Читать книгу (Kranken-) Bettgeflüster - Sylwester Dr. Minko - Страница 7
ОглавлениеDie Anzeige
„Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages vor einem Gericht stehen werde. Es ist so, dass die schlimmsten Dinge, die neben uns geschehen, uns selbst nicht betreffen. Gerichte und Krankenhäuser sind voll von den Unglückseligen, denen wir zwar unser Mitgefühl zeigen, aber uns nicht vorstellen können, selbst betroffen zu sein. Man muss so denken, sonst müsste man in ständiger Angst leben. Jeden Tag.
Das, was ich hier gehört habe, ist grauenvoll. Die abscheulichsten Verleumdungen, als wären alle schrecklichen Gespenster angeflogen. Oder der Verstorbene selbst, in dessen Namen diese Frau spricht. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Sie schrieb solche schamlosen Worte … Ich muss ihr widersprechen. Ich schwöre, dass das, was hier auf dem Papier steht, eine gigantische Lüge ist.“
Der Staatsanwalt hörte geduldig zu und sah die vor ihm sitzende Frau aufmerksam an.
„Sie müssen tapfer sein. Meine Aufgabe ist es, die Sachlage objektiv zu untersuchen. Ich weiß, dass es unangenehm ist, wenn ein Amtsträger Sie über solche Geschehnisse befragt, die Sie gern so schnell wie möglich vergessen würden. Ich verstehe, dass es schwer ist, das zu ertragen, worüber solche Anzeigen wie diese berichten. Verstehen Sie mich bitte, ich kann diese Anzeige nicht einfach verbrennen und vergessen. Das sind Dokumente. Nachdem darauf ein Eingangsstempel steht, müssen wir jeden Satz durcharbeiten. Das ganze Schreiben. Deshalb habe ich Sie hierherbestellt.“
„Vielleicht sollten Sie die Absenderin des Schreibens einbestellen“, suggerierte die Frau.
„Ach, sie würde nur das wiederholen -“
„Wenn sie gekommen wäre, wenn sie Mut gehabt hätte …“, unterbrach ihn die Frau.
„Hm, manchmal kommen sie, die Absender. Sie setzen sich an meinen Schreibtisch und weinen. Zuerst drohen sie mir, dann behaupten sie, dass sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hätten. Dass sie nicht die passenden Worte gefunden hätten, um das zu beschreiben, was sie sahen. Am Ende werden sie weich, schwächer und ich sehe Tränen in ihren Augen.“
„Diese Frau hat kein Gewissen!“, empörte sich die Angeklagte.
„Nein. Jeder Mensch hat ein Gewissen, nur … wir sind von uns selbst eingenommen. Das betrifft auch die anständigsten Menschen.“
„Sie hat kein Gewissen“, wiedersprach die Frau. „Selbst die Toten belästigt sie. Sie zerrt meinen Mann aus der Gruft heraus, sie will ihn nicht in Ruhe lassen. Er hat doch so gelitten, er hat es verdient, ruhig zu schlafen. Alle leiden, doch er hat wahrscheinlich am meisten gelitten. Ich ahnte nicht, dass ein Mensch so viel aushalten kann.“
„Ein Mensch hält all das, was ihm vorherbestimmt ist. Er hat keine andere Wahl. Bis er es richtig merkt, trägt er eine Last, die ihn überfordert. Zuvor wusste er gar nicht, was er ertragen kann. Erst jetzt sieht er das ganz genau. Er will bewundert werden.“
„Mein Mann konnte Menschen nicht ansehen. In den letzten Wochen haben wir niemanden empfangen. Fremde Gesichter machten ihn müde. Vor allem Lippenbewegungen, Wörter, die die anderen aussprachen. Er sagte, die Wörter explodieren vor ihm, sodass er Kopfschmerzen davon bekommt, dass er darauf wartet, dass sie endlich gehen.“
„Sie haben mein Mitgefühl“, sagte der Staatsanwalt. „Das muss sehr unangenehm gewesen sein. Ich würde das nicht gerne wiederholen, deshalb möchte ich hiermit mein Bedauern und meine Achtung zum Ausdruck bringen. Nun gehen wir der Sache nach und widmen uns dem Schreiben, was vor mir liegt.“ Er begann den Brief zu lesen:
„Ich beschuldige Frau Rosalie Roth, ihren Mann getötet zu haben. Dem muss ich zufügen, dass sie lange Zeit ihren Mann gewissenhaft gepflegt hat, doch schließlich ertrug sie diese Situation nicht mehr. Sie entschied, sein Leben zu beenden, indem sie ihm seine notwendigen Medikamente verweigert hat.“
„Er hat mich gebeten, ihm etwas gegen diese unerträglichen Schmerzen zu geben. Er konnte sich selbst nicht bewegen. Er nahm nur das ein, was ich ihm in den Mund eingeführt hatte. Zuerst wartete er auf Linderung der Schmerzen und danach wollte er so schnell wie möglich in diese Dunkelheit, deren Tore sich bereits öffneten. Er sprach, dass wenn er schon ins Jenseits gehen müsse, dann solle es so schnell und so einfach wie möglich sein. Ich tat nichts Boshaftes. Ich hatte auch keine Mittel, um dies zu tun. Ich sagte nur: Alles wird gut, Geduld ist vonnöten. Dass manche Menschen mehrere Jahre lang im Bett verbleiben müssen. Er sagte: Noch nie zuvor war es so schlimm. So tief saß der Schmerz.
