goldmann hat doch was von Schmierereien gesagt. Mir ist gestern nichts aufgefallen.«

Peppi tippte an ihr Brillengestell. »Vielleicht solltest du mal einen Optiker aufsuchen.«

»Meine Augen arbeiten hervorragend. Und im Übrigen haben unsere Techniker auch nichts entdeckt.« Sie waren gerade auf die Bundesstraße gefahren. Er deutete auf das Ausfahrtsschild. »Lass uns den kleinen Abstecher machen. Du fährst doch so gern Auto.«

»Aber wenn du neben mir sitzt, muss ich mich immer an die Vorschriften halten.« Peppi wechselte an der nächsten Ausfahrt auf die B 313.

Zu ihrer Überraschung parkte ein Wagen mit Esslinger Kennzeichen auf dem Vorplatz des Hofes in Wolfschlugen. Branders Blick glitt durch die Umgebung, aber er konnte niemanden entdecken. Sie stiegen aus, lauschten. Es blieb alles still. Ein leichtes Unwohlsein machte sich in seinen Eingeweiden bemerkbar. War die Presse vor Ort? Oder war jemand im Haus und beobachtete sie von einem der Fenster aus? Hinter den Scheiben war nichts zu erkennen. Sie gingen zu dem Auto, warfen einen Blick ins Fahrzeuginnere. Eine Aktentasche lag auf dem Beifahrersitz, im Fußraum davor eine Wasserflasche.

Brander sah zu Peppi, die ratlos die Schultern hob. Sie gingen über den Hof zur Haustür. Das Siegel war zerrissen. Branders Herzschlag beschleunigte sich. Er zog seine Waffe aus dem Holster. Sie postierten sich links und rechts von der Tür. Gerade als Peppi auf die Klinke drücken wollte, knarzte das Scheunentor auf der anderen Seite des Hofes.

Brander fuhr herum, die Waffe im Anschlag: »Polizei! Stehen bleiben!«

Es schepperte blechern. Etwas rollte im Inneren der Scheune über den Boden. Ein Huhn tapste gackernd heraus. Das Tier konnte unmöglich das Scheunentor aufgedrückt haben.

Brander hielt die Waffe auf das Tor gerichtet. »Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«

Das Scheunentor glitt quietschend zur Seite. Ein Mann in dunklem Anzug trat ins Licht, klein, hager. Die Arme weit in die Luft gestreckt. »Bitte, nicht schießen.«

Brander stöhnte auf, als er den Mann erkannte. Er ließ die Waffe sinken. »Herr Goldmann?«

»Ich … Die Hühner, jemand muss sich doch um die Hühner kümmern.«

Brander steckte die Pistole zurück in das Holster. Peppi hatte Hans-Joachim Goldmann noch nicht kennengelernt und verharrte zögernd mit der Waffe in der Hand.

»Ich habe nur nach den Hühnern gesehen«, wiederholte Goldmann nervös.

»Nehmen Sie die Arme wieder runter und kommen Sie her.« Brander konnte den harschen Ton in seiner Stimme nicht abschalten. Es floss noch zu viel Adrenalin in seinen Adern.

Der Mann kam mit steifen Schritten über den Hof zu ihnen. Brander deutete auf das zerrissene Polizeisiegel. »Waren Sie das?«

Goldmann schluckte. »Ja … ich musste zur Toilette.«

»Das ist ein Tatort, Herr Goldmann, und das Aufbrechen eines Polizeisiegels ist eine Straftat. Ist Ihnen das nicht bewusst?«

»Nein … ja. Ich dachte … Es tut mir leid.«

»Was haben Sie drinnen gemacht?«

»Ich musste zur Toilette.«

»Das heißt, Sie waren nur im Bad?«

Goldmann senkte den Blick.

Peppi verdrehte hinter seinem Rücken die Augen. Da kam wieder unnötige Verwaltungsarbeit auf sie zu. »Es tut mir leid, aber wir müssen ein Ermittlungsverfahren gegen Sie einleiten«, erklärte sie genervt. »Und um einen Strafbefehl werden Sie nicht herumkommen.«

Der Mann wandte sich ihr entsetzt zu. »Aber es ist das Haus meines Sohnes!«

»Es ist das Haus Ihrer geschiedenen Ehefrau. Und vor allem ist es ein Tatort, und der war noch nicht von uns freigegeben worden! Sie haben unbefugt ein Siegel zerbrochen und einen Tatort betreten. Das kann mit Freiheitsstrafe geahndet werden.«

»Wie bitte?«

Brander hob besänftigend die Hand in Peppis Richtung. Immerhin hatten sie einen trauernden Vater vor sich. »Was haben Sie hier gemacht, Herr Goldmann?«

»Ich kam von Maria. Ich wollte nach den Hühnern sehen«, stammelte der Mann unsicher. »Und ich … musste zur Toilette, zu viel Kaffee …«

»Sie haben einen Schlüssel zu dem Haus?«

»Ja.«

»Wenn Sie mir den bitte geben würden.«

Goldmann nestelte umständlich an seinem Schlüsselbund herum und reichte ihm den Schlüssel.

