Читать книгу Hugo und Andrea - Sybille Waßner - Страница 5
I. Kapitel
ОглавлениеIch weiß noch genau, welche Gelegenheit mich die Nähe zu Andrea suchen ließ. Ich saß - für andere unsichtbar - auf einer Parkbank in Frankfurt am Main. Neben mir lagen verschiedene Zeitungen. Sie waren zerknittert und auch nicht mehr vollständig. Der Wind hatte wohl einige Seiten zum Tanz aufgefordert.
Nachdem ich die verbliebenen Seiten ungläubig überflogen hatte, hätte es mich nicht gewundert, wenn der Wind sich nach der Lektüre zum Sturm aufgeblasen hätte. Mein ganzer Körper begann vor innerer Erregung zu beben. Die Hände zitterten so sehr, dass es mir schwerfiel weiterzulesen.
Die FAZ schreibt:
Ehemaliger Verfassungsrichter „Gesetz zur Tarifeinheit verfassungswidrig“
11.12.2014: Wenn zwei Gewerkschaften sich streiten, leidet der Bürger. Das will die Regierung verhindern. Doch aus Sicht eines ehemaligen Verfassungsrichters ist das geplante Gesetz zur Tarifeinheit verfassungswidrig (…).1
Was ich da lese, ist so unglaublich, dass ich es nicht in Worte zu fassen vermag. Vieles, wofür ich jahrelang gekämpft, nein regelrecht gelebt habe, soll hier schleichend zunichte gemacht werden. Natürlich greift das Gesetz zur Tarifeinheit in die grundrechtlich verbürgte Koalitionsfreiheit ein. Da scheinen sich die Rechtswissenschaftler auch vollkommen zu Recht einig zu sein. Alles andere ist doch Augenwischerei. Wenn überhaupt, kann die Frage allenfalls lauten, ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt sein kann. Bloße Praktikabilitätserwägungen genügen hierfür sicher nicht, denke ich wütend. Auf den Punkt gebracht, soll das Tarifgesetz offenbar dahingehend geändert werden, dass bei Tarifkonflikten nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern gilt.
Diese Kollisionsregel soll greifen, soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften in einem Betrieb überschneiden und sich die konkurrierenden Gewerkschaften dieses Betriebs nicht einigen können, welcher Tarifvertrag für eine bestimmte Berufsgruppe gelten soll. Abgestellt werden soll auf den Zeitpunkt des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, soll dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich sein. Da ist Chaos doch vorprogrammiert!
Bezugsgröße für die Mehrheit soll der Betrieb sein. Allein der Betriebsbegriff wird zahlreiche Rechtsunsicherheiten schaffen. Der wissenschaftliche Streit um einen eigenständigen Betriebsbegriff innerhalb des Tarifrechts ist bereits entfacht. In der Folge sehe ich schon, wie die Arbeitsgerichte durch alle Instanzen – mal von Arbeitgebern, die keine Verhandlungen führen wollen und eine Quasifriedenspflicht bis zur endgültigen Feststellung des in ihren Unternehmen und Konzernen geltenden Betriebsbegriff postulieren, ein anderes Mal von den Spartengewerkschaften, die für sich eine Mehrheit sehen – in langwierige Feststellungsklagen verstrickt werden. Sind diese Verfahren schließlich beendet, hat sich die betriebliche Wirklichkeit derweil wieder gewandelt. Das ähnelt den Taktiken der Arbeitgeber, mit ihren endlosen Beschlussverfahren den Wahlzeitpunkt der Betriebsratswahl bis auf den Tag nach dem jüngsten Gericht zu verschieben. Wenn das Gesetz nun weiter voraussetzt, dass sich die Geltungsbereiche von zwei Tarifverträgen in einem Betrieb „lediglich“ überschneiden, bedeutet das auch, dass diese Tarifverträge von ihrem Geltungsbereich nicht alle im Betrieb Beschäftigten erfassen müssen. Eine Überschneidung in einem Teilbereich genügt bereits. Dieser Professor aus Bremen hat vollkommen recht mit der Annahme, dass sodann „tariffreie Zonen“ möglich und die weitere Erosion des Flächentarifvertrags zu befürchten sind. Die Regierung ließ in die Begründung schreiben, dass innerbetriebliche Verteilungskämpfe den Betriebsfrieden gefährden würden. Die Arbeitsministerin hat ja recht damit, denn fragt man die Arbeitgeber, werden diese gern bestätigen, dass jeder Arbeitskampf den Betriebsfrieden gefährdet. Doch leider gefährdet gerade dieses Gesetz den Betriebsfrieden mindestens genau so sehr – und damit auch den sozialen Frieden. Deshalb hört man auch von den Arbeitgebern und ihren Verbänden sowie den ihnen zugeneigten Wissenschaftlern kräftige Worte. „Das ist grotesk“, schreibt ein Verbandsfunktionär in einer führenden Zeitschrift des Arbeitsrechts.
