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Prolog

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Da steht sie am Rande des Schotters. Im fahlen Licht wirkt sie blassblau und halb verschlossen. Wer nicht genau hinsieht, erblickt nur den graugrünen Stängel und übersieht die noch kaum aufgegangene Blüte. Solange die Sonne sich nicht blicken lässt, wird die Cichorium intybus – die gemeine Wegwarte - auch nicht ihr Strahlen dem Himmel widerspiegelndem Blau entgegenrecken können.


Es steht eine Blume,

Wo der Wind weht den Staub,

Blau ist ihre Blüte,

Aber grau ist ihr Laub.

Ich stand an dem Wege,

Hielt auf meine Hand,

Du hast Deine Augen

Von mir abgewandt.

Jetzt stehst du am Wege,

Da wehet der Wind,

Deine Augen, die blauen,

Vom Staub sind sie blind…

Hermann Löns (1866-1914)


Die heilende Blume, die Himmel und Erde verbindet, trägt das hoffnungsvolle Blau in diesen scheinbar hoffnungslosen Tag. Gleichermaßen Heilmittel und Kaffee-Ersatz in mageren Zeiten, ist sie die kleine Freude am beginnenden Tag. Könnte Andrea das Blau erblicken, würde sie sich fragen, warum gerade die Wegwarte hier ihre Begleiterin ist und nicht der Eisenhut, der laut Mythologie aus dem Geifer des Höllenhundes Kerberos erwuchs, als der griechische Held diesen besiegte und in das Diesseits brachte. Wollte sie doch hier eine Reise antreten.


Auf den Gleisen liegend, spürte ich das kalte Eisen deutlich, empfand es aber als durchaus angenehm. Ich hatte die letzten Wochen stark abgenommen. Darüber hätte ich mich bei dem Vorliegen anderer Umstände gefreut. War da bereits ein Vibrieren oder bildete ich es mir nur ein? Ich schloss die Augen.


„Ist das der richtige Weg?“, fragte mich Hugo aus der Unsichtbarkeit heraus. Ich sah seine schmalen Lippen, welche in seinem rundlichen und bartlosen Gesicht, umrahmt von schütter gewordenem Haar, etwas verloren wirkten. Seine Nase gerade und unaufdringlich. Sein Gesichtsausdruck aristokratisch. Sein blasser Teint erinnert an etwas Edles. Sein Benehmen ähnelt einer Mimose, erstaunlich schnell auf Reize reagierend, bei alledem aber erdhaft bodenständig bleibt. Er war ihren Gedanken in den letzten Wochen ein ständiger Wegbegleiter. Hugo sprach in aller Ruhe weiter: „Mein Weg war ein anderer, ist ein anderer und wird immer ein anderer sein. Geradlinigkeit lernt man nicht auf Universitäten.“


Ich bilde mir ein, wie seine klugen Augen mich aus seiner Nickelbrille ernst und mahnend anschauen. Vor noch wenigen Wochen hat mich sein Geruch der Rechtschaffenheit, des Besserwissenden und Guten noch tief aufgeregt. Jetzt nicht mehr. Ich antwortete müde und in der Hoffnung, dass Hugo aus meinen Kopf, aus meinen Gedanken endlich verschwinden möge: „Mein Güte Hugo, die Zeiten sind andere geworden. Du hast von 1875 bis 1945 gelebt!“ Sie ließ diesen Satz sacken und setzte sich auf, bevor sie fortfuhr: „Ja, der große Sozialdemokrat Hugo Sinzheimer, der Rechtsberater des Deutschen Metallarbeiterverbandes, der Honorarprofessor für Arbeitsrecht, der Initiator der Gründung der Akademie der Arbeit und Wissenschaftler, der damals die normative Kraft des Tarifvertrages begründet hat. Eine tolle Leistung. Das spricht Dir keiner ab. Ohne Dich hätte es die verfassungsrechtliche Verankerung von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie vermutlich nicht oder zumindest nicht so früh gegeben. Wirklich ganz großartig. Das meine ich ernst. Aber auch als „Vater des deutschen Arbeitsrechts“ ist die Zeit nicht stehen geblieben. Deine Ideen passen nicht mehr in die heutige Zeit. Heute muss man die Macht und die Mächtigen mit im Boot haben, sonst verändert sich nichts. Du wolltest den Machtlosen mehr Macht geben. Du hast dich aber nicht darauf eingelassen die Verantwortung der Macht zu übernehmen. Das war dein Weg.“