»Danke. Sie bekommen ihn wieder, sobald unsere Arbeit hier abgeschlossen ist. Was haben Sie im Haus gemacht?«

»Ich bin zur Toilette gegangen.«

»Und dann?«

»Ich hab in die Küche geschaut und ins Wohnzimmer. Da ist es passiert, oder?«

»Haben Sie irgendetwas angefasst?«, ignorierte Brander die Frage.

»Im Badezimmer die Türklinke, die Toilettenspülung, den Wasserhahn …«

»Sonst etwas?« Brander sah dem Mann prüfend in die Augen.

Der schüttelte den Kopf. »Vielleicht hab ich mich am Türrahmen abgestützt, als ich im Flur an der Tür zum Wohnzimmer stand.«

»Haben Sie etwas verändert? Etwas mitgenommen?«

»Nein.«

Mit etwas Glück würde die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Goldmann wegen Geringfügigkeit einstellen. Das verriet Brander ihm aber nicht. Sollte er ruhig ein schlechtes Gewissen haben, immerhin hatte er ihnen mit seinem unbedachten Handeln unnötige Zusatzarbeit beschert.

»Herr Goldmann, da Sie schon mal hier sind, können Sie uns vielleicht ein paar Fragen beantworten«, nutzte Brander die Gelegenheit.

Levins Vater nickte kleinlaut.

»Ihre geschiedene Frau sagte, dass jemand die Hauswände beschmiert hätte.«

»Ja, das war vor drei Monaten, Mitte Juni. Levin war mit Chantal abends unterwegs, und als sie zurückkamen, hatte jemand diese Parolen an die Hauswand geschrieben.«

»Was für Parolen?«, fragte Peppi.

»›Fight sexism‹ oder irgendwie so etwas. Levin hat Fotos gemacht, bevor er das weggemacht hat. Er brauchte ja Beweise. Er hat das angezeigt.«

»Und wurde jemand dafür belangt?«

Der Mann hob die Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«

»Hat Ihr Sohn einen Verdacht geäußert, wer die Wand beschmiert haben könnte?«

»Es gibt da so eine Gruppe von Frauen, aber Genaues weiß ich nicht.«

Brander würde bei den Kollegen, die den Fall bearbeitet hatten, nachfragen. »Wo genau waren diese Schmierereien?«

»Es war hier, gleich neben der Tür.« Goldmann deutete auf die Hauswand hinter Peppi.

Erst jetzt bemerkte Brander, dass der Anstrich der Fassade stellenweise erneuert war. Er trat ein paar Schritte zurück und sah sich um. Hinter dem Haus erstreckte sich eine Wiese, die an einen Waldrand grenzte. Der Schmierfink musste entweder zu Fuß durch den Wald gekommen sein oder war mit dem Auto direkt auf den Hof gefahren. Was kein Problem darstellte, wenn die Bewohner nicht daheim waren. Weit und breit gab es keine unmittelbare Nachbarschaft, die ihn hätte bemerken können. So, wie auch Goldmanns Mörder ungestört hatte agieren können.

»Hatte Ihr Sohn eigentlich einen Laptop oder einen Computer?«, fragte Brander.

»Er hatte einen Laptop.«

Der war also definitiv verschwunden. »Als Sie im Haus waren, ist Ihnen da etwas aufgefallen? War irgendetwas verändert? Fehlt etwas?«

»Ich weiß nicht. Ich war nur selten hier. Ich war auch nicht lange im Haus.« Goldmann schluckte trocken. »In der Zeitung, da standen so fürchterliche Sachen. Davon haben Sie gestern gar nichts gesagt.«

»Das sollte auch nicht an die Öffentlichkeit gehen. Es tut mir leid. Die Information hatte das Blatt nicht von uns.«

»Es stimmt also.«

Brander nickte bedauernd.

Die Augen des Mannes bekamen einen feuchten Glanz. »Brauchen Sie mich noch?«

»Nein.«

Sie warteten, bis die Rücklichter von Hans-Joachim Goldmanns Wagen in der Ferne verschwanden, dann steckte Brander den Schlüssel ins Schloss.

»Und wonach suchen wir jetzt?«, fragte Peppi. »Die wichtigen Sachen werden doch Freddy und seine Leute mitgenommen haben.«

»Ich will wissen, wer Levin Goldmann war.« Die gesichtslose rosa lackierte Leiche half ihm nicht. Wer war der Tote zu Lebzeiten gewesen? Brander wollte ein Gespür für das Opfer bekommen.

»Wo sind denn diese Puppen?«

Brander grinste seine Kollegin an. »Interessante Priorität.«

»Du denkst doch, der Fall hat etwas mit den Puppen zu tun.«

Er ging ihr voran zu dem Raum am Ende des abzweigenden Flurs und öffnete die Tür. Die sechs Puppen saßen unverändert wartend auf dem Sofa, eingehüllt in ihre Bademäntel.

»Oh«, kam es von Peppi. »Hallo, Ladys.«

Die Damen reagierten nicht. Peppi betrat den Raum und inspizierte eine der Puppen genauer. »Wo schaltet man die denn ein?«

»Vielleicht sind die eingeschaltet.«

»Nee, warte, ich glaube, hier.« Sie drückte mit dem Finger auf einen Punkt zwischen Hinterkopf und Nacken der Puppe.