Wenn sich die Friedenspflicht „nur“ für die Dauer der Laufzeit des Tarifvertrags auf die Minderheitsgewerkschaft erstreckt, mithin jeder Streik in diesem Zeitraum unzulässig ist, insoweit er Fragen betrifft, die in diesem Tarifvertrag geregelt sind, dann bedeutet das doch de facto, dass die Minderheitsgewerkschaft so gut wie keine Betätigungsmöglichkeit mehr hat! Ich spüre ein regelrechtes Engegefühl im Brustraum. Ich kann das einfach nicht glauben! Die Mehrheitsgewerkschaft könnte dann zusammen mit der Arbeitgeberseite auf eine Kündigung des Tarifvertrages verzichten und lediglich die Laufzeit verlängern – gegebenenfalls mit inhaltlichen Verbesserungen für die Arbeitnehmer – und damit eine unbequeme Minderheitsgewerkschaft einfach ausschalten. Angenommen, es würde zu einer Kündigung des Tarifvertrags kommen, bliebe völlig offen, ob die Minderheitsgewerkschaft eigene Forderungen mit Streiks durchzusetzen versuchen darf. Nicht, dass es unwichtig wäre – oh nein: Offensichtlich will die Regierung das heikle Thema Streikrecht einfach in aller Stille aushebeln. Der Professor aus Bremen hat das Offensichtliche erkannt. Das scheint mir ein kluger und vorausschauender Mann zu sein, denkt Hugo, während er weiterliest. Der Wissenschaftler prognostiziert, dass man wohl zu dem Ergebnis kommen werde, dass ein solcher Streik einer Minderheitsgewerkschaft nicht rechtmäßig, weil unverhältnismäßig, sei. Man werde dann argumentieren, dass der Minderheitstarif ja ohnedies hinter dem Mehrheitstarif zurücktreten müsse. Natürlich, alles andere wäre sinnentleert, wenn es tatsächlich u. a. um die Herstellung des Betriebsfriedens gehen sollte. Da derzeit jedenfalls das Streikrecht für Minderheitsgewerkschaften nach Ablauf der Friedenspflicht (noch) nicht ausgeschlossen ist, stellt sich sodann die Frage, wie die Minderheitsgewerkschaft ihre Mitglieder und Sympathisanten überhaupt motivieren kann, für die Durchsetzung eines Minderheitstarifs zu streiken – mit dem Wissen, dass dieser ohnehin hinter dem Mehrheitstarifvertrag zurücktreten müsste und mithin keinerlei Geltung erfahren könnte. Vielleicht bleibt das Streikrecht für Minderheitsgewerkschaften ja deshalb auch ein rein theoretisches Problem.
Ich zünde mir eine Zigarette an und beginne, gleich einem an Hospitalismus leidenden Tier nervös auf- und abzugehen. Was hat sich die Regierung nur dabei gedacht? Dass nach dem geplanten Gesetz die Minderheitsgewerkschaft vom Arbeitgeber oder der Arbeitgebervereinigung die Nachzeichnung der Rechtsnormen eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifvertrags verlangen kann, konnte doch auch unmöglich im Einklang mit der Verfassung gesehen werden. Dass man sozusagen den ungeliebten Labber-Strickpullover seines älteren großen dicken Bruders auftragen darf! Auch die Berechtigung der Minderheitsgewerkschaft – zu deren satzungsgemäßen Aufgaben der Abschluss eines Tarifvertrags gehörte – dem Arbeitgeber oder der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen, ist schlicht entwürdigend. Bitte, bitte großer dicker Bruder, lass mich mitspielen! Die zusammenfassende Botschaft an die Minderheitsgewerkschaft lässt sich letztlich in drei Worte fassen: Friss oder stirb!
