Читать книгу Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane) - Sylke Brandt, Dirk van den Boom, Emmanuel Henné - Страница 5

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Die Enge wirkte auf einmal bedrückend. Sonst war sie es gewohnt, in dem Schrein zu arbeiten, auch mit den anderen zusammen. Doch die Gewissheit, dass etwas schiefgelaufen war, nagte in ihr.

Nova blinzelte leicht in das Halbdunkel hinein. Die anderen Suchenden hockten noch immer seelenruhig im Kreis um das Cernum in ihrer Mitte. Der ruhige Atem der anderen war das einzige Geräusch im Tempelraum. Zu früheren Zeiten, dachte Nova, hätte man vielleicht das leise Knistern abbrennender Fackeln oder Kerzen vernommen, doch heute gab es dimmbare Glimmerstäbe. Der schwachviolette Schein wurde von den Gesichtern der anderen sieben reflektiert. Sie hatten ihre Lider geschlossen. Mit Ausnahme Prosperos.

Der füllige Akolyth blickte unverwandt in Novas Richtung. Auch er musste die Veränderung wahrgenommen haben. Doch als sich Novas Lippen teilten, schüttelte er kaum merklich den Kopf. Sein Blick gab ihr zu verstehen, dass es nicht ratsam war, das heilige Gebet zu unterbrechen. Nova sah, wie die anderen Suchenden noch immer stumm meditierten, und fügte sich. Sie schloss die Augen, versuchte, ihren Atem zu beruhigen, doch sie fand nicht mehr in ihren Rhythmus. Das bohrende Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen war, wollte nicht weichen.

Sie lugte unter ihren zu einem Spalt geschlossenen Lidern hindurch und stellte fest, dass auch Prospero wieder ins Gebet versunken war. Nova spähte nach links zum Schrein. Von zwei Glimmerstäben flankiert, ruhte dort die Büste des Erlösers: kein Schnitzwerk, keine Skulptur aus Stein, sondern die dreidimensionale Holografie des charismatischsten Mannes, den Nova je kennengelernt hatte. Seinetwegen war sie in den Orden eingetreten.

Die junge Frau versuchte es noch einmal mit ihrer Atmung. Kam es ihr nur so vor oder war die Luft tatsächlich dünner geworden. Stimmte irgendetwas nicht mit der Wiederaufbereitung? Hatte es eine Panne gegeben?

Finde zu dir!, ermahnte eine innere Stimme sie. Warum war sie nur mit ihren Gedanken bei allem anderen als dem Gebet?

Dann hörte sie es! Es klang wie das ferne Säuseln einer auf- und abschwellenden Brandung. Zuerst glaubte sie, sich das Geräusch nur einzubilden, doch als auch Akolyth Prospero und ein weiterer Suchender die Lider hoben und lauschten, wusste sie, dass der Laut durch das massive Portal drang. Im übrigen Schiff mochte der dröhnende Alarm überlaut wahrnehmbar sein, doch hier im Tempelraum waren sie weitgehend von äußeren Einflüssen abgeschottet, um sich voller Konzentration dem Gebet hinzugeben.

Der Suchende neben Prospero machte Anstalten, sich zu erheben, doch die Hand des Akolythen schnellte vor und legte sich auf den Unterarm des anderen. Verwirrt blickte der Mann zur Seite, begegnete dem leichten Kopfschütteln des Priesterjüngers und hielt inne. Sein Blick aber verriet, dass er sich keineswegs beruhigt hatte.

Nova sah zum Portal: eine aus Titaniumlegierung geschaffene Doppeltür, dichter als alles andere, was je von Menschenhand erschaffen worden war. Die Erbauer der Zuflucht hatten ganze Arbeit geleistet, als sie die Tempelräume planten. Nichts und niemand sollte die Jünger bei ihren Messen und Gottesdiensten stören.

Für einen Augenblick fragte sich Nova, ob die Tempelräume auch bei der völligen Zerstörung der Zuflucht noch intakt bleiben würden. Sie erschrak über ihren eigenen Gedanken. Ein feines Kribbeln lief ihr den Rücken hinunter und ein eisiger Schauer stellte ihre Nackenhaare auf.

Zwei weitere Suchende öffneten irritiert ihre Augen. Auch sie mussten den Alarm wahrgenommen haben – oder registrierten den schneller gewordenen Atem Prosperos. Ein Anflug von Panik trat in sein Gesicht, als er sah, dass weitere der Gläubigen ihr Gebet unterbrachen. Das war unerhört und noch nie in ihrer Gemeinschaft vorgekommen!

Obwohl Nova wusste, dass ihr eine schwere Bestrafung bevorstand, wollte sie sich kurz entschlossen erheben und zum Portal gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Doch einer der Suchenden kam ihr zuvor. Der Mann – seinen Namen kannte sie nicht, denn er war erst heute ihrer Gebetsgruppe zugeteilt worden – tapste barfuß zum Tor. Auch wenn er sich noch so sehr bemühte, leise zu sein, klangen seine Schritte dumpf im Tempelraum wider. Die Laute holten auch die letzten Meditierenden aus ihrer Trance.

Prosperos fahler Teint wich einem kräftigen Rot, während ihm die Augen vor Empörung beinahe überquollen.

»Allmächtiger Erlöser!«, entfuhr es ihm und im selben Moment schien er zu bemerken, dass es seine Worte waren, die die Andacht endgültig störten. Ein Sakrileg ohnegleichen, für das er sich wahrscheinlich heute Abend bei der Buße selbst geißeln würde.

Der Mann an der Tür hatte sein Ohr dicht an den Stahl gelegt und lauschte. Ein Raunen ging durch die anderen Anwesenden, zwei von ihnen wagten es sogar, miteinander zu sprechen, was Akolyth Prospero fast an den Rand des Wahnsinns trieb.

»Es ist der Alarm«, bestätigte der Mann am Portal Novas Vermutung.

»Was kann da passiert sein?«, fragte eine Frau neben Nova.

Nun sah sich der Akolyth genötigt, doch aufzustehen. Er hob beschwichtigend die Hände. »Suchende, bewahrt Ruhe!«

»Aber der Alarm …«, meldete sich nun Nova zu Wort und fing sich einen strafenden Blick Prosperos ein. Der füllige Mann strich sich verzweifelt durch das kaum mehr vorhandene dunkle Haar. Sein Blick irrte zum Abbild des Erlösers, als erhoffe er sich dringende Antworten von höherer Stelle. Ihm war anzusehen, dass er der Situation nicht gewachsen war. In erster Linie interessierte ihn nicht der Alarm, sondern die abrupte Unterbrechung ihrer Gebetsstunde, obwohl sie noch zwei Zyklen vor sich hatten.

Akolyth Prospero zupfte sich die gelbe Robe seines Amts zurecht und ging zum Schrein hinüber. Er murmelte leise Worte zum Holo des Erlösers und wandte sich dann zum Gebetskreis um. »Was immer draußen geschieht, wir sind nicht allein. Der Erlöser ist bei uns und wird uns beschützen. Wir sind hier sicher in seinen geheiligten Räumen, in seiner Obhut. Lasst uns ihm weiter huldigen und für seine Gnade beten.«

Der Mann an der Tür nickte bekräftigend und kehrte zu seinem angestammten Platz zurück. Ein Seufzen ging durch die Gruppe der anderen. Prosperos Worte hatten sie ermutigt. Selbst Nova entspannte sich ein wenig und begann automatisch wieder mit ihren Atemübungen, ohne jedoch die Augen zu schließen.

»Großer Erlöser!«, stieß jemand plötzlich hervor. Neun Augenpaare richteten auf den Schrein. Prospero sah verdutzt drein; erst als er den Blicken der anderen folgte, schnappte er erregt nach Luft, verdrehte die Augen und knickte in den Knien ein. Ohnmächtig schlug er auf dem Boden auf.

Nova erfasste die Bedeutung von dem, was geschehen war! Zweifelnd starrte sie in den Schrein, in dem nunmehr nur noch zwei Glimmerstäbe glühten.

Die holografische Büste des Erlösers war erloschen.


Tage wie dieser kündigten sich nicht an. Tage wie dieser geschahen einfach.

Unverhofft. Gnadenlos.

Roderick Sentenza fuhr mit schierem Unglauben hoch, als die Alarmsirenen durch das Schiff gellten. Vor nicht einmal drei Minuten hatte er sich ermattet auf seine Koje geworfen, nachdem die Ikarus zwei Einsätze direkt hintereinander geflogen war. Das Schicksal schien ihm keine Ruhe zu gönnen.

Schlaftrunken schwang er die Beine über den Rand seines Betts und wankte zum Sprechgerät der Bordkommunikation.

»Sentenza hier«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Was ist nun schon wieder los?«

»Wir empfangen einen Notruf, Captain«, meldete sich Arthur Trooid von der Brücke. »Ein automatisches Signal von …«

»Ich komme!«, unterbrach Sentenza den Droiden. Der Chef der Rettungsabteilung knöpfte kurz seine Uniformjacke zu. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich vor dem Schlafengehen auszuziehen.

Wozu auch?, raunte ihm die höhnische Stimme seines Unterbewusstseins zu.

Müde rieb sich Sentenza das Gesicht und verließ sein Quartier. Auf dem Weg zur Brücke rekapitulierte er die letzte Woche. Soweit er sich zurückerinnern konnte, war es die schlimmste seines Lebens gewesen. Selbst der Dienst in der Raummarine des Multimperiums war dagegen ein Zuckerschlecken.

Vor fünf Tagen war die Ikarus von Vortex Outpost zu einem Bergungseinsatz ausgerückt. Die Crew musste die Überlebenden eines Raumschiffsabsturzes bergen. Die Unglücklichen waren auf einem Asteroiden notgelandet.

Fünf Tage, sinnierte Sentenza und bog in den Gang ein, der direkt zum Gehirn seines Schiffs führte. Die Ikarus hatte die Geretteten auf einem nahen, bewohnten Planeten des Freien Raumcorps abgesetzt und war im Begriff gewesen, wieder nach Vortex Outpost zurückzukehren, als sie gebeten wurden, in einer Kolonie das Strahlungsleck eines solaren Kraftwerks zu reparieren. Danach musste ein Raumer mit Treibstoff versorgt, anschließend medizinische Versorgungsgüter nach Aurelius IV transportiert werden. Sentenza erinnerte sich nicht mehr an jedes Detail, glaubte aber, dass sie innerhalb der letzten fünf Tage acht Einzeleinsätze geflogen waren, ohne zwischendurch auf Vortex Outpost eine Pause gemacht zu haben.

Gott, nicht mal die Anzahl der Missionen bekomme ich noch auf die Reihe …

Die Crew war förmlich am Ende und hatte die Grenzen ihrer Belastbarkeit längst überschritten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Erste von ihnen zusammenbrach.

Sentenza betrat die Kommandozentrale der Ikarus. Wie gewohnt saß Trooid am Steuer und übernahm gleichzeitig die Navigation. Thorpa behielt die Sensoren im Auge. Deutlich waren diesem die Strapazen anzumerken. Seine Bewegungen kamen schleppend und die astähnlichen Extremitäten hingen träge an seinem Leib herunter.

Die dienstbeflissene Chefingenieurin des Rettungsteams war bereits vor ihrem Captain auf der Brücke eingetroffen.

Als sie ihn sah, zwinkerte sie ihm zu.

Sentenza nickte in Sonjas Richtung. Ihr Anblick ließ ihn für einen Moment wieder aufleben, auch wenn ihre Züge kaum mehr von Lebendigkeit zeugten. DiMersi war ebenso erschöpft wie er. Dunkle Ringe hatten sich unter ihre Augen gelegt und ihre Haut war so blass, dass sie fast heller als ihr weißes Haar wirkte.

Roderick Sentenza ließ sich in seinen Sessel fallen. Kurz drohten ihm einfach die Augen zuzufallen, doch er zwang sich, wach zu bleiben. Er fragte sich, wie lange er dies noch schaffen würde, wann sein Kreislauf versagte und er einfach im Stehen einschlief.

»Okay, was haben wir, Trooid?«

»Automatisiertes Standardnotrufsignal«, teilte der Droid mit, ohne seinen Blick von den Instrumenten zu nehmen. »Entfernung etwa drei Lichtjahre.«

»Gibt es kein anderes Schiff in der Nähe, das helfen könnte?«, fragte Sentenza, obwohl er glaubte, die Antwort zu erahnen. Wenn sie nicht bald eine Pause einlegten, würden sich zwangsläufig Fehler in ihr Handeln einschleichen – Fehler, die sowohl für sie, als auch für die zu Rettenden schlimme Folgen haben konnten.

»Negativ.«

Sentenzas Mundwinkel sanken enttäuscht nach unten. Er warf Sonja DiMersi einen Hilfe suchenden Blick zu, doch die Ingenieurin quittierte dies nur mit einem Schulterzucken.

»Wo ist Weenderveen?«

»In seinem Quartier«, antwortete Thorpa ungerührt.

»Und er hat nicht auf den Alarm reagiert?«, wunderte sich Sentenza.

»Ich glaube, er brauchte vornehmlich das, von dem wir alle im Moment zu wenig bekommen«, sagte der Pentakka mit müder Stimme. »Schlaf.«

Wie wahr, wie wahr, dachte der Captain. Na schön, soll er schlafen …

»Und er hatte wohl die Nase voll von den Turteltäubchen, wie er sich äußerte«, fügte Thorpa hinzu.

Sentenza seufzte. Er und Sonja hatten es den anderen in den letzten zwei Wochen sicherlich nicht leicht gemacht. Nachdem sie auf Seer’Tak City zusammengefunden hatten, waren sie unzertrennlich geworden und hatten keinen Moment ausgelassen, um nicht ihrer Liebe zueinander zu frönen – sehr zum Leidwesen der restlichen Besatzung. Vielleicht waren ihre Gefühle auch nur so intensiv, um die Trauer fortzuspülen, die in ihnen allen saß. Immerhin hatte ein Crewmitglied sein Leben gelassen. Sentenza gab zu, dass er bisher nicht viel von An’ta gehalten hatte und er einfach zu wenig über sie wusste, um Sympathien für die Grey zu empfinden. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass jemand aus der Besatzung unter seinem Kommando gestorben war. Und ohne An’tas Aufopferung wäre wahrscheinlich Sonja jetzt nicht mehr am Leben.

Sentenza wischte die quälenden Gedanken beiseite und drückte die Taste des Interkoms auf seiner Sessellehne. »Dr. Anande, wie geht es Ihren beiden Patienten?«

Anande antwortete nicht sofort. Ein leises Stöhnen war zu vernehmen, dann ein Räuspern. Die Stimme des Doktors hörte sich verschlafen an.

»Alles bestens. Die Wunden sind versorgt und werden in einigen Wochen wieder verheilt sein. Ich habe beiden ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie schlafen jetzt … etwas, was ich auch gerne tun würde.« Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Nuscheln, doch Captain Sentenza hatte sie sehr wohl gehört. Er konnte es dem Doc nicht verübeln und wäre am liebsten selbst nach Vortex Outpost zurückgekehrt. Aber ihr Job war es zu helfen. Und solange sie noch stehen konnten, würden sie ihn ausüben.

Sentenza hatte die beiden Patienten ihrer letzten Rettungsmission nicht vergessen. Der Vorfall lag erst wenige Stunden zurück, auch wenn es dem Captain schien, als seien die beiden Opfer schon seit Tagen an Bord. Es handelte sich um einen Priester und seinen Adepten, die im Auftrag der Amtskirche von St. Salusa unterwegs waren, um neu entdeckten Kolonien den galaktischen Glauben zu bringen. Ihr Schiff war von Piraten angegriffen und schwer beschädigt worden. Die Ikarus traf gerade zur rechten Zeit ein, um die Räuber am Entern des Raumers zu hindern. Sie waren auf Fluchtkurs gegangen, als die Ikarus aus dem Hyperraum fiel. Dennoch kam für den Piloten, seinen zweiten Mann und den Navigator des Missionsbootes jedwede Hilfe zu spät. Nur der Priester und sein Schüler konnten lebend aus dem Wrack geborgen werden.

»Na schön, Trooid, aktivieren Sie den Hyperantrieb und nehmen Sie Kurs auf das Notsignal.«

»Aye, aye, Sir!«

Sentenza lehnte sich in seinem Sessel zurück. Sie würden drei Stunden brauchen, um die Distanz zum havarierten Schiff zu überbrücken.

Drei Stunden …

Ihm fielen die Lider zu. Noch in derselben Sekunde schreckte er wieder hoch und blickte sich schuldbewusst um. Sonja und Thorpa schauten auf und selbst Trooid schwang in seinem Sessel herum, als er das plötzliche und heftige Einatmen des Captains vernahm, der aus dem Sekundenschlaf hochschreckte.

»Captain, ich schlage vor, Sie, Sonja und Thorpa nutzen unseren Hyperflug, um sich ein wenig auszuruhen. Falls irgendetwas geschehen sollte, dem ich nicht gewachsen bin, kann ich Sie immer noch wecken.«

Thorpa wartete die Zustimmung Sentenzas erst gar nicht ab. Er hastete so schnell von der Brücke, dass er am Ausgang fast stolperte. Mit seinen Ästen raschelnd entfernte er sich.

Roderick stand auf, nickte Trooid dankbar zu und zog sich ebenfalls zurück. Er war nicht überrascht, als der Türsummer seiner Kabine erklang, kaum dass er sich hingelegt hatte.

»Noch ein Plätzchen frei?«, fragte Sonja und trat ohne Aufforderung ins Quartier.

Sentenza hörte die Frage kaum noch. Er machte sich auch nicht die Mühe, noch einmal die Augen zu öffnen. Der Schlaf übermannte ihn sprichwörtlich.


»Es ist ihre verdammte Pflicht, mir zu helfen!«

Das Kreischen dröhnte schrill aus den Lautsprechern des Kom-Systems, während sich die Hautfarbe des Anrufers von einem zarten Rosa in ein dunkles Violett gewandelt hatte.

Der Mann war zweifelsohne Borusianer. Der Teint und der Stachelkamm auf seinem haarlosen Kopf sprachen dafür. Die roten, anscheinend pupillenlosen Augen des Aufgebrachten funkelten drohend, doch Captain Milton Losian ließ sich dadurch nicht einschüchtern.

»Oder?«, schrie der andere und wartete vergeblich auf eine Antwort.

Losian faltete die Hände ineinander und wartete ab, bis der Borusianer seine Schimpfkanonade beendet hatte und nicht mehr wusste, welche eher harmlose Unflätigkeit er dem anderen noch entgegenwerfen konnte.

»Sind Sie jetzt fertig?«, fragte der ehemalige Corpscaptain.

Obwohl Losian längst pensioniert war, sein Alter die sechzig weit überschritten hatte, dachte er nicht daran, sich irgendwo auf einen paradiesischen Planeten zurückzuziehen, um seinen Lebensabend zu genießen. Er hatte Sally McLennane mit Rat und Tat zur Seite gestanden, sowohl während ihrer Amtszeit im Corpsdirektorium als auch während ihres Exils auf Vortex Outpost. Dass er nun immer noch im Outer Rim saß und Sally längst in ihr früheres Amt zurückgekehrt war, lag vornehmlich an den Aufgaben der Rettungsabteilung. Losian hatte für Sentenza und seine Crew Sympathien entwickelt und sich entschlossen, die von Sally gegründete Einrichtung zu unterstützen. Er hatte sich nie Illusionen darüber gemacht, dass er die Leitung übernehmen könnte – daran dachte er nicht einmal im Traum. Er war zu alt für diesen Posten. Aber beratende Funktionen konnte er allemal erfüllen – und er sah in der Rettungsabteilung eine Zukunft, die sich zu unterstützen lohnte.

»Ich? Ich fange gerade erst an!«, keifte der Borusianer.

»Unser Rettungskreuzer befindet sich auf einer Mission und ist derzeit nicht verfügbar«, wiederholte Losian die Fakten, die er dem Borusianer bereits vor Augen gehalten hatte.

»Das ist mir egal«, fauchte der andere. »Sie haben eine Rettungsabteilung und müssen mich retten!«

»Dann warten Sie eben so lange, bis unser Team wieder hier ist«, folgerte Losian und schmunzelte in sich hinein. Eben erst hatte er über Hyperkanal Trooids Meldung hereinbekommen, dass die Ikarus einem weiteren Notsignal nachgegangen war und sobald nicht zurückkommen konnte.

Verdammt, sie sind schon fast eine Woche da draußen, dachte er bei sich, während der Borusianer wieder einen Schwall von Verwünschungen und Flüchen losließ, die den Captain in keiner Weise berührten.

»Sie sind sich darüber im Klaren, dass Rettungseinsätze kostenpflichtig sind?«, erkundigte sich Losian wie beiläufig.

Der Borusianer verstummte jäh. Seine Gesichtsfarbe wechselte schlagartig von Tiefviolett zu einem blassen Pink.

»Wie bitte?«, ließ er leise vernehmen.

»Welchen Teil von kostenpflichtig haben Sie nicht verstanden?«

»Aber … das ist doch die Höhe!«

»Sehen Sie, unsere Leute müssen bezahlt werden, die Unterkünfte und Hangars auf dieser Station müssen unterhalten werden. Reparaturen, Treibstoff, Ersatzteile – all dies kostet Geld. Zwar wird ein Großteil der Finanzen durch die Corpsdirektion getragen, doch dies auch nur so lange, bis die Rettungsabteilung auf eigenen Füßen stehen kann. Nach den ersten Einsätzen haben wir einen Gebührenkatalog eingeführt. Also, sind Sie bereit, für die Kosten Ihrer Rettung aufzukommen?«

Losians Ausführungen entsprachen der Wahrheit, wenn auch nur teilweise. Ein großer der Teil der Rettungsabteilung wurde durch dem Corps angeschlossene Konzerne und Organisationen unterstützt. Damit sicherten sie sich die Bergung eigener Schiffe zu. Dennoch dachte das Freie Raumcorps stets profitorientiert. Warum sollten sie für ihre Dienste nicht ein Entgelt verlangen? Der Gebührenkatalog, den Losian angeblich konsultiert hatte, war natürlich noch rein fiktiv, aber je länger er sich mit dem Gedanken befasste, desto mehr gefiel er ihm.

»Äh … ich … wie hoch … was müsste ich denn …?«

Losian beugte sich über ein Tischterminal und tippte einige Zahlen ein. Nichtssagende Zahlen, doch für den Borusianer musste es aussehen, als stelle er komplizierte Kalkulationen an. »Nun«, meinte er, »da hätten wir die Anforderung eines Ersatzraumers, das Gehalt des Piloten, der nicht zur Rettungsabteilung gehört, der Flug bis zum Sprungtor, Leerflug zurück zur Station, Ausfallzeit von Schiff und Pilot, Kosten für den Treibstoff … mit dreihundert Credits sind Sie dabei.«

Der Borusianer schluckte. Seine Lider flatterten, ein Zeichen für seine Nervosität.

»Dreihundert?«

»Plus fünf Prozent aller Umsätze, die Sie auf Vortex Outpost tätigen«, ergänzte Losian schadenfroh.

»Ich … ich … also schön«, stotterte der Borusianer.

»Haben Sie eine Onlineverbindung zu Ihrer Bank?«

»Ob ich was habe?«

»Wir bitten Sie um Vorkasse.«

»Tun Sie das auch, wenn mein Schiff kurz vor der Explosion steht?«

In deinem Fall würde ich die Frage sogar mit Ja beantworten, dachte Losian.

Die Borusianer waren für ihre Hinterhältigkeit bekannt. Es war gut möglich, dass man ihm den Treibstoff brachte und er sich dann einfach durch das Sprungtor absetzte, ohne zu zahlen. Aber wer dumm genug war, ohne genügend Treibstoff aufzubrechen, der musste halt für seine Fehler aufkommen.

Vor sich hin grummelnd, veranlasste der Borusianer eine Eilüberweisung auf eines der Corpskonten und verlangte dann barsch zu wissen, wann er mit dem Treibstoff rechnen könnte.

Milton Losian würgte das Gespräch ab und stellte eine interne Verbindung zur Stationsleitung her. Das Gesicht Dane Hellermans erschien auf dem Schirm.

»Captain?«

»Ich brauche Ihre Hilfe, Commander«, sagte Losian ohne Umschweife. »Die Ikarus ist noch immer tief draußen im Raum und wir haben bereits einige Anfragen für Hilfsleistungen innerhalb des Stationsbereiches.«

Hellerman grinste, als ahne er, worauf Losian hinauswollte.

»Ist das so lustig?«, fragte der Captain.

»Ich habe mich schon gewundert, warum Sie nicht eher an uns herangetreten sind«, gestand Hellerman. »Sie brauchen ein Schiff.«

»Und einen Piloten. Lieutenant Ash hat schon für uns gearbeitet. Können Sie ihn bis zur Rückkehr der Ikarus zusammen mit einem Versorgungsshuttle freistellen?«

»Solange die Umlagen für den Spritverbrauch des Shuttles auf Ihre Kosten gehen … ja.«

Losian nickte. »Danke, Commander.«

Nachdem er den Borusianer beruhigt, Lieutenant Ash kurz informiert und eingewiesen hatte, lehnte sich Captain Losian im Sessel von Sentenzas Büro zurück und starrte an die Decke. So konnte es nicht weitergehen. Die Ikarus und das Schiff der Pronth-Hegemonie waren nicht in der Lage, alle Rettungseinsätze allein auszuführen. Von Tag zu Tag strömten mehr Schiffe denn je aus dem Sprungtor und flogen Vortex Outpost an. Die Arbeit wuchs ihnen langsam über den Kopf. Vielleicht war es ratsam, sich bald Gedanken über eine zweite Schicht zu machen.

Oder ein zweites Schiff, sagte sich Losian im Stillen. Er würde diese Idee bei der nächsten Unterhaltung mit Sally zur Sprache bringen. Der bisherige Erfolg der Rettungsabteilung rechtfertigte eine solche Maßnahme – dessen war er sich sicher.


Das Summen riss ihn unsanft aus dem tiefen Schlummer, der seinetwegen hätte ewig währen können.

Sentenza öffnete die Augen, kniff sie aber sofort wieder zusammen, als er in das Leselicht über seiner Koje blickte.

Trooid!

Der Droid schien keine Rücksicht zu kennen. Tastend suchte Sentenza nach dem Schalter, fand ihn und dimmte das Leselicht auf ein erträgliches Maß herunter. Stöhnend richtete er sich halb im Bett auf und stellt fest, dass Sonja auf seiner Brust lag. Im Gegensatz zu ihm hatte sie es noch geschafft, sich ihrer Uniform zu entledigen und die Einzelstücke kreuz und quer in seiner Kabine zu verteilen. Sie war nackt.

Sentenza schob sie sanft beiseite und entlockte ihr ein leises Brummen. Sie rekelte sich kurz, schlief aber weiter, das aufdringliche Summen ignorierend.