Es dauerte einen Moment, dann bewegte die Puppe die Augenlider minimal, als erwache sie benommen aus einem Tagtraum.

»Na, gut geschlafen?«, fragte Peppi.

Das künstliche Wesen reagierte nicht.

»Die spricht auch nicht mit jedem.«

»Vielleicht ist das so wie mit Alexa, dass du erst ihren Namen sagen musst, damit sie weiß, dass sie gemeint ist«, mutmaßte Brander.

»Dazu müssten wir wissen, wie sie heißt.« Peppi ließ ihren Blick über die Puppe wandern. »Hallo, wie heißt du denn, Süße?«

»Ich heiße Cindy«, erwiderte eine helle weibliche, wenn auch etwas monotone Stimme.

Peppi lachte auf. »Die kann ja doch sprechen. Und hast du das gesehen? Die bewegt dabei sogar die Augen und den Mund.« Sie beugte sich näher zu dem Gesicht herunter. »Hallo, Cindy. Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut. Und wie geht es dir?«

»Oh, Cindy, meine Liebe, ich habe schlechte Nachrichten für dich. Dein Herr und Meister ist gestorben.«

»Es tut mir leid. Das habe ich nicht verstanden.«

Tatsächlich bewegten sich beim Sprechen die Lippen ganz leicht, die Augenlider wanderten minimal auf und ab. Diese Puppen mussten ein Vermögen kosten, ging es Brander durch den Kopf.

»Cindy versteht mich zwar nicht, aber Cindy kann hübsch mit den Augen klimpern.«

»Gefällt es dir?«, fragte die Puppe.

»Ja, Cindy, das finde ich toll. Cindy, klimpere noch einmal mit den Augen.«

Die Puppe ließ wieder die Augenlider ein kleines Stückchen auf- und zugleiten.

»Schalt das Ding wieder aus«, forderte Brander.

»Nee, warte, vielleicht hat Cindy ja was gesehen. Cindy, weißt du, wer Levin umgebracht hat?«

»Es tut mir leid. Das habe ich nicht verstanden.«

»Ach, Cindy.« Peppi seufzte theatralisch und strich der Puppe mitleidig über die Wange.

»Das ist schön«, sagte Cindy, wobei etwas mehr Begeisterung in der Stimme ihre Aussage glaubwürdiger gemacht hätte.

Peppi zog die Hand eilig weg und trat einen Schritt zurück.

Brander stellte belustigt fest, dass sich eine leichte Röte auf die Wangen seiner Kollegin gelegt hatte. »Soll ich euch zwei allein lassen?«

Seine Frotzelei wurde mit einem grimmigen Blick quittiert.

»Das ist gruselig.« Peppi hielt die Hand vor sich, mit der sie die Puppe berührt hatte. »Die Haut, die ist so weich und glatt, aber künstlich, irgendwie.«

»Das ist eine Puppe, Frau Kollegin. Natürlich ist die künstlich.«

»Ja, schon, aber … Fass die mal an. Das ist seltsam. Wenn ich mir vorstelle … Nee.« Peppi schüttelte sich. »Hast du auch das Gefühl, dass die dich anstarrt?«

»Nein, ich glaube, sie ist eher an dir interessiert.«

»Unsere Computerfuzzis sollten sich die Dinger mal genauer ansehen. Ich meine, die kann reden, die reagiert …«

»Denkst du, die hat sich auch mit unserem Täter unterhalten?«

»Wer weiß?«

Einen Versuch war es wert, und warum sollten sich die IT-Forensiker immer nur mit gesichtslosen Smartphones befassen?

Er wählte Jens Schönes Telefonnummer. »Jens, hier warten sechs Damen darauf, von dir untersucht zu werden.«

Peppi wandte sich zu Brander um. »Ich finde, das sollte seine Kollegin übernehmen. Ich meine, das sind doch weibliche Roboter.«

Brander zog die Augenbrauen hoch.

»Sechs Damen?«, fragte der IT-Forensiker irritiert.

»Die Puppen von Levin Goldmann können sprechen. Da muss ein Computer dahinterstecken.«

»Davon ist auszugehen. Klingt interessant. Bringt ihr die Puppen mit?«

»Dazu brauchen wir einen Mannschaftswagen.«

»Für den Anfang reicht mir eine der Damen. Ich komme hier im Moment nicht weg.«

»Was machst du gerade?«

»Auswertung der Smartphones von Levin Goldmann und Notker Hägele.«

»Und?«

»Geduld, Andi, du kriegst meinen Bericht so schnell wie möglich.«

»Peppi, pack Cindy mal ein, die ist vorläufig festgenommen«, bat Brander seine Kollegin, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

»Armes Ding. Da warst du wohl zur falschen Zeit am falschen Ort.« Sie musterte die Puppe abschätzend. »Ich glaube, so ein großes Asservatentütchen habe ich nicht.«

Es war bereits später Nachmittag, als Brander und Peppi in die Dienststelle zurückkehrten.

»Ich schlepp die nicht durchs Haus. Die wiegt mindestens vierzig Kilo«, erklärte Peppi mit Blick auf ihren Gast auf der Rücksitzbank.