Der Nachrichtensender n-tv schreibt auf seiner Homepage:
Dienstag, 04. November 2014 EVG ist gegen Nahles-Gesetz: Eisenbahner wollen keine Tarifeinheit
Das neue Gesetz zur Tarifeinheit soll das verhindern, was gerade wieder passiert: Eine kleine Gewerkschaft wie die GDL hält das Land mit Streiks in Atem. Nutznießer wäre die große Eisenbahnergewerkschaft EVG – doch ausgerechnet die erhebt nun Widerspruch.
Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hält das geplante Gesetz zur Tarifeinheit für untauglich zur Lösung des Tarifkonflikts bei der Bahn. "Es mag Bereiche und Branchen geben, wo das Gesetz hilft, Konflikte zu befrieden, bei der Eisenbahn wird das nicht der Fall sein", sagte der Vorsitzende Alexander Kirchner bei einem bereits vor Ausbruch des aktuellen Tarifstreits angesetzten Kleinen Gewerkschaftstag in Fulda. Das Nein zum Gesetzentwurf ist auch Teil einer Resolution, die einstimmig verabschiedet wurde.2
Offensichtlich will dieses Gesetz weder die begünstigte Gewerkschaft EVG, noch scheint es für den Arbeitgeber nützlich zu sein, bilanziere ich mit Blick auf die Titelzeile der Welt:
Bahnstreik, 08.11.14
Nahles' Gesetz ist ein Brandbeschleuniger für die GDL
Das geplante Gesetz zur Tarifeinheit soll den Arbeitskampf, wie er derzeit bei der Bahn stattfindet, unmöglich machen. Doch im Fall der GDL läuft er ins Leere. Schlimmer noch: Chaos ist programmiert.3
Wer hier nicht staunt, ist tot, denke ich. Ich falte die Zeitungen zusammen, lege sie neben mich auf die Parkbank und stehe auf.
Eine Welle nostalgischer Empfindungen überkommt mich. Hinter mir liegt das Museumsufer. „Mein“ Frankfurt hat sich stark gewandelt. Manches ist noch ähnlich, aber die Hochhaustürme des Kapitals prägen den Eindruck der Stadt. Ein hoher, roter Ziegelbau, das Hochhaus des Metallarbeiterverbandes, steht am rechten Mainufer und kann sich daneben behaupten. Weiter oben am Main steht das Gebäude der Europäischen Zentralbank.
BILD 2
Bereits vor mehr als 25 Jahren dachte man angesichts des Klimas der zweiten Restauration in der Politik und im Unternehmerlager im Namen der technischen Innovation und des Fortschritts über einen Generalangriff auf die Gewerkschaften und in Gewerkschaftskreisen über eine Neubesinnung nach. Die Gewerkschaften taten sich zunächst schwer mit der Wahrnehmung und öffentlichkeitswirksamen Vertretung ihres politischen Mandats. Es wurden nur noch bedrohte Rechte mehr oder weniger geschickt verteidigt. Es mangelte an klaren Vorstellungen, was die zukünftigen Ziele sein sollten und worauf und wie man sich offensiv ausrichten musste. Nun sind wir im nächsten Akt der Restaurierung. Jetzt sind es die Globalisierung, die (In-)Stabilität der Finanzmärkte und die selbst verschuldete Finanzknappheit der öffentlichen Kassen, die die Politik vermeintlich dazu zwingen, denen zu dienen, denen sie dienen wollen, statt denjenigen, welchen sie verpflichtet sind. Jetzt erst, in der Entspannung, spüre ich meine zuvor schmerzhaft zu Fäusten geballten Hände.