Früher, als er krank war, waren Menschen um ihn herum. Kinder kamen zu ihm, sein Hund legte seine Schnauze auf die Bettdecke und leckte seine Hand. Alle sprachen mit ihm, so als würde er gleich aufstehen und gehen. Niemand hatte Angst vor seiner Krankheit. Doch diesmal kam es ihm so vor, als wäre sein Bett viel tiefer gelegt worden, fast direkt auf den Boden. So sah er alle von unten an. Sie haben sich von ihm abgewandt, redeten nicht, drückten die Augenlider zu, sahen ihn wie eine eklige, wenn auch herzlich nahe Sache an, die man da, wo sie ist, belassen muss, weil sie nicht in der Lage sind, sie weiter zu ertragen. Es war seit vielen Jahren bekannt, dass so ein Tag kommen wird, doch als es geschah, schien es ein gewöhnlicher Tag zu sein. Aus der Ferne hörte man Kinder, die den Notarztwagen spielten. Sie waren schneller im Klaren darüber, was geschieht. Der Hund blieb auf der Schwelle stehen und spitzte die Ohren. Er rief ihn an: Komm, Otto, komm! Doch der Hund harrte auf der Schwelle aus. Da sagte Klaus: Ich gehe unter. Ich habe nicht darauf geachtet, weil er zuvor oft übertrieben hatte, doch später habe ich begriffen, dass er das sagte, was er fühlte. Dabei lag er ruhig, als hätte er sich mit seiner Situation abgefunden. Es reichten wenige Wochen, bis er endgültig aufgab.“
„Hm, ja. Bitte hören Sie weiter zu. Ich zitiere: Zuerst war sie flink und fleißig, kümmerte sich hingebungsvoll um den Kranken. Sie richtete die Kopfkissen, maß die Körpertemperatur und legte nasse Handtücher an seine Stirn.“
„Mitten in der Nacht hob er seinen Kopf, rief mich: Rosalie, Rosalie, bring mich weg von diesem Krankenhaus. Später beklagte er, dass er, sobald er einschlafe, durch lange Korridore getragen werde, die ganze Nacht lang. Überall leere Betten. Er sei der einzige Kranke in dem riesigen Gebäude. Operationssäle, Verbandszeug, Berge von Pillen, alles das sei für ihn. Er habe keine Kraft zu rufen, die Krankenpfleger sollen aufhören, ihn auf der Trage zu schaukeln.“
„Hm, ja, ich lese weiter: Sie hat kaum geschlafen. Sie zählte aufmerksam seine Atemzüge. Als sie ihre Augen schloss, sah sie Blut, das geschäumt aus seinem Mund sprudelte.“
„Er ergriff meine Hand. Er sagte, er habe sich seit Jahren nicht so sonderbar gefühlt. Als sei er wieder ein Kind. Offenbar ist es möglich, dass wir zurückkehren, wenn es kritisch ist. Ja, das Jenseits existiert doch. All die Düfte, Klänge, Landschaften bleiben in der Ferne stehen. Gleich kommen unsere Eltern. Sie bleiben an der Schwelle in leichter, heller Kleidung stehen und strecken ihre Arme zu uns aus. Wir werden gerettet.“
„Gut, schon gut. Kommen wir zurück zu dem Brief: Nur eine Frau und niemand sonst kann einen anderen Menschen so gut pflegen. Wir Frauen haben das mit der Muttermilch aufgenommen. Wir spüren keine Ermüdung, wir spüren nur, dass wir jemanden retten müssen, der uns braucht.“
„Er drückte meine Hand so stark, als befürchte er, dass ich ihn verlasse. Er sprach, dass die Welt jetzt für ihn wie hinter einer Scheibe existiere. Er könne nicht hinein, er könne nichts tun. Dass er nicht aus dem Bett rauskönne, es sei ihm unangenehm, er müsse sich damit abfinden. Als ich ihm widersprach, hat er mir nicht geglaubt.“