Gähnend schleppte sich Roderick Sentenza zum Interkom und schaltete zur Zentrale durch.

»Sagen Sie um Gottes willen nicht, dass die drei Stunden schon vorüber sind!«

»Tut mir leid, Captain«, antwortete Trooids Stimme aus dem Lautsprecher. »Wir erreichen die Zielkoordinaten in einer Viertelstunde. Ich dachte, Sie wollen sich vorher vielleicht noch ein wenig frisch machen.«

Sentenza ließ die Sprechtaste los und schlurfte nach nebenan in die Duschkabine. Auf dem Weg fiel sein Blick noch einmal auf Sonja. Die Bettdecke war von ihrem Körper gerutscht und präsentierte sie so, wie die Natur sie geschaffen hatte: schlank, athletisch gebaut, aber mit weiblichen Vorzügen an genau den richtigen Stellen, die sich ein Mann wünschte. Im Dienst waren ihm ihre weiblichen Attribute kaum aufgefallen, da sie vornehmlich die weit geschnittene Borduniform trug, die geschickt ihre Formen verbarg.

Der Captain hielt inne und drehte sich zur Koje um. Er beugte sich über Sonja und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie lächelte im Schlaf. Sentenza musterte die unzähligen Krusten und Narben, die von der Folter auf Seer’Tak City herrührten. Ein Teil von ihnen würde vollständig verheilen, andere ihr bis ans Lebensende erhalten bleiben.

Sie ist schön, dachte Sentenza und starrte seine neue Gefährtin verträumt an. Hier und da stahlen sich ein paar Falten in die Züge der Vierzigjährigen, doch dies unterstrich ihre Attraktivität eher. Sie hatte ihre schneeweißen Haare, die sie seit dem Oremi-Unglück raspelkurz getragen hatte, wieder nachwachsen lassen. Eigentlich erst, seit sie mit Sentenza zusammen war.

Er löste sich von ihrem Anblick, doch da schlug sie die Augen auf und blinzelte.

»Wsch ischt …?«, nuschelte sie im Halbschlaf.

»Wir müssen raus«, sagte er.

»Schon?«

»Sieht so aus. Ich gehe duschen.«

»Warte nicht auf mich.«

Sentenza lächelte und wandte sich ab. Als er nach zehn Minuten aus der Kabine trat und das eiskalte Wasser an seinem nackten Körper heruntertropfte, fühlte er sich kein bisschen erfrischt. Er hätte sich sofort wieder ins Bett legen können. Zu seiner Überraschung war Sonja fort. Er sah auf die Uhr. Sie würden jeden Moment aus dem Hyperraum treten. Besser, er zog sich an.

Auf der Brücke saß Arthur Trooid unverändert am Steuerpult, als Roderick Sentenza sie betrat. Er beneidete den Droiden fast für seine Fähigkeit, keinen Schlaf zu benötigen. Sonja war ebenfalls anwesend. Sie trug eine frische Uniform und duftete nach Jasmin. Sentenza trat näher an sie heran, als es für einen vorgesetzten Offizier schicklich gewesen wäre.

»Du brauchst lange zum Duschen«, grinste sie ihn an.

»Ich hatte eigentlich auf dich gewartet«, erwiderte Sentenza.

»Männer!«, konterte sie. »Und da hieß es früher, Frauen benötigen so lange für ihre Toilette.«

In diesem Moment fuhr das Schott zur Zentrale auf und Thorpa und Darius Weenderveen betraten die Brücke. Ihre Blicke fielen sofort auf den Captain und den Chief, die dicht beieinanderstanden und augenscheinlich Vertraulichkeiten austauschten.

Thorpa räusperte sich überlaut und raschelte zur Unterstreichung mit seinen Ästen. Weenderveen indes rollte die Augen und schüttelte demonstrativ den Kopf. Sentenza glaubte, ein Gemurmel zu vernehmen, das sich anhörte, wie: »Ich dachte, mit vierzig knutscht man nicht mehr wie ein liebeskranker Teenager herum.«

»Austritt aus dem Hyperraum in fünf Sekunden«, verkündete Trooid laut.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Mr. Weenderveen«, versetzte Sentenza, während er sich von Sonja löste und in den Kommandosessel fallen ließ.

Mit eingeschnappter Miene stellte sich Darius vor die Kontrollen und schien die Frage des Captains zu ignorieren. Sentenza hatte eigentlich noch anfügen wollen, dass das erneute Zusammentreffen mit Jason Knight seine Gepflogenheiten weiter verschlechtert und sein Ruf als Dirty Darius schon corpsweite Ausmaße angenommen hatte. Doch der Gedanke an den Weltraumhalunken Knight und seine bezaubernde Begleiterin Shilla versetzten Roderick Sentenza einen Stich in der Brust. Die beiden waren mit ihrem Schiff Celestine in der Ringsonne der Seer’Tak-Anomalie verschollen.

Verschollen, dachte Sentenza und schalt sich im selben Augenblick für seine Wortwahl. Sie sind wahrscheinlich tot.

»Austritt!«

Die Schleier des Hyperraums verzogen sich vor den Sichtschirmen und gaben den Ausblick auf ein Trümmerfeld frei. Eine unüberschaubare Anzahl an Asteroiden trieb vor dem schwarzen Hintergrund des Alls.

»Gewöhnen Sie sich bitte an, mir vorher Bescheid zu sagen, wenn wir geradewegs in ein Asteroidenfeld fliegen, Trooid«, brummte Sentenza. »Notsignal lokalisieren.«

»Kommt direkt aus dem Feld, Captain«, teilte Weenderveen kurz darauf mit. »Entfernung eintausendzweihundert. Gebe Koordinaten an die Steuerkonsole durch.«

»Kann man schon sehen, was es ist?«, fragte Sentenza.

»Scheint eine Fluchtkapsel zu sein«, vermutete Weenderveen.

»Funkverbindung?«

»Kein Kontakt.«

Sentenza seufzte. Er verspürte nicht die geringste Lust, am Ende dieser aufreibenden Woche noch mit einem Felsbrocken zusammenzustoßen. Doch sein Vertrauen in die intelligente Steuerung der Ikarus II war groß. Bisher hatten nur Trooid und An’ta etwas über die Modifikationen, die Sentenza an dem neuen Schiff vorgenommen hatte, herausgefunden. Sie wussten zwar nicht, was er getan hatte, hatten aber akzeptiert, dass er sich bisher ausschwieg. An’ta konnte das Geheimnis ohnehin nicht mehr preisgeben.

Ein Kloß steckte in Sentenzas Kehle, als er abermals an die Grey denken musste. Erst auf ihrer letzten Mission bei Seer’Tak City waren sie sich ein wenig nähergekommen, hatte er erstmals den Panzer aufbrechen können, den sie um ihre Persönlichkeit gelegt hatte – und dann war sie gestorben.

Zu früh!, dachte Roderick betrübt. Zu früh …

Der Captain atmete tief durch. Er musste unbedingt die anderen über die Protomasse einweihen. Sie waren seine Crew und hatten ein Recht darauf zu erfahren, was er mit dem Schiffscomputer angestellt hatte.

»Trooid, nehmen Sie Kurs auf die Fluchtkapsel«, ordnete Sentenza ruhig an. »Und denken Sie an die Manöver, die Sie mit der neuen Ikarus schon bewältigt haben, wenn Sie uns dort hindurchmanövrieren.«

»Aye, Sir!«, bestätigte der Droid und ließ damit keinen Zweifel aufkommen, dass er Sentenzas Anspielung auf die intelligente Steuerung verstanden hatte.

Auf dem Hauptschirm huschten die Felsbrocken gefährlich nahe heran. Thorpa duckte sich instinktiv, als einer der Asteroiden mit der Ikarus zu kollidieren schien, doch nachdem der Pentakka feststellte, dass er der Täuschung der Bildschirmvergrößerung aufgesessen war, schaute er peinlich berührt in die Runde. Aber niemand hatte seine Gesten mitbekommen.

Trooid brachte den Kreuzer mit Vollschub in das Feld hinein. Selbst für Sentenzas Geschmack waren sie viel zu schnell. Er traute dem Droiden eine Menge zu, aber auch er würde irgendwann danebenliegen und musste sich physikalischen Gesetzen beugen. Bei der Geschwindigkeit war es nur eine Frage der Zeit, bis sie mit einem Brocken zusammenstießen. Trooid behielt unbeirrbar das Tempo bei. Er überließ sie der intelligenten Steuerung der Ikarus, die bereits zweimal ihr Können unter Beweis gestellt hatte. Das Schiff schützte sich quasi selbst.

Dennoch würde die Steuerung nicht allen Asteroiden ausweichen können, zumindest nicht den Kleinstsplittern, die zwischen den großen Brocken umherschwirrten wie ein Schwarm lästiger Insekten.

»Schutzschilde!«, befahl Sentenza.

Sonja bestätigte nickend und sofort leuchtete eine entsprechende schematische Darstellung auf den taktischen Displays auf. Die Anweisung kam keine Sekunde zu früh. Kurz darauf wurden erste Treffer von faust- bis fußballgroßen Trümmerstücken angezeigt. Die Legierung der Außenhülle des Schiffs hätte die meisten mühelos abprallen lassen, doch einem Dauerbeschuss würde auch sie irgendwann nachgeben.

Gebannt verfolgte Roderick Sentenza die Route der Ikarus auf der Kursdarstellung, blickte hin und wieder auf zum Hauptschirm und nickte anerkennend bei den gekonnten Ausweichmanövern. Er musste unbedingt nachher mit Trooid darüber sprechen, welche Flugkorrekturen der Droid und welche das Schiff selbst vorgenommen hatte.

»Ziel müsste gleich in Sichtweite sein«, sagte Weenderveen. »Wenn uns nicht vorher einer dieser Klumpen pulverisiert.«

»Vertrauen Sie unserem Piloten, Darius«, meinte Sonja. »Immerhin haben Sie ihn gebaut.«

»Ebendas beunruhigt mich«, erwiderte Weenderveen, allerdings nicht ohne die Mundwinkel zu einem breiten Grinsen zu verziehen. Trooid konnte dies nicht sehen und gab auch mit keiner Geste zu verstehen, ob der Scherz seines Schöpfers ihn beleidigt hatte oder nicht.

Die Darstellung auf dem Hauptschirm wurde vergrößert. Zwischen den dahintreibenden Asteroiden erkannte Roderick Sentenza etwas Metallisches, das sich deutlich von den Felsbrocken abhob. Das Objekt wurde bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit rasch größer und füllte nach wenigen Augenblicken den gesamten Schirm aus.

»Eigenartige Form für eine Fluchtkapsel«, sinnierte Sonja.

Sie sahen auf ein sternförmiges Objekt mit einem einzigen Nottriebwerk. Aussichtsluken oder eine Frontsichtscheibe waren nicht zu erkennen. Ebenso ungewöhnlich wie die Form war auch der Anstrich. Die Rettungskapsel glänzte in einem leuchtenden Gold. Trotz ihres Raumflugs, der unweigerlich seine Spuren am Material der Außenhaut hinterlassen hatte, schien die Farbe kaum stumpf geworden zu sein, geradezu als leuchte das sternförmige Design von innen heraus.

»Kann es sein, dass da jemand Wert auf einen strahlenden Abgang gelegt hat?«, wunderte sich Darius Weenderveen.

»Eher auf Imagepflege«, pflichtete Sonja bei. »Ich möchte nicht wissen, wie das Mutterschiff aussieht.«

»Immer noch keinen Kontakt?«, fragte Sentenza dazwischen.

»Negativ«, gab Weenderveen zurück.

»Wir sind in drei Minuten in Andockreichweite«, teilte Trooid mit. »Soll ich das Manöver einleiten?«

»Wir holen die Kapsel mit dem Traktorstrahl in Hangar eins herein. Was sagen die Sensoren?«

»Ein Lebenszeichen wird angezeigt«, verkündete Thorpa. »Humanoid mit schwachem Puls. Keine Kontamination der Außenhülle. Wir können die Kapsel gefahrlos bergen.«

»Manöver nach eigenem Ermessen, Trooid. Sonja und Thorpa, mit mir in den Frachtraum. Weenderveen, zur Krankenstation. Sie behalten dort unsere beiden Patienten im Auge und schicken den Doc ebenfalls zum Hangar.«

Die anderen bestätigten kurz. Danach verließen sie die Brücke. Als sie den Hangar erreichten, gab es noch keine Freigabe zum Betreten. Soeben wurde die Kapsel mit dem Fangstrahl hereinbefördert. Erst als der Druckausgleich wiederhergestellt und Frischluft in den Hangarraum gepumpt worden war, ließen sich die Schotten öffnen.

Sentenza schritt voran. Ihm folgten Sonja und Thorpa. Das Protokoll des Corps verlangte, dass zumindest einer bei der Bergung eines unidentifizierten Objekts bewaffnet war. Wie um Sentenza daran zu erinnern, zog Sonja den Strahler, den sie auf dem Weg an sich genommen hatte, und hielt ihn schussbereit in Richtung der Kapsel.

Das geborgene Fluchtvehikel parkte neben einem der beiden Beiboote der Ikarus. Die sternförmige Kapsel maß vielleicht drei Meter im Durchmesser. Aber niemand machte Anstalten, das Fahrzeug zu verlassen. Seltsam … Sentenza beschlich ein ungutes Gefühl, als er das sternförmige Objekt betrachtete. Er wusste nicht, woher die Nervosität kam. Möglicherweise war es eine Spur innerer Eingebung und etwas von angeborenem Instinkt, der ihn am liebsten das Ding wieder in den Weltraum hinausschleudern lassen wollte. Doch dafür war es jetzt zu spät.

Doktor Jovian Anande betrat den Hangar und prüfte nochmals mit einem medizinischen Handscanner die Außenhülle der Kapsel. Nach einer halben Minute schüttelte er leicht den Kopf und verkündete: »Keine bekannten Viren.«

»In Ordnung, an die Arbeit!«, befahl Sentenza.

Während Sonja weiterhin sicherte, öffneten Thorpa und der Captain die magnetische Versiegelung. Es gab an der Ausstiegsluke ein elektronisches Eingabefeld, das auf die Standardcodes des Freien Raumcorps ansprach. Zischend schob sich das Luk beiseite und gab den Blick auf den engen Innenraum der Kapsel frei. Sie bot gerade einmal Platz für eine Person und der Mann, der in dem unbequemen Schalensessel lag, hatte sich bei seiner Größe förmlich in den Raum zwängen müssen.

Anande bugsierte die Antigravtrage zur Öffnung, während Sentenza und Thorpa den Mann aus dem Sitz hievten und anschließend behutsam auf die Schwebe legten. Sonja steckte den Laser weg, da keine unmittelbare Gefahr drohte.

Der Fremde lag wie schlafend da, doch sein recht junges Gesicht war zu einer hässlichen Grimasse verzerrt, als wäre ihm vor seiner Bewusstlosigkeit etwas Schreckliches zugestoßen. Er trug eine weite, graue Robe, die ihm bis zu den Knien reichte, dazu gleichfarbige Stoffhosen und leichte Halbstiefel. Seine Haut war bleich wie bei jemandem, der schon lange kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte. Der Schädel des Mannes war kahl rasiert.

»Was fehlt ihm?«, fragte Sentenza, als Anande mit dem medizinischen Scanner die Vitalfunktionen des Bewusstlosen untersuchte.

»Sauerstoffmangel und traumatische Zustände«, sagte der Doktor. »Die Lebenserhaltung in der Kapsel konnte die Luft nicht mehr regenerieren. Offenbar ist das Fluchtfahrzeug nur für ein paar Stunden Flug ausgelegt – und diese Zeit ist überschritten worden.«

»Grundgütiges Raumcorps!«, fluchte Sonja. »Wer konstruiert solche Rettungskapseln? Die müssen doch damit rechnen, dass man manchmal Tage oder sogar Wochen im freien Raum treibt, ehe man gerettet werden kann.«

»Wenn überhaupt«, gab Sentenza zu denken. »Eine Rettungskapsel zu finden, gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Aufgrund ihrer Größe verfügen sie oft nicht über leistungsstarke Sender, um Rettungsschiffe über Lichtjahre hinweg zu erreichen. Mich wundert, dass diese Kapsel mit einem Hypersender ausgestattet ist.«

»Umso erstaunlicher ist, dass man den Flüchtigen nur eine kurze Lebensspanne einräumt«, fügte Thorpa hinzu und raschelte erregt mit seinen armartigen Astgeflechten. »Jetzt bin auch ich gespannt, wie das Mutterschiff aussieht.«

Anande hantierte mit der Fernsteuerung der Schwebeliege und ließ diese anfahren. Bei dem leichten Ruck bewegte sich der Bewusstlose plötzlich. Er wurde nicht wach, schlug aber um sich und murmelte kaum verständliche Worte, während Speichel aus seinen Mundwinkeln troff.

Sentenza bedeutete Anande, die Trage anzuhalten. Dann beugte er sich dicht über die Lippen des Patienten und versuchte, etwas von dem traumatischen Gebrabbel zu verstehen.

Doch der Fremde stieß nur noch ein einziges Wort aus, ehe er erneut in die Bewusstlosigkeit abdriftete. Dieses aber war auch für die anderen deutlich genug zu verstehen.

»Zuflucht«, sagte er und sank kraftlos in sich zusammen.


Die Luft war stickig geworden, schmeckte verbraucht. Gleichzeitig war die Temperatur im Tempelraum um einige Grad angestiegen. Beides sichere Anzeichen dafür, dass die Lebenserhaltung in dem Bereich versagte. Die Wärme zeigte Nova jedoch auch, dass nur in ihrem Bereich die technischen Einrichtungen versagten. Wären die Hauptmaschinen ausgefallen, hätte die Temperatur langsam, aber sicher abfallen müssen.

Nova beugte sich über den immer noch ohnmächtigen Akolythen. Er hatte sich beim Sturz den Kopf an einer Kante des Schreins aufgeschlagen und blutete heftig aus einer unschönen Wunde. Die Suchenden hatten sich kleine Stoffbahnen aus ihren grauen Gewändern gerissen und diese als Ersatzverband um Prosperos Stirn gebunden. Nova glaubte nicht, dass sie die Blutung damit gestoppt hatten, denn teilweise schimmerte es schon rot durch den Stoff hindurch. Der Akolyth musste schnellstmöglich zur Medostation gebracht werden. Vermutlich hatte er auch eine starke Gehirnerschütterung.

»Er wird schon wieder.«

Nova wandte den Blick und sah direkt in die Augen des Mannes, der sich als Erster den Anordnungen Prosperos widersetzt hatte und zur Tür gestürmt war. Jener Mann, den Nova heute das erste Mal in ihrer Gebetsgruppe gesehen hatte und dessen Namen sie nicht kannte.

»Sagst du das, um dich selbst zu beruhigen?«, fragte sie und gebrauchte die in der Gemeinde übliche Vertraulichkeit zwischen den Jüngern.

Der Mann zog die Brauen hoch. »So schlimm sieht es nicht aus. Nur eine Platzwunde.«

»Es ist mehr als eine Platzwunde«, widersprach Nova und fügte mit schärferem Ton als gewollt hinzu: »Das weißt du!«

Beunruhigt sah der Mann über seine Schulter zurück. Er entspannte sich sichtlich, als er keinen der anderen Suchenden in der Nähe gewahrte. Einige waren stur auf ihren Gebetsplätzen sitzen geblieben, während der Rest an dem Portal stand und versuchte, das Schott zu öffnen. Ohne Energie ein hoffnungsloses Unterfangen.

»Ich kann dir nichts vormachen, was?«, sagte der Mann geradeheraus. Im schwachen Schein der Glimmerstäbe, die über eine autonome Energieversorgung verfügten, wirkte sein Gesicht wie in Stein gemeißelt. Wie alle Suchenden war er barhäuptig. Erst den Adepten war es gestattet, wieder das Haar wachsen zu lassen. In seinen grauen Augen lag ein Ausdruck von Zuversicht. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Nova ihn als attraktiv bezeichnet, doch in ihrer jetzigen Situation war er nur ein Mitleidender.

»Ich wollte nur keine Panik verursachen«, sagte er.

Nova nickte. Das war das, was sie jetzt am wenigsten gebrauchen konnten. Sie mussten warten, bis jemand von außen das Portal gewaltsam öffnete oder die Energie in diesem Sektor der Zuflucht wiederhergestellt werden konnte.

»Mein Name ist übrigens Reno«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

Nova ergriff sie und nannte ihren Namen. Seine Finger fühlten sich seltsam weich an, als hätte er noch nie in seinem Leben schwere körperliche Arbeit verrichtet. Aber das war kein Wunder. Die Gemeinschaft nahm jeden auf, der bereit war, Hab und Gut aufzugeben und sein Leben in den Dienst des Erlösers zu stellen.

»Ich habe dich vorhin beobachtet«, gestand Reno ihr. »Du hast dir gewiss Gedanken über unsere Situation gemacht. Was, glaubst du, ist geschehen?«

Nova hob die Schultern. Sie sah zu Prospero hinunter, den sie auf die Stufen vor den Schrein gebettet hatte. Er lag da wie tot. Sein Brustkorb bewegte sich kaum, doch er atmete noch.

»Ich weiß nicht. Ein Energieausfall …«

Reno machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein«, unterbrach er sie, und seine Stimme nahm einen leisen, fast verschwörerischen Tonfall an, »da muss mehr passiert sein. Bei einem Energieabfall in einem Sektor wird kein Alarm ausgelöst. Wir wissen aber, dass vorhin noch die Sirenen zu hören waren. Ich denke, wir haben Schaden erlitten und einige Bereiche sind jetzt ohne Energie und können nicht reaktiviert werden.«

»Sicherlich wird man den Schaden bereits reparieren«, mutmaßte Nova und schickte sich an, den provisorischen Verband von der Stirn des Akolythen zu wickeln, doch ehe sie die Bewegung vollenden konnte, legte sich Renos Hand auf ihren Arm. Sie zuckte zusammen.

»Das glaube ich nicht. Die Zuflucht ist nicht für große Reparaturen ausgestattet. Und hast du dich nicht gefragt, warum sie noch kein Loch in das Schott geschnitten haben, um uns hier herauszuholen? Die müssen doch oben schon mitbekommen haben, dass uns hier langsam, aber sicher die Luft ausgeht. Stattdessen kümmert sich niemand um uns.«

Nova blickte den anderen verständnislos an. Was seine Worte zum Ausdruck bringen wollten, war ungeheuerlich. Für einen Moment rotierten ihre Gedanken um einen nicht fassbaren Punkt, der sich mit rasender Geschwindigkeit von ihr entfernte und sie in einen Abgrund zu reißen drohte. Erst als sie Renos Hände auf ihren Schultern spürte und den eindringlichen Klang seiner sonoren Stimme hörte, fand sie in die Realität zurück. Der Schweiß perlte auf ihrer Stirn und sie merkte, wie heiße Schauer ihren Körper erfassten, die sie von innen heraus scheinbar verbrennen wollten.

»Das … kann nicht sein«, sagte sie lahm, obwohl sie selbst schon darüber nachgedacht hatte, warum ihnen niemand zu Hilfe kam. »Der Erlöser würde nicht zulassen, dass den Suchenden etwas zustößt.«

»Der Erlöser«, erwiderte Reno, »ist fort.« Er deutete auf das erloschene Hologramm.

Nova schluckte. Ihr Blick wanderte hinüber zu den anderen Suchenden. Sie atmete ein paarmal tief durch, doch diesmal halfen ihr die Übungen nicht, sich zu beruhigen. Ihre Gedanken kreisten um die unfassbare Vorstellung, dass Reno mit seiner Behauptung recht behielt und der Erlöser sie tatsächlich verlassen hatte.

»NEIN!«

Ihr Aufschrei ließ die anderen Suchenden herumfahren. Selbst Reno zuckte erschrocken zurück. Ein Gefühl der Unsicherheit stahl sich auf seine Züge. Er hatte sich weit hinausgelehnt mit seinen Behauptungen. Auf Gotteslästerung stand im Allgemeinen schwere Bestrafung – und nichts anderes hatte Reno eben getan, als er die Macht des Erlösers infrage gestellt hatte.

Als ihrem Schrei nichts weiter folgte, beruhigten sich die anderen wieder. Einige untersuchten weiter das Portal, die Übrigen zogen sich aus dem Gebetskreis an die Wände zurück und sanken in sich zusammen wie ein Häufchen Elend. Sie mussten längst gemerkt haben, dass die Luft im Tempelraum knapp wurde.

»Oberstes Gebot bei den Gottesdiensten und Gebetsstunden?«, raunte Reno Nova zu. Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt und sie hatte das Gefühl, als würden seine Lippen jeden Augenblick ihr Ohr berühren.

»Keine Störung während der Riten«, zitierte Nova aus dem Rashett, der Heiligen Schrift der Gemeinde.

»Wie lange würde der Gebetszyklus noch dauern?«

Nova zuckte die Achseln. »Eine Stunde noch.«

»Eher wird niemand einen Versuch unternehmen, hier einzudringen«, behauptete Reno. »Und mehr noch. Absatz neun untersagt den gewaltsamen Zutritt zu einem Tempelraum, solange sich noch Jünger in ihm befinden.«

»Keine Gewalt …«, echote Nova und starrte gedankenverloren vor sich hin. Sie rückte von dem bewusstlosen Prospero ab und lehnte mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Schreins – ein Sakrileg ohnegleichen, doch niemand versuchte, sie deswegen zu maßregeln.

»Wir müssen selbst einen Weg hinaus finden«, sagte Reno.

Nova schüttelte kaum merklich den Kopf. Ihr Weltbild zerbröselte mit jeder verstreichenden Sekunde.

Sie schloss die Augen, presste sich die Hände gegen die Lider, als könne sie dadurch die gerade gewonnene Erkenntnis verleugnen, doch auf ihren Netzhäuten glitzerten Tausende von irrlichternden Funken, die ihr den Verstand aus dem Hirn zu fressen schienen. Die Übelkeit spürte sie schon nicht mehr. Nur noch das Rotieren, den Sog, der sie hinab in die Tiefe riss.


Warum mussten sich Raumschiffskapitäne alles zweimal erzählen lassen? Ähnlich verhielt es sich mit Polizisten, die einen wichtigen Zeugen vernehmen wollten, der gerade erst auf die Intensivstation eingeliefert worden war. Es war immer die gleiche Geschichte.

»Ich muss den Mann sofort sprechen!«

»Völlig ausgeschlossen.«

»Hören Sie, es ist wirklich wichtig.«

»Und wenn das Universum in Stücke geschossen wird, Sie sprechen jetzt nicht mit ihm.«

»Doktor!«

»Sie haben mich gehört. Geben Sie ihm eine Stunde. Eine Stunde!«

Jovian Anande schüttelte ein wenig genervt den Kopf, als sein Blick zu dem Chrono auf seinem Schreibtisch wanderte. Er ging jede Wette ein, dass Sentenza in der Hinsicht nicht anders war als all die Kapitäne und Polizisten, die der Doktor entweder persönlich kennengelernt oder von denen er gehört hatte. Auf die Minute pünktlich mit Verstreichen der Stunde würde er wieder auf der Matte stehen. Anande seufzte, erhob sich vom Schreibtisch und ging zum Hauptbehandlungsraum. Von den zehn Intensivmedostationen war nur eine belegt. Anande hatte die anderen beiden Patienten in das Zimmer für Leichtverletzte gebracht.