»Jetzt übertreib mal nicht. Im Verhältnis zu einer realen Frau ist Cindy ein wahres Leichtgewicht.«

»Was schaust du mich dabei so an?«

Brander hob sich ergebend die Hände. »Das ist Höflichkeit. Man schaut sein Gegenüber im Gespräch an.«

Peppi hatte, als Brander sie kennenlernte, mit einigen Pfunden zu viel gekämpft. Nachdem sie vor wenigen Jahren bei einem Einsatz schwer verletzt worden war, hatte sie bei der Reha-Maßnahme gleich noch ein paar überflüssige Kilos verloren. Gut siebzig Kilogramm brachte sie mit ihren eins fünfundsiebzig immer noch auf die Waage, aber die waren sehr gut verteilt. »Du trägst Cindy«, bestimmte sie.

Brander schleppte die Puppe zum Fahrstuhl. Die Türen wollten sich gerade schließen, als der Leiter der Esslinger Kriminalpolizeidirektion, Polizeivizepräsident Gernot Ritter, in die Kabine sprang. Sein dunkelblauer Anzug saß tadellos, und das hellblaue Hemd betonte seine Urlaubsbräune. Er musterte Brander und Cindy amüsiert. Sie hatten die Puppe in eine Decke gehüllt, aber der kahle Schädel lugte hervor.

»Tatverdächtige oder Opfer?«, erkundigte Ritter sich.

»Zeugin«, erwiderte Brander mit aller Seriosität, die er mit der Puppe im Arm aufbringen konnte.

»Ah ja. An welchem Fall arbeiten Sie noch gleich?«

»Levin Goldmann.«

»Die lackierte Leiche«, stellte Ritter fest. »Da bin ich froh, dass die Pressekonferenz vorüber ist.«

Daran hatte Brander überhaupt nicht mehr gedacht. Er atmete auf. Das hätte ihm noch gefehlt, dass er einem Journalisten über den Weg lief, der ihn Arm in Arm mit dieser Puppe ablichtete.

»Die Puppe gehörte dem Opfer«, erklärte Peppi.

»Und sie hat gesehen, wer Goldmann getötet hat?«

»Das wäre möglich, aber sie wollte nicht so recht mit der Sprache raus. Sie ist ein bisschen schüchtern.«

»So sieht sie gar nicht aus.«

Der Fahrstuhl hielt in der ersten Etage, und Brander hob die Puppe in den Gang. So richtig handlich war die schüchterne Cindy nicht.

»Viel Erfolg«, wünschte Ritter ihnen noch, bevor sich die Türen des Fahrstuhls wieder schlossen.

Während Peppi ihr Büro ansteuerte, schleppte Brander Cindy durch den Flur zu den IT-Forensikern. Er fand Jens Schöne mit seiner Kollegin Anita Stern in ihrem Büro. Beide blickten interessiert auf, als Brander mit der Puppe im Arm ihr Büro betrat. Er setzte sie auf den Besucherstuhl und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Von wegen Leichtgewicht. Er war auf dem Weg doch ins Schwitzen geraten.

»Das ist Cindy, sie könnte eine Zeugin in unserem Mordfall sein.«

»Cindy? Hat sie auch einen Nachnamen oder nur Cindy?«

»Frag sie selbst.«

Jens stand auf, um den Gast einer näheren Betrachtung zu unterziehen. »Wie geht das Ding an?«

»Eingeschaltet wird sie am Hinterkopf.«

Jens betätigte die Taste. Wieder blinzelte die Puppe kurz mit den Augen, als hätte man sie geweckt.

»Cindy, das sind meine Kollegen, die werden sich jetzt um dich kümmern.«

Cindy reagierte nicht.

»Cindy, hast du mich verstanden?«

Keine Reaktion.

»Bei Goldmann hat sie noch mit uns gesprochen.«

»Wie heißt der Online-Shop von dem Goldmann?«, fragte Anita.

»›Dollies – Partner fürs Leben‹«, antwortete Brander.

Die Kollegin tippte den Namen ein und sah ein paarmal zwischen Puppe und Monitor hin und her. »Da haben wir sie: Cindy, Modell Premium TPE Interaktiv, Körpermaterial TPE, Skelett aus Edelstahl, Größe ein Meter fünfundsechzig, Gewicht achtunddreißig Kilogramm, Betriebssystem Android-kompatibel, Verbindung über WIFI, Sprachfunktion Deutsch, Englisch und Mandarin, interaktives Soundsystem ermöglicht Sprechen, Singen und situationsangepasste Stöhngeräusche, Bewegung von Augen und Mund, integriertes Heizsystem, Öffnungen anal, oral und vaginal. Kostenlose Software-Updates. Noch Fragen?«

»Was ist TPE?«, fragte Brander. »Ich dachte, die ist aus Silikon.«

»Thermoplastische Elastomere, sorgt für ein angenehmes Hautgefühl und realistische Gesichtszüge. Steht hier zumindest.«