„Das ist aber noch nicht zu Ende. Hören Sie bitte weiter zu: Aber auch eine Frau kann ungeduldig sein. Sie gibt alles, doch eines Tages hat sie genug davon. Sie sieht sich im Spiegel an, berührt ihre Haut im Gesicht und nimmt ihre Finger in Panik zurück.“
„Der Arzt sagte, wir hätten keine Chance. Viele andere Ärzte bestätigten das. Es gab niemanden, der etwas anderes sagen würde, der uns Hoffnung geben würde. Ich hatte Angst, dass er das spürt, dass er hört, was die Ärzte sagen. Wir haben uns doch daran gewöhnt, die Kranken bis zum letzten Atemzug zu belügen. Selbst wenn sie im Begriff sind, ihr Bewusstsein zu verlieren, sagen wir, sie würden am nächsten Tag aufstehen. Kein Wunder, dass sie misstrauisch sind. Klaus sah uns zuerst aufmerksam an, dann schloss er seine Augenlider, als projiziere er die ganze Wahrheit für sich selbst und danach lag er geknickt da. Nicht mal seine Hand streckte er in meine Richtung.“
„Verzeihen Sie bitte … Ich würde gerne …“ Der Staatsanwalt las weiter: „Sie musste begreifen, dass sie verkümmert. Dass sie an seinem Bett die einzige Chance verliert, die sie noch im Leben hat. In so einem Moment ist eine Frau zu allem fähig und sie wird auch keine Hemmungen haben.“
„Bald habe ich begriffen: Wenn selbst ein Arzt keine Hoffnung gibt, muss es sehr schlimm sein. Bleibt nur das Leiden und das Warten auf das grausame Ende. Ich wusste schon, dass ich alles sehen werde, worauf kein Mensch blicken möchte. Deshalb bedeckt man die Unglückseeligen mit einer Decke.“
„In dem Brief finden wir einige Anspielungen: Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, doch ich bin mir sicher, dass sie diese Hoffnungslosigkeit nicht ertragen konnte. Seit einer gewissen Zeit war Rosalie ziemlich ungeduldig. Sie hatte so viele Medikamente zur Verfügung, dass es kein Problem war, so viele davon zu verabreichen, bis es reichte. Oder ein Medikament, das belebend wirkte, nicht zu geben.“
„Ich habe mich immer vor den Toten geschämt. Ich bin vor ihnen, wie auch viele andere, weggerannt. Doch ich habe ihm immer wieder gesagt, dass es viel schlimmere Krankheiten als seine gibt. Und auch größeres Leiden. Er lächelte nur verständnisvoll und schaute so, als würde er die Luft und die Menschen sehen, die später kommen und an seinem Grab stehen werden. Einige bettelnd, andere entsetzt.“
„Ja. Und ich lese weiter: Ich fordere Sie auf, diese Angelegenheit zu untersuchen. Die Wahrheit muss ans Tageslicht. Kein Mensch darf über das Leben eines anderen entscheiden. Besonders eine Frau, die mit dem Mann zusammenlebt.“
„Er sagte, wenn er hier rauskäme, würde er ganz anders leben. Er wisse schon, wie er leben soll. Ab sofort. Er wisse schon, was ihm schade. Er versprach, dass er damit aufhöre. Er würde anders leben – aufmerksam, bewusst. Ich habe meinen Kopf gedreht, damit er nicht sieht, dass ich weine. Ich behielt in Erinnerung, was die Ärzte sagten. Die sind manchmal ehrlich.“
„Sie sollte selbst zugeben, was die meisten schon ahnen. Erst dann kann über sie gerichtet werden.“