Eine Zeit lang beobachtete er konzentriert die Anzeigen des medizinischen Scanners, der an der Seite des breiten Bettes angebracht war. Die Lebensfunktionen des Fremden hatten sich stabilisiert. Anfangs hatte es nicht so ausgesehen, als würde er den Tag überstehen.

Anande hörte die Schritte und grinste.

Er kannte den Captain. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich habe Sie schon erwartet, Sir.«

»Ach?«, machte Sentenza und gesellte sich an die Seite des Arztes, den Blick auf den Patienten gerichtet. »Ich wusste gar nicht, dass Sie über hellseherische Fähigkeiten verfügen, Doktor.«

»Machen Sie sich nur lustig über mich.«

Der Captain drehte den Kopf in Anandes Richtung und grinste ebenfalls. »Na schön, wie sieht er aus?«

»Sein Zustand ist stabil, aber er wird noch einige Tage Ruhe brauchen. Ob sein Gehirn Schaden genommen hat, werde ich erst auf Vortex Outpost feststellen können.«

»Das muss warten«, sagte Sentenza.

Anande zog die Stirn kraus. »Wie bitte? Der Mann hat bei versagender Lebenserhaltung mehrere Stunden ausgehalten. Sein Hirn war mit Sauerstoff unterversorgt, er muss …«

Der Captain fiel ihm ins Wort. »Dort, wo er herkam, muss es ein Schiff geben, Doc. Die Fluchtkapsel ist von irgendwo gestartet und wir müssen erfahren, von wo. Wecken Sie ihn jetzt bitte auf. Ich verspreche Ihnen, mich kurz zu fassen.«

Anande murmelte eine unschöne Bemerkung, begab sich an die Tastatur neben dem Bett und tippte eine Zahlenkolonne ein. Automatische Injektoren näherten sich der Haut des Patienten und schossen mit Hochdruck Seren in seine Venen. Kurz darauf begannen seine Lider zu flattern. Die Arme zuckten unkontrolliert. Anande verabreichte ein weiteres Medikament.

»Fünf Minuten«, raunte er Sentenza zu.

Dieser nickte und trat näher an das Bett heran. Der Fremde blinzelte und schirmte seine Augen mit einer Hand ab. Er sah Sentenza an, doch sein Blick war leer, als schaue er durch den Captain hindurch.

»Ich bin Captain Roderick Sentenza vom Freien Raumcorps«, sprach Sentenza ihn an. »Können Sie mich verstehen?«

Der Blick des anderen klärte sich. Er blinzelte erneut, schluckte hart und deutete dann unter Anstrengung ein Nicken an.

»Wie ist Ihr Name?«

»G-gundolf«, stammelte der Patient.

»Und weiter?«

Der Mann zog die Brauen hoch. Dann erhellte sich seine Miene ein wenig und er schien erst jetzt zu begreifen, was Sentenza von ihm wissen wollte.

»Johannsson«, sagte er. »Ich heiße Gundolf Johannsson. Es ist lange her, dass ich diesen Namen benutzt habe.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sentenza verwundert.

»Da, wo ich herkomme, sind Nachnamen nicht gebräuchlich«, erklärte der andere.

»Womit wir zum Punkt kämen«, wechselte Roderick Sentenza das Thema. »Wir haben Sie aus einer defekten Rettungskapsel geholt. Von wo aus sind Sie gestartet? Ist ein Schiff in Not geraten? Wir sind ein Rettungsteam von Vortex Outpost und …«

»Nova!«, fuhr Johannsson dazwischen. »Großer …!«

Sein Oberkörper richtete sich auf. Schon machte er Anstalten, vom Bett zu springen, doch Anande war noch schneller als Sentenza. Der Arzt drückte den Patienten behutsam zurück auf das Lager und warf Sentenza einen drohenden Blick zu.

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«

Sentenza wollte sich verteidigen, aber Johannsson kam ihm zuvor.

»Lassen Sie’s gut sein, Doktor. Es ist … meine Schuld.«

Sentenza seufzte, zog einen Stuhl an das Bett heran und setzte sich. Er bat den anderen, von vorn anzufangen. Johannsson fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Er fragte nach einem Glas Wasser, und erst als er das von Anande dargebotene Gefäß ganz geleert hatte, war er bereit zu reden.

»Ich komme … von der Zuflucht …«

Er machte eine Pause. Offenbar erwartete er, dass jeder in der Galaxis schon einmal von der Zuflucht gehört hatte, wobei er offenließ, ob es sich dabei um ein Schiff, eine Station oder gar eine Stätte auf irgendeinem Planeten oder Asteroiden handelte. Weder Sentenza noch Anande unterbrachen ihn.

»Ich bin Suchender, genau wie meine Gefährtin Nova. Es gab einen Unfall im Reaktor und Stromausfälle. Einige der Gebetsgruppen waren eingeschlossen. Richter Oberon wollte eine Rettungsmannschaft mobilisieren, um das Portal zum Tempelraum aufzubrechen, aber … aber …«

Johannssons Stimme versagte ihm den Dienst. Er sank schluchzend in dem Bett zusammen. Sentenza beugte sich vor und fasste ihn bei der Schulter, doch als er ihn leicht rüttelte, zog ihn Anande zurück.

»Das reicht jetzt«, meinte der Doktor, widmete sich wieder dem Medopult und versetzte dem Patienten eine Injektion, die ihn sofort einschlafen ließ.

»Doktor Anande, wir sind keinen Schritt weitergekommen«, schnappte Roderick. »Offenbar gibt es noch immer Leute auf dieser … Zuflucht, die unsere Hilfe benötigen!«

Anande lag eine bissige Bemerkung über die Behandlung seiner Patienten auf den Lippen, doch er schluckte sie herunter.

»Vielleicht kann ich ein wenig aushelfen.«

Sentenza und Anande zuckten gleichermaßen zusammen, als sie die Stimme hinter sich vernahmen. Sie hatten die anderen zwei Patienten ihrer letzten Bergung vollkommen vergessen. Nun stand einer der beiden vor ihnen.

Der Mann war noch relativ jung, besaß jedoch eine hohe Stirn und schütteres Haar. Er war Priester der Galaktischen Kirche zu St. Salusa. Zusammen mit seinem Schüler war er von der Ikarus-Crew aus dem Missionsschiff gerettet worden.

»Sie sollten lieber im Bett bleiben, Priester Lemore«, riet Anande und tippte wie zur Unterstreichung seiner Worte auf das Medoterminal neben dem Bett Johannssons. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, auf welche Weise er den anderen schlafen schicken wollte, sollte dieser sich nicht fügen.

»Nein, Anande«, wandte Sentenza ein. »Diesmal lassen Sie Ihren Patienten reden. – Also schön, Hochwürden. Was wissen Sie?«

Lemore kam nicht mehr dazu, seine Kenntnisse mit den anderen zu teilen. Ein Knacken im Interkom hinderte ihn daran. Sogleich schallte Trooids Stimme durch die Krankenstation.

»Brücke an Sentenza!«

Der Captain hastete zur Bordfunkanlage und hieb die Sprechtaste herunter. »Sprechen Sie, Trooid.«

»Unsere Instrumente orten einen starken Energieanstieg in Hangar eins. Sieht wie ein Reaktorbrand aus.«

»Unser Beiboot?«

»Negativ, Sir. Bei der Ferndiagnose ist alles in Ordnung.«

Die Fluchtkapsel, dachte Sentenza angestrengt. Laut fragte er: »Können wir da rein?«

»Die Strahlungsintensität ist bereits zu hoch, Captain.«

»Können wir den Hangar eindämmen?«

»Ich weiß nicht«, gab Trooid zurück. »Bei dieser Energiemenge nicht zu empfehlen.«

»Was haben Sie im Hangar gelagert?«, fragte Priester Lemore plötzlich.

Sentenza ertappte sich dabei, wie er einem Zivilisten antwortete, obwohl er das in solchen Situationen noch nie getan hatte.

»Ein Beiboot, Treibstoffvorräte und die Rettungskapsel von Mr. Johann…«

»Bei der Großen Stille!«, rief Lemore laut aus. »Sie müssen die Kapsel abstoßen. Schnell!

»Captain?« Trooid hatte mitgehört und wartete auf den Befehl.

»Tun Sie es, Arthur!« Er wandte sich zu Anande und dem Priester um. »Sie bleiben hier. Passen Sie auf ihn auf, Doc. Ich bin auf der Brücke.«

Sentenza verließ fast fluchtartig die Medostation und hastete den Gang entlang zum Aufzug. In der Kabine erwartete ihn bereits Weenderveen, der Dienst im Maschinenraum gehabt und seine Arbeit sofort unterbrochen hatte. Schweigend fuhren sie zwei Decks hoch, stürzten aus der Kabine und erreichten die Brücke.

»Lagebericht!«, befahl Sentenza, warf Sonja einen kurzen Blick zu und ließ sich in seinem Sessel nieder.

»Energieanstieg um einhundert Prozent«, verkündete Chief DiMersi. »Das Ding müsste den Werten nach mit fast Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, aber es treibt seelenruhig zwischen den Asteroiden umher.«

»Bringen Sie uns raus, Trooid.« In Sentenzas Stimme schwang Eile mit.

Der Droid bestätigte erst gar nicht. Seine Finger huschten über die Tastatur am Steuerblock. Auf dem Schirm war zu sehen, wie sich die Ikarus in Seitenlage begab und beschleunigte.

»Energieanstieg bei einhundertfünfzig Prozent«, las Sonja die Werte auf ihren Displays ab. »Das Ding hätte längst explodieren müssen.«

Die Asteroiden sausten auf dem Schirm nur so an ihnen vorbei. Trooid arbeitete fieberhaft an der Konsole. Doch trotz seiner Fähigkeiten und der intelligenten Steuerung der Ikarus II konnten sie nicht allen Gesteinsbrocken ausweichen. Ein ballgroßes Objekt kollidierte mit dem Schirm. Ein größeres Trümmerstück schob sich genau in die Flugbahn.

Weenderveen handelte. Die Zielautomatik visierte den Asteroiden an. Die Plasmakanonen spien zwei grelle Strahllanzen aus, die sich in den Koloss bohrten und ihn aus dem Innern heraus pulverisierten. Ein Hagel Tausender von Steinen prasselte auf die Schilde der Ikarus nieder.

»Frontschilde bei achtzig Prozent«, rief Sonja.

»Trooid, Asteroid auf drei Komma acht!«, tönte Weenderveens Stimme.

Trooid änderte den Kurs, doch im selben Moment kippte das Schiff einfach zur anderen Seite. Sentenza stellte beruhigt fest, dass die Künstliche Intelligenz in das Manöver des Droiden eingegriffen hatte. Aber im nächsten Moment glaubte er doch nicht mehr, dass sie das Richtige getan hatte. Auf dem Hauptschirm tauchte eine gigantische Felsenmasse auf: ein Asteroid so groß wie ein kleiner Mond – und die Ikarus jagte mit Volllast direkt darauf zu!

»Ausweichmanöver, Trooid!«

»Die Steuerung reagiert nicht, Sir!«

»Verflucht, die Kapsel!«, stieß Sonja erschrocken hervor. »Sie explodiert.«

Die Ikarus tauchte – noch immer gelenkt von der KI – in den Asteroidenschatten ab, jagte mit atemberaubender Geschwindigkeit dicht über die Oberfläche des Himmelskörpers hinweg. Fast Haken schlagend wand sich das Schiff um Felsformationen, scharfe Kanten und Scharten.

Dann wurde es schlagartig hell.

Das All stand in einem pulsierenden Atommeer, erstrahlte in einer unermesslichen Lichterflut, die jedes Lebewesen, das Zeuge dieses Ereignisses wurde, in einer Nanosekunde erblinden lassen würde. Selbst durch den sofort vor den Bildschirm geschalteten Filter schmerzte das Gleißen der Explosion in den Augen der Crew, als würde es ihnen jeden Moment das Gehirn herausbrennen. Sentenza kniff die Augen zusammen, doch das Licht stach durch seine Lider, malträtierte seine Netzhäute, bis ihm die Tränen ins Gesicht schossen. Dem gequälten Aufschreien der anderen entnahm er, dass es ihnen nicht besser erging.

Das grelle Licht musste nur wenige Sekundenbruchteile durch die Kommandozentrale der Ikarus geflutet sein, ehe Trooid geistesgegenwärtig den Schirm einfach abschaltete.

Dennoch fühlte sich Sentenza, als hätte er Ewigkeiten in dem Explosionsschein gebadet.

»Erreichen Asteroidenschatten«, verkündete Trooid. Nur kurz darauf traf die energetische Schockwelle das kleine Schiff. Die Ikarus schien von einer unsichtbaren Hand gepackt und durchgeschüttelt zu werden.

»Trägheitsdämpfer versagen!«

Ein Ruck ging durch den Kreuzer. Sentenza fühlte sich für Sekunden wie im freien Fall, wurde dann mit dem Mehrfachen seines Gewichts in den Sitz gepresst und keuchte vor Schmerz auf.

»Gravitationsverlust in Hangar zwei. Schildheckprojektoren auf zwanzig Prozent gefallen. Kritische Strahlungswerte im Maschinenraum. Leichte Beschädigungen an der Außenhülle im Triebwerkbereich.«

Die Schadenmeldungen hämmerten nur so auf Sentenza ein. Trooid, der Einzige, der noch aktionsfähig war, hatte die kompletten Anzeigen auf sein Pult geschaltet.

»Springen … Sie … Trooid!«, presste Roderick Sentenza unter Qualen hervor. Sie mussten dem Inferno durch den Hyperraum entkommen, ehe die Schockwelle sie vollends erwischte.

»Geht nicht, Captain«, antwortete der Droid tonlos. »Um uns sind überall gravimetrische Verzerrungen. Ich kann keinen Kurs berechnen.«

Sentenza fluchte und versuchte, die Lider zu heben. Vor seinen Augen tanzten Sterne und bunte Flecke, die so hell waren, dass er sie sofort wieder schloss. Die Vibrationen und Erschütterungen verebbten, dennoch sah sich der Captain außerstande, sich zu rühren.

»Wir sind durch.«

Irrte er sich oder schwang in Trooids Stimme tatsächlich so etwas wie Erleichterung mit? Sentenza atmete tief durch und blinzelte. Das Bild hatte sich um keinen Deut gebessert. Er schaute nach rechts und glaubte, durch das leuchtende Sternenmeer auf seinen Netzhäuten die Gestalten Sonjas, Weenderveens und Thorpas auszumachen. Der Chief hockte vor einer Konsole und versuchte erfolglos, sich hochzuziehen. Weenderveen und der Pentakka lagen auf dem Boden – offensichtlich bewusstlos.

Das Brückenschott öffnete sich zischend. Sentenza hörte Schritte, dann ein leichtes Sirren und ein plötzliches, lautes Klacken, das von dem Injektor herrührte.

»Warten Sie zwei, drei Minuten«, sagte Dr. Anande neben ihm. »Ihre Sehkraft wird gleich zurückkehren.«

»Woher …?«

»Trooid hat mich informiert.« Dann ging Anande zu den anderen.

Sentenza vermochte nicht zu sagen, ob tatsächlich die vom Doktor angegebene Zeit verstrichen war, doch als ihm das Warten zu langweilig wurde, riss er die Augen einfach auf und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er wieder halbwegs sehen konnte. Hier und da sprangen noch imaginäre Funken durch sein Blickfeld, doch er konnte die anderen erkennen und das genügte.

»Was zur Hölle ist da passiert, Trooid?« Noch ein wenig schwach stemmte er sich aus dem Sitz und ging zu Sonja hinüber.

»Nichts gebrochen«, sagte Anande, als er alle drei versorgt hatte. »Das hätte schlimmer kommen können.«

»Sagen Sie nicht, das war eine Selbstvernichtung, Trooid«, rief Sonja dem Droiden zu.

Dieser schwang in seinem Sessel herum und ließ mit keiner Miene erkennen, worüber er nachdachte, als er die Mannschaft schweigend musterte.

»Doch«, meinte er schließlich. »Allerdings keine gewöhnliche. Das Energiepotenzial des Maschinenkerns hat sich exponentiell erhöht. Wer immer diese Selbstzerstörung in die Fluchtkapsel integriert hat, wollte nicht nur, dass die Einheit in ihre Atome gesprengt wird, sondern auch noch eine möglichst verheerende Zerstörung im Umfeld der Kapsel erwirken.«

Die anderen starrten Trooid verständnislos an. Es war schon unfassbar genug, dass ein Rettungsfahrzeug mit einer derartigen Einrichtung versehen war. Aber die neue Erkenntnis schlug dem Fass den Boden aus.

Trooid wandte sich wieder den Kontrollen zu und projizierte eine ums Tausendfache verdunkelte Aufzeichnung der Außenbordkameras auf den Hauptschirm.

»Wir haben drei unserer vier Kameras achtern verloren«, sagte der Droid. »Die Linsen haben der Lichtintensität nicht widerstanden, anschließend sind die Gehäuse beim energetischen Schock einfach verdampft. Sehen Sie sich die Aufzeichnung an.«

Sentenza half Sonja beim Aufstehen. Sie stützte sich auf ihn und war dankbar, als er sie in seinen Kommandosessel bugsierte. Als die Trägheitsdämpfer versagt hatten, hatte sie am Pult gestanden und die volle Wucht der Gravitationsbelastung am eigenen Körper erfahren müssen. Ein Wunder, dass sie bereits wieder einigermaßen stehen konnte.

Auch Weenderveen und Thorpa waren nun wach. Der Doktor half ihnen, sich an ihre Stationen zu setzen. Gebannt starrten sie alle zum Schirm und verfolgten den Ablauf der Vernichtung.

Im Zentrum der sternförmigen Fluchtkapsel blähte sich ein gold schimmernder Ball aus Plasmaentladungen auf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen brach das Inferno über das Asteroidenfeld herein. Unzählige der Trümmerstücke wurden einfach vaporisiert, größere zersplitterten, sprengten in den Raum hinaus, kollidierten mit anderen und setzten eine nicht aufzuhaltende Kettenreaktion in Gang, die den größten Teil des Asteroidenfeldes zersprengte. Dann schob sich der gewaltige Brocken ins Bild, hinter dem die KI-Steuerung der Ikarus Deckung gesucht hatte. Die Crew konnte sich vorstellen, warum sie überhaupt noch am Leben war. Der riesige Asteroid hatte einen immensen Anteil der Strahlungsenergie absorbiert und die davongeschleuderten Trümmer seiner Nachbarn abgefangen.

»Das war ja verdammt knapp«, kommentierte Darius Weenderveen. »Wo hast du denn so fliegen gelernt, Arthur?«

Trooid setzte zu einer Erwiderung an, doch Sonja DiMersi fiel ihm ins Wort. »Ha! Von wegen, Trooid!« Der Chief funkelte Sentenza wütend an. »Gibt es vielleicht irgendetwas, das ich als Chefingenieur dieses Schiffs wissen müsste, Captain

Sentenza sah Sonja beinahe flehend an. Warum musste sie das ausgerechnet jetzt zur Sprache bringen? Sein Blick wanderte zu den anderen, die ihn neugierig und erwartungsvoll musterten.

»Es gibt tatsächlich etwas, über das wir reden sollten«, sagte Sentenza schließlich. »Ich habe ohnehin schon überlegt, eine Besprechung mit der Crew einzuberufen, aber wir müssen uns jetzt vorrangig um das«, er deutete zum Schirm auf dem Trooid das Bild vom Beginn der Explosion der Fluchtkapsel eingefroren hatte, »dort kümmern. Nach Beendigung unseres Einsatzes werden wir uns über die Modifikationen an der Ikarus unterhalten.«

»Modifikationen?«, horchte Sonja auf und fragte gleich darauf eine Spur schärfer: »Welche Modifikationen?«

»Sonja, bitte …«

Der Chief hob einen Finger und zeigte fast schon anklagend auf den Captain. »Wir sprechen uns später.«

Sentenza seufzte und ließ die Schultern sinken. Nun machte er sich doch Vorwürfe, Sonja nicht vorher eingeweiht zu haben. Wahrscheinlich würde sie ihm das ewig vorhalten. »Trooid, lässt sich anhand der Daten, die wir gesammelt haben, der Ursprungskurs der Fluchtkapsel zurückberechnen? Der Doktor war so frei, unseren einzigen Zeugen zu betäuben.«

Anande fuhr hoch. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Mann nur knapp mit dem Leben davongekommen ist.«

Weenderveen deutete auf den Bildschirm. »Knapper, als wir es uns je vorgestellt haben. Nicht auszudenken, wenn wir nicht rechtzeitig hier gewesen wären. Aber wer baut thermonukleare Sprengsätze in eine Rettungskapsel?«

»Ich glaube, ich kann Ihnen mit der Antwort aushelfen.«

Fast synchron schwangen die Besatzungsmitglieder des Corps herum und sahen in das angespannte Gesicht des Priesters Joel Lemore, der im Rahmen der Brückentür stand.

»Was machen Sie auf meiner Brücke?«, blaffte Sentenza den Mann an und vergaß dabei ganz, dass er einen Würdenträger vor sich hatte.

»Warum sind Sie nicht in Ihrem Bett?«, kam Anandes Frage unmittelbar darauf.

Der Priester hob beschwichtigend die Hände. Er war noch schwach auf den Beinen und zitterte wie Espenlaub. Mit einer Hand tastete er sich an der Wand entlang, peinlich darauf bedacht, nicht zufällig eine der Tasten an den Steuerkonsolen zu berühren. Er zog sich bis zum ersten Sitz, der normalerweise unbesetzt und nur von An’ta bei einigen Missionen belegt worden war, und ließ sich darauf nieder.

»Nun«, sagte Lemore, wurde jedoch von dem Piepsen des Komlinks Anandes unterbrochen. Der Doktor drückte die Empfangstaste und vernahm die Meldung eines seiner Medoroboter, dass Patient Lemore sich unerlaubt aus der Station entfernt hatte. Anande wollte die Maschine gerade schelten, als er sich daran erinnerte, ihr nur aufgetragen zu haben, sich um Gundolf Johannsson zu kümmern.

»Geben Sie dem Robot nicht die Schuld«, meinte Lemore, als habe er Anandes Gedanken gelesen.

»Sie sagten, Sie hätten eine Erklärung für uns«, griff Roderick Sentenza das Gespräch wieder auf.

»Rettung bedeutet Erlösung, Erlösung den Übergang in eine neue Sphäre hin zum Göttlichen. Auf dass Ihr erstrahlen werdet in der Pracht der Sterne und eurem Schöpfer begegnet.«

Schweigen breitete sich auf der Brücke der Ikarus aus, als die Worte des Priesters verhallt waren. Thorpa gab ein verwirrtes Rascheln von sich, ehe die Stille zu bedrückend werden konnte. Anande räusperte sich und machte Anstalten, seinen Patienten wieder zur Krankenstation zu schicken, doch Sentenza trat dem Arzt in den Weg. »Ist es das, was ich glaube, dass es das ist?«

Joel Lemore nickte mit ernstem Blick, worauf Sentenza sich seufzend abwandte und den Bildschirm anstarrte, der die letzten flackernden Blitze explodierender Asteroidentrümmer zeigte, die miteinander kollidierten.

»Könnten Sie uns bitte auch aufklären, Captain?«, fragte Weenderveen.

»Ist Ihnen der Name Gemeinschaft der galaktischen Erlösung ein Begriff?«, fragte der Priester in die Runde.

Weenderveen und Thorpa sahen sich ratlos an. Sonja schüttelte den Kopf. Nur Trooid hob einen Arm, um sich zu Wort zu melden.

»Eine religiöse Gruppe, die im Volksmund unter dem Namen Die Erleuchteten bekannt geworden ist.«

»Von denen hab ich schon mal was gehört«, sagte Darius Weenderveen. »Ist das nicht eine Art Sekte?«

Joel Lemore nickte. Seine Miene hatte sich verfinstert. Anscheinend sprach er nicht gern über das Thema. Er berichtete den Besatzungsmitgliedern der Ikarus das, was er über die Erleuchteten wusste. Und als er endete, begriffen sie, warum die Rettungskapsel explodiert war.


Einige Trümmer lagen noch im Gang herum, doch die Reparaturmannschaft hatte bereits erstklassige Arbeit geleistet und die durch die Detonation aufgerissenen Wände zusammengeflickt. Hier und dort hingen lose Daten- und Energieleitungen von der Decke. Vereinzelt sprühten Funken aus verendeten Terminals oder Relaisschaltungen. Noch immer lag ein grauer Dunst in dem Korridorabschnitt, der von dem Unfall betroffen war, doch die Ausbesserungsarbeiten schritten schneller voran, als man gedacht hatte.

Der Guardian trat rasch beiseite, als er Richterin Dorothea gewahrte, die in den zerstörten Flur trat und sich selbst ein Bild über das Ausmaß der Schäden machen wollte. Ihre orangefarbene, weit geschnittene Robe leuchtete unnatürlich durch die finsteren Rauchschwaden. Mit Ausnahme des Guardians trugen alle Leute der Reparaturmannschaft die grauen Gewänder der Suchenden – sie standen auf der untersten Stufe der Hierarchie der Erlösung.

»Berichte!«, forderte Dorothea den Guardian mit ihrer sanften Stimme auf, während ihre Blicke durch den Korridor schweiften.

Der Mann straffte sich und präsentierte den Elektrospeer gemäß der Etikette des Erlösers. Richterin Dorothea sah ihn an. Zu gern hätte sie ihm in die Augen geblickt, doch die lagen unter dem verdunkelten Visier seines martialisch wirkenden Helmes verborgen.

»Die Reparaturen sollen in den nächsten zwei Stunden abgeschlossen sein, Euer Exzellenz. Die Energiezufuhr zum Tempelraum vier ist jedoch noch immer unterbrochen.«

Dorothea schloss für einige Sekunden die Augen und sandte ein stummes Stoßgebet zum Erlöser. Ihr behagte der Gedanke nicht, bereitete ihr nahezu körperliche Übelkeit, dass eine Handvoll Suchender und der Akolyth Prospero noch immer ohne funktionierende Lebenserhaltung in dem Tempelraum eingeschlossen waren.

Blasphemie, wisperte die Stimme ihres Gewissens. Sie würde sich der Erneuerung stellen müssen, wenn ihre Gedanken weiterhin diese Wege beschritten. Alles, was um sie herum geschah, war der Wille einer höheren Macht, der sie dienten, dessen Bote der Erlöser war.