»Da haben wir des Rätsels Lösung«, erklärte Jens. »Kein WLAN.«

»Wieso?«

»Der Computer da drinnen«, Jens tippte der Puppe gegen die Stirn, »verfügt nur über minimale Basic-Programme. Er verbindet sich über WLAN vermutlich mit einem Cloudserver, und da sind die Daten hinterlegt, auf die die Puppe zugreift, um zu kommunizieren und zu reagieren. Von hier aus hat Cindy aber keinen Zugriff auf Goldmanns WLAN, ergo kann sie nicht in die Cloud, ergo versteht sie uns nicht und kann nicht reagieren. Wir müssen ihr erst wieder einen Online-Zugang einrichten.«

»Und wie macht man das?«

»Ich tippe auf eine App. Hat Goldmann sicherlich auf seinem Smartphone. Lass uns mal ein bisschen mit ihr spielen.« Jens schnippte tatenfreudig mit den Fingern. »Da steckt Hightech drin. Die Dinger müssen richtig teuer sein. Und davon hat der Goldmann sechs Stück?«

»Ja.«

»Und die können alle sprechen?«

»Keine Ahnung, wir haben nur diese ausprobiert.«

»Du und Peppi? Aha …« Jens grinste anzüglich. Sie kannten sich lange genug, dass er sich diese Stichelei erlauben durfte.

»Wir schauen uns Cindy mal genauer an. Vielleicht haben wir Glück und sie hat was mitgeschnitten.«

»Viel Vergnügen.« Brander hatte genug von den Puppenspielen. »Was haben euch die Smartphones verraten?«

Jens schaltete die Puppe aus und trat zurück an seinen Schreibtisch. »Viel zu viel. Jede Menge Telefonate und Nachrichten. Das müssen wir alles noch auswerten. Was vielleicht interessant sein könnte: Chantal Birk hat Levin Goldmann sowohl Samstag als auch Sonntag versucht anzurufen, keiner ihrer Anrufe wurde angenommen. Sie hat ihm am Sonntagmorgen zudem eine kurze WhatsApp geschickt. Das ist aktuell das Bemerkenswerteste.«

Er suchte ein Dokument auf seinem Bildschirm. »Hier: ›bitte lass uns reden‹, gefolgt von mehreren traurigen Smileys. Die Nachricht kam Sonntag gegen neun. Am Nachmittag hat sie dann noch mal versucht, ihn anzurufen.«

Da hatte sein Gefühl ihn also nicht getäuscht, dachte Brander bei sich. Chantal Birk hatte ihn angelogen. Sie hatte Streit mit ihrem Lebensgefährten gehabt. Es sah auf seine Uhr. Er würde es nicht schaffen, vor der Soko-Sitzung zu ihr zu fahren. Abgesehen davon wusste er nicht, wo er sie finden konnte. Sie hatte noch nicht auf seinen Anruf reagiert.

»Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen Goldmann und Hägele?«

»Bis jetzt nicht. Aber wir sind erst ganz am Anfang, Andi.«

Manfred Tropper hatte erste Ergebnisse von der Obduktion aus Tübingen mitgebracht, als sich das Team zur abendlichen Besprechung traf.

»Leute, es war eine elende Arbeit, die Farbe vom Körper zu entfernen«, stöhnte der Kriminaltechniker.

»Ihr habt die ganze Farbe abgekratzt?«, fragte Fabio ungläubig.

»Wie willst du den Leichnam sonst nach Verletzungen untersuchen? Einstichstellen, Druckstellen … Zum Glück hatten wir ein paar Medizinstudenten dabei.«

Brander war froh, dass ihm diese langwierige Prozedur erspart geblieben war.

»Aber zum Ergebnis«, fuhr Tropper fort. »Die Identität konnte bestätigt werden. Es handelt sich eindeutig um Levin Goldmann. Das Opfer weist geringfügig petechiale Blutungen vor allem in den Lid- und Augenbindehäuten auf, jedoch keine Drossel- oder Würgemale am Hals. Der Kehlkopf war intakt. In der Mundhöhle konnten Faserspuren gesichert werden. Kurzum: Levin Goldmann wurde erstickt. Ihm wurde etwas auf das Gesicht gedrückt. Könnte ein Kissen oder eine Decke gewesen sein.«

»Abwehrspuren?«, fragte Clewer.

»Nein, oder sagen wir, wir konnten keine finden. Wir haben nach Hautschuppen unter den Fingernägeln gesucht, aber das hat leider zu nichts geführt. Da war der Lack sehr effektiv. Die Rechtsmediziner haben keine Druckstellen oder Verletzungen am Körper gefunden, die darauf hindeuten, dass das Opfer fixiert oder niedergeschlagen worden ist. Wir vermuten, dass er, bevor man ihn erstickt hat, betäubt wurde. Die toxikologische Untersuchung läuft. Er hat kurz vor seinem Tod höchstwahrscheinlich noch Kuchen gegessen – wir haben Reste von Apfelstreuselkuchen in den Zahnzwischenräumen gefunden. In Anbetracht des einsamen gespülten Geschirrs in der Spülmaschine liegt der Verdacht nahe, dass das Kaffeekränzchen mit seinem Mörder stattgefunden hat.«

»Also vom Ablauf: Goldmann wurde betäubt, mit einem Kissen oder Ähnlichem erstickt und danach lackiert?«, fasste Brander zusammen.

