Читать книгу INGRATUS - Das Unerwünschte in uns - Tabea Thomson - Страница 9

Kapitel 3

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Fünf Tage vor Keruns Ankunft

In den echten Notfallstationen an Bord der Visitor herrschte wie immer Hochbetrieb.

~

Heiler Chris McPalmer, er beging vor zwei Wochen seinen hundertzwanzigsten Geburtstag, stand kurz vorm Dienstschluss auf einem Korridor von Deck fünf. Der späte Teenager, seine Spezies wird locker über tausend Jahre, schaute durch eine ab Hüfthöhe durchsichtige Wand ins Innere einer Gatten Notfallabteilung. Sein erschöpfter Blick verfolgte sehr emotional berührt das routinierte Treiben der Heiler sowie Ärzte.

Einer von denen fühlte es, woraufhin er für einen flüchtigen Moment zum beobachtenden Heiler schaute und lächelnd winkte. Müde nickend erwiderte dieser den Gruß.

Gleich darauf setzte er den Weg, auf dem in Dämmerlicht getauchten Korridor fort. Sein Gang spiegelte das wieder, wie er sich nach über elf Tagen Dienst fühlt, fix und fertig. Selbst die zartgrüne Jacke lungerte ausgelaugt über seiner Schulter. Zum Glück hatte er jetzt zehn Tage Dienst in der beruhigten Zone. Doch sofort das erlebte Vergessen ging wie immer nicht so ohne Weiteres. Dazu beschäftigten dem Schlürfer noch zu sehr die geschundenen Personen, welche heute durch das Dimensionstor an Bord gelangten.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf ist er an einer Korridor Gabelung nach links abgebogen. Seine Füße, angetrieben vom nahenden Dienstschluss, trotteten fast von alleine in den Umkleideraum und von dort zu einem Waschbecken.

Vorm Spiegel stehend betrachtete er sich. Heiler Chris McPalmer erschrak über den ausgebrannten Anblick. Sein hochgewachsener nicht ganz schlanker Körper, der stets gepflegt daher kam, wirkte mehr als verbraucht. Nicht mal seine peppig gestylten schwarzen Haare als auch die leicht braune Haut, die ihn sonst stets frisch und ausgeruht aussehen lassen, lenkten von der Müdigkeit ab.

Ohne den Blick vom Spiegelbild zu nehmen, drehte er den Wasserhahn auf. Minutenlang floss abwechselnd eisiges Wasser über die Unterarme. Es blieb wirkungslos. Weil er noch keinen offiziellen Dienstschluss hatte, griff er nach härteren Munter-Mach-Mitteln.

Ruckzuck riss er sich die Kleider vom Leib, und bevor er es sich anderes überlegte, flitzte er in die Ultraschalldusche. Unter den eisigen Strahlen grölte er die Müdigkeit heraus. ...

Fröstelnd griff er den wärmenden Pulli, dieser und ebenso die lässige Hose war privat, jedoch die weißen Stiefel gehörten zur Dienstkleidung. Sie symbolisierten so etwas wie eine Verbindung zwischen den zwei Realitäten.

~

»Zeige die aktuellen Biodaten vom Geschwisterpaar Minn«, befahl er der Citraa.

Seitlich von ihm erschienen zwei frei schwebende virtuelle Displays. Laut diesen ging es seinen Kollegen Lennard Minn prächtig. Sophies Befinden konnte im Moment als Beschwerde frei durchgehen.

Für Chris allerdings bedeuteten die Biodaten, dass es heute nur ein kurzer Abstecher in die beruhigte Zone wird. Zum einen war er darüber froh, und zum anderen ging er nach solcherlei langem Heiler-Diensten gern in den beruhigten Teil. In deren Stille konnte er sich »prima Akklimatisieren«, wie er es nannte. Das brauchte er um all das Leid, was ihm in seiner Dienstzeit unterkam, gedanklich auszublenden.

Doch bevor er diesmal auf die andere Seite wechselte, studierte er den virtuellen Dienstplan der beruhigten Zone. Laut diesem hatte er da Dienstschluss. –

~

Beim verlassen des Umkleideraumes sah man Chris die Vorfreude auf einen frühen Feierabend an.

Kurz vor der nächsten Korridorkreuzung aktivierte er den Impulsgeber am Handgelenk. Augenblicklich wurde in der Wand, zu seiner Linken, ein internes Portal sichtbar. Ein aufleuchtendes grünes Symbol am Impulsgeber sagte ihm: Der Umkleideraum auf der anderen Seite ist leer.