Sie mussten sich dieser Macht bedingungslos fügen, nur dann würden sie aufgehen in den Reihen der Geläuterten und Erleuchteten.

Die Richterin nickte dem Wächter kurz zu. Sie wandte sich zum Gehen, dabei streifte ihr Blick das Portal zum vierten Tempelraum. Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild der Suchenden auf, wie sie in Panik gegen die Wände hämmerten, um Hilfe schrien und dabei ihre letzte Atemluft verbrauchten. Dorothea schüttelte die lästerlichen Gedanken ab. Sie verließ den vom Unfall heimgesuchten Korridor und wandte sich in einem weniger frequentierten Gang einem Kommunikationsterminal zu.

Der Bildschirm flimmerte kurz, dann war das Gesicht eines Mannes in ebenfalls orangefarbener Robe zu sehen. Im Gegensatz zu Dorothea trug er jedoch eine schwarze statt einer blauen Schärpe – er war der Superior der Zuflucht.

»Euer Eminenz«, sprach Dorothea ihn förmlich an und gab dann den Kurzbericht über die Reparaturen weiter. Als sie danach zögerte, sich gemäß der Etikette zu verabschieden, deutete der Superior ihr Benehmen richtig.

»Was liegt dir auf dem Herzen, Tochter?«

»Ich muss an die Gebetsrunde im Tempelraum vier denken«, gestand sie schleppend. »Ständig sehe ich ihre Gesichter vor mir und male mir ihre Qualen aus. Ich frage mich, ob …«

»Zweifelst du an den Lehren des Erlösers, Tochter?«, unterbrach Superior Saladin die Richterin.

»Nein«, beeilte sie sich zu sagen, doch es kam eine Spur zu rasch, als dass Saladin ihr Glauben schenken konnte. »Ich … ich dachte nur, dass sie allein sind, jetzt da die Energiezufuhr unterbrochen wurde.«

»Sie sind niemals allein«, warf Saladin ein. »Der Erlöser und die Flamme in ihrem Herzen auf dem beschwerlichen Weg der Erleuchtung werden immer bei ihnen sein.«

»O wenn sie den Erlöser doch nur sehen könnten«, sagte Dorothea. »Seine Milde und Gnade spüren könnten. Es würde sie bestimmt auf den rechten Weg führen und ihnen den Pfad der Erleuchtung zeigen.«

Superior Saladin schwieg eine Weile. Natürlich ergaben die Worte der Richterin Sinn. Die Isolation der Suchenden in Tempelraum vier konnte dazu führen, dass sie von ihrem Glauben abkamen und das Vertrauen in den Erlöser verloren. Er fragte sich, ob es Möglichkeiten gab, in dieser Richtung etwas zu unternehmen.

Schließlich sagte Saladin: »Deine Gedanken werden den Erlöser erreichen, Tochter Dorothea. Nun begib dich ins Cernum und erneuere dich. Deine Aufgabe ist der dreiundzwanzigste Stern des Rashetts. Mögest du Erleuchtung finden.«

Der Superior unterbrach die Verbindung. Sie ahnte, dass die Erneuerung längst fällig war. Einmal mehr aktivierte sie das Terminal und wartete, bis einer ihrer Akolythen sich meldete. Es war Oswin, der ihren Ruf beantwortete. Sein vernarbtes Gesicht füllte den gesamten Schirm aus. Sicher war er einmal ein hübscher Anblick gewesen, doch der Unfall vor zwei Jahren hatte ihn derartig verunstaltet, dass ihn seither keine Frau mehr angeblickt hatte. Mit Ausnahme Dorotheas. Sie dankte dem Erlöser, dass er das Zölibat auf dem Weg der Erleuchtung schon vor Äonen aufgehoben hatte.

»Euer Exzellenz«, begrüßte Oswin seine ihm vorgesetzte klerikale Mentorin.

»Wir halten einen Gottesdienst in Tempelraum sechs ab. In einer Stunde. Bitte bereite alles vor und lade die Suchenden und Adepten der ersten beiden Ebenen ein. Jeder, der momentan dienstfrei hat, soll anwesend sein. Gib auch Dinah Bescheid. Sie soll das Ritual der Erneuerung vorbereiten. Stern dreiundzwanzig.«

Oswin nickte und wartete, bis Dorothea abschaltete. Die Richterin atmete tief durch. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken abermals zu den Eingeschlossenen in Tempelraum vier wanderte. Beinahe schon krampfhaft schüttelte sie sie ab und versuchte, sich auf den einberufenen Gottesdienst zu konzentrieren.


Es duftete nach Holunder. Der Geruch von Kirsche und Flieder lag ebenfalls in der Luft. Unter Saladins Füßen knirschte das Gras. Er war bereits zweimal stehen geblieben und hatte die frische, warme Luft in sich eingesogen. Es war stets eine Wohltat, die unteren Ebenen der Zuflucht zu verlassen und hierher ins Freie zu kommen. Der Sauerstoff ging nicht durch die Wiederaufbereitungsanlagen, sondern wurde direkt durch die verschwenderisch angelegte Flora des Gartens produziert.

Saladin breitete die Arme aus und schloss die Augen. Er spürte den sanften Wind auf seiner Haut, die Wärme des Lichtrings, der Sonnenhelle auch in die letzten Winkel des Gartens der Zuflucht brachte.

Das Paradies, dachte er und schlug die Lider auf. Er blickte nach Norden und vermochte von seinem jetzigen Standpunkt aus nicht einmal das Ende des Gartens zu sehen. Die ganze Anlage besaß einen Durchmesser von zweihundert Metern und war weit mehr als ein gewöhnlicher Garten.

Saladin wandte sich zu den beiden Guardians um, die ihn ständig begleiteten. Sie waren an der Nordschleuse des Turms verharrt und erwarteten seine Befehle oder würden ihm überallhin folgen.

Sie schützten ihn mit ihrem eigenen Leben.

»Ihr wartet hier!«, sagte Saladin.

»Wie Ihr wünscht, Eminenz«, erwiderte einer der beiden.

Saladin setzte sich nach Norden in Bewegung. Es gab einen mit Kies bedeckten Pfad, doch der Superior zog es vor, querfeldein zu gehen, auch wenn dies bedeutete, hin und wieder dichten Sträuchern oder Hecken auszuweichen. Er gelangte zur Waldzone. Laubbäume wuchsen hier zwischen Tannen und Palmen. Die gezielte Klimasteuerung von einzelnen Bereichen der Zuflucht machte es möglich, ausreichende Verhältnisse für fast jede erdenkliche Pflanzenart zu schaffen. Inmitten einer Schar von Palmwedeln lag die Blockhütte des Erlösers. Das kleine Holzgebäude war zwar nur undeutlich im Grün der Gewächse zu erkennen, doch die vier Guardians, die in unmittelbarer Nähe davor postiert waren, machten es umso einfacher, es aufzuspüren.

Der Lauf des Südbachs mündete in einem etwa zehn Meter durchmessenden Teich, der den direkten Zugang zum Heim des Erlösers verwehrte. Darüber führte eine hölzerne Brücke, vor der sich zwei der Guardians aufgestellt hatten. Als sie Saladin gewahrten, verneigten sie sich und ließen ihn passieren, doch er wurde von den beiden Wächtern auf der anderen Seite aufgehalten.

»Wartet bitte, Euer Eminenz«, zischte der eine unter seinem Helm hervor. Gleichzeitig drückte er eine unscheinbare Taste am Handgelenk des gepanzerten Handschuhs und wartete auf den Bestätigungston. Erst dann durfte Saladin seinen Weg fortsetzen.

Der Pfad zur Hütte wurde flankiert von kleineren Büschen und Heckenabschnitten. Neben dem Heim war eine Senke ausgehoben worden. Ein Teil des Teichwassers wurde hierher umgeleitet und unterirdisch erhitzt. Saladin sah die blubbernden Wasserblasen aus dem heißen Bad aufsteigen. Ein Luxus, der auch ihm und den Richtern der Zuflucht zuteilwurde. Zwar besaßen sie nicht Hütten von der Größe des Erlöserheims, doch sie alle wussten die Annehmlichkeiten des Gartens zu schätzen. Saladins eigenes Heim befand sich nur fünfzig Meter von dem des Erlösers entfernt, allerdings versperrten die Bäume die Sicht. Jeder Bewohner des Gartens genoss seine Privatsphäre.

Die Tür der Hütte wurde geöffnet. Eine junge Frau mit blondem Haar lugte aus dem Spalt hervor. Ihre Augen waren stark gerötet. Sie selbst wirkte wie gerädert. Sie blinzelte ins Tageslicht und brachte ein kaum verständliches »Ja?« hervor.

Saladin seufzte innerlich. Eine weitere Konkubine des Erlösers. Er wechselte sie wie die Akolythen ihre Roben zum täglichen Reinigungsritual.

Das Feuer der fleischlichen Lust entfacht das Licht der Seele und führt uns der Erleuchtung einen Schritt näher.

Die Worte des Erlösers hallten in seinem Bewusstsein nach. Natürlich ergab es Sinn, so oft wie möglich die Zuneigung anderer zu suchen. Und der Bevölkerungserhalt und -zuwachs waren auf diese Art auch gesichert. Jedes zweite Mädchen, das der Erlöser zu sich holte, wurde gleich in der ersten Nacht schwanger.

Saladin beneidete den Führer um seine Potenz. Ihm selbst war es schon seit vielen Jahren nicht mehr vergönnt gewesen, sich zu einer Frau zu legen. Ein Unfall auf Angelus Prime hatte ihn nicht nur sterilisiert, sondern auch jegliche Lust in ihm erstickt.

»Ja?«, wiederholte das Mädchen, sichtlich schlaftrunken, vielleicht auch noch im Rausch der Triebe gefangen, die der Erlöser in ihr entfacht hatte.

»Ich bin Superior Saladin«, sagte Saladin. »Erkennst du mich denn nicht, Tochter?«

Sie versuchte, die Lider ein wenig mehr als einen Spaltbreit zu öffnen, was ihr allerdings kläglich misslang. Stattdessen gab sie den Weg frei. Als Saladin auf der Schwelle stand, zwängte sie sich an ihm vorbei, schlüpfte aus ihrem Leibchen und glitt in das sprudelnde Nass des Whirlpools. Saladin beachtete sie nicht weiter und setzte seinen Weg durch den schmalen Korridor der Hütte fort. Außenstehende hätten den Wohnsitz des Erlösers vielleicht in einem prunkvollen Palast vermutet, doch die Abgeschiedenheit des Gartens war ihm Luxus genug.

Saladin durchmaß den Wohnraum. Er wirkte unbenutzt. Anscheinend hatte sich noch niemand bequemt, für Frühstück zu sorgen. Der Superior warf einen Blick auf das Wandchrono. Es war fast Mittag und Zeit für die Gebete.

»Euer Heiligkeit?«, rief Saladin aus.

»Ich bin hier, Saladin«, ertönte eine sonore Stimme aus dem Schlafraum nebenan. Die Tür wurde aufgedrückt und ein hochgewachsener Mann mit langem, dunklem Haar und einem gepflegten Bart trat in das Wohnzimmer. Er raffte seine weiße Robe zusammen und schlug die goldene Schärpe darum. Dann schlenderte er zu der Wohnlandschaft hinüber und ließ sich in die weichen Polster fallen.

Saladin erhaschte einen Blick in die Gemächer des Erlösers und sah, wie sich in den Laken des Dreimeterbetts ein nackter Mann rekelte. Der Erlöser machte keinen Unterschied, wen er sich für die Entfachung des Lichtes seiner Seele ins Bett holte.

Saladin wandte sich zu seinem Führer um, der es sich in den Polstern bequem gemacht hatte.

»Euer Heiligkeit …«, begann der Superior, aber der andere winkte mit einem Lächeln ab.

»Wir sind unter uns, Saladin.«

»Asiano«, kam es zitternd über die Lippen des Superiors. Er fühlte sich stets unwohl dabei, den Namen des Erlösers auszusprechen, obwohl er wusste, dass ihm damit eine große Ehre zuteilwurde. Nicht einmal die beiden anderen Superioren auf Angelus Prime oder der Kelleson-Minenkolonie pflegten ein derart tiefes Verhältnis zu ihrem religiösen Führer. Einer der Vorteile, wenn man sich in der Zuflucht befand.

»Wie ist unser Status?«, fragte Asiano und drückte beiläufig eine Taste eines in die Armlehnen des Sofas eingelassenen Paneels. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers schob sich eine Tür seitwärts in die Fugen. Dahinter wartete ein relativ junges Mädchen in knapper Tunika im Grau der Suchenden. In seinen Händen hielt es ein Tablett mit zwei Bechern, aus denen kräftig Kohlensäurebläschen perlten.

Die Bedienstete verneigte sich vor Asiano und bot ihm eines der Gefäße dar, anschließend wandte sie sich Saladin zu, der jedoch dankend verneinte. Das Mädchen verschwand im Nebenraum.

Zu Beginn seines Eintritts in Asianos Glaubensgemeinschaft, hatte er sich gefragt, warum die niederen Arbeiten nicht von Dienstrobotern oder Servicedroiden ausgeführt wurden. Asiano duldete keine unbeseelten Kreaturen in seiner Nähe. Zumindest keine, die der menschlichen Gestalt nachempfunden worden waren.

»Der Antrieb ist noch immer durch die Rückkopplung beschädigt«, berichtete Saladin auf Asianos Frage hin. »Unsere Reparaturteams benötigen mindestens noch zwei Tage, ehe wir wieder hyperraumtauglich sind.«

»Das ist bedauerlich«, murmelte Asiano. »Was liegt hier in der Nähe?«

»Wir sind im Albira-System aus dem Hyperraum geschleudert worden. Allerdings besitzt man hier kein Sprungtor. Die Bewohner von Albira II haben auch schon mit dem Turm Kontakt aufgenommen und verlangt, dass wir das System schnellstmöglich wieder verlassen.«

»Wie ungastlich«, kommentierte Asiano und nippte an seinem Getränk.

»Sie gehen wohl nicht ganz mit unseren … Glaubensgrundsätzen konform.«

»Sie haben Angst«, behauptete der Erlöser. »Sie fürchten sich davor, ihre Schäfchen könnten zu uns überlaufen, wenn wir erst einmal Fuß auf ihrer Welt gefasst haben. Vielleicht sollten wir tatsächlich über eine Mission nach Albira II nachdenken, aber vorrangig gibt es andere Ziele. Gut, wir sitzen also zwei Tage hier fest. Na schön, dann lass zusätzliche Gebetsstunden und Messen anberaumen, damit sich unsere Jünger nicht langweilen.«

»Das habe ich bereits veranlasst«, sagte Saladin.

»Gut«, nickte Asiano und leerte den Becher in einem Zug. Dann klatschte er in die Hände, erhob sich und schickte sich an, das Bad aufzusuchen, doch als er registrierte, dass Saladin keinerlei Anstalten machte, sich zurückzuziehen, blieb er stehen.

»Ist noch etwas?«

»Nun«, druckste der Superior ein wenig herum. »Richterin Dorothea äußerte sich besorgt über die Moral der im Tempelraum eingeschlossenen Suchenden.«

»Wer ist bei ihnen?«

»Akolyth Prospero. Er untersteht Richter Oberon.«

»Und teilst du Dorotheas Besorgnis?«

Saladin zuckte die Achseln. Prospero galt als strenggläubig, doch er war labil und der Situation womöglich nicht gewachsen. Diese Bedenken teilte er auch dem Erlöser mit.

»Machen wir uns nichts vor«, sagte Asiano dann. »Die Suchenden haben ihr Schicksal gefunden und werden erlöst. Die Lebenserhaltung in diesem Sektor kann erst wiederhergestellt werden, wenn die Zuleitung zum Energieemitter ausgewechselt sind.«

»Ja«, sagte Saladin. Eine körperliche Rettung der Eingeschlossen kam nicht infrage, denn dies hätte bedeutet, den Tempelraum gewaltsam von außen zu öffnen – ein Sakrileg gegen die obersten Regeln der Glaubensgemeinschaft. Undenkbar.

»Aber«, gab der Superior zu bedenken, »man könnte ihren Weg der Erlösung sicherlich angenehmer gestalten und sie in ihrem Glauben bekräftigen.«

»Was schlägst du vor?«

»Wenn sie wenigstens das Gefühl haben, dass Ihr bei ihnen seid, Asiano. Der Schrein mit Eurem Hologramm muss wieder aktiviert werden.«

»Der Tempelraum ist ohne Energie«, warf Asiano ein. »Wie stellst du dir das vor?«

»Wir …«, begann Saladin und überlegte. »Wir könnten versuchen, einen mobilen Emitter unter den Schrein zu platzieren. Es gibt doch einen Wartungsschacht unter der Kammer.«

Asiano runzelte die Stirn. In seinen Augen spiegelte sich für einen Moment nur Leere wider. Schließlich kehrte das scheinbar Gutmütige in seinen Blick zurück.

»Du stellst mich vor eine schwierige Entscheidung, Superior.«

Saladin schluckte und bereute seinen Vorschlag schon wieder. Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit der Anmaßung, Entscheidungen für den Erlöser zu treffen, bewusst. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Mit einem Mal fühlte er sich unwohl in seiner Haut.

»Während der Gebetsstunde darf der Wartungsschacht nicht betreten werden«, sagte Asiano. »Allerdings ist diese vor einer halben Stunde abgelaufen und uns steht nur noch das Verbot im Wege, das Portal gewaltsam zu öffnen …«

Saladin atmete innerlich auf. Er hatte befürchtet, gemaßregelt zu werden, doch Asiano schien sehr daran gelegen, seine eingeschlossenen Jünger zu beruhigen und sie auf diese Art zum Licht zu führen. Für eine Schrecksekunde jedoch grübelte Saladin darüber nach, ob man die Gefangenen nicht auch durch den Wartungsschacht evakuieren konnte. Erschrocken über seine eigenen Gedanken zuckte der Superior zusammen und vergewisserte sich rasch, dass Asiano nichts bemerkt hatte. Der Wartungstunnel führte bis zum Schrein. Diesen zu öffnen, wurde als noch höheres Sakrileg eingestuft, als sich an dem Portal zu vergehen. Wie konnte er auch nur entfernt daran denken? Er würde sich einer persönlichen Erneuerung unterziehen müssen.

»Schick ein Wartungsteam in den Schacht zu Tempelraum vier«, ordnete Asiano an. »Man soll versuchen, auch die Monitore mit Energie zu versorgen.«

»Ihr wollt eine Übertragung senden?«, fragte Saladin verdutzt. Es war schön und gut, dass sich der Erlöser um seine Schäfchen sorgte, doch es handelte sich immerhin nur um Suchende.

»Vielleicht«, antwortete Asiano, betrat das Bad und ließ seinen Superior sprachlos im Wohnraum stehen.


Als Erstes nahm Nova das kantige Gesicht Renos wahr. Sein Blick schien besorgt, doch als ihre Lider flatterten, entspannte er sich. Die junge Suchende richtete sich halb auf. Reno stützte sie und half ihr auf die Beine. Ein wenig wackelig lehnte sie sich gegen eine Säule. Im Moment erschütterte sie nicht einmal die Tatsache, dass es sich dabei um einen Ausläufer des Schreins handelte. Unsicher tastete ihr Blick umher und gewahrte die anderen Suchenden, die mittlerweile wieder ihre Gebetspositionen eingenommen hatten.

Nova atmete tief durch und wollte ebenfalls zu ihrem Platz hinübergehen, als sich Renos Hand auf ihren Arm legte und sie zurückhielt. Der Mann deutete mit seinem Kinn auf die Gestalt, die in ihrer Nähe auf dem Boden lag.

»Wie geht es ihm?«, fragte Nova beunruhigt. Sie sah, dass die Blutung keineswegs gestoppt worden war. Ein dunkler Fleck hatte sich auf dem Stofffetzen gebildet, den sie ihm um den Kopf gewickelt hatten.

»Er muss schnellstens in die Medostation«, sagte Reno. »Wir können ihn aber nicht mitnehmen.«

Nova schleppte sich zum bewusstlosen Akolythen Prospero hinüber und hockte sich neben ihn. Sie fühlte seinen schwachen Puls. Reno hatte nicht übertrieben. Wenn sie nichts unternahmen, starb er innerhalb der nächsten einen oder zwei Stunden. Falls sie bis dahin nicht alle durch Sauerstoffmangel umgekommen waren. Nova merkte, dass die Luft viel stickiger geworden war als vor ihrer Ohnmacht. Die anderen Suchenden atmeten schwer beim stummen Gebet. Ihre Leiber schwitzten. Nicht mehr lange, bis die ersten von ihnen zusammenbrechen würden.

Da erst wurde Nova sich der Worte Renos bewusst. »Was meinst du damit, wir können ihn nicht mitnehmen?«, fragte sie nach.

Reno legte den Kopf schief. »Während du bewusstlos warst, habe ich einen Weg hinaus gefunden.«

Fliehen!

Dem Schicksal entrinnen. Das widersprach allem, was sie der Erlöser gelehrt hatte. Wie konnte Reno auch nur einen Gedanken daran verschwenden?

»Was ist?«, fragte er, als er ihren entsetzten Gesichtsausdruck gewahrte. »Ist dir dein Leben gleichgültig? Willst du es wegwerfen, nur weil dir jemand sagt, du müsstest dich deinem Schicksal stellen?«

Nova fuhr auf. »Das ist Blasphemie!«

Ihre Stimme hallte ungewöhnlich laut von den Wänden wider. Sie sah sich um, doch die anderen Suchenden waren weiter in ihre Gebete vertieft, hatten sich aus dem Hier und Jetzt ausgeklammert.

»Und wenn schon«, sagte Reno, kam auf Nova zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Schau mich an. Los!«

Die Schärfe im Klang seiner Worte ließ sie aufblicken und ihm direkt in die Augen sehen. Sie erkannte den Ernst seiner Absicht. Er würde nicht von seinem Vorhaben weichen, war fest entschlossen, dem Schicksal zu entfliehen.

»Nun sag mir, dass du sterben willst«, forderte Reno sie auf.

Eine Weile starrte sie ihn einfach nur an. Dann irrte ihr Blick zwischen den Betenden und dem erloschenen Hologramm des Erlösers hin und her. Nein, sie wollte nicht sterben!

Und wenn es deine Bestimmung ist?, hörte sie die Stimme des Superiors in ihren Gedanken. Oft genug hatte man den Suchenden in den unermüdlichen Stunden des Gebets und der Meditation die Ziele ihres Seins eingetrichtert. Vielleicht hätte sie ihr Schicksal akzeptiert und wäre in die Reihen der anderen zurückgekehrt, um für Erleuchtung und Erlösung zu bitten.

Vielleicht …

Wenn Reno nicht gewesen wäre. Der Mann hatte sie aufgerüttelt, sie zum Nachdenken angeregt. Und sie fasste für sich den Entschluss, dass es noch nicht an der Zeit war zu sterben.

Nova atmete tief durch. »Was hast du vor?«

Reno lächelte, als sie sich einsichtig zeigte. Er nickte in Richtung Schrein und wollte Nova gerade seinen Plan darlegen, als das Hologramm des Erlösers aufflimmerte. Die Büste Asianos strahlte heller als zuvor und sie war nicht starr wie ein einfaches Abbild, sondern bewegte sich sogar. Ein leichtes Blinzeln verriet Nova, dass es offenbar eine Liveübertragung war.

»Suchende«, sprach Asiano.

Ein Raunen ging durch die Betenden. Sie lösten sich aus ihrer Versenkung und blickten zu ihrem Führer auf. Ihre Mienen wandelten sich vom verbissenen Ausdruck zu vor Hoffnung erhellten Gesichtern. Anscheinend waren ihre Gebete erhört worden. Der Erlöser hatte sie nicht verlassen. Er war immer noch bei ihnen. Seine Worte spendeten den notwendigen Trost und die Zuversicht, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. So oder so.

Reno indes erstarrte jäh, als er Novas Mimik richtig deutete. Die Suchende mochte gerade noch von seinem Vorhaben überzeugt gewesen sein, doch nun aktivierte Asiano durch seinen bloßen Anblick das Programm der langjährigen Konditionierung, das seine Jünger fest auf ihn einschwor.

»Nova«, raunte Reno ihr zu.

»Still!«, herrschte sie ihn an und war nur noch Feuer und Flamme für das Hologramm Asianos.

Da wusste Reno, dass er sie verloren hatte.


Roderick Sentenza schaute grimmig in Sonjas Richtung. Der Chief hatte nach Priester Lemores Bericht und während des Flugs kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Und in ihrer gemeinsamen Ruheperiode war DiMersi in ihrer eigenen Kabine verschwunden. Sie nahm es ihm mehr als übel, dass er sie nicht über die KI-Modifikationen der Ikarus informiert hatte. Sentenza fragte sich, ob sie auch so reagiert hätte, wären sie nicht zusammen gewesen. Er kam zu dem Schluss, dass ihre Beziehung zueinander die Situation weder verbesserte noch verschlimmerte.

Die Brücke der Ikarus war voll besetzt. Nur Doktor Anande weilte in seinem Reich in der Krankenstation. Man hatte Priester Lemore An’tas Quartier zugewiesen. Er schien halbwegs genesen und bedurfte keiner direkten medizinischen Betreuung mehr. Seinen Schüler Yannick Kersseboom und den geborgenen Gundolf Johannsson behielt Anande noch in seiner Obhut.

Sentenzas Blick löste sich von Sonja. Sie sah ohnehin nicht zu ihm auf, sondern schien in ihre Instrumente vertieft zu sein. Der Hauptschirm verriet ihm, dass sie nur noch wenige Minuten von ihrem Ziel entfernt waren. Das Asteroidenfeld lag in unmittelbarer Nähe eines unabhängigen Systems, dessen Sonne in den Sternkarten als Albira verzeichnet war. Die Fluchtkapsel war demnach nicht sehr weit gekommen, wie auch aus dem Bericht Johannssons zu schließen war.

Schenkte Sentenza aber auch nur der Hälfte von Lemores Schilderungen Glauben, dann war es nicht verwunderlich, dass die Ikarus noch immer keinen Notruf empfing. Die Erleuchteten wollten keine Hilfe von außen. Eher würden sie sich mit Glanz und Gloria selbst in die Luft jagen und ihre Seelen erlösen.

Widerliche Vorstellung, dachte Roderick Sentenza.

»Nähern uns Albira II«, verkündete Trooid. »Unsere Ortungsgeräte erfassen einen Körper in einem großräumigen Orbit von fast 800 000 Kilometern.«

Wenn man da noch von Orbit sprechen kann, sinnierte Sentenza. Dann wandte er sich an Weenderveen. »Darius, senden Sie eine Botschaft an die Regierung von Albira II. Wir sind in Rettungsmission hier und …«

»Wir werden bereits gerufen«, unterbrach Weenderveen und stellte die Verbindung ohne Aufforderung her.