»Ja. Zum Lackieren hat der Täter den Leichnam bewegt. Wir haben Druckstellen seiner Finger im Lack gefunden, aber keine Fingerabdrücke. Unser Täter hat Handschuhe getragen. Vermutlich Einweghandschuhe aus Nitril oder vielleicht Latex. Und er könnte einen Schutzanzug getragen haben, einen Maleroverall oder Ähnliches. Wir haben im Lack Druckstellen entdeckt, die ein Gewebemuster andeuten.«

»War ein Einzeltäter am Werk, oder könnten es auch mehrere gewesen sein?«, fragte Peppi.

»Da in der Spülmaschine nur zwei Kaffeesets standen, würde ich von einem Einzeltäter ausgehen. Aber es könnte natürlich auch sein, dass unser Täter mit dem Opfer Kaffee getrunken hat, ihn dabei betäubt und im Anschluss einen Mittäter ins Haus gelassen hat.«

Lack, Schutzkleidung, Betäubungsmittel. Die Tat musste sehr gut geplant gewesen sein. Brander sah zu seinem Inspektionsleiter, der ihm schräg gegenübersaß und ungewohnt schweigsam war.

Clewer rieb sich mit dem Handballen über das Brustbein und zog die Augenbrauen missmutig zusammen. Als er Branders Blick bemerkte, senkte er den Arm wieder. Er räusperte sich. »Konnte der Todeszeitpunkt genauer eingegrenzt werden?«

»Samstag, mutmaßlich zwischen sechzehn und zwanzig Uhr«, berichtete Stephan Klein.

»Das ist mitten am Tag«, stellte Peppi fest. »Unser Täter muss sich ja sehr sicher gefühlt haben, dass er nicht gestört wird.«

»Was ist mit dem zweiten Opfer?«, hakte Brander nach.

»Die Obduktion läuft noch«, erwiderte Tropper. »Aber ich vermute, das Ergebnis wird ähnlich aussehen, mal abgesehen vom Todeszeitpunkt. Unser Täter konnte ja schlecht an zwei Orten gleichzeitig sein.«

»Es könnten mehrere Täter sein«, gab Brander zu bedenken.

»Herr Esposito«, wandte Clewer sich an den jungen Kollegen der Kriminalinspektion 1, »was ist mit Schnittstellen zwischen den Opfern? Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Ich habe mir die Einzelverbindungsnachweise der Telefone besorgt und abgeglichen. Soweit ich das bisher überblicke, gab es keinen telefonischen Kontakt zwischen den Opfern. Allerdings ist mir aufgefallen, dass beide Männer mit einem Vinzenz Streiter mehrfach telefoniert haben. Streiter lebt in Pfrondorf, bei Tübingen, er ist Wissenschaftler, forscht anscheinend im Bereich KI – künstliche Intelligenz. Zumindest findet man im Netz einige Veröffentlichungen von ihm.«

»Arbeitet er an der Uni oder in der Wirtschaft?«

»Weder noch, wenn ich das richtig sehe. Er hat Mathe und Physik an der Technischen Universität München studiert, promovierte später in Göttingen, hat danach einige Jahre in den Staaten verbracht und da noch einen Doktor in Neurowissenschaften gemacht. Vor circa vier Jahren kehrte er aus den Staaten zurück und kam nach Tübingen.«

»Was macht er in Tübingen?«, fragte Brander.

Fabio hob die Schultern. »Das habe ich noch nicht herausgefunden.«

»Es gibt in Tübingen doch dieses neue Forschungsinstitut zur künstlichen Intelligenz, Cyber Valley«, wusste Peppi. »Vielleicht arbeitet er da?«

2016 war in der Universitätsstadt auf der alten Viehweide ein imposanter Campus aus dem Boden gestampft worden. Brander hatte die kontroversen Diskussionen über das moderne Institut in der Presse verfolgt. Die Zusammenarbeit zwischen Universität, Land und Wirtschaftsunternehmen hatte Bedenkenträger auf den Plan gerufen, insbesondere weil auch ein umstrittener amerikanischer Global Player mit an Bord war. Dass sich Cyber Valley eher in begehrter Tübinger Halbhöhenlage denn in einem Tal befand, war eine Anekdote am Rande.

»Ich frag mal nach.« Fabio machte sich eine Notiz.

»Sowohl Goldmann als auch Hägele hatten Kontakt zu diesem Herrn Streiter?«, fragte Brander.

»Ja, Notker Hägele hat Sonntag vor einer Woche bei Streiter angerufen, dann noch einmal am Donnerstagabend. Streiter hat mit Goldmann Montag früh telefoniert, und Freitag früh hat Goldmann bei ihm angerufen.«

»Mit dem Herrn sollten wir uns unterhalten.«

»Ich habe schon versucht, ihn zu erreichen, habe aber auf seinem Festnetzanschluss nur eine Alexandra Scholl ans Telefon gekriegt. Sie sagte, sie sei Streiters Assistentin und dass ihr Chef ein paar Tage außer Haus sei. Sie erwartet ihn am Donnerstag wieder zurück. Sie hat mir seine Handynummer gegeben, da habe ich ihn aber bisher nicht erreicht.«

»Schickst du mir seine Kontaktdaten?«, bat Brander.