*

In der beruhigten Weiber Krankenstation, empfing Chris nächtliche Ruhe. Das Einzige was den Schritten begegnete, war lahmes, gedämpftes Schuhsohlen quietschen. Bloß gut, dass er die dienstlichen Leisetreter anbehielt.

Ohne Eile lief er über den Korridor. An einer Kreuzung bog er zu den Bereitschaftsräumen ab. Wie erhofft brannte im fünften Raum noch Licht. Der ist dem Kollegen Lennard Minn vorbehalten.

Bevor Chris zu ihm ging, blieb er abseits noch einen Moment stehen. Sein Augenmerk galt dem wohlgeformten Gesicht seines Schützlings. Soviel, wie er vom Hören sagen kannte, sollte Sophies Antlitz – das ihres bildschönen Bruders noch um einiges übertrumpfen. Leider sah Chris bisher, wie fast jeder an Bord, Sophies alles andere als Augen schmeichelndes Gesicht, das durch den Einsatz von "holographischer Technik"nach einem Menschen Weib der Erde aussieht. Nicht einmal die Stimme konnte als lieblich eingestuft werden, die Tonlage quäkte ab und an wegen ihrer Unreife.

Insgeheim wünschte Chris, dass er Sophies echte Shumerer Erscheinung alsbald zu Gesicht bekommt. Mit diesem Wunschgedanken trat er vor Lennards schmalen, lang gestreckten Bereitschaftsraum. Die vordere durchsichtige Wand gewährte ihn einen Einblick in das standardisierte Arbeitszimmer. Somit weiß selbst ein vertretender Heiler sofort, wo was zu finden ist.

Chris flüchtige Rundschau begann im Eingangsbereich. Unweit der Tür waren an der Wand zwei Reihen, mit je acht interaktiven Displays angebracht. Darunter standen Kühlschränke für Medikamente. Gegenüber der Displays Wand war ein Wandklapptisch. Daneben hingen drei Klappstühle. Vor der Stirnwand war eine Zweisitzer Ledercouch aufgestellt und davor stand eine kleine rollbare holografische Projektionseinheit.

Zurück zum Eingangsbereich.

Direkt vor der durchsichtigen Wand thront ein geräumiger Schreibtisch, davor stehen zwei braune, überaus bequeme lederne Bürosessel. Im linken saß Lennard in entspannter Lesehaltung. Die Finger der linken Hand spielten mit einer schulterlangen kupferrot leuchtenden Locke. Mit der anderen Hand hielt er ein dickes Lederbuch. Der Titel "Das Skylup Virus", sagte alles.

Lennards Blick steckte ganz vertieft in der abgegriffenen Lecktüre. Das er beobachtet wurde, bemerkte er nicht.

Chris nickte anerkennend. Der schwer verdauliche Lesestoff, er schleuste ihn persönlich ein, hatte den gewünschten Effekt gebracht.

Als sein Schützling eine Seite umblätterte, machte sich Chris durch Klopfen an jener Wand bemerkbar.

Lennard schaute kurz auf. Mit einer freundlichen Geste forderte er den davor stehenden auf, zu ihm hereinzukommen. Chris winkte dankend ab. Jedoch mit Handzeichen wünschte er dem Kollegen eine gute Nacht.

* *

Als Chris aus dem Blickwinkel verschwand, lief Lennard mit langsamen Schritten zur Displaywand – den Indy's. Zwei waren aktiv. Seine Zeigefinger strebten auf je einen daumengroßen weißen Punkt zu. Sie symbolisieren deren Positionen. Einige Fingerzeige auf diese genügte und in den ausgewählten Belegzellen wurden die I P S – fliegenden Augen aktiv. ...

~ ~

(Die I P S sind lose im Raum schwebende bildgebende Sensoren. Sie übertragen das in Echtzeit geschehene aus den Belegzellen.)

~ ~

… Auf dem Echtzeit Szenarium sah er, das es seinen drei Patientinnen bestens ging. Es gab wieder mal nichts für ihn zu tun. Betrübt aufstöhnend lief er an seinen Schreibtisch zurück und alsbald verschlang er in entspannter Lesehaltung noch weitere Seiten seines Fachschmökers. Erst gegen dreiundzwanzig Uhr beendete er seine Lesezeit, und ohne Eile begab er sich zu den Indy's. Wie davor verzichtete er auf die Kontrolle der Patienten Biodaten. Die zeigten sowieso alles Mögliche an, nur nicht das, was wirklich ist. Mit der anderen Heiler-Technik verhielt es sich ähnlich. Folglich vertraut er lieber seinen Augen, Ohren sowie abtastenden Händen. Und neuerdings kann er sogar noch auf eine neue Gabe zugreifen. Sie erwachte quasi über Nacht, genauer gesagt geschah es am zwölften Tag, des elften Monats. Damit konnte er, von einem zum anderen Moment, fühlen wie es dem gegenüber geht. Inzwischen setzt er sie ein, wann immer er sie benötigt. Es klappt ganz prima, nur das Ausblenden von schmerzlichen Empfindungen, bereitete ihm noch ein wenig Probleme. Um das noch in Griff zu bekommen, hatte er hier ja mehr als genug Zeit.