Der Hauptschirm flimmerte kurz, dann war das Gesicht einer Frau im gesetzten Alter zu erkennen. Sie mochte sechzig oder älter sein. Ihre Haut war von Falten übersät, die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

»Ich bin Roderick Sentenza, Captain der Corpsambulanz Ikarus«, stellte Sentenza sich vor.

»Sie haben keine Erlaubnis, sich in unserem Sonnensystem aufzuhalten«, fiel ihm die Alte barsch ins Wort. »Kehren Sie sofort um!«

Sentenza lag eine grobe Erwiderung auf der Zunge, die er nur mit Mühe hinunterschlucken konnte. »Mit Verlaub, wir sind auf einer Rettungsmission. Ein Schiff ist in der Nähe Ihres Planeten havariert …«

»Erledigen Sie Ihre Arbeit, Sie haben zwei Stunden.«

»Ich …« Was immer Sentenza noch sagen wollte, er kam nicht mehr dazu. Die Verbindung war einfach unterbrochen worden.

»Denen hat noch niemand Manieren beigebracht«, stellte Thorpa nüchtern fest.

»Das sehe ich auch so«, stimmte Sentenza zu. »Andere Welten, andere Sitten. Weenderveen, geben Sie mir eine Verbindung zur Zuflucht

Das Bild des Schirms wurde umgeschaltet und zeigte nun nicht mehr den Planeten, sondern das Objekt, das ihn in großer Entfernung umkreiste. Als die Crew es sah, hielt sie den Atem an – ausnahmslos!

Priester Lemore hatte ihnen zwar gesagt, dass der Führer der Gemeinschaft der galaktischen Erlösung in seinem Missionsschiff unterwegs war, doch das Abbild des Raumers übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Der Schiffsrumpf bestand aus drei ringförmigen Wülsten, von denen die unterste den größten Raum einnahm. Die obere Wulst schloss mit einer gewaltigen, transparenten Kuppel ab, unter der sich eine Biosphäre verbarg.

»Durchmesser des unteren Ringes liegt bei vierhundert Metern«, las Trooid die Messungen der Sensoren laut vor. »Mittlerer Ring dreihundert und der obere zweihundert Meter. Höhe der Kuppel ebenfalls zweihundert Meter.«

»Interessante Konstruktion«, ließ Sonja vernehmen. »Trooid, kriegen Sie ein besseres Bild vom Inneren der Kuppel?«

»Zu dichte Wolkenformationen … hm, die scheinen aber kurz vor unserer Ankunft noch nicht da gewesen zu sein. Ich orte einen starken Energieanstieg im Bereich der Sphäre.«

»Sie verdunkeln«, meinte Sentenza. »Weenderveen, was macht meine Verbindung?«

»Sie antworten nicht auf unsere Rufe.«

Sentenza seufzte.

Nach der Erkenntnis, dass die Erleuchteten bereit waren, ihre Rettungskapseln zu zerstören, damit etwaige Flüchtlinge die Erlösung in einem strahlenden Tod fanden, hatte er auch nicht gerade Kooperationsbereitschaft erwartet.

»Anscheinend haben sie keine Probleme«, mutmaßte Thorpa.

»Quatsch!«, blaffte Sonja. »Sie haben doch gesehen, was mit der Rettungskapsel geschehen ist. Die krepieren lieber, als dass sie sich helfen lassen und eigene Schwäche eingestehen.«

»Dann können wir genauso gut umkehren«, schlug Darius Weenderveen vor.

Ehe ihn Sentenza für die Äußerung schelten konnte, mischte sich Priester Lemore ein, der plötzlich neben dem Kommandosessel des Captains stand.

»Die Schicksalsgläubigen ihrem Schicksal überlassen? Da haben Sie vielleicht sogar recht.«

»Wird das zur schlechten Angewohnheit, dass Sie ohne Aufforderung meine Brücke betreten«, schnappte Sentenza.

»Entschuldigung, Captain, aber ich habe bereits befürchtet, dass Sie auf den Gedanken kommen könnten, wieder von hier zu verschwinden, ohne etwas zu unternehmen.«

Sentenza sprang auf. Allein durch die ungestüme Geste zuckte Lemore zusammen und trat hastig zwei Schritte zurück, eckte dabei an einer Konsole an und zuckte abermals zusammen.

»Niemand hat hier irgendetwas entschieden, Priester«, sagte Sentenza mit ruhiger Stimme. »Wir sind hier, um Leben zu retten, auch wenn man vielleicht unsere Hilfe nicht will. Schreiben auch Sie sich das hinter die Ohren, Weenderveen. Wir müssen davon ausgehen, dass die meisten Angehörigen dieser … Sekte willentlich von ihrem sogenannten Erlöser beeinflusst werden. Sie wissen es nicht besser und gefährden dadurch ihre Existenz. Oder wie sieht die Amtskirche dies, Priester?«

Lemore räusperte sich. »Hm, Sie haben es schon ganz treffend ausgedrückt, Captain. Auch wenn wir in vielen Schriften die Grundthese der Erleuchteten wiederfinden, dass wir nach unserem Tode Frieden und Erlösung finden können, so verbietet uns der Glaube aber die Beendigung des eigenen Lebens, um diesen Zustand vorzeitig und in voller eigennütziger Absicht zu erreichen.«

Sentenza nickte, schickte den Priester wieder zurück in An’tas Quartier und schwang dann herum. »Weenderveen, senden Sie denen eine Nachricht, dass wir jetzt andocken – entweder mit oder ohne deren Erlaubnis. Trooid, Kurs auf eine Docknaht nehmen!«

»Aye, Sir!«

Die Ikarus beschleunigte. Schlagartig wuchs das Bild des anderen Schiffes auf dem Schirm an. Trooid verringerte den Vergrößerungsfaktor der Darstellung, worauf die Zuflucht nunmehr nur noch die Größe eines Punktes besaß.

»Irgendwelche Reaktionen?«, fragte Sentenza.

»Sie zünden die Triebwerke«, teilte Sonja mit. »Unterlichtantrieb. Ihr Hyperantrieb wurde beschädigt. Ich frage mich, wie lange unserer noch durchhält.«

Sentenza sah zu DiMersi.

Als sie seinen Blick registrierte, grinste sie. Ob ihre kleinen Differenzen damit beiseitegelegt waren, wusste er nicht. Aber sie hatte recht. In der letzten Woche hatten sie mehr als ein halbes Dutzend Hyperraumflüge durchgeführt, ohne eine Wartungsstation anlaufen zu können. Die Überlichtantriebe galten als unzuverlässig und relativ reparaturanfällig. Es war ein Wunder, dass bisher noch alles reibungslos funktionierte. Arbeitete Neue Welten wirklich so gut oder verdankten sie den Umstand ebenfalls dem von ihm in den Bordrechner eingesetzten KI-Plasma?

Was, wenn die KI nicht nur auf die Steuerung reagiert, sondern Einfluss auf sämtliche Bordfunktionen nehmen kann?

Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. War die Crew dann der Ikarus auf Gedeih und Verderb ausgeliefert? War er überhaupt noch Kommandant dieses Schiffes?

Sentenza entspannte sich und vertraute auf seine innere Eingebung, als er seinerzeit das Plasma an sich brachte und in den Bordcomputer der neuen Ikarus einsetzte. Inzwischen war die Zuflucht auf dem Hauptschirm wieder ein gutes Stück größer geworden. Deutlich hob sich die von innen beleuchtete Kuppel vom restlichen, eher dunklen Rumpf ab. Eine beeindruckende Konstruktion. Man erzählte sich, dass die alten Kolonialschiffe vor der Großen Stille Biosphären besaßen, in denen die Kolonisten während des langen Flugs zu bewohnbaren Welten Gärten bebauten und Felder bestellten. Roderick Sentenza fragte sich, welchen Zweck die Sphäre auf dem Missionsschiff erfüllte. Heutzutage wurden Sprungtore benutzt, um ohne Zeitverlust von einem Sonnensystem zum nächsten zu gelangen. Der Unterhalt dieser Biosphäre musste Unmengen an Energie verschlingen.

»Sie sind nicht schnell genug.« Trooids Stimme riss Sentenza aus den Überlegungen. Eine schematische Anzeige auf den kleineren Bildschirmen verdeutlichte, was der Droid zum Ausdruck brachte. Das Kuppelschiff hatte eine viel zu geringe Fluchtgeschwindigkeit, um der Ikarus mit Unterlichtantrieb davonfliegen zu können. Sie holten es spielend ein.

»Weenderveen, versuchen Sie weiterhin, Kontakt herzustellen.«

»Bin am Ball, Captain, aber ich befürchte fast, die haben absichtlich ihre Empfangsanlage abgeschaltet. Ich bekomme keine Bestätigung, dass unsere Signale zu ihnen durchdringen.«

Keine zwei Minuten darauf war die Ikarus in Waffenreichweite. Nicht, dass Sentenza ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hätte, das Feuer auf das Sektenschiff zu eröffnen. Der Marinebegriff kennzeichnete lediglich die Entfernung zweier Schiffe zueinander, ohne sich auf Maßeinheiten festzulegen. Noch immer antwortete niemand, obwohl deren Empfangsantennen sprichwörtlich längst glühen mussten.

Sonja stellte fest, dass das Schiff keine nennenswerte Bewaffnung besaß. Abwehrschilde und leichte Strahlgeschütze, die kleinere Meteoriten pulverisieren konnten.

»Hoffentlich sprengen die sich nicht selbst in die Luft«, murmelte Weenderveen.

Sentenza lief es eiskalt den Rücken herunter. Wer Fluchtkapseln mit Detonationssätzen ausstattete, verfügte sicherlich auch über eine Selbstzerstörungseinheit für das Mutterschiff.

Blieb zu hoffen, dass der selbst ernannte Erlöser mehr am eigenen Leben hing als an dem seiner Jünger.

»Da tut sich was!«, rief Thorpa erregt aus.

Trooid vergrößerte die Bildansicht. Im unteren Ringwulst öffnete sich ein Schott und entließ eine der sternförmigen Rettungskapseln. Wie eine leuchtende Sonne raste das kleine Fluchtgerät der Ikarus entgegen.

»Korrigiere Kurs«, sagte Trooid.

Die Sternkapsel verschwand kurz aus ihrem Sichtbereich, war jedoch wenige Lidschläge später wieder zu sehen.

»Was war das?«, wunderte sich Weenderveen.

»Die Kapsel hat unsere Kurskorrektur ausgeglichen und fliegt weiter auf uns zu«, erklärte Sonja bedrückt. »Rod, ich hab ein ungutes Gefühl bei der Sache.«

Sentenza nickte. Die Zuflucht besaß nicht die notwendige Bewaffnung, um der Ikarus zu schaden. Das Explosionspotenzial der Fluchtkapseln allerdings schon.

»Ausweichmanöver!«, bellte Sentenza. »Schilde hoch!«

Trooid reagierte sofort. Thorpa, Sonja und Weenderveen sicherten sich mit Gurten. Plötzlich brach Hektik auf der Brücke aus. Der Alarm gellte durch die Decks des Corpsraumers. Anande meldete sich über Interkom, wurde aber von Sentenza an Weenderveen verwiesen. Die Anfrage aus An’tas Quartier ignorierte der Captain. Er beorderte einen ihrer Kampfroboter zum Wohndeck, um Priester Lemore im Auge zu behalten. Am wenigsten konnten sie jetzt Zivilisten inmitten eines Angriffs auf der Brücke gebrauchen.

Die Ikarus flog einen Zickzackkurs und hielt dabei weiterhin auf die Zuflucht zu. Doch die Fluchtkapsel zog jedes von Trooid initiierte Manöver mit wenigen Sekunden Zeitdifferenz nach und näherte sich wie ein abgefeuerter Torpedo dem Ambulanzraumer.

»Ich habe den Scheitelpunkt berechnet, an dem wir auf jeden Fall mit der Kapsel zusammentreffen«, rief Trooid.

»Sie können sie nicht abschütteln?«, wunderte sich Sentenza.

»Waffensysteme aktivieren?«, fragte Weenderveen und ließ schon seine Finger über die Tasten gleiten, weil er meinte, den Befehl des Captains im Voraus zu erahnen. Entsprechend überrumpelt wirkte er denn auch, als Sentenza Gegenteiliges anordnete.

»Schrauben Sie den Dirty Darius ein wenig zurück, Weenderveen. Wir schießen nicht. Sonja, gibt es Lebenszeichen an Bord der Kapsel?«

Sentenza traute dem sogenannten Erlöser durchaus zu, dass er seine Leute diesen Kamikazeangriff fliegen ließ und dadurch vielleicht gewährleistete, dass das Rettungsschiff aus humanen Gründen nicht feuerte.

»Negativ, aber ich orte ein schwaches Funkfeuer, das die Kapsel mit der Zuflucht verbindet. Sie wird ferngesteuert.«

»Haben wir eine Möglichkeit, das Signal zu unterbrechen?«

Sonja schüttelte den Kopf. »Sender und Empfänger sind abgeschirmt und arbeiten nur auf einer Frequenz. Scheint, als machen die so etwas nicht zum ersten Mal.«

»Zeit bis zum Auftreffen?«

Trooid warf einen kurzen Blick auf die Instrumente, korrigierte zum wiederholten Mal den Kurs. »Zwei Minuten.«

Sentenza merkte, wie ihm der Schweiß über die Stirn perlte. Er wollte unnötige Aggressionen vermeiden, doch angesichts der Situation spielte er tatsächlich mit dem Gedanken, die Fluchtkapsel aus dem Universum zu pusten.

»Hyperraumsprung vorbereiten!«, befahl er und erntete entsetzte Gesichter und panisches Nachfragen.

»Was?«, riefen Thorpa und Sonja gleichzeitig.

»Sir, wir befinden uns zu dicht an den Gravitationsfeldern von Albira II und der Zuflucht«, räumte Trooid ohne eine Spur von Nervosität ein. »Wenn wir jetzt in den Hyperraum springen, wird die gravimetrische Verzerrung …«

»Trooid!«, fiel Sentenza dem Droiden ins Wort. »Ich habe in der Raummarine des Multimperiums gedient und kenne mich mit galaktischer Navigation aus. Aktivieren Sie den Hyperantrieb und schalten ihn sofort wieder aus. Wir wollen nicht wirklich in den Hyperraum eintauchen, sondern ihn nur so weit berühren, dass wir uns aus der Schusslinie katapul…«

Weiter kam er nicht. Trooid schrie etwas. Die Ikarus kippte seitwärts weg, so abrupt, dass die Trägheitsdämpfer versagten und die Mannschaft heftig in ihre Gurte gepresst wurde. Schraubenförmig bohrte sich der Kreuzer in den schwarzen Samt des Alls hinein und beschleunigte auf knapp zwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit.

Sentenza sah Trooids Reaktion. Der Droid hatte die Schalter nicht einmal angerührt und streckte die Hände jetzt demonstrativ von sich.

Die KI hat übernommen, dachte der Captain.

Auf dem Bildschirm und der taktischen Anzeige konnten sie das Manöver ihres Schiffs mitverfolgen. Es kreiselte unablässig um die eigene Achse, flog eine Schleife und raste dann mit voller Kraft auf die sternförmige Fluchtkapsel zu.

»Bei der Großen Stille!«, fluchte Weenderveen. »Wir rammen die Bombe!«

Auch Sentenza hielt die Luft an und starrte gebannt auf den Schirm. Die Entfernungsangaben, die daneben eingeblendet wurden, schrumpften unaufhaltsam gegen null. Nur noch wenige Sekunden bis zum Aufprall. Der leuchtende Stern wirkte wie eine gleißende Miniatursonne, in die sie gnadenlos hineinjagten.

»Aus!«, stöhnte Thorpa.

Der Stern füllte den gesamten Schirm aus. Dann ein Ruck und …

… freier Weltraum!

Noch ehe jemand der Crew begriff, was geschehen war, schob sich der Leib der Zuflucht ins Bild, größer als je zuvor. Die künstliche Intelligenz des Rettungskreuzers hatte sie durch ihre Flugkünste wesentlich näher an das Missionsschiff herangebracht und gleichzeitig die Fluchtkapsel ausmanövriert.

»Wir sind auf direktem Kurs«, bestätigte Trooid.

Ein Bildschirm zeigte die Achternansicht. Der Stern war ein gutes Stück zurückgefallen und versuchte eine Wende, doch der oder diejenige, die die Kapsel von der Zuflucht aus fernsteuerte, musste einsehen, dass er/sie die Bombe in der unmittelbaren Nähe ihres Mutterschiffs nicht mehr zur Detonation bringen konnte.

Die Fluchtkapsel fiel weiter zurück. Ihr Antrieb war deaktiviert worden.

»Die holen sie nicht zurück«, stellte Weenderveen verdutzt fest.

»Wir sammeln sie ein, wenn wir die Mission hinter uns gebracht haben«, sagte Sentenza. Er konnte nicht verantworten, dass Raumschrott mit dieser Sprengkraft innerhalb eines bewohnten Sonnensystems zurückgelassen wurde.

»Gibt es denn überhaupt eine Mission?«, fragte Thorpa. »Diese Leute wollen unsere Hilfe doch gar nicht. Und alles, was wir haben, ist die Aussage eines Flüchtigen, der anscheinend aus der Sekte aussteigen will.«

Sentenza fuhr sich müde durchs Gesicht. Womöglich hatte Thorpa sogar recht und sie sollten diese Leute einfach in Ruhe lassen.

Kümmern wir uns um die Leute, die unsere Hilfe wollen, und nicht um jene, die sie verschmähen, dachte er.

»Captain, wir werden gerufen!«, schrie Weenderveen überrascht.


Die Besatzung der Ikarus fand sich, mit Ausnahme von Arthur Trooid, in der Hauptschleuse ein. Sentenza hatte zuerst geglaubt, seinen Ohren nicht zu trauen, als man ihnen Landeerlaubnis an Bord des Biosphäreraumers, der den Namen Zuflucht trug, gewährte.

Kurz bevor die Mannschaft jedoch das Schiff verlassen wollte, melde sich Trooid von der Brücke aus. »Captain, Priester Lemore wünscht, Sie und das Team zu begleiten.«

Sentenza seufzte. Der Geistliche hatte ihnen gerade noch gefehlt. »Anande, schicken Sie einen der Medoroboter, der ihm ein Beruhigungsmittel verpasst.«

»Liebend gern«, sagte Anande, deutete aber ein Lächeln an. Auch wenn er selbst von den Kapriolen seines Patienten reichlich entnervt war, wusste er, dass der Captain die Sache mit dem Beruhigungsmittel nicht wirklich ernst gemeint hatte.

Sentenza ließ sich Lemore zur Schleuse durchstellen. Der Priester zeigte sich zuerst uneinsichtig, doch als der Captain mehrmals betonte, dass sie sich im Rettungseinsatz befanden und er ohnehin nur im Weg herumstehen würde, gab er sich schließlich geschlagen.

»Na schön, aber es wäre nett, wenn Sie mich über die Fortschritte Ihres Aufenthaltes unterrichten könnten«, bat Joel Lemore. »Und wenn Sie überdies so freundlich wären, den bewaffneten Roboter von meinem Quartier zu entfernen …«

Sentenza hielt sich genervt die Schläfe. »Wir halten Sie auf dem Laufenden, Priester.« Er unterbrach die Verbindung und fügte dann nur für Trooid hörbar hinzu: »Ziehen Sie den Kampfroboter ab und ersetzen Sie ihn durch einen Medobot. Falls Lemore das Quartier verlassen will, soll der Roboter ihm eine Spritze verpassen.«

Sonja und die anderen grinsten, nur Thorpa schien die Pointe nicht zu verstehen.

Doch ehe er um Aufklärung bitten konnte, hatte Sentenza bereits den Öffnungsmechanismus der Schleuse betätigt. Das Tor fuhr beiseite, die Rampe schob sich aus dem Rumpf der Ikarus und gab den Blick auf den großräumigen Hangar des Biosphärenschiffs frei. Sentenza zählte zwei Shuttles, und hier und dort wurden gerade einige der mysteriösen, sternförmigen Rettungskapseln gewartet.

Oder präpariert, höhnte eine Stimme in seinen Gedanken.

Am fernen Ende des Hangars öffnete sich ein Schott. Eine kleine Gefolgschaft von fünf Personen betrat das Deck und marschierte zielstrebig auf die Ikarus-Crew zu.

»Unser Begrüßungskomitee«, raunte Sonja Sentenza zu.

Die anderen Beschäftigten im Hangar blickten kurz auf, als sie die Neuankömmlinge gewahrten, widmeten sich jedoch sofort wieder ihrer Arbeit.

Roderick Sentenza spürte, wie sich Sonja neben ihm straffte. Sie hatte ebenso wie er die beiden bewaffneten Wächter bemerkt, die sich unter den fünf Leuten befanden. Gewohnheitsgemäß trug auch die Ikarus-Crew ihre Waffen, nicht nur zur Verteidigung, denn hin und wieder hatte ein Blasterschuss ihnen schon beim Öffnen eines verklemmten Schotts geholfen. Aber angesichts des eigenwilligen Angriffs draußen im Raum mussten sie darauf gefasst sein, auch hier auf Widerstand zu stoßen.

Die Prozession wurde von einer Frau in orangefarbener Priesterrobe angeführt. Eine blaue Schärpe lag um ihre Hüfte, ansonsten war ihr Outfit recht schmucklos. Die Frau mochte in Sentenzas Alter sein, trug ihr dunkelblondes Haar kurz und leicht gewellt. Ihre grau-grünen Augen lagen tief in den Höhlen, als wäre sie übernächtigt und überarbeitet. Hinter ihr befanden sich ein Mann und eine Frau in gelben Roben, deren Hüften eine grüne Schärpe zierte. Die beiden Bewaffneten am Schluss der Gefolgschaft wirkten martialisch in ihrem Auftreten, geradezu wie mittelalterliche Ritter, mit Helm und Brustharnisch ausgestattet, dazu einen langen Elektrospeer in den Händen.

Die Anführerin der Gruppe blieb direkt vor Sentenza stehen und verneigte sich leicht, als begrüße sie einen hohen Würdenträger.

»Sie müssen Captain Sentenza sein«, sagte die Frau und lächelte leicht. »Mein Name Dorothea. Richterin Dorothea.«

Sentenza hielt ihr die Hand hin, doch statt sie zu ergreifen, nickte Dorothea leicht. Der Rang der Richterin war ihm bei Geistlichen nicht geläufig, jedoch hatte ihn Priester Lemore darauf vorbereitet, dass die Erleuchteten eine andere Hierarchie als der Rest der Galaktischen Kirche besaßen.

»Das Beste wird sein, Sie führen uns sofort zum Unfallort«, brachte Sentenza das Gespräch ohne Umschweife auf den Punkt. Wenn Gundolf Johannssons Behauptungen stimmten, durften sie ohnehin nicht mehr viel Zeit haben, um die Eingeschlossenen zu retten.

Zur Verwunderung der Ikarus-Mannschaft legte Richterin Dorothea den Kopf schief und runzelte fragend die Stirn.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht …«

Sentenza trat an sie heran. Er merkte, wie sich die Bewaffneten anspannten, doch noch griffen sie nicht ein.

»Wir wissen, dass es einen Unfall auf diesem Schiff gab. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen – so weit dürfte das doch klar sein, oder?«

Die Frau schüttelte leicht den Kopf. »Woher haben Sie diese unsinnige Information? Wir haben keinen Notruf gesendet …«

Sonja trat an ihren Captain heran. »Wir haben dafür keine Zeit.«

»Wer führt das Kommando auf der Zuflucht?«, fragte Roderick.

»Die Zuflucht ist Superior Saladin unterstellt«, antwortete Dorothea.

Sentenza entging nicht, wie die Gesichter ihrer Begleiter bleich wurden. Offenbar war es für sie unfassbar, dass sich der Superior mit den Belangen von Sterblichen befasste.

»Führen Sie uns zu dem Superior«, verlangte der Captain des Rettungskreuzers.

Dorothea erschrak sichtlich. Ihre Augen weiteten sich, als hätte man sie vor eine unlösbare Aufgabe gestellt.

»Folgen Sie mir«, sagte sie heiser und wandte sich um, doch die wie versteinert dastehenden Begleiter versperrten ihr den Weg.

»Euer Exzellenz!«, ächzte der Mann in der gelben Robe. Sein vernarbtes Gesicht war aschfahl. »Ihr könnt doch nicht …«

»Informiere Seine Eminenz, Oswin«, befahl Dorothea und trat an ihrem Untergebenen vorbei.

Oswin warf der Akolythin neben sich einen erschrockenen Blick zu, doch sie zuckte nur die Schultern und folgte der Richterin zusammen mit den beiden bewaffneten Wächtern.

»Also los!«, sagte Sentenza.

»Nehmen Sie’s nicht persönlich«, raunte Darius Weenderveen dem wie verdutzt dastehenden Oswin zu und klopfte ihm mitleidvoll auf die Schulter.

Sie folgten der Richterin quer durch den Hangar zum Ausgang. Auch jetzt schaute niemand der Arbeiter und Techniker hoch, als sie sie passierten. Der Ikarus-Crew fiel auf, dass die Leute schlichte graue Roben trugen und allesamt kahl geschoren waren – genau wie Gundolf Johannsson. Sie mussten der untersten Kaste der Erleuchteten angehören, den Suchenden.

Ihr Weg führte durch einen spärlich beleuchteten Gang. Die Korridore im Unterdeck der Zuflucht waren funktionell aufgebaut, ohne jeglichen Schmuck und Tand. Fast hatte Sentenza das Gefühl, er ginge durch ein altes Kriegsschiff, wie sie vor der Großen Stille gebaut wurden, lange ehe es den ersten Hyperantrieb gab. Unter den Decken führten blanke Rohre und Zuleitungen her. Hier und dort strömte Dampf aus einem Ablassventil. Die Luft roch muffig, als wäre sie schon seit Tagen nicht mehr wiederaufbereitet worden. Die Menschen, die ihnen hier begegneten, wirkten erschöpft und regelrecht schmutzig.

»Sie scheinen dieses Deck ein wenig zu vernachlässigen«, sprach Thorpa aus, was der Captain dachte. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, drehte sich Dorothea halb um und maß den Pentakka mit einem geringschätzigen Blick.

»Im Unterdeck der Zuflucht leben die Mannschaften«, belehrte sie, als sage dies alles aus. Nach einigen Schritten fügte sie jedoch hinzu: »Dies ist vornehmlich der Bereich, in dem gearbeitet wird. Hier befinden sich Maschinenraum, Hangar und Frachträume.«

Thorpa beschleunigte seinen Gang und gesellte sich an Dorotheas Seite, um sie mit Fragen zu löchern. Zwar rollte Sonja mit den Augen und seufzte leise, doch Sentenza war die forsche Art des Pentakka diesmal sehr willkommen. Er mochte die Erleuchteten nicht und war froh, dass jemand anderes ihm die Arbeit abnahm, an Informationen zu gelangen.