»Ja.«

»Schau auch mal die Kundendaten von Goldmann durch, vielleicht tauchen Streiter und Hägele da auf.«

»Würde ich, wenn ich sie denn hätte.«

»Keine Kundenkartei?«

»Wir haben nichts gefunden.« Fabio sah zu Tropper.

»Nein, wir auch nicht.«

»Ich spreche mit Chantal Birk. Die müssen ja Unterlagen von ihren Kunden haben.«

»Die könnten auf dem Laptop sein, den wir nicht gefunden haben«, überlegte Tropper.

»Was ist mit Hägeles Haus? Wurde da etwas gestohlen?«, fragte Clewer.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Brander.

»Wir müssen die Kollegen, die den Tübinger Fall übernommen haben, unbedingt mit ins Boot holen.« Clewer rieb sich erneut über das Brustbein. »Ich kümmere mich darum.«

***

Es war wieder spät geworden. Das Haus begrüßte Brander mit stiller Dunkelheit. Cecilia war mit einer Freundin im Kino, Nathalie hatte dienstagabends Taekwondo-Training bei Branders Kumpel Karsten Beckmann in Tübingen. Er duschte, machte sich ein Butterbrot und setzte sich mit Block und Bleistift ausgestattet an den Küchentisch.

Er hatte am Abend weder Chantal Birk noch Vinzenz Streiter ans Telefon bekommen. Aber wenigstens die Rechtsmedizinerin Margarete Sailer hatte er erreicht und das Ergebnis der zweiten Obduktion erfahren. Es war, wie Tropper vermutet hatte. Die Vorgehensweise war bei Notker Hägele ähnlich wie bei Goldmann: Der Täter hatte das Opfer betäubt, erstickt und lackiert.

»Das Ganze hat gedauert«, hatte Maggie ihm erklärt. »Bei der Betäubung vermute ich den Einsatz von K.-o.-Tropfen, GHB, GBL oder Ähnlichem. Das geht einigermaßen schnell. Ersticken dauert jedoch länger. Du drückst dem Opfer nicht nur kurz ein Kissen ins Gesicht. Es kann ein paar Minuten gedauert haben, bis das Opfer tatsächlich tot war. Da sich das Opfer aber vermutlich aufgrund der Betäubung nicht mehr gewehrt hat, war der Kraftaufwand überschaubar.«

»Das heißt, beide Männer waren definitiv tot, bevor sie lackiert wurden?«

»Ja, wir haben zwar Farbe in Nase und Mundraum gefunden, aber es wurde keine Farbe eingeatmet. Der Täter war relativ sorgfältig bei seiner Lackierarbeit. Er hat zwar nicht gewartet, bis Schicht um Schicht getrocknet war, Tropfnasen waren ihm ziemlich egal, aber er hat keinen Flecken Haut ausgespart. Das muss Zeit gekostet haben.«

»Was denkst du, wie lange?«, hatte Brander gefragt.

»Keine Ahnung. Ihr könnt das doch mal ausprobieren. Der Goldmann hat doch diese lebensgroßen Puppen im Haus. Schau mal, wie lange du brauchst, um eine zu lackieren.«

Wenn er Troppers Theorie folgte, dass Täter und Opfer erst miteinander Kaffee getrunken hatten und der Täter hinterher noch für Ordnung gesorgt, eventuell auch das Haus durchsucht hatte – immerhin fehlte Goldmanns Laptop –, dann musste er beide Male mehrere Stunden im Haus seiner Opfer verbracht haben. Durchdacht und abgebrüht, überlegte Brander.

Er nahm seinen Block und skizzierte die Umrisse des Leichnams von Levin Goldmann so, wie er aufgefunden worden war, links mittig auf das Blatt, Notker Hägele setzte er auf die rechte Hälfte. Zwei Männer, die der Täter auf die gleiche Art und Weise zur Schau gestellt hatte. Knapp dreißig Jahre Altersunterschied lagen zwischen ihnen. Welche Gemeinsamkeiten gab es? Der Ältere war Single, der Jüngere liiert, der eine war für ein internationales Unternehmen tätig und beruflich erfolgreich, der andere wollte international werden und war vermutlich in finanziellen Schwierigkeiten. Beide hatten in der Woche vor ihrem Tod mit dem KI-Forscher Vinzenz Streiter telefoniert. Die Puppen waren mit Hightech ausgestattet. Hingen alle drei in diesem Puppengeschäft?

Das Öffnen der Haustür störte seine Überlegungen. Es sah auf die Uhr. Drei viertel elf. Das war für beide Frauen zu früh. Er stand auf und ging in den Flur. Nathalie zog gerade ihre Schuhe aus. Brander entdeckte keine Sporttasche bei ihr.