Hugo antwortete zögernd: „Mir ging es stets um Gerechtigkeit und Freiheit. Auch ich hätte mich gestellt, hätte Gesamtverantwortung übernommen und wäre in der Weimarer Republik fast Arbeitsminister geworden. Als ich die Fraktionsabstimmung verloren hatte habe ich mich enttäuscht gefragt, ob dies einer meiner Schicksalsschläge oder ein glücklicher Wink ist. Die Industriekreise und die Konservativen mochten mich nicht, nicht nur wegen des Mysterium Antisemitismus. Der erste Schritt der Entmachtung und Zerschlagung der Gewerkschaften mit dem Ruhreisenstreik 1928 war eine schwere Niederlage, auch für mich und meine Ideen. Ich bin aufgestanden, habe den faulen Kompromiss der staatlichen Schlichtung akzeptiert. Ich habe intern vom Generalstreik abgeraten. Er wäre wohl auch kaum durchsetzbar gewesen und wenn doch hätten die Gewerkschaften so einen Streik in den wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht erfolgreich führen können. Der Wind blies uns ins Gesicht, aber ich habe weitergekämpft für meine Ideen, für meinen Traum von Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Ein paar Jahre später kam der nächste Schlag: Der Verlust der Professur mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Ich bin wieder aufgestanden und nach Amsterdam gegangen, obwohl ich kein junger Mann mehr war. Ich habe als Dozent in Amsterdam und Leiden weitergemacht, solange mir dies möglich war. Als die Nationalsozialisten 1940 in die Niederlande einmarschierten, waren Freunde da, die mich und meine Familie versteckten. In unserem engen Versteck hat meine Familie den Krieg überstanden. Ich, dem es immer um die offen gelebte Freiheit ging, habe das Verstecktsein in der Dunkelheit nicht überlebt. Eine Ironie des Schicksals, dass gerade mir das widerfahren musste.“


Eine kurze Weile war Stille. Sodann fuhr Hugo fort: „Ich gebe dir auch recht darin, dass die Arbeitswelt sich gewandelt hat. Sie ist aber nicht zusammengebrochen. Wandel gab es zu jeder Zeit. Die Krise der 1920er Jahre war bei Weitem schlimmer als die heutigen Verwerfungen im Bankenwesen. Das Kapital mag bedeutender geworden sein, aber es bedarf noch immer menschlicher Arbeit - trotz Robotern, Computern und Quantensprüngen in der Kommunikationstechnologie. Die Finanzbranche hat sich noch mehr verselbstständigt, aber die reale Wertschöpfung zeigt immer noch ein gewisses Maß an Robustheit. Und mit der Macht der Mächtigen allein kommt man letztlich auch nicht weiter. Mit den Königen, Herzögen, Großfürsten und Zaren, deren Ministern, mit den Industriellen und Großkaufleuten im Boot hatte man früher schon den falschen Kurs eingeschlagen. Sie dulden dich nur solange an Bord, wie du ihnen von Nutzen bist. Du darfst rudern und sie angeln – wie auf der Galeere. Ich war einer derer, die ihnen nützlich waren, um den Kommunismus und die Rätedemokratie zu verhindern. Doch schnell war ich überflüssig. Die Kapitaltragenden in den Banken, den Konzernen und der Geldadel lieben die Macht – nicht die Menschen.


Es ist gestern wie heute und morgen wird es auch nicht anders sein. Schau doch, wohin es führt: Du liegst auf den Gleisen. Wenn die anderen riskant spielen, dann wollen sie auch den Gewinn. Geht es schief, kannst du deinen Kopf hinhalten. Aber willst du jetzt vor denen kapitulieren? “


Ja, Hugo hatte leicht reden. Im Moment wusste ich nur eines: dass ich nichts mehr von diesem Thema hören mochte. Es verfolgte mich wie ein erbarmungsloser Häscher. Ich schien nicht mehr „die Andrea“, sondern ausschließlich „die Tarifeinheit“ zu sein. Ich mochte einfach nicht mehr. Punkt und Ende. Schließlich rief ich in die Dunkelheit hinein: „Ja, ich wollte die Macht, aber ich wollte sie zum Besten einsetzen. Der Fluch der guten Tat.


Nun sagen alle, dass ich die Ordnung zerstört hätte. Die Staatspartei und die Arbeiterpartei, die Ökologenpartei und die Postkommunisten, aber auch die Deutschnationalen … alle geben mir die Schuld – auch die Indu­strie und die Arbeitervereine, begleitet von diesem unsäglichen Presseschaum.“


Hugo nahm sich eine Zigarette und steckte sie in den Mund. Dann kramte er ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sie an. Er sog den Rauch tief ein. Währenddessen musterte er Andrea eindringlich und sagte daraufhin: „Wege gibt es immer. Friedrich Hölderlin schrieb: ‚Wenn ich auf mein Unglück trete, stehe ich höher‘. Jeder entscheidet über seinen Weg, entweder er lässt sich treiben oder bestimmt die Richtung selbst. Du entscheidest, ob du aufstehst oder liegenbleibst. Oder du überlässt die Entscheidung dem nächsten Zug. Letztlich lässt sich das Leben ausschließlich vorwärts leben und nur im Rückblick verstehen.“

BILD1

Hugo und Andrea

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