»Wir haben insgesamt drei Ringe gezählt, die sich unter der Biosphärenkuppel befinden«, sagte Thorpa. »Stellt jeder Ring ein Deck dar?«

Dorothea antwortete nicht sofort. Offenbar überlegte sie, ob sie es wirklich nötig hatte, sich ausfragen zu lassen. Doch dann siegte ihr Wille, andere zu ihrem Glauben an den Erlöser zu bekehren. Wenn sie den Leuten vom Raumcorps den Aufenthalt auf der Zuflucht schmackhaft machte … wer wusste, vielleicht konnten sie schon bald eine Handvoll neuer Suchender in ihre Reihen aufnehmen.

»Ja. Pro Ring ein Deck. Im mittleren sind die Quartiere der Suchenden untergebracht, zusammen mit ihren Tempelräumen, einer Krankenstation, unserer großen Bibliothek, einer Großmesse und kleineren Speiseräumen.«

»Und zu einem Suchenden wird man, wenn man in ihren Orden eintritt?«, fragte Thorpa weiter.

Dorotheas Miene hellte sich auf. Allem Anschein nach handelte es sich bei dem wandelnden Baum um einen potenziellen Gläubigen, so wissbegierig, wie dieser war.

»Nun, als Orden würde ich uns nicht gerade bezeichnen … aber wenn Sie sich zum Beispiel zu unserem Glauben bekennen, Herr …?«

»Thorpa«, half der Pentakka aus.

»… Herr Thorpa, dann erhalten Sie die traditionelle graue Robe der Suchenden und lassen sich Ihr Haupt rasieren …«

Abrupt blieb Dorothea stehen und starrte Thorpa entgeistert an, als sie ihren Fehler bemerkte. Ihre Wangen röteten sich.

»Nun ja, die Sache mit der Rasur vergessen wir bei Ihnen vielleicht …«

Sentenza und DiMersi sahen sich kurz an und schmunzelten. Fast automatisch streckte der Captain die Hand nach Sonja aus und drückte ihre Linke kurz. Als ihm bewusst wurde, dass die Geste in ihrer jetzigen Situation unangemessen war, fuhr er wie elektrisiert zusammen und ließ Sonja los. Er ignorierte das spöttische Lachen hinter sich, das nur von Darius Weenderveen stammen konnte. Natürlich hatte der alte Kybernetik- und Robotikingenieur alles beobachtet.

Sie bogen in einen Nebenarm des Hauptkorridors und blieben schließlich vor einer Doppeltür stehen. Als sich diese öffnete, war dahinter eine Aufzugkabine zu erkennen. Mit dem Lift überbrückten sie den Weg zum nächsten Deck. Es wurde schlagartig heller, als sie den Aufzug verließen. Die Gänge des Mitteldecks waren sauber, die Wände bestanden aus weißen Kunststoffpaneelen und nirgendwo waren mehr Rohre und Schläuche zu sehen, die wirr von der Decke hingen.

In regelmäßigen Abständen zierten Hologramme die Wände. Alle zeigten sie das dreidimensionale Abbild eines einzigen Mannes. Sein Gesicht wirkte selbst auf Sentenza irgendwie charismatisch. Eingerahmt wurde es von einem gestutzten, schwarzen Vollbart. Die stahlblauen Augen schienen den Betrachter aus jedem Blickwinkel sanftmütig anzusehen.

»Ist das …?«, begann Thorpa und streckte einen seiner astähnlichen Arme in Richtung des Hologramms aus, an dem sie gerade vorbeigingen. Blitzschnell schob sich die Akolythin, die Dorothea begleitete, zwischen das Abbild und Thorpa und schien erleichtert zu sein, den Pentakka von einem Sakrileg abgehalten zu haben.

Auch die Wächter hatten sich sichtlich gespannt. Fast fürchtete Sentenza, es würde zu einem Eklat kommen, doch Dorothea fasste sich rasch und ging einfach weiter. Um Thorpa von einer weiteren Dummheit abzuhalten, antwortete sie auf seine Frage: »Ja, das ist Asiano, unser seliger Erlöser und Begründer unserer Glaubensgemeinschaft.«

Ihre Stimme hatte einen seltsamen Ton angenommen, als sie von ihrem geistigen Führer sprach. Sie klang nicht wirklich leiser, aber bedächtig, als müsse sie sich erst jedes Wort zurechtlegen, ehe sie es aussprechen durfte. Und eine gehörige Portion Ehrfurcht schwang in ihrer Stimme mit.

Sie betraten einen weiteren Lift und fuhren mit ihm in das Oberdeck, dem letzten der drei Ringe, ehe das Schiff in die von einer Kuppel bedeckte Biosphäre überging.

»Dies ist unser oberer Ring«, erläuterte die Richterin. »Hier finden sich die Quartiere unserer Adepten, ihre Tempelanlagen, unsere Astronavigation, einige wissenschaftliche Labors, die Gästequartiere, unsere Großküche und weitere Speisesäle.«

Sentenza gefiel es überhaupt nicht, wie sie Gästequartiere betonte. Zudem fühlte er sich von Dorothea vorgeführt. Sie waren auf einer verdammten Rettungsmission und nicht auf einer Sightseeingtour.

»Ich will nicht unhöflich erscheinen«, fuhr der Captain dazwischen, doch der Ton, den er an den Tag legte, strafte seine Worte Lügen. »Aber gibt es keinen schnelleren Weg, um Superior Saladin aufzusuchen?«

»Seine Eminenz befindet sich zurzeit im Biotop. Um vom Unterdeck dorthin zu gelangen, müssen wir verschiedene Lifts nehmen.«

»Es gibt nur einen einzigen direkten Aufzug«, mischte sich die Begleiterin Dorotheas ein, die der Ikarus-Crew nicht vorgestellt worden war.

Die Richterin maß ihre Untergebene mit einem strafenden Blick, als hätte sie gerade ein Geheimnis ausgeplaudert.

»Warum nehmen wir nicht den?«, drängte nun auch Sonja, die genau wie der Captain spürte, dass ihnen die Zeit unter den Nägeln brannte.

»Das ist uns nicht erlaubt«, belehrte Dorothea. »Nur der Erlöser darf den direkten Aufzug benutzen.«

Zur Hölle mit dem Erlöser!, dachte Sentenza und war versucht dies auch laut auszusprechen, doch er hielt sich noch rechtzeitig im Zaum. Beleidigungen würden ihre Situation nur verschlimmern.

Endlich erreichten sie einen weiteren Lift und fuhren zum nächsten Deck.

Als die Kabine hielt und sich die Türen beiseiteschoben, glaubte die Mannschaft der Ikarus, von einem Augenblick zum anderen direkt auf einen Planeten teleportiert worden zu sein. Sonja sog scharf die Luft ein. Sentenza ächzte ungläubig und Weenderveen hielt sich am Rand der Kabine fest, als er vor Aufregung in den Knien einzuknicken drohte.

Nur Thorpa stakste unbefangen aus dem Lift und blickte sich neugierig um.

Jenseits des Lifts befand sich eine atemberaubende Landschaft, die auf den ersten Blick gar als paradiesisch zu bezeichnen war. Eine üppige Vegetation bedeckte einen Großteil des Umfelds. Büsche, Bäume und Farne, so weit das Auge reichte. Der Himmel strahlte in einem kräftigen Blau. Nur zwei oder drei weiße Wolken trieben gemächlich am Horizont daher. Es war taghell, und als sich Thorpa nach der Lichtquelle umschaute, entdeckte er den Leuchtring, der wohl eine Art künstliche Sonne darstellte.

Der Pentakka winkte die anderen heraus. Dorothea und ihre Akolythin gaben der Besatzung des Rettungskreuzers Zeit, den Anblick der erhabenen Landschaft zu verdauen. Sie folgten Thorpas Fingerzeig und erblickten ebenfalls den grünlich gelben Ring hoch oben am Himmel, der die gesamte Biosphäre in ein angenehmes, warmes Licht tauchte.

»Was ist das?«, stammelte Darius Weenderveen beinahe ehrfürchtig und entfernte sich gut zehn Schritt vom Fahrstuhlausgang. Er überschaute das Areal und schätzte die Abstände zum Horizont in allen Richtungen. Auch wenn die Landschaft sich scheinbar endlos erstreckte, kannte Weenderveen von den Aufzeichnungen der Ikarus die Begrenzungen, der sie unterlag. Der Durchmesser der Grundfläche betrug annähernd zweihundert Meter. Durch den dichten Pflanzenbewuchs war jedoch das Ende der Kuppel nicht zu erkennen. Nur wenn man ganz genau hinsah, erblickte man in der Ferne ein feinmaschiges Netz am Himmel, das sich über die gesamte Innenseite der Kuppel zog. Dabei musste es sich um eine Art Stahlgerüst handeln, das die transparente Sphärenkonstruktion stützte.

Genau in der Mitte des Areals befand sich eine Säule, die sich senkrecht in den Himmel schraubte. In ihr war der Aufzugschacht untergebracht. Am oberen Ende in knapp zweihundert Metern Höhe mündete die Säule in einer Plattform – vermutlich befand sich dort die Kommandozentrale des Schiffes. Knapp unterhalb der Plattform umgab der Leuchtring die Säule in einem Durchmesser von einhundert Metern. Seine Helligkeit reichte aus, auch die letzten Winkel der Biosphäre mit Licht zu versorgen. Weenderveen bestaunte das Wunderwerk der Technik mit großen Augen. Er hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Der Ring schwebte augenscheinlich in der Luft, ohne durch sichtbare Stützen gehalten zu werden. Nicht nur Licht, sondern auch eine wohltuende Wärme ging von der seltsamen Energieform aus.

»Was ist das?«, wiederholte Darius seine Frage.

»Der Sonnenring«, antwortete Dorothea einfach. »Er versorgt die Biosphäre mit Licht und Wärme. Im Biotop befinden sich die Quartiere seiner Heiligkeit, von Superior Saladin, Richter Oberon und mir sowie unseren Akolythen.«

Sonja bückte sich und grub ihre Hand in die weiche Erde. Sie zerrieb sie zwischen ihren Fingern, schnupperte kurz daran und nickte dann anerkennend. »Es wirkt echt.«

»Es ist echt«, meinte Dorothea. »Das Biotop ist ein vollwertiger Ersatz für eine planetare Lebenssphäre.«

»Home, sweet home«, sinnierte Sentenza. Die Hohen Herren der Glaubensgemeinschaft hatten es sich gemütlich eingerichtet, während das gemeine Volk in den unteren Decks mit schlichten Unterkünften vorliebnehmen musste. Noch während er die Umgebung betrachtete, rief sich Roderick Sentenza den eigentlichen Grund ihres Hierseins ins Gedächtnis zurück.

»Und wo ist nun Superior Saladin?«

Dorothea würdigte ihn nicht eines Blicks, wandte sich stattdessen einfach um und schritt mit weit ausgreifenden Schritten durch das satte Grün der Waldlandschaft. Sie schien wütend zu sein, doch das interessierte Sentenza nicht im Mindesten.


Die Lage im Tempelraum spitzte sich zu. Nova hatte sich geweigert, mit Reno den Fluchtversuch zu unternehmen, und war in den Kreis der Betenden zurückgekehrt. Als Reno sie am Arm gepackt und gewaltsam zum Schrein gezerrt hatte, waren einige der Suchenden empört aufgesprungen und forderten ihn auf, das Mädchen in Ruhe zu lassen.

Reno ging nicht darauf ein. »Ihr könnt hier gerne krepieren, aber ich werde jetzt mit Nova gehen!«

Er blickte in die entschlossenen Gesichter der Sektenmitglieder. Sie machten nicht den Eindruck, als wollten sie den Konflikt friedlich beilegen. Reno seufzte und ließ Nova los. Die junge Frau fiel erschöpft zu Boden. Sie hatte einen Zustand erreicht, der ihr von selbst keine Rückkehr mehr in die Wirklichkeit erlaubte. Nova hatte sich in sich zurückgezogen und ließ niemanden mehr an sich heran. Ihr Blick wirkte glasig, die Bewegungen fahrig.

»Du kannst gehen«, sagte einer der Suchenden, der sich in den letzten Minuten als Wortführer hervorgetan hatte. »Wenn sich dieses Portal öffnet.« Der Mann deutete auf das Schott, das zum Gang hinausführte.

»Wenn sich dieses Tor öffnet«, sagte Reno langsam und so laut, dass es jeder der Gläubigen vernehmen konnte, »dann werden wir alle tot sein.«

»Wenn es denn unser Schicksal ist«, erwiderte der Mann vor ihm. Er schritt auf Reno zu, packte Novas Hand und zog sie zu sich heran. Willenlos ließ es die Suchende geschehen.

Reno blieb keine Zeit zum Überlegen. Die Luft im Tempelraum war kaum noch atembar. Einige der Suchenden waren bereits bewusstlos. Andere hatten sich wie ein Häufchen Elend in die Ecken verkrochen. Er selbst merkte, wie ihm der Schweiß bei jeder Anstrengung von der Stirn perlte. Hin und wieder tanzten feine Schleier vor seinen Augen und er hatte die Befürchtung, jeden Moment zusammenzubrechen. Ehe der Mann mit Nova außerhalb seiner Reichweite war, schnellte Renos Hand vor, packte ihn am Kragen seiner Robe und zerrte ihn herum. Der andere war überrascht ob des Widerstands, doch er fing sich schnell wieder und schlug zu. Mit der Bewegung hatte Reno nicht gerechnet. Die Faust traf ihn mit der Wucht eines Schmiedehammers oberhalb des Kinns. Er taumelte rückwärts, prallte mit dem Rücken gegen die Wand des Schreins und stolperte durch den verborgenen Zugang zum Wartungstunnel. Er hatte die Luke zuvor schon geöffnet, damit er jederzeit mit Nova fliehen konnte. Jetzt lag er auf dem Boden und glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Ein Raunen ging durch die Gläubigen, die die Szene mitverfolgt hatten.

Reno raffte sich auf. Zuerst wollte er durch das zugeschnappte Luk wieder in den Tempelraum zurückkriechen, doch als er das aufgeregte Geplapper der anderen hörte, hielt er inne. Er tastete sich an dem kleinen Durchgang vorbei nach vorn, dort, wo die Holoemitter untergebracht waren, die Asianos Abbild in den Schrein projizierten. Nur ein schwaches Leuchten wies ihm den Weg. Wie er erwartet hatte, gab es direkt hinter den Emittern eine Scheibe, durch die man ins Innere des Tempelraums schauen konnte. Sie war nur von einer Seite aus durchsichtig.

Die Gläubigen diskutierten im Flüsterton. Immer wieder sahen sie ängstlich zum Schrein hinüber. Vereinzelte Gesprächsfetzen drangen an Reno Ohr.

»… der Erlöser … ihn verschluckt …«

»… seine gerechte Strafe …«

Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Reno vielleicht lauthals losgelacht. Die Suchenden wussten nichts von dem Wartungsschacht und glaubten, ihr Erlöser hätte ihn wegen seiner blasphemischen Gedanken zu sich geholt.

Für einen Augenblick überlegte Reno, einfach wieder hinauszuspazieren und den anderen zu zeigen, dass nichts Mystisches an ihrem Erlöser war. Dass sie jederzeit den Tempelraum verlassen konnten, um ihr Leben zu retten. Bei näherem Überlegen nahm er jedoch wieder Abstand von dieser Idee. Selbst wenn sie wussten, dass der Wartungsschacht existierte, kämen sie nie auf die Idee, ihn zu benutzen. Genauso wenig, wie jemand das verfluchte Portal aufsprengte, um die Leute zu retten – dafür waren sie zu fanatisch.

Er musste einen anderen Weg finden, sie zu befreien. Rasch wandte er sich ab und tauchte in die Dunkelheit des Tunnels ein. Er bewegte sich an rauen Wänden entlang, stieß mehrmals gegen ein Hindernis, als der Gang abrupt nach rechts oder links abbog. Endlich zeichnete sich weiter vorn ein wenig Helligkeit ab. Nur ein feiner Fleck im schwarzen Meer der Dunkelheit, aber ein Hoffnungsschimmer, der ihm den Weg wies. Gleichzeitig spürte er einen schwachen Zug, der seine Wangen umschmeichelte. Er atmete tief durch und genoss die frische Luft, die fast schon wie eine Droge auf sein mit Sauerstoff unterversorgtes Hirn wirkte. Die plötzlich eingeatmete saubere Luft ließ ihn schwindeln. Er spürte einen Sog, der ihn unweigerlich in die Tiefe riss. Den Aufschlag bekam er schon nicht mehr mit.


Die Hütte des Superiors lag inmitten eines Hains verschiedener Bäume. Tannen waren vorherrschend, doch Thorpa entdeckte auch eine Anzahl unterschiedlicher Laubbäume. Der Pentakka malte sich gerade in seinen kühnsten Träumen aus, wie schön es wäre, wenn alle Raumschiffe mit solchen Biotopen für die Mannschaft ausgestattet wären. Es würde die Raumfahrt sicherlich interessanter und angenehmer machen, wenn man ein Stück Natur seiner Heimatwelt mit auf Reisen nahm.

Roderick Sentenza indes hatte keinen Blick für die Schönheit der Biosphäre. Zwar hatte er innerlich den Hut vor der Konstruktion gezogen, aber seine primäre Aufgabe lag in der Rettung der eingeschlossenen Suchenden. Er hatte nicht das geringste Gefühl, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bis den Leuten die Luft ausging. Und sie hatten hier nichts Besseres zu tun, als von einem Priester zum nächsten zu rennen.

»Wir sind noch keinen Schritt weitergekommen«, fluchte Sentenza zähneknirschend.

»Wir sollten uns über das nächste Terminal in den Hauptcomputer hacken, herausfinden, wo die Eingeschlossenen stecken, und sie einfach da rausholen«, pflichtete Sonja ihm bei und legte zur Unterstreichung ihrer Worte die Hand auf den Laser an ihrer Hüfte.

»Wir dürfen nichts überstürzen«, räumte Dr. Jovian Anande ein. »Wir müssen die Sitten und Gebräuche der Leute hier respektieren.«

Sentenza machte ihm mit seinem Blick nur allzu deutlich, was er von der Verhandlungsmethode hielt. Wenn die Erleuchteten nicht kooperierten, würde er die Opfer gewaltsam befreien, so oder so. Er ließ sich zurückfallen, bis ihn etwa zehn Schritt von Dorothea, ihrer Akolythin und den beiden Wächtern trennten. Dann aktivierte er sein Kom und sendete eine verschlüsselte Nachricht an Trooid. Der Droid antwortete nur eine Sekunde darauf auf einer sicheren Frequenz.

»Trooid, versuchen Sie, mit den Sensoren der Ikarus herauszufinden, welche Sektionen der Zuflucht ohne Energie sind. Wenn Sie dort Lebenszeichen orten, informieren Sie mich sofort.«

»Gibt es Probleme?«, erkundigte sich Arthur Trooid.

»Möglich. Falls Sie Johannsson aufwecken können, dann fragen Sie ihn nach der betreffenden Sektion. Je eher wir wissen, wohin wir müssen, desto besser.«

»Aye, aye, Sir.«

Sentenza beeilte sich, die Gruppe einzuholen. Sie hatte mittlerweile die allein stehende Hütte erreicht. Zwei weitere Wächter waren davor postiert.

Das macht dann vier Bewaffnete, sinnierte Roderick. Nicht schlecht für eine kirchliche Organisation, die Gewaltlosigkeit predigt.

Dabei musste er an die Galaktische Kirche zu St. Salusa denken und seinen gemeinsamen Kampfeinsatz mit Raumprior Siridan Dante. Wenn es notwendig war, wussten auch die Raummissionare sich ihrer Haut zu wehren und militärische Operationen zu leiten. Falls es hart auf hart kam, würde sich die Ikarus-Crew vor den Wächtern in Acht nehmen müssen, auch wenn diese bisher nur mit Elektrospeeren bewaffnet waren.

Richterin Dorothea hatte sich angemeldet. Kurz darauf wurde die Tür der Hütte geöffnet und ein älterer Herr mit ergrautem, schütterem Haar stand auf der Schwelle.

Anande beugte sich zu Sentenza vor. »Sein linkes Auge ist blind.«

»Das können Sie von hier aus sehen?«, wunderte sich der Captain.

Ehe Anande etwas entgegnen konnte, drehte sich Dorothea zur Rettungsmannschaft um.

»Seine Eminenz, Superior Saladin«, stellte sie vor.

Der wohlbeleibte Mann trat aus dem Eingang ins Freie hinaus und näherte sich Sentenza und seinen Gefährten. Er hatte einen schweren Gang und seine fleischigen Hände zitterten leicht.

»Willkommen in der Zuflucht«, begrüßte er die Crew.

»Eminenz«, sagte Sentenza mit dem gebührenden Respekt, obwohl er sich selbst nie viel aus irgendeiner Kirche gemacht hatte. »Wir haben wenig Zeit und würden gerne die Unfallstelle besichtigen, damit wir die Opfer bergen können.«

Der Superior zog verwundert die Brauen hoch. Wenn er schauspielerte, dann verdammt gut. Er schien wirklich nicht zu wissen, wovon Sentenza sprach.

»Ich fürchte, ich bin nicht ganz im Bilde …«

Da platzte Sentenza der Kragen. »Jetzt hören Sie mal zu. Wir haben den Notruf eines Ihrer Schäfchen empfangen und es aus einer Rettungskapsel geborgen, die kurz darauf in einer infernalen Explosion verging und ein halbes Asteroidenfeld in die Luft jagte. Als wir die Zuflucht fanden, reagierte niemand auf unsere Anrufe. Im Gegenteil, man schickte uns eine Rettungskapsel, die ohne Zweifel mit demselben verheerenden Sprengsatz geladen war wie die von Gundolf Johannsson, und wollte uns rammen. Erst nachdem …«

»Gundolf?«, rief Saladin aus. »Wo ist er?«

Sentenza schnappte nach Luft. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Mühsam unterdrückte er seinen Zorn und fuhr in etwas gemäßigterem Ton fort.

»Johannsson befindet sich an Bord unseres Schiffs in Ihrem Hangar. Er hat uns von dem Unfall an Bord der Zuflucht berichtet und davon, dass eine Handvoll Ihrer Jünger in einem Tempelraum eingeschlossen sind und nicht hinauskönnen, weil Ihre Statuten es verbieten, den Raum gewaltsam zu öffnen.«

»Das hat er Ihnen erzählt?«, fragte Saladin mit der gleichen Verwunderung zurück, die er schon zuvor an den Tag gelegt hatte.

Sentenza legte den Kopf schief. Verblüfft sah er zu Sonja, Anande, Weenderveen und Thorpa, doch seine Kameraden blickten nur ratlos drein.

»Nein, er hat uns gesagt, alles wäre in bester Ordnung und wir sollten mal auf einen Umtrunk mit Ihrem Erlöser vorbeischauen«, fauchte Sonja. »Natürlich hat er uns das gesagt. Also, wo ist dieser Tempelraum?«

Saladin lachte schallend los und klopfte sich auf die feisten Schenkel. Er schien echt amüsiert zu sein. Sentenza sah, dass weder Richterin Dorothea noch die Akolythin die Reaktion ihres Superiors zu deuten wussten. Ihre Blicke sprachen Bände.

»Mein lieber Captain Sentenza«, begann Saladin in belehrendem Ton, nachdem er sich wieder einigermaßen von seinem Lachanfall erholt hatte. »Gundolf Johannsson hat einen sehr labilen Kern. Sein Geist ist krank. Er war bereits des Öfteren in psychiatrischer Behandlung und wird auch hier an Bord von einem unserer Ärzte medizinisch und psychologisch betreut.«

»Soll das heißen, er hat sich das alles nur eingebildet?«, platzte Darius Weenderveen hervor.

Saladin lächelte wissend. »Nicht alles. Zugegeben, wir haben Probleme mit unserem Hyperantrieb. Er wird erst in zwei Tagen wieder einsatzbereit sein. So lange hängen wir in diesem System fest. Aber was auch immer Sie über einen Unfall im Zusammenhang mit eingeschlossenen Personen gehört haben mögen, ist pure Halluzination eines schwachen Geistes. Gundolf hat es mit der Panik zu tun bekommen und ist von hier geflohen. Aber glauben Sie mir, werter Captain, es gibt keine Menschen in Not an Bord unserer Zuflucht, nur einen defekten Antrieb, den wir mit eigenen Mitteln reparieren können.«

Roderick Sentenza starrte Saladin unverwandt an. Der Superior war aalglatt. Nicht eine Regung, die ihn der Lüge überführt hätte, war in seinen Augen oder seiner Mimik zu erkennen. Dennoch war Sentenza überzeugt, dass der andere versuchte, ihn gehörig auf den Arm zu nehmen.

Was glaubt er eigentlich, wen er hier vor sich hat?, dachte der Captain grimmig.

»Also benötigen Sie keine Hilfe?«, schloss Sentenza.

»Das ist richtig. Es tut mir leid, dass Sie den Wahnvorstellungen eines psychisch kranken Mannes aufgesessen sind, Captain.«

»Und die Fusionsbombe an Bord Ihrer Rettungskapseln?«, hakte Sonja nach. »Johannssons Fluchtkapsel detonierte, kurz nachdem wir ihn geborgen hatten. Wir hatten mehr Glück als Verstand, nicht von der Explosionswelle vernichtet zu werden.«

»Sie haben mir nicht zugehört, werte Frau«, sagte Saladin. Leichter Tadel schwang in seiner Stimme mit. »Der Suchende Gundolf hat in seinem verwirrten Zustand eine Rettungskapsel gekapert und die Bombe dort platziert, weil er verhindern wollte, dass wir ihn wieder zurückbringen. Wie gesagt, er ist von Sinnen und muss unverzüglich wieder in psychiatrische Behandlung. Sie sagten, Sie haben ihn geborgen … Wo befindet er sich jetzt?«

Sonja und Dr. Anande holten gleichzeitig zu Antworten aus, doch Sentenza gebot ihnen mit einem schnellen Wink zu schweigen.

»Eine Sache noch, Exzellenz«, sagte er und würgte Saladin das Wort ab, als dieser sich noch einmal nach Johannsson erkundigen wollte. »Warum haben Sie uns nicht geantwortet, als wir ins Albira-System eindrangen? Und warum haben Sie uns eine Fluchtkapsel entgegengeschickt, die offensichtlich über das gleiche Zerstörungspotenzial verfügt wie ebenjene, mit der Johannsson entkam?«

Saladin wurde bleich und zeigte mit dieser Regung das erste Mal, dass die Absichten der Erleuchteten nicht ganz so rein waren, wie sie vorgaben. Sie hätten sich mit allem herausreden können und Sentenza wäre sogar geneigt gewesen, ihnen Glauben zu schenken, wenn nicht der Angriff auf die Ikarus stattgefunden hätte.