„Bitte hören Sie auf zu lesen. Das Leben jedes Menschen liegt einzig und allein in der Hand Gottes. Ich habe auf seine Entscheidung geduldig gewartet. Doch ich konnte die Lügen nicht ertragen. Sie waren überall, in jedem meiner Schritte, in meinen Haaren, die mir in den Mund gerieten. Und meine Finger … Zum ersten Mal habe ich begriffen, warum Menschen an ihren Fingern kauen. Aus Furcht stecken sie ihre Finger in den Mund, wie Kinder, die saugen müssen. Ah, könnte ich wieder ein kleines Mädchen sein, mein Gesicht in den Kleidern meiner Eltern verstecken. Wenn wir noch einmal Kinder wären, uns an den Händen fassen und davonrennen könnten. Auf eine Wiese … Duft des Heus … Immer öfter wollte ich mich in einer Zeit verstecken, die es nicht mehr gibt. Doch leider, wir sind erwachsen. Meine Beine sind schwer, Klaus’ Körper ist träge. Ich wollte zusehen, wie er einschläft. Sein Gesicht wurde entspannt, lächelnd, als hätte er pausenlos geträumt. Als ich ihn fragte, sagte er, seine Träume seien dunkel. Er sehe nichts außer Schwarz. Keine Gesichter, keine Räume, nur Last. Als wenn die ganze Welt aus einem Kleber bestünde, durch den es keinen Durchgang gibt.“
Der Staatsanwalt las wieder: „Rosalie hatte ihre guten Gründe. Klaus verhielt sich schon länger merkwürdig. Seine Träume waren einfach gefährlich. Zum Beispiel – eine Reise durch das Labyrinth eines großen Gebäudes, in dem Pförtner, Redner und Hausmeister vor einem Gericht standen. Sie gaben Verbrechen zu, die kein anständiger Mensch begehen würde. Für einen Mann gab es nichts Einfacheres, als seiner Frau untreu zu werden, in sonstigen Schlamassel zu schlittern oder sogar zu töten.“
„Ich habe noch nie über die Vergangenheit nachgedacht. Er war krank, unglücklich und hilflos. Wir haben nicht über die schrecklichen Tage gesprochen, als die Menschen ihn aus dem Haus gezerrt haben. Manchmal sprach er von einem Denkmal, das man in der Mitte der Stadt errichtet hat. Er lästerte über die Vögel, die sich auf den Kopf des Denkmals setzten und ihn verschmutzten. Ich hörte bestürzt zu und tat so, als würde ich ihm glauben. Schließlich hat jeder Mann ein Recht auf Wahnsinn. Er verlangt es von der Welt, besteht darauf. Wenn es aber dazu kommt, kann er sich nicht zurückziehen. Und dann wird er darauf beharren, jemand anders zu sein als der, der von den anderen wahrgenommen wird. Er erhob sein Haupt, sah sich um und lauschte. Ich wusste, dass ich ihm nur auf eine Art helfen kann – ihn glauben zu lassen, dass ich an seine Wahnvorstellungen glaube. Er erwähnte ein Verbrechen und dass er sich von dieser Schweinerei reinwaschen möchte. Deshalb sei er weggerannt, solange wie seine Kräfte reichten. Eines Tages wurde er schwach, ist ins Wanken geraten. Fremde Männer haben ihn nach Hause gebracht. Gerade noch war er in der Lage, seine Adresse auszusprechen, er wankte vor Erschöpfung und stürzte. Ich rief den Arzt an. Ich wusste noch nicht, dass er nie mehr aufstehen würde.“
Die Papierblätter in der Hand des Staatsanwaltes raschelten. Er legte ein Blatt auf die Seite und las fort: „Frauen sind geduldig, doch Rosalies Kräfte ließen offenbar nach.“
„Ich erlebte, was Alptraum bedeutet. Ich sah, wie böse Geister sich einem Menschen nähern, ihn zuerst untersuchen, dann in die Zange nehmen, unermüdlich, ohne Ende. Zuerst sprach er über Dinge, die ich nicht verstand. Danach über seine permanente Angst. Die Krankheit wuchs in ihm wie ein Giftpilz. Schließlich ergriff sie sein Gehirn. Er betrachtete die Welt wie im hohen Fieber.“
„In dem Brief steht Folgendes geschrieben: Als sie keine Kraft mehr besaß, nahm sie das Schicksal des Mannes in die eigenen Hände.