»Warst du nicht beim Training?«

»Feuerwehr.«

»Schon wieder ein Einsatz?«

»Nee. Kommandant hat’s Einsatzteam von gestern zu ’ner Nachbesprechung einberufen.«

»Und?«

»Alles gut.«

»Wirklich?«

Nathalie verdrehte die Augen. »Das fragt mich ständig jeder. Das nervt.«

»Sorry.«

»Ich hab Hunger.«

»Dem können wir abhelfen.« Brander kehrte in die Küche zurück, holte Butter und Aufschnitt aus dem Kühlschrank und nahm das Brot aus dem Kasten. »Wie viele Schnitten möchtest du?«

»Echt jetzt?« Nathalie war ihm gefolgt und lehnte sich gegen den Türrahmen, die Hände in den Taschen vergraben.

Brander sah zu ihr. Sie war mittlerweile größer und kräftiger als Cecilia, durch das Taekwondo und die Übungen bei der Feuerwehr hatte sie einen durchtrainierten Körper. Obwohl sie sich als Feuerwehrfrau und Auszubildende zur Berufskraftfahrerin in traditionellen Männerberufen bewegte, kleidete sie sich sehr feminin, was zwischen Brander und seiner Pflegetochter hin und wieder zu Diskussionen führte.

Mit ihren kurzen struppigen Haaren, von denen ihr einige dunkle Strähnen in die Stirn fielen, und dem frechen Grinsen, mit dem sie ihn gerade bedachte, würde sie eines Tages irgendeinem Mann ordentlich den Kopf verdrehen, dachte er bei sich und spürte einen kleinen eifersüchtigen Stich. Vielleicht war es auch Sorge. Er wollte, dass es ihr gut ging, dass sie Menschen um sich hatte, die sie anständig und mit Respekt behandelten.

Er legte das Messer zur Seite. »Eigentlich hast du recht. Mach selbst.«

Sie zog eine Schmolllippe.

»Also, wie viele Schnitten?«

Schon hatte er ihr Lächeln wieder. »Drei, mit allem, was der Kühlschrank hergibt.«

Diät war für Nathalie kein Thema.

Wenig später saßen sie gemeinsam am Küchentisch.

»Ist das dein Fall, der heute in der Zeitung stand?«, fragte sie mit Blick auf seinen zugeschlagenen Zeichenblock.

»Ich gehöre zur Ermittlungsgruppe, ja.«

»Die Leiche wurde echt lackiert?«

»Wo liest du denn solche Schundblätter?«

»Internet.« Sie verschlang hungrig die erste Schnitte. »Ich soll morgen zu deinen Kollegen kommen, wegen dem Unfall.«

Hatte Peppi also recht behalten.

»Muss ich dahin gehen?«

»Ich würde es begrüßen, wenn die Tochter eines Kripobeamten einer Einladung zur Zeugenbefragung folgt.«

»Und wenn ich nicht will?«

»Warum nicht?«

»Hab nicht so gute Erfahrungen mit den Bullen.«

»Du hast ja keine Flasche Wodka aus dem Kofferraum geklaut, oder?«

»Ey, bin ich clean?«

Und das seit fast einem Jahr. »Die Kollegen möchten dich wegen des Unfalls befragen. Es ist nicht sicher, wie es dazu kam, und du hast als eine der Ersten mit einer der Unfallbeteiligten gesprochen. Vielleicht kannst du helfen zu klären, was eigentlich passiert ist.«

»Woher weißt ’n du, dass ich mit der gesprochen habe?«

Verdammt. Nathalie sollte nicht das Gefühl haben, dass er ihr hinterherspionierte. »Du weißt doch, wo ich arbeite.«

Sie aß eine Weile schweigend. »Muss ich denen alles sagen?«

»Ja, das solltest du.«

»Aber ist doch eigentlich egal, was passiert ist. Ich meine, die ist doch schon genug bestraft. Ihre Freundin ist tot, ihre Knie zertrümmert …«

»Nein, es ist nicht egal. Es geht nicht nur um die Fahrerin. Auch die Eltern der toten Freundin und der Unfallgegner haben ein Recht, zu erfahren, wie es zu dem Unfall kam.«

Nathalie ließ die Schnitte, in die sie gerade beißen wollte, wieder auf den Teller sinken.

»Was ist los? Hat die Frau irgendetwas gesagt oder getan?«

»Nee, is nur … Bullerei is nich mein Ding.«

Brander war sich nicht sicher, ob das tatsächlich der einzige Grund war. Irgendetwas belastete sie. »Soll ich dich begleiten? Oder Ceci?«

Sie überlegte einen Moment, schüttelte schließlich den Kopf. »Nee, krieg ich schon hin. Willst du noch?«

Immerhin zwei Schnitten hatte sie verputzt. Es tat ihm leid, dass ihr das Gespräch auf den Magen geschlagen war. Er zog das Brett zu sich rüber.

»Ich geh mal pennen.«

»Nathalie«, bremste er sie. »Wenn was ist, kommst du zu mir, versprochen?«

»Yep.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Glatze. »Nacht, Paps.«

»Nacht, meine Kleine. Hab dich lieb.«

Paps. Er sah ihr versonnen hinterher. Wenn er an die Anfangszeiten zurückdachte … Nein, lieber nicht.

Er klappte seinen Zeichenblock wieder auf. Zwei Tote an einem Wochenende – womit hatten sie es zu tun? Einem Serienmörder mit einem Fetisch für rosa Lack?

Schwabentod

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