Der Superior antwortete nicht. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft.

Sentenza beobachtete den anderen genau. Wie würde er den Konflikt lösen? Fiel ihm eine Ausrede ein? Oder würde er gar hier und jetzt versuchen, sich der unliebsamen Zeugen zu entledigen, und ihnen die Wächter auf den Hals hetzen? Mit einem unruhigen Gefühl in der Magengegend tastete Roderick nach dem Laser an seiner Hüfte.

Schritte klangen hinter ihnen auf. Saladin war der Erste, der hochsah. Seine Gesichtszüge entspannten sich merklich und hellten sich auf. Das nahm Sentenza zum Anlass, sich ebenfalls umzudrehen und den Blaster stecken zu lassen.

Der Mann der sich ihnen in Begleitung vier weiterer Wächter (nun waren es schon acht!) näherte, war kein Unbekannter. Die Ikarus-Crew hatte sein Abbild bereits auf mehreren Hologrammen in den unteren Decks gesehen.

Asiano!

Der unumschränkte Herrscher über die Gemeinschaft der galaktischen Erlösung. Mit leichtem, fast schwebendem Gang schritt er über den Rasen. Hätte man nicht die leichten Bewegungen seiner Beine unter der weißen Robe gesehen, hätte man denken können, er gleite über das Gras.

Richterin Dorothea und ihre Akolythin gingen in die Knie und verneigten sich so tief, dass sie dabei fast den Boden küssten. Die Wachen der Richterin und Saladins nahmen eine starre Haltung an und präsentierten ihre Elektrospeere. Nur die Crew des Rettungskreuzers ließ sich von dem Auftritt des selbst ernannten Erlösers nicht beirren.

»Eure Heiligkeit«, brachte Saladin heiser hervor, schwieg jedoch sofort, als Asiano eine unscheinbare Handbewegung machte.

Der Führer der Sekte blieb vor Sentenza stehen und musterte die Mannschaft eingehend. Sein Blick weckte irgendetwas Vertrautes in Roderick und den anderen. Sie erkannten, dass Asiano keine Bedrohung für sie war, sondern einfach ein Mann, der …

Sentenza sog scharf die Luft ein. Das Charisma des Erlösers wirkte bereits auf ihn und die Crew. Zwar glaubte er nicht, dass Asiano einen hypnotischen Einfluss auf sie hatte, doch seine bloße Gegenwart nahm die anderen voll und ganz in seine Präsenz auf. Wenn man es zuließ, dachte der Captain.

»Mein lieber Captain Sentenza«, sagte Asiano, immer noch das freundliche Lächeln zur Schau tragend. Ob es vielleicht sogar aufrichtig gemeint war, wusste Roderick nicht zu beurteilen.

»Ihr Priester dort …«, begann Sentenza dann.

»Superior!«, schnappte Dorothea mit hochrotem Kopf, als ob sie die Ungeheuerlichkeit, die der Captain von sich gegeben hatte, gar nicht fassen konnte.

»… hat versucht, uns zu erklären, dass Gundolf Johannsson in seinem Wahn von hier floh und uns ein Lügenmärchen über eine Krise an Bord der Zuflucht auftischte. Ich bin geneigt, Superior Saladin zu glauben, aber es gibt noch eine Ungereimtheit, die mit dem Angriff der Rettungskapsel auf unser Schiff zusammenhängt. Haben Sie eine Erklärung, warum man ein Fluchtboot mit einer Bombe an Bord auf Kollisionskurs mit einem Rettungskreuzer des Freien Raumcorps schickte?«

Das Lächeln Asianos wurde breiter. Seiner Mimik war nicht anzusehen, ob er etwas verbergen wollte oder die nachfolgende Antwort tatsächlich der Wahrheit entsprach.

»Gundolf Johannsson hatte zwei Fluchtkapseln mit Sprengsätzen präpariert. Wir entdeckten den zweiten leider genau in dem Moment, als Ihr Schiff hier eintraf, und haben ihn abgeworfen, Captain.«

Sentenza und Sonja tauschten einen flüchtigen Blick. Beide waren nicht von den Worten des selbst ernannten Erlösers überzeugt, aber sie hatten keine Gegenargumente oder Beweise, dass Johannsson nicht gelogen hatte. Und wie Thorpa schon so treffend formuliert hatte: Diese Leute wollten ihre Hilfe nicht!

»Na schön«, brummte Sentenza schließlich. »So, wie die Dinge liegen, haben wir hier nichts mehr verloren.«

»Was?«, fuhr Sonja auf. Weenderveen und Anande starrten den Captain entgeistert an, nur Thorpa schien sich mehr für die künstliche Umwelt der Biosphäre zu interessieren.

»Ich würde Ihnen gerne meine Gastfreundschaft gewähren«, sagte Asiano, »doch ich habe mich noch um einige Dinge zu kümmern, die jetzt angefallen sind, da unser Terminplan durch das Versagen unseres Antriebs ein wenig durcheinandergeraten ist.«

»Ja … sicher«, gab Sentenza zurück. »Tut uns leid wegen der Umstände, die wir Ihnen bereitet haben.«

»Keine Ursache, Captain. Beehren Sie uns bald wieder. Vielleicht ergibt sich ja noch ein fruchtbares Gespräch über die Glaubensgrundsätze unserer Gemeinschaft.«

Mit Sicherheit nicht, dachte Sentenza und machte auf dem Absatz kehrt. Sonja und die anderen drei folgten ihm auf den Fuß und Richterin Dorothea beeilte sich, zusammen mit den Wächtern die Crew einzuholen.

Sentenza dachte nicht daran, auf sie zu warten. Thorpa, der sich den Weg eingeprägt hatte, führte sie zurück zum großen Himmelsturm, in dem der Lift untergebracht war. Ihre Rechnung, die anderen abzuhängen, ging jedoch nicht auf. Gerade als sich die Türen des Aufzugs öffneten, erreichten auch Dorothea und die Wachen die Kabine und traten ein. Nur die Akolythin hing schwer atmend hinterher. Sonja drückte eine Taste, worauf sich die Türen unter Protest der Richterin schlossen.

»Was soll das?«, fuhr sie auf, zuckte dann zusammen, als habe sie sich selbst bei etwas Verbotenem erwischt, und schaute bedrückt zu Boden.

»Wir haben nicht den ganzen Tag«, murrte DiMersi und strafte die Klerikerin mit einem Blick, der sie wohl bis in ihre Albträume verfolgen sollte.

Auf dem Rückweg mussten sie die gleiche Prozedur durchlaufen wie anfangs. Es gab offenbar tatsächlich keinen öffentlichen Lift, der alle Decks miteinander verband. Sentenza und seine Crew beeilten sich, zum Hangar zu kommen. Die Richterin und die beiden Guardians hatten alle Mühe, Schritt zu halten.

Als sie sich im mittleren Ring befanden, schaltete sich Roderick Sentenzas Kommunikator ein. Es war Trooid.

»Was gibt’s?«, fragte der Captain mit gedämpfter Stimme und beschleunigte seinen Gang, damit Dorothea nicht unnötig Gesprächsfetzen mitbekam.

»Sir, ich habe eine Peilung von Lebenszeichen in einem energielosen Bereich der Zuflucht geortet.«

»Das werden wahrscheinlich Wartungsteams sein, die versuchen, die Schäden an den Energieleitern zu beheben«, vermutete Sonja neben Sentenza.

»Dafür sind die Lebenssignaturen aber zu schwach«, räumte Trooid über das Kom ein. »Sie sterben, Captain.«

»Also war doch etwas faul. Können Sie uns dorthin lotsen, Arthur?«

Etwas krächzte in der Verbindung. Dann war eine andere Stimme zu vernehmen. »Captain, hier ist Johannsson, ich kann Sie führen.«

Sentenza runzelte die Stirn und drehte sich halb zu Anande um. »Doc, Ihr Patient ist wieder auf den Beinen.«

»Das spricht doch für meine Heilkünste, oder?«, gab der Bordarzt unfreiwillig komisch zurück. »Soll ich nach ihm sehen?«

»Nein, er wird uns vielmehr zu den Eingeschlossenen führen. Ich brauche Sie dort. – Also, schießen Sie los, Johannsson. Wir befinden uns im mittleren Ring, etwa dreißig Schritt vom Lift entfernt, der in den oberen Ring führt.«

»Halten Sie sich an der nächsten Abzweigung rechts.«

Richterin Dorothea versuchte verzweifelt, an den Captain heranzukommen, doch Thorpa und Darius Weenderveen bewegten sich so geschickt hin und her, dass sie keine Chance hatte.

»Captain«, meldete sich nochmals Arthur Trooid zu Wort. »Wir haben einen an die Zuflucht gerichteten Funkspruch der Regierung von Albira II erhalten. Man ist äußerst ungehalten, dass sich das Schiff noch in ihrem Hoheitsgebiet befindet. Sie drohen damit, es abzufangen und notfalls mit Gewalt aus dem System zu entfernen.«

»Ganz toll«, brummte Roderick. »Schicken Sie denen eine Nachricht von mir, Trooid. Wir sind noch mit der Rettungsmission beschäftigt.«

»Aye, Captain.«

Sie erreichten die Abzweigung. Sentenza informierte Johannsson über das Kom, und als sie in den rechten Korridor einbogen, statt geradeaus weiterzugehen, schallte hinter ihnen der empörte Ruf Richterin Dorotheas auf. Sentenza ignorierte ihn.

»Captain, wo … wo wollen Sie hin?«, rief sie ihm hinterher und blieb unschlüssig stehen. »Captain!«

Die Crew der Ikarus ließ sich nicht aufhalten. Dorothea eilte zum nächsten Komlink und hieb die Sprechtaste fester herunter als beabsichtigt.

»Wir haben keine Zeit für Spielchen«, raunte Roderick Sonja zu.

Der Chief presste die Lippen aufeinander und nickte leicht. Fast gleichzeitig schwangen die beiden herum und hielten plötzlich die handlichen Stunner schussbereit im Anschlag. Weenderveen und Anande sprangen zur Seite, nur Thorpa reagierte nicht rechtzeitig und zappelte wie wild, als die elektrischen Ladungen sirrend an ihm vorbeizuckten und die beiden Guardians erfassten, die sich in Dorotheas Begleitung befanden. Die Wächter strauchelten und gingen bewusstlos zu Boden. Ein weiterer Schockblitz streckte die Richterin nieder.

»Jetzt haben wir den Salat«, murmelte Weenderveen.

»Sind Sie übergeschnappt?«, kreischte dagegen Anande.

»Doc, auf Ihr Urteil kann man sich verlassen«, pflichtete Thorpa ihm bei. »Um ein Haar hätte es mich erwischt.«

Sentenza gebot den anderen mit einer herrischen Geste zu schweigen. In zwei, drei Sätzen umriss er ihre Lage und teilte ihnen mit, was er durch Trooid erfahren hatte.

»Wir werden jetzt mit Johannssons Hilfe bis zum Tempelraum vordringen, das verfluchte Schott aufsprengen und die Leute dort herausholen«, schloss der Captain, stieß dabei jedoch auf missbilligende Blicke seitens Doktor Anandes und Thorpas.

»Captain, es war schon unverantwortlich genug, die Richterin und ihre Wächter zu betäuben«, wandte der Bordarzt der Ikarus protestierend ein. »Wenn wir jetzt zusehen, dass wir zu unserem Schiff zurückkehren und im Hyperraum das Weite suchen, können wir von Glück reden, wenn uns Asiano nicht vor der Führung des Raumcorps verklagt.«

»Machen Sie sich nicht ins Hemd, Doc«, fiel ihm Sonja ins Wort. »Sollen wir die Unschuldigen, die im Tempel eingeschlossen sind, verrecken lassen?«

»Wir können mit unserem Wissen doch jetzt wieder zu Asiano zurückkehren«, schlug Thorpa aufgeregt mit seinen Astarmen wedelnd vor. »Diesmal wird er uns nicht abweisen und belügen können.«

»Das dauert zu lange«, gab Sentenza zu bedenken. »Den Leuten wird die Luft zu knapp, falls Sie das vergessen haben sollten. Wir gehen jetzt da rein, basta!«

Wütend darüber, dass seine eigenen Leute ihm in den Rücken fallen wollten, drehte sich Sentenza abrupt um und lief den Korridor entlang.

»Meine Herren?«, fragte Sonja. »Sie können meinetwegen gerne hier Wurzeln schlagen – nehmen Sie’s nicht persönlich, Thorpa –, aber der Captain scheint sauer zu sein. Wenn Sie je wieder an Bord seines Schiffs wollen, dann …«

Sie ließ den Rest unausgesprochen und rannte Sentenza hinterher. Weenderveen zuckte auf Anandes fragenden Blick hin die Achseln. Dann spurteten auch sie los und zogen Thorpa mit sich.


Der frische Luftzug kitzelte seine Nase. Es war merklich kühler geworden, aber vielleicht bildete er sich dies auch nur ein. Ein wenig träge hob er die Lider und blinzelte kurz, ehe er sich an die gedämpften Lichtverhältnisse gewöhnte. Nur schwach strömte der Schein einer Leuchtquelle zu ihm herüber.

Reno ächzte leise, als er sich aufrichtete. Verwirrt schaute er sich um und rätselte für ein, zwei Momente, was mit ihm geschehen war. Da schlug ihm die Erkenntnis mit voller Wucht ins Bewusstsein und verdammte ihn für wertvolle Zeit zur Bewegungsunfähigkeit.

Wie lange war er bewusstlos gewesen?

Waren Nova und die anderen längst tot?

Reno stemmte sich hoch und wäre beinahe wieder gestürzt, als Schwindel ihn erfasste. Der körperliche Schaden, der ihm durch den Sauerstoffentzug im Tempelraum zugefügt worden war, war größer, als er angenommen hatte. Wie würde es erst den anderen ergehen?

Wenn ich nur wüsste, wie viel Zeit bereits vergangen ist …

Er hielt sich an den Rändern des Wartungstunnels fest und ging mit immer schneller werdenden Schritten dem fernen Licht entgegen. Schließlich rannte er, getrieben von der Angst, versagt zu haben …


Sekunden dehnten sich zu Minuten, diese wiederum scheinbar zu Stunden und es schien kein wirkliches Vorwärtskommen zu geben. Zweimal musste die Rettungsmannschaft Hindernissen ausweichen, die ihnen von der Besatzung der Zuflucht offensichtlich in den Weg gelegt worden waren: ein versiegeltes Schott, ein geflutetes Korridorsegment. Dank Gundolf Johannssons Navigationshilfe waren sie jedoch auf Umwegen zu ihrem Ziel gelangt.

Fast schon hätte Roderick Sentenza aufgeatmet, als die Stimme des Suchenden über das Kom verkündete, sie hätten es geschafft und müssten jetzt ein zweiflügeliges Portal erkennen können, das mit allerlei religiösen Symbolen ausstaffiert war.

»Ich sehe es!«, rief Thorpa aus.

»Ja, aber die Menschenmenge davor, gehört nicht dazu, oder?«, brummte Darius Weenderveen und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Gläubigen, die sich zu Dutzenden vor dem Portal versammelt hatten. Es sah nicht so aus, als wären sie gekommen, um die Rettungscrew zu unterstützen.

Unbeirrbar schritt Roderick Sentenza auf die anderen zu – bis er gezwungen war, stehen zu bleiben, da die religiösen Fanatiker eine unüberwindbare Barriere vor dem Portal geschaffen hatten.

»Wer hat hier das Wort?«, fragte Sentenza laut.

Niemand meldete sich. Alle standen still und mit vor der Brust verschränkten Armen da und gafften die Leute der Ikarus einfach nur an.

»Ich bin Captain Roderick Sentenza vom Raumcorps«, versuchte er es noch einmal. »Meine Crew und ich sind hier, um Ihre Mitgläubigen im Tempelraum zu befreien. Wenn Sie uns nicht durchlassen, werden Ihre Freunde sterben.«

Ein hagerer Adept in gelber Robe trat aus der Reihe vor und starrte Sentenza unverwandt an.

»Geh weg, Raumcorps«, raunte er ihm mit einer Fistelstimme zu. »Wir wollen deine Hilfe nicht.«

»Sie vielleicht nicht!«, fauchte Sonja. »Aber die Menschen dort drin sterben.«

»Wenn es ihr Schicksal ist, dann soll es so sein«, erwiderte der Mann ungerührt. »Ihr habt nicht das Recht, die Türen aufzubrechen und unseren Tempel zu entweihen.«

»Ich fasse es nicht«, seufzte Sentenza, dann hob er seine Stimme an und brüllte fast: »Ist keiner bereit, den Leuten im Tempelraum zu helfen? Sie werden sterben, wenn wir dieses Schott nicht öffnen. Wollen Sie das verantworten? Wollen Sie zu ihren Mördern werden?«

Was immer er sich durch seine Moralpredigt erhofft hatte, die völlig gegenteilige Wirkung setzte plötzlich ein. Die Suchenden und Adepten stimmten einen hohen Singsang an, der nach nur wenigen Sekunden in ein schallendes Geschrei und Gekreische ausartete. Wie hysterisch schrien die Leute durcheinander, pressten sich selbst die Hände auf die Ohren und begannen, wie wild auf dem Boden aufzustampfen.

Sonja brüllte etwas über den Lärm hinweg, doch Sentenza verstand es nicht. Er deutete mit einem Wink an, dass sie sich zurückziehen sollten. Rasch liefen sie den Gang entlang, den sie gekommen waren, und bogen in einen Nebenarm ein, der sich durch ein Schott sichern ließ. Erst als das Tor mit einem dumpfen Schlag in die Fugen eingerastet war, verebbte das Gekreische aus dem Korridor.

»Schlimmer als im Kindergarten«, kommentierte Jovian Anande und pulte sich mit einem Finger im Ohr herum. »Ich bin fast taub geworden.«

»Mir ergeht’s nicht anders«, sagte Weenderveen. »Und wenn Sie noch einmal sagen, wir sollten verhandeln, Doc, dann versetze ich Ihnen einen Tritt.«

»Vielleicht hab ich mich geirrt.«

Sentenza blickte sich um. Dies war nicht der Gang, den sie gekommen waren. Aber er hatte auch nicht vor, den Rückweg anzutreten. So leicht wollte er nicht aufgeben.

Falls es nicht schon zu spät ist.

»Johannsson, wir kamen nicht durch. Gibt es einen anderen Weg in den Tempelraum hinein?«

»Nein, nur das Portal«, kam prompt die Antwort aus dem Kom.

»Was jetzt?«, erkundigte sich Weenderveen. »Schießen wir uns den Weg frei?«

Für den Bruchteil einer Sekunde war Roderick Sentenza versucht, genau das zu tun. Aber er würde keine Leben gefährden, um andere zu retten. Nicht die Protestierenden draußen vor dem Schott waren die Schuldigen, sondern einzig und allein Asiano, der sich zu einem Halbgott aufgeschwungen und durch seine Lehren die Jünger zum Tode verurteilt hatte.

Ich weiß es nicht … Die Worte kamen Sentenza nicht über die Lippen. Die Ausbildung und der Drill in der Raummarine hatten ihn gelehrt, niemals und unter keinen Umständen Ratlosigkeit vor der Mannschaft preiszugeben. Er war ihr Captain, ihm vertrauten sie – er wusste alles. Für die Crew sollte es jedenfalls den Anschein erwecken. Aber dies hier war nicht die Raummarine. Er befehligte keinen Zerstörer mehr, sondern eine interstellare Ambulanz. Und die Leute unter seinem Kommando waren mehr als seine Untergebenen – sie waren seine Freunde geworden.

Ehe sein Schweigen unangenehm werden konnte, erklang von weiter hinten im Gang ein Poltern. Die Crew fuhr mit gezogenen Stunnern herum. Mitten im Korridor lag eine Gitterklappe, die anscheinend von der Wand gefallen war. Sentenza und die anderen staunten nicht schlecht, als sich ein Paar Füße aus einer Öffnung schob. Kurz darauf folgte der dazugehörige Körper. Es handelte sich um einen Mann in der grauen Robe der Suchenden mit kahl geschorenem Schädel. Als er aufblickte, sah er direkt in die Mündungen der fünf Stunner und prallte erschrocken zurück.

»Wer sind Sie?«

Sentenza grinste. »Die Fragen stellen wir. Wo kommen Sie her?«

Der andere deutete hinter sich in den Schacht.

»Wo führt er hin?«, fragte Sonja, und als er nicht gleich antwortete, presste sie ihm den Stunner direkt auf die Brust. Die Geste wirkte. Der Mann schluckte kurz und drückte vorsichtig die Mündung der Waffe von sich weg.

»Ich heiße Reno und bin ein Suchender. Ich komme aus diesem Wartungsschacht.«

»Erzählen Sie hier keine Märchen«, zischte Sonja. »Wenn Sie ein Suchender sind, dann bin ich Ihr Erlöser höchstpersönlich.«

»Ich … ich verstehe nicht«, stammelte Reno.

»Sonja hat recht«, mischte sich Weenderveen ein. »Ein Suchender würde bestimmt nicht hier so verstohlen herumkrauchen. Die Angst, erwischt zu werden, steht ihm ja förmlich ins Gesicht geschrieben.«

»Jetzt aber mal langsam!«, begehrte Reno auf. »Wer bei St. Salusa sind Sie eigentlich?«

»St. Salusa?«, echote Sentenza und grinste plötzlich breit.

Reno fluchte. »Na gut, Sie haben mich erwischt. Was jetzt? Ich habe keine Zeit für …«

»Wir sind ein Rettungsteam des Raumcorps und sind hier, um die im Tempelraum Eingeschlossenen zu befreien.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?«, gab Reno zurück. »Kommen Sie, hier führt ein Weg hinein.«


Den Lotsen und Schiffsführern auf der Plattform des Turms war das Unbehagen deutlich anzumerken. Normalerweise ließen sich der Erlöser und Superior Saladin nur selten auf der Brücke der Zuflucht blicken. Sie interessierte die Raumfahrt an sich nicht. Für die religiösen Führer war sie nur Mittel zum Zweck, um ihre Worte, ihren Glauben über weite Strecken ins Universum hinaustragen zu können.

Doch jetzt waren sie nun mal hier und allein ihre Gegenwart schraubte das Leistungspotenzial der Anwesenden zurück, da sie sich beobachtet fühlten und Fehler vermeiden wollten. Hin und wieder blickte jemand auf und schielte verstohlen zu den beiden ranghöchsten Männern im Orden der Erleuchteten hinüber.

Asiano hatte auf seinem thronartigen Sessel Platz genommen. Der Superior hockte in dem etwas minderprunkvollen Stuhl daneben. Beide unterhielten sich mit dem Kommandanten der Zuflucht, einem Captain, den Sie vor einigen Jahren irgendwo in einer Bar für ehemalige Offiziere der Raummarine aufgelesen hatten. Nicht jeder der Schiffsbesatzung war ein Gläubiger. Die meisten wurden vom Orden für ihre Dienste bezahlt – und dafür, keine Fragen zu stellen und jeden Befehl des Erlösers auszuführen.

»Die Ikarus befindet sich noch immer in unserem Hangar«, teilte der Kommandant mit.

»Ich habe auch nicht erwartet, dass sie uns so schnell verlassen würde«, entgegnete Asiano und blickte auf den Bildschirm neben sich, der den Rettungskreuzer auf seinen Landestelzen im Hangar zeigte. Der Erlöser lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Über ihm war freier Weltraum. Die Plattform mit dem Kommandostand befand sich dicht unter der Biosphärenkuppel, jedoch abgeschirmt vom Leuchtring und den künstlich geschaffenen Wolken. Von hier aus hatte man einen sagenhaften Blick hinaus in das All.

»Sie werden versuchen, gewaltsam in den Tempel einzudringen«, gab Saladin an seiner Seite zu denken. »Das können wir nicht zulassen. Unsere Jünger würden Gegenmaßnahmen erwarten.«

Asiano nickte. Er wollte sich das Raumcorps nicht zum Feind machen, also konnte er nicht offen gegen dessen Leute vorgehen. Aber jetzt auf die Schnelle eine Intrige zu spinnen, das würde nur zu einem Desaster führen. Er hatte die andere Sache von langer Hand vorbereitet. Bereits zweimal hatten sie versucht, ihn und seinen Orden zu infiltrieren. Den ersten Verräter zu finden, war ein Kinderspiel gewesen – ihn auf die eine oder andere Art loszuwerden, auch. Sicherlich hätte es auch beim zweiten Mal geklappt, wären dieser Sentenza und sein Rettungskreuzer ihnen nicht in die Quere gekommen. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass der Zeitfaktor für ihn und seine Pläne spielte.

»Wo befindet sich das Rettungsteam derzeit?«, erkundigte er sich beim Captain.

»Sie waren vorhin im mittleren Ring, nahe dem verschlossenen Tempelraum. Mehrere Dutzend Suchende und Adepten haben den Weg blockiert. Sie kamen nicht durch.«

Asiano lächelte. Der Sauerstoff musste im Tempelraum bereits so knapp geworden sein, dass die ersten Jünger bewusstlos waren. Er überlegte, ob sie nicht die Restluft absaugen sollten, doch jeglicher Eingriff, den er jetzt anordnete, würde seinen Plan, die Sache wie einen Unfall aussehen zu lassen, zunichtemachen. Er musste abwarten und hoffte, dass zumindest der Spion starb, ehe Sentenza es doch noch irgendwie schaffte, in den Tempel einzudringen.

Er nickte dem Captain zu, woraufhin dieser sich zum Leitstand zurückzog. Nur der Kommandant und Superior Saladin teilten Asianos Wissen um die Vergeltungsaktion gegen den unerwünschten Eindringling. Er war sich ihrer Loyalität sicher. Der Captain hatte eine fette Prämie erhalten und Saladin war ihm treu ergeben.

Und alt.

Niemanden würde es verwundern, wenn er plötzlich eines natürlichen Todes starb – nur für den Fall, dass er einmal nicht in Asianos Sinne wirken sollte.

»Sollen wir die Guardians schicken?«, fragte Saladin nach, der von den Gedanken des Erlösers nichts ahnte.

Asiano faltete die Hände ineinander und betrachtete das Sternenmeer über sich. Eine Zeit lang schien es, als hätte er die Frage des Superiors gar nicht gehört, doch dann antwortete er: »Nein, wir warten.«


Schwitzend hetzten Sentenza, Sonja, Anande und Reno durch den Wartungsschacht. Je mehr sie sich dem Tempelraum näherten, desto stickiger und heißer wurde die Luft. Es gab wahrlich angenehmere Orte als diesen. Sie hatten Weenderveen und Thorpa am Eingang zurückgelassen. Der ältere Robotingenieur litt ohnehin an einer Art Klaustrophobie und hätte im engen Schacht wahrscheinlich Panikanfälle bekommen.