„Ich habe versucht, mit ihm zu reden. Er verstand nicht, worum es mir geht, er schrie, bis er nicht mehr schreien konnte. Er flüsterte im Fieber. Ich versuchte ihm zu erklären, er solle zur Besinnung kommen. Doch es ist unmöglich, einem Kind zu erklären, dass die Welt gefährlich ist. Zwischen uns ist eine gläserne Wand entstanden. Niemand half mir. Als er einschlief, weinte ich leise. Ich hätte ihn weiter belügen können, dass alles gut wird, dass wir einen langen Urlaub machen werden. Dass wir in einen Wald eintauchen, den Wald seiner Träume.“
„Früher oder später kommt jeder von uns in eine Situation, in der er bei Sterbenden stehen und sie betrügen wird, schreibt diese Frau. Und jeder von uns wird irgendwann betrogen werden. Mehr kann ein Mensch nicht tun.“
„Danach habe ich gelernt, all seine Wünsche von seinen Augen abzulesen. Das war in der Zeit, in der ihn niemand verstehen konnte. Dann versuchte er zu lächeln, doch seine Lippen haben ihm nicht gehorcht. Sie sahen wie roter Gummi aus, abgestorben. Er wollte seinen Kopf anheben, vergebens. Nur seine Pupillen leuchteten heller. Gut, dass er seine Augenlider hoch halten konnte, bis auch das nicht mehr möglich war.“
„Die Wahrheit sei unangenehm, behauptet die Frau, die Anzeige erstattete: Rosalie Roth erhöhte die Dosis des starken Medikaments. Dessen bin ich mir sicher. Sie wird uns von ihrer Barmherzigkeit zu überzeugen versuchen, doch was sie wirklich fühlte und was sie damals dachte, weiß niemand und niemand wird es je erfahren. Abgesehen von der Staatsanwaltschaft.“
„Ich wollte ihm helfen, doch ich bin nicht allmächtig. An diesen Tagen spürte ich meine Schwäche mehr als je zuvor. Wie ein Mensch, der begriffen hat, dass er nicht unsterblich ist. Anders als Sand und Steine gehen wir spurlos verloren.“
„Hier, sehen Sie, das Wichtigste: Ich beschuldige Frau Rosalie Roth, ihren Mann Klaus Roth getötet zu haben.“
„Ohne die für ihn typische Eile schlief er ein. Als hätten ihn böse Geister verlassen. Er machte einen tiefen Seufzer und sah mich ein Augenblick mit Dankbarkeit an.“
„Danach hat sie ihre Hände gewaschen und beseitigte alle Spuren ihrer Tat. Sie öffnete das Fenster und blieb dort eine Weile stehen.“
„Ich stand am Fenster, ich sah neidisch die Menschen an, die auf der Straße liefen. Ich wusste, sie alle würden, wenn sie wollen, wieder zurückkommen. Klaus nie wieder.“
„Sie hat alles selbst entschieden. Sie zog die Bettdecke über den Verstorbenen und schloss seine Augen. Ich beschuldige sie, ihn vorsätzlich getötet zu haben. Hier endet das Schreiben.“
„Ich bin nicht schuldig. Über meine Schuld kann nur der Mensch richten, der am Sterbebett saß. Ich bin unschuldig. In diesem Augenblick verstehe ich, wie flach und klein unsere weltlichen Gesetze sind. Sie werden für uns keine Gerechtigkeit finden. Die werden nicht begreifen, was eine Frau fühlt, die ihren sterbenden Ehemann begleitet. Deshalb weiß auch niemand, was diese Frau in der Lage ist zu tun. Nur eines, was ich gerade hörte, ist wahr: Ich habe meine Hände gewaschen und bin am Fenster stehengeblieben. Nur das eine.“