So auch jetzt. Lennard lauschte in sich hinein. Beruhigt stellte er fest: »Meinen Patientinnen geht es gut.« Das Gefühlte verglich er mit dem Echtzeit Szenarium. Es stimmte genau mit seinem mental Vorhergesagten überein: Mutter und ihr Neugeborenes schliefen. Nur die dritte Patientin, seine Schwester, verspürte noch keine Müdigkeit. Sophie saß zappelig auf dem Bett und zupfte am sorgfältig geflochtenen Zopf herum. Ihre Nervosität übertrug sich auf ihre bloßen Füße, sie wippten oder schaukelten abwechselnd. Ihre Kleidung, sie trug auf ihren üppigen Leib keinen weißen Patientenoverall, sondern ein bodenlanges Kleid, verbreitete ebensolche Anspannung. An ihrer dunkelblauen Umhüllung gab es nichts auszusetzen, aber es bestand aus einem hauchzarten Stoff, der sich wie eine zweite Haut an den üppigen Kontoren anschmiegt, und somit ihrem unschuldigen Wesen noch mehr Ruhe raubt.

»Na sieh mal an meine Süße wird mutig«, flüsterte er sich zu.

Lennard kannte bisher seine Schwester als ziemlich verklemmt, was offenherzige sowie anwerbende Kleider betrifft. Belustigt schlussfolgerte er: »Seit ihrer Ankunft ist Sophie wie überdreht. Und wer es nicht besser weiß, könnte annehmen: Das Verhalten entspricht einem frisch verliebten Teenager, der auf einem gewaltigen Pheromon Trip ist. Dummerweise hat Sophie keinen Pheromon-Spender und ihr Körper setzt sie zudem immerfort mit sporadisch auftretenden Koliken auf kalten Entzug. … Wäre sie gesund, suchte sie sicher den Kontakt zu Gatten. Eine Prise ihres zarten Duftes genügt und ihr klebt mindestens ein Dutzend schmachtende Verehrer am Kleidersaum. Nur so lausig wie es ihr immerzu geht, verspürt sie mit Sicherheit keinen Drang, einen kennenzulernen ...«, unwillkürlich verharrte sein Blick auf der Schwester. »... Obwohl solche aufreizende Umhüllung trägt man nur, wenn eine eng vertraute Person zu Besuch kommen will ...«, an der zweifelnden Mimik sah man, das er seine letzte Feststellung sofort wieder strich. In dem Moment wie er das gedanklich gemacht hatte, betrat eine Sartor (Pflegerin) die Belegzelle. Sie schien vom sehr ungewöhnlichen Verhalten, ihrer zu betreuenden Patientin, nicht sonderlich angetan. Im Gegenteil die erfahrene Sartor tätschelte Sophies Hände geradezu aufmunternd. Mit jeder weiteren verstrichenen Sekunde spürte Lennard, wie Sophies innere Anspannung stieg. Damit er nur ja nicht die Lösung verpasst, stierte er auf das Indy. Doch was er stattdessen erblickte, verschlug ihm schier den Atem. In der nunmehr weichen Zellenbeleuchtung kamen Sophies atemraubenden, üppigen sowie griffigen Kurven erst so richtig zur Geltung.

»...Ihre feurigen kupferroten Haare beschwören das übrige Herauf. Lediglich ihre zuweilen kratzige Stimme beweist, dass diese schnuckelige volljährige Teenagerin noch nicht gereift ist«, raunte er.

Je länger Lennard seine Schwester beobachtet, um so mehr fand er an seiner zuvor gestrichenen Erkenntnis gefallen. »Ihr verhalten entspricht doch einer Erwartungsvollen bis hinter beide Ohren verliebten. … Wer ist das, und warum habe ich darüber keine Kenntnis.«

Gleichlaufend zu seinen Fragen wiegte sie – zu seinem Augenschmaus – ihr gebärfreudiges Becken geschmeidig durchs Szenarium. Der Anblick entriss ihm einen anerkennenden Pfiff.