»Ist es noch weit?«

»Wir sind gleich da«, beruhigte Reno Sonja.

Es war zunehmend dunkler geworden. Schließlich hatten sie die zu ihrer Ausrüstung gehörenden Lampen eingeschaltet. Die Lichtkegel tanzten über verrottete Metallwände. Der Zustand des Ganges war übler als der des Decks im unteren Ring. Er wurde anscheinend nie gesäubert – wozu auch, wenn er nur alle Jubeljahre von einem Techniker genutzt wurde, um Wartungsarbeiten durchzuführen?

»Das ist die Kammer unter dem Schrein«, sagte Reno und deutete auf eine Aussparung am Ende des Tunnels.

Das Kom knackte. »Captain Sentenza?«, fragte die Stimme Trooids an.

»Was gibt es?«

»Die Regierung von Albira II hat mehrere Schiffe gestartet, um die Zuflucht aus dem Sonnensystem zu eskortieren. Sie haben gedroht, das Feuer zu eröffnen, sollte man nicht kooperieren.«

»Mist! Haben Sie denen gesagt, dass wir noch an Bord sind?«

»Natürlich. Aber es schien ihnen nichts auszumachen, uns mit zu vernichten.«

»Fantastisch.« Sentenza war jetzt gewiss nicht in der Stimmung für politische Kapriolen. Vorrangig mussten die Gläubigen gerettet werden. »Sagen Sie denen, dass sie sich die Aufnahme ins Raumcorps von der Backe schmieren können, wenn sie das Feuer eröffnen.«

Reno schritt voran in die Kammer und zeigte auf eine schmale Klappe in der Wand. »Das ist der Zugang zum Tempelraum«, flüsterte er.

»Dann rein.«

Sentenza fühlte die Hand Renos auf seinem Unterarm. »Seien Sie vorsichtig, Captain. Beim letzten Mal haben die mich fast erschlagen.«

Roderick nickte nur, zog den Laser und feuerte auf die Luke.

Funken sprühten, als der Blitz in das Metall einschlug und einen Teil einfach wegsprengte. Die Klappe schwang nach innen auf. Sentenza und Sonja stürmten in den Raum, kümmerten sich jedoch nicht um die allesamt auf dem Boden liegenden Menschen, sondern rannten mit angehaltenem Atem zum Portal.

»Sprengen!«, befahl Roderick. Als er einatmete, tanzten Flecken vor seinen Augen. Er röchelte. Die Luft war mehr als verbraucht.

Sonja taumelte ebenfalls, schoss jedoch. Gleißende Entladungen bohrten sich von innen in das Portal. Der Chief ließ den Finger nicht vom Abzug und sandte einen lang gezogenen Lichtfinger in drei Metern Höhe durch das Tor und zog dann eine kreisförmige Bahn. Sie hoffte, dass der durchschneidende Laserstrahl nicht die gläubigen Demonstranten auf der anderen Seite erfasste. Der Kreis war abgeschlossen. Eine letzte Entladung, dann fiel das herausgeschnittene Segment herunter. Frische Luft strömte in den Tempelraum. Durchzug entstand durch die noch geöffnete Luke zum Wartungstunnel. Zwar war noch immer der schale Geruch von abgestandener Luft gegenwärtig, aber die Rettungscrew konnte es zumindest riskieren durchzuatmen.

Sentenza und DiMersi kehrten zu den anderen zurück. Anande hatte sich bereits über die reglos daliegenden Leute gebeugt und untersuchte sie in einer Blitzaktion. Bei zweien schüttelte er den Kopf, anderen injizierte er eine mit Sauerstoff angereicherte Flüssigkeit und bei den schweren Fällen pumpte er Atemluft direkt aus einem mitgeführten Behälter in ihre Lungen.

»Das reicht nicht für alle«, sagte er, während er von einem zum anderen sprang, hier und da Wiederbelebungstechniken anwandte und bei einem Mann erneut den Kopf schüttelte.

»Wir müssen das Schott öffnen!«

Sentenza sah sich gehetzt um. Nur Notleuchten, die mit Eigenenergie versorgt wurden, brannten. Da erblickte er den Monitor über dem Portal, und was er darauf sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Eine Szene wurde immer wieder und wieder abgespielt. Er sah sich selbst draußen vor dem Schott, wie er mit den Demonstranten diskutierte, dann ihre Flucht vor dem hysterischen Gekreische. Das Bild wechselte, zeigte wie die Guardians von Elektrostößen aus den Stunnern Sentenzas und DiMersis zu Boden gingen. Wie Richterin Dorothea niedergeschossen wurde.

»Verfluchte Propaganda«, keuchte Roderick. »Sie hetzen sie gegen uns auf.«

Er hob die Pistole und drückte ab. Ein heller Energiestoß bohrte sich in den Plasmaschirm und verdampfte ihn.

»Das hilft uns nicht weiter, Captain!«, rief Reno ihm zu. »Wir müssen die Leute rausschaffen. Drei sind bereits tot.«

Sentenza wandte sich um. Der Suchende hatte sich über einen Mann gebeugt, der mit weit geöffneten Augen und in einer getrockneten Lache seines eigenen Blutes vor dem Schrein lag.

»Kannten Sie diesen Mann?«, fragte Roderick.

Reno atmete schwer. »Akolyth Prospero. Es war ein Unfall – er muss letztendlich verblutet sein.« Er richtete sich auf und blickte sich suchend um. Dann erspähte er Nova, eilte zu ihr und bettete ihren Kopf in seinen Schoß.

»Ich habe eine Idee!«, rief Sonja und deutete auf die Kabelstränge, die aus dem zerschossenen Bildschirm ragten. »Hilf mir mal.«

Sentenza unterstützte sie dabei, den Altar zu demontieren. Mit gezielten Schüssen trennten sie den Schrein von seinem Sockel, lösten die Kabelverbindungen, die das Hologramm Asianos mit Energie versorgten, und trugen ihn zum Portal hinüber. Sonja rupfte weitere Kabel aus dem Sockel, stieg dann auf den Altarstein und ließ sich von Roderick weiter nach oben stemmen, bis sie die Kabel erreichte, die von der Decke hingen. Sie zog sie herunter und betete, dass sie nicht rissen. Als sie wieder Boden unter den Füßen hatte, verlängerte sie die Kabel mit jenen aus dem Schrein, zielte dann mit dem Laser auf den Öffnungsmechanismus des Schotts und legte die Zuleitungen frei.

Sie schloss die Apparatur kurz und jagte einen Energiestoß durch die Kabel. Das Portal öffnete sich plötzlich und schob sich seitwärts in die Wände zurück.

»Ja!«, rief Sonja aus.

»Eine reife Leistung«, lobte Reno.

Auf der anderen Seite prallten die Demonstranten erschrocken zurück. Einige schrien ihnen Verwünschungen zu. Andere wandten sich ab und flohen.

»Der Tempel ist entweiht!«, rief jemand.

»Die Ketzer müssen bestraft werden!«

Einige der Erleuchteten wollten sich auf die Rettungscrew stürzen, doch es genügte, die Laser auf sie zu richten, schon suchten sie ihr Heil in der Flucht. Andere wiederum ignorierten die Ikarus-Mannschaft und kümmerten sich um die Bewusstlosen.

»Das … verstehe ich nicht«, gestand Sentenza.

Reno kam zu ihm. In seinen Armen hielt er eine ohnmächtige Frau.

»Ihre Religion ist durchaus komplex«, sagte er. »Sie achten das Leben und schützen es. Dass sie den anderen nicht geholfen haben, liegt einzig und allein an dem Umstand, dass sie gegen das Verbot verstoßen hätten, den Tempelraum gewaltsam zu öffnen. Aber die Geretteten trifft es vielleicht noch schlimmer. Sie haben sich in ihr Schicksal gefügt und mit dem Leben abgeschlossen. Sie erhofften sich bereits Erlösung im Tod …«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Sentenza sollte es just in diesem Moment am eigenen Leibe erfahren. Eines der Opfer sprang auf, als ihn die durch Anande verabreichte Dosis Sauerstoff wieder zu Bewusstsein kommen ließ. Es handelte sich um einen jungen Mann, ebenso kahl geschoren wie alle anderen. Sein erster Blick galt dem zerstörten Bildschirm. Dadurch wurde Sentenzas Annahme bestätigt, dass die Eingeschlossenen bis zum letzten Atemzug die Rettungsaktion mit verfolgt hatten.

Die Augen des Mannes richteten sich auf Sentenza. Wut mischte sich in seine Züge. »Sie!«, schnappte er. »Sie haben es getan. Sie haben mir den Zutritt zu einer höheren Ebene verwehrt.«

»Beruhigen Sie sich«, mahnte Sentenza und hob beschwichtigend die Hände. »Seien Sie froh, dass Sie noch leben, Mann!«

»Leben?«, kreischte der andere beinahe hysterisch auf. »Ich hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen, habe Frieden mit dem Universum geschlossen und mich auf meine Erlösung vorbereitet. Wer glauben Sie, der Sie sind, dass Sie mir das streitig machen wollen?«

»Ein schlichtes Danke würde es auch tun«, gab Sentenza ungerührt zurück, fing aber den warnenden Blick Renos auf. Etwas passte hier ganz und gar nicht ins Bild und der Captain fragte sich, ob der herumkeifende Gläubige noch ganz bei Trost war.

»Nur der Erlöser hätte sich einmischen dürfen, wäre ich dazu ausersehen gewesen, noch länger zu leben«, sagte der Mann und trat dicht an Sentenza heran. Seine Stimme klang leise, aber bestimmt. Eine unausgesprochene Drohung schwang in seinen Worten mit und Sentenza glaubte zu spüren, dass die Temperatur im Tempelraum um einige Grad sank. Die Augen des anderen funkelten vor Wut und unterdrücktem Zorn. Dann wechselte der Blick in einen entschlossenen Ausdruck über, den Sentenza selten zuvor bei einem Menschen beobachtet hatte.

Ohne Vorwarnung langte er nach Sentenzas Holster. Der Captain reagierte, war jedoch zu langsam.

Der Mann hatte den Laser an sich gebracht, doch statt auf Sentenza zu zielen, richtete er die Mündung gegen sich selbst.

»Nein!«, fuhr Roderick auf und sprang vor.

»Für die Erlösung!«, rief der Suchende aus und drückte ab, ehe Roderick es verhindern konnte. Der Laserstrahl hatte den Brustkorb des anderen aufgeschnitten, sein Herz durchbohrt und ihn auf der Stelle getötet. Er kippte hintenüber und noch im Tod schienen seine Augen Sentenza anklagend anzustarren.

Geschockt verharrte der Ikarus-Captain über dem Leichnam und ging selbst in die Knie. Was hatte den Mann nur veranlasst, sich das Leben zu nehmen? War er so sehr auf die Lehren Asianos eingeschworen, dass er bereitwillig den Tod suchte?

»So sinnlos«, murmelte Roderick Sentenza und fühlte, wie langsam Wut in ihm aufkeimte. Wut auf sich selbst, dass er die Aktion nicht vorhergesehen hatte, und auf Asiano, der für den Selbstmord mit verantwortlich war.

Sonja, die Anande dabei geholfen hatte, die Bewusstlosen nach draußen auf den Gang zu tragen, ging neben ihm in die Hocke und schloss ihn in die Arme.

»Warum?«, flüsterte Roderick. Er fühlte einen Stich im Herzen, als hätte der Laserblitz ihn selbst getroffen.

Sonja wusste nichts darauf zu sagen. Ihre Augen waren unverwandt auf den Toten gerichtet. Der Schock saß ihr ebenso in den Gliedern wie ihm. Neben sich gewahrte sie Reno.

»Wie ich schon sagte«, meinte dieser leise, »sie hatten bereits die Erlösung erwartet. Das Schicksal hatte sie dem Tode geweiht und Sie haben Gott gespielt und dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen, Captain. Und für die Erleuchteten ist nur der Erlöser ihr Gott.«

Als auch Anande einsah, dass die Gläubigen sich um ihre Leute kümmerten und bereits Sanitätspersonal mit Tragen herbeieilte, gesellte er sich zu den anderen.

»Wir sollten jetzt verschwinden«, sagte Jovian. »Die werden uns das sicher noch übel nehmen.«

»Er hat recht«, bekräftigte Reno. »Und ich wäre nicht abgeneigt, Ihr Angebot anzunehmen, mit Ihnen zu kommen.«

»Von welchem Angebot reden Sie?«, wunderte sich Roderick, noch halb abwesend und den Toten anstarrend.

»Die werden mich lynchen, wenn ich hierbleibe«, sagte der Mann. »Oder mir das Gleiche antun wie Nova.«

»Was ist denn mit ihr?«, fragte Sonja besorgt.

»Später.«

Endlich raffte sich Roderick Sentenza auf, nahm den Laser an sich und ließ sich von Sonja stützen.

Meine Schuld, dachte er verzweifelt. Es hätte nicht so weit kommen dürfen. Vielleicht wäre es nicht geschehen, wenn ich Priester Lemore mitgenommen hätte.

Als sie den Gang draußen betraten, räumte er seine Selbstzweifel beiseite. Sein Verstand begann wieder, zu arbeiten und das Ereignis nüchtern zu betrachten. Sentenza wusste, dass er Asiano und sein Glaubensgebilde falsch eingeschätzt hatte. Wenn es einen Schuldigen gab, dann den selbst ernannten Erlöser.

Sie nahmen den Weg zurück zum Hangar. Die Gläubigen, die sie unterwegs trafen, machten einen großen Bogen um sie oder verschwanden gleich in abzweigenden Gängen und Räumen. Asianos Propagandamaschinerie wirkte voll und ganz. Auf jedem öffentlichen Bildschirm, den sie passierten, wurde der gewaltsame Einbruch der Ikarus-Crew ins Sanktuarium gezeigt. Im Tempelraum waren versteckte Kameras installiert gewesen. Auch der Freitod des Suchenden wurde immer wieder und wieder in Zeitlupe wiederholt.

Sentenza kochte vor Wut. Am liebsten hätte er den Weg in die Biosphäre eingeschlagen und Asiano zur Rechenschaft gezogen. Nur das bisschen Vernunft, das den Schock überwunden hatte, hielt ihn davor zurück.

Sie trafen sich im unteren Ring mit Darius Weenderveen und Thorpa, die über die Monitore ebenfalls von dem Geschehen unterrichtet waren.

Als sie gemeinsam das Unterdeck erreichten, setzte Asiano seiner Tirade die Krone auf. Sie passierten gerade einen der Schirme, als das Bild des Selbstmörders ausgeblendet wurde und dem Antlitz des Erlösers Platz machte.

»Das haben Sie nun davon, Captain Sentenza«, sprach Asiano mit deutlich schärferem Ton als noch vor einer guten Stunde in der Biosphäre. »Sie hätten sich nicht einmischen dürfen, haben unsere heilige Stätte entweiht und sind zum Mörder geworden.«

Sentenza blieb stehen.

»Ja, ganz recht! Sie haben einen Unschuldigen auf dem Gewissen! Glauben Sie nicht, dass Sie ungeschoren davonkommen werden. Ich habe einflussreiche Verbündete im Multimperium und sogar dem Corps. Man wird Ihnen den Garaus machen, Sentenza, das verspreche ich Ihnen. Seht her, meine Getreuen, dort steht der Mörder und Schänder unserer Stätte …«

Der Gedanke, dass die Ansprache des Erlösers im ganzen Schiff übertragen wurde, behagte Sentenza überhaupt nicht.

»Rod!«

Sonjas Stimme weckte ihn aus der Starre. »Komm!«

»Ich gehe zu Asiano«, sagte er. »Er wird mich kennenlernen!«

Sonja kehrte zu ihm zurück, packte ihn an der Uniform und zog ihn einfach mit sich. »Nichts wirst du tun«, erwiderte sie. »Es ist schon genug Unheil angerichtet worden.«

Vom beißenden Spott und den Anschuldigungen und Verhöhnungen Asianos verfolgt, erreichten sie den Hangar, ohne von irgendwem aufgehalten zu werden. Trooid hatte bereits die Manövriertriebwerke warm laufen lassen. Die Ikarus war startbereit.


Drei Raumschiffe von Albira II befanden sich im Anflug. Sie hatten Schilde und Waffen aktiviert, ein deutliches Zeichen dafür, dass sie es ernst meinten. Sowohl die Ikarus, als auch die Zuflucht waren mehrmals kontaktiert und aufgefordert worden, das System zu verlassen. Trotz allem war Sentenza entschlossen, dem Schiff der Erleuchteten beizustehen, falls es tatsächlich zu einem Angriff kommen sollte. Er ließ die Ikarus kampfbereit machen.

Priester Lemore und sein mittlerweile genesener Schüler Yannick Kersseboom teilten sich die ehemalige Unterkunft von An’ta. Johannsson, der doch noch nicht so gesund war, wie er vorgegeben hatte, war von Anande wieder auf die Krankenstation verwiesen worden – ebenso die gerettete Nova, die jedoch noch nicht wieder bei Bewusstsein war.

Reno hielt sich mit dem Rest der Besatzung auf der Brücke auf und beobachtete die Annäherung der Kampfschiffe. Sie mussten jeden Moment in Schussweite sein.

»Sie haben keine Chance gegen sie, Captain«, erkannte Reno.

»Möglich«, stimmte Sentenza zu. »Aber ich mache es ihnen nicht einfach.«

Trooid drehte sich um. »Captain, ein Ruf von der Zuflucht

»Auf den Schirm!«

Wie nicht anders zu erwarten, erschien Asianos Gesicht. Der stechende Blick des Erlösers schien jeden der Anwesenden in der Kommandozentrale zu durchbohren. Schließlich verharrte er auf Sentenza. Ein leichtes Lächeln, umspielte seine Lippen, doch es wirkte keineswegs mehr so sympathisch wie noch bei ihrer ersten Begegnung im Biotop – eher boshaft.

»Eines sollen Sie noch wissen, Captain Sentenza«, sagte Asiano mit durchdringender Stimme. »Ich schwöre beim Rashett, dass wir uns wiederbegegnen werden und dass Sie dann am Boden liegen, während ich Ihren Schädel in den Lehm drücken werde. Sie werden mir für das büßen, was Sie heute hier angerichtet haben. Beim Cernum, verflucht seien Sie und Ihre Mannschaft für Ihre Taten!«

Die Übertragung wurde jäh unterbrochen und das Bild machte wieder der Außenaufnahme Platz. Plötzlich zündete die Zuflucht ihre Triebwerke und beschleunigte.

»Sie haben einen Fluchtkurs raus aus dem System gesetzt«, berichtete Trooid.

»Das wird die Albiraner hoffentlich davon überzeugen, dass sie verschwinden wollen«, hoffte Darius Weenderveen. »Auch wenn sie mehrere Stunden benötigen, um mit Sublicht das System zu verlassen.«

Doch die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Nur wenige Augenblicke nach dem Blitzstart wurde der Hyperantrieb der Zuflucht aktiviert und katapultierte das Pilgerschiff in das übergeordnete Kontinuum. Noch während die Brückencrew erstaunt den leeren Platz im Raum musterte, an dem der Bildschirm gerade noch die Zuflucht gezeigt hatte, drehten die Angriffsschiffe Albiras wieder ab.

»Eingehende Transmission«, verkündete Weenderveen. »Die Regierung von Albira hegt keinen Groll gegen das Raumcorps. Sie wollten nur so schnell wie möglich die Erleuchteten loswerden.«

Roderick Sentenza nickte nur. Ihn hätte es im Moment nicht einmal interessiert, hätten die Kampfschiffe das Feuer auf die Ikarus eröffnet. Viel schlimmer wog die Tatsache, dass Asiano ihn zu allem Übel wieder an der Nase herumgeführt hatte.

»Der Hyperantrieb war die ganze Zeit über einsatzbereit?«, wunderte sich Sonja kopfschüttelnd.

»Asiano spielt ein übles Spiel«, bestätigte Reno. »Der Unfall war ebenfalls nur inszeniert.«

Sentenza horchte auf. »Wie kommen Sie zu der Annahme?«

Nun grinste Reno. »Weil er mich kriegen wollte.«

»Ich habe langsam genug von mysteriösen Andeutungen und Überraschungen. Meine Crew und ich sind seit über einer Woche von einer Rettungsmission zur nächsten gehetzt, ohne Pause. Und jetzt wollen Sie mir erzählen, dieser Einsatz war eine Farce? Asiano hat den Unfall inszeniert, um Sie loszuwerden, weil er wusste, dass Sie sich in dem Tempelraum befanden. Ich glaube, Sie sind uns eine Erklärung schuldig!«

Reno atmete tief durch. Er blickte in die Runde und bat dann darum, mit dem Captain unter vier Augen sprechen zu können.

»Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Crew«, sagte Sentenza und bereute seine Worte gleich wieder, als er sich den zornigen Blick Sonjas einfing. Offenbar erinnerte sie sich wieder an ihren Streit, da er ihr den Einbau des KI-Plasmas verschwiegen hatte. Auf der anderen Seite war es gut, dass er sich jetzt nicht auf ein vertrauliches Gespräch mit Reno einließ. Dadurch konnte er seiner Mannschaft zeigen, dass er ihr vertraute.

Reno lehnte sich gegen eine der hinteren Schaltkonsolen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mein Name ist Nicholas Reno – im Allgemeinen nennt man mich Nick. Ich bin Agent der Galaktischen Kirche zu St. Salusa und wurde in den Orden der Erleuchteten eingeschleust, um eine verschollene Agentin zu suchen und zurückzuholen.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Sonja. »Die Frau, die jetzt auf unserer Krankenstation liegt?«

Reno nickte. »Ja, ihr Name ist Nova Meridia. Sie hat ebenfalls im Auftrag der Amtskirche Asianos Sekte infiltriert, um seine üblen Machenschaften aufzudecken. Nach zwei Monaten blieben jedoch ihre Berichte aus, und als wir nach einem halben Jahr noch immer nichts von ihr hörten, schickte man mich aus, um sie zu suchen. Ich traf sie heute das erste Mal im Tempelraum. Vorher kam ich nie in ihre Nähe, obwohl ich mich schon seit einigen Wochen auf der Zuflucht befand. Als ich sie sah und sie mich nicht erkannte, wusste ich, dass die Bastarde ihr eine Gehirnwäsche verpasst hatten. Sie schien mit Leib und Seele denen zu gehören. Und irgendwie ist meine Tarnung aufgeflogen. Asiano wollte mich loswerden und inszenierte den kleinen Unfall, sodass niemand Verdacht schöpfen würde. Um die Sache perfekt zu machen, opfert er ein paar seiner Untertanen.«

Eine Weile schwiegen sie. Schließlich erlaubte Sentenza Reno, die Brücke zu verlassen und auf der Krankenstation nach Nova zu sehen. Er selbst ordnete den Rückflug nach Vortex Outpost an. Sie mussten eine kurze Strecke durch den Hyperraum zurücklegen, ehe sie ein System mit einem Sprungtor erreichten.

»Darius, benachrichtigen Sie Vortex. Wir kommen zurück, und egal welche Notfälle uns noch erreichen sollten, wir legen jetzt eine Woche Dauerschlaf ein. Ich bin in meinem Quartier. Trooid, Sie haben die Brücke.«

Noch ehe sich Weenderveen und Thorpa wundern konnten, warum er nicht das Kommando rangmäßig an Sonja DiMersi abgab, war der Chief schon hinter Sentenza durch das Schott geschlüpft.

»Geht das schon wieder los«, seufzte Weenderveen.

»Vielleicht sollte ich Kameras im Quartier des Captains installieren«, meinte Thorpa. »Der Paarungstrieb scheint bei den Menschen sehr ausgeprägt zu sein. Ich könnte da noch sehr viel lernen.«

»Unterstehen Sie sich!«


Das Plätschern des Baches wirkte normalerweise beruhigend, dennoch fand Asiano nicht die notwendige Zerstreuung. Erneut kreisten seine Gedanken um Sentenza und dessen Besatzung. Durch den gewaltsamen Einbruch in den Tempelraum hatten sie ein Sakrileg begangen, das ihn als Erlöser in einem schlechten Licht dastehen ließ. Er hätte es niemals zulassen dürfen. Seine Existenz war gefährdet, wenn die Jünger erst einmal an ihm zu zweifeln begannen.

Asiano wandte sich von dem Bach ab und überquerte in Begleitung zweier Guardians die kleine Brücke, die zu seiner Hütte führte. Dort warteten schon Superior Saladin und Richter Oberon zusammen mit seiner Akolythin Thekla. Einen Nachfolger Prosperos hatte man noch nicht bestellt, aber diese Aufgabe würde Oberon allein meistern.

Als Asiano die anderen erreichte, verneigten sie sich vor ihm. Und er badete im Schein dieses Tributs. Er konnte ihre Gedanken nicht lesen, wusste nicht, ob sie es aufrichtig meinten, ihn immer noch verehrten. Er musste ihnen vertrauen …

… so, wie er Nova vertraut hatte?

Vielleicht hätte er ihre wahre Identität nie erkannt, wenn sie sich nicht selbst verraten hätte. Im Schlaf. Nach ihrem Liebesspiel in seiner Hütte.

Agentin der Amtskirche, dachte er. Ha! Die Kirche zu St. Salusa hat nicht die geringste Ahnung, wer sie wirklich ist.

Und sie würden es auch nicht herausfinden. Der Versuch, die Gehirnwäsche gewaltsam zu durchbrechen, würde ihren Verstand zerstören, ein für alle Mal. Womöglich erinnerte sie sich irgendwann selbst an Dinge aus ihrer vergangenen Existenz – aber bis dahin mochten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen. Dann würde sie Asiano nicht mehr gefährlich werden können.

Er wandte sich den anderen Anwesenden zu. »Wir kehren vorerst nach Angelus Prime zurück«, teilte er ihnen mit. »Und dort werde ich mir gründlich überlegen, wie wir es Captain Sentenza heimzahlen werden.«

»Rache, Eure Heiligkeit?«, warf Richter Oberon unsicher ein.

Rache galt in den Kreisen der Erleuchteten als verpönt und widersinnig. Zumindest für die Untergebenen. Der Erlöser stand über diesen Dingen. Er konnte tun und lassen, was er wollte – solange es nicht überhandnahm.

»Rache?«, wiederholte er und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. O ja, Rache … ich werde dich leiden lassen, Sentenza …

»Nennen wir es Selbstschutz, Oberon. Sentenza und Leute seiner Art stellen eine Gefahr für unsere Existenz dar – sie müssen erlöst werden.«

Als sei damit alles gesagt, ging Asiano an den anderen vorbei und betrat seine Hütte. Oberon, Thekla und Saladin kehrten zu ihren Unterkünften zurück. Sie wussten, was die Erlösung bedeutete, ebenso wie sie von den Plasmabomben an Bord der Fluchtkapseln wussten. Und von den Heilsbringern … den Eliteguardians, die man auf besondere Erlösungsmissionen schickte …

– Ende –

Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)

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