Gleichlaufend mit seinem Pfiff setzte sich Sophie wieder neben die Sartor. Diese hatte, während Sophies letzter Runde, ihr PAD hervorgeholt. Bevor sie zu schreiben begann, hob sie den Blick und sah die Patientin nachdenklich an. Im nächsten Moment bewegten sich ihre stummen Lippen. Lennard wiederum fixierte ihre Münder.

Sein Mitgefühl machte es manchmal erforderlich, das er von allzu geschwächten Patientinnen, Worte von den Lippen ablesen muss. Er hatte daraus eine Passion gemacht. Nur die nützte ihm jetzt nichts, denn sie hielten mittlerweile ihre Häupter zu dicht beieinander. Grummelig, und ohne den Blick vom Indy zunehmen, führte er eine Hand übern Touchscreen. Bloß ohne hinzusehen war es nicht so leicht einen Button der Lautstärkeregelung zutreffen. Mit jedem weiteren Vertipper wurde er ungeduldiger. Dann endlich wagte er einen flüchtigen Blick. Begleitend schnippte er mürrisch auf den erforderlichen Button. Zu seinem Ärgernis erfolgte die Lautstärkesteigerung etwas versetzt. Dadurch hörte er von den Worten der Sartor nichts mehr. Lennard lauschte trotzdem weiter. Nach etlichen Sekunden kam er murrend zu dem Entschluss: »Es geht nur um belangloses Zeug.« Das wiederum missfiel ihm. Er kannte seine Schwester in derlei Hinsicht, und es wäre nicht das erste Mal, dass Sophie ihm auf eine falsche Fährte lockt. Um vielleicht doch was zu erfahren, lauschte er weiter.

Nichts ...!

Enttäuscht wollte er die I P S (bildgebenden Sensoren) Verbindung kappen. Kurz bevor eine Fingerspitze den Button berührte, bemerkte er, Sophie kommunizierte mental mit irgendjemand. Das Gespräch erregte sie so emotional, dass jetzt sogar ihre eben noch faden Wangen gut durchblutet glühten. Die Sartor wollte ihr beruhigend über die Schulter streichen, jedoch Sophie entschlüpfte ihr. Ohne sich umzudrehen, lief sie erneut zum Spiegel. Für ihn bestand nunmehr kein Zweifel, sie erwartet einen Gatten. Nur wer ist es?

Von Sophies Unruhe angesteckt überlegte er, wem sie alles an Bord kannte. Wie er es auch betrachtete außer seinem Eheweib Cara, den Studenten, ihre Sartor, Doc Pieter und seine Wenigkeit fiel ihm niemand ein. Kopfschüttelnd sortierte er weiter aus. Zu guter Letzt blieb nur noch ein Student übrig. »Luckas Gallen. Nur der kann es sein!«, Lennards stimmliche Freude hielt sich in Grenzen. Und das, obwohl dieser Student der Beste war, den er jemals im praktischen Teil ausbildete. Aber! Der zuvorkommende und sehr gewissenhafte Typ hatte bereits jetzt ein so umfangreiches Wissen intus, das Lennard nicht herum kam; ihn als gleichgestellten Heiler zu behandeln. Merkwürdigerweise wird Luckas deswegen von den anderen Studenten nicht als Streber verschrien. Im Gegenteil sie sahen in ihm einen Ausbilder. Das wiederum machte Lennard argwöhnisch. Ja schlimmer noch, er sah in Luckas einen nicht zu unterschätzenden Rivalen. Er behielt daher diesen Typen besonders im Auge. Seine Observierung umfasste ebenso Luckas außerdienstliche Aktivitäten. Nur leider gibt’s dazu nicht viel zu sagen. »Obwohl Luckas blendend aussieht, charmant, witzig sowie umgänglich ist, bändelt niemand mit ihm an.« So wie Lennard das zu sich sprach, korrigierte er den letzten Teil wieder: »Das stimmt nicht ganz. Er lungert ziemlich oft bei Sophie herum, und ihm umgibt ein fesselnder Duft. Ein ahl pii kann es nicht sein, denn Luckas ist ein Erden Mensch. – Außerdem ist meine taube Nase nicht imstande, einen Shumerer ahl pii zu riechen. Jedoch von gehaltvollen Menschen Deos und sonst dergleichen kann sie gerade noch die Duftrichtungen bestimmen. In dem Fall riecht es nach getrocknetem Gras und Sommer schweren Lavendel.« Lennard musste sich eingestehen: »Das Riechwasser gefällt Sophie und mir. Es umschmeichelt auf angenehmerweise unsere Geruchszellen.«

Neugierig, ob es sich bei dem Besucher wirklich um Luckas handeln könnte, recherchierte er im Dienstplan der Studenten. Laut dem sollte der ab null Uhr im ruhenden Bereitschaftsstatus sein.

Auf sein baldiges Erscheinen hoffend, stierte Lennard in Lauerhaltung aufs Echtzeit Szenarium. In Gedanken spöttelte er: »Na!, wo bleibt er denn? – Der Herr Studiosus muss sich wohl noch extra hübsch machen ...« Das Lästern beförderte einen lang ersehnten Wunsch herauf: »Ich müsste in ihren Geist lesen können.«

Sein Wunsch war noch nicht ganz zu Ende gedacht, da hörte er ein Wispern im Kopf. Es geschah so unverhofft, er war nicht mal imstande Sophies Wörter zu verstehen. Sie wiederum sperrte den ungebetenen Eindringling sofort aus. Im gleichen Gedankenzug schaute sie auf den I P S. Die Empörung lag in ihrer Mimik.

Davon unbeirrt versuchte es Lennard nochmals. Doch es blieb still. Zerknirscht wandte er sich vom Indy ab. Dabei sah er, aus dem Augenwinkel heraus, wie die Belegzellen Tür auffuhr. Selbst im faden Korridor Gegenlicht erkannte er auf Anhieb die eintretende kernige Silhouette. Lennard klatschte Beifall und dazu gluckste er: »Haha! Volltreffer!«

Ihre gefühlvollen Umarmungen zur Begrüßung bestätigten es.

»Na sieh mal an! Den blonden Schweden will ja doch eine haben ...«, gluckste Lennard.

Ein lautes Audiosignal vom Bereitschaftsraum Interface beendete seinen Anflug von Begeisterung. Wie gewöhnlich bei Nachtdiensten belästigte ihn eine nervende Stimme eines Heiler Koordinators. »Sire nicht vergessen in fünf Minuten sollen die Heiler Aiws ihren Dienst übernehmen …«

Ohne den restlichen Satz abzuwarten, kappte Lennard die Verbindung. »Verdammt ja, das werden sie«, blubberte er genervt. Ihm kam es wie ein Kontrollanruf vor. In Gedanken sprach er verärgert: »Ständig wird einem hinterhergeschnüffelt, das ist hier noch schlimmer als während meiner Studententage. Sicherlich führen die Heiler-Techniker auch noch Strichlisten, worauf alles aufgeführt ist, was ich wann erledigte. Idioten die sollen sich mal lieber um die nicht funktionierende Technik kümmern. Aber nein!, stattdessen belästigen die mich mit einer Kontrollmitteilung. Die ist ja viel wichtiger.«

Bei den ungehaltenen Worten aktivierte er die Aiws Lab und Par. Sie werden den restlichen Nachtdienst übernehmen und er, der Heiler, soll in seinen Ruheraum schlafen gehen.

Bevor er diese Anweisung befolgt, übergab er noch das PAD mit dem Dienstprotokoll an die Aiws.

~

In dem zarten grün gehaltenen Ruheraum gab es neben einen Wandtisch mit Stuhl nur noch ein winziges Waschbecken sowie eine bequeme Liege. Die erinnerte ihn an eine Relaxliege bei seiner alten Arbeitsstätte, auf dem Planeten Polaris. Er hatte dort ebenfalls an einer Sternen Kinder Universität als Ausbilder für Weiberheiler gearbeitet. Lennard ließ die Erinnerung an die vielfältige Arbeit sehnsuchtsvoll innehalten. Mit Wehmut dachte er an die fünf Tage Arbeitswoche. Sein Dienst begann stets acht Uhr früh und endete um vier am Nachmittag. Langeweile kannte er an der Universität nicht. Die ganze Sache hatte nur einen entscheidenden Nachteil, sie wurde mehr als lausig bezahlt. Nun hatte er hier den überaus gut bezahlten, aber öden Job auf der Visitor. Außer Bagatellfällen gab es nichts. Er selber fragte sich oftmals: »Warum bezahlen sie mich so üppig – fürs Nichts tun.«

Andere dachten ebenso. Jene berichteten bei geselligen Abenden: ›Die Visitor hängt mit Mann und Maus bereits seit vielen Jahren im Trockendock herum. Und alle schweren Reparaturarbeiten sowie Modernisierungen werden von Aiws ausgeführt.‹

Etliche Crewman, zu denen zählt er ebenfalls, vertraten eine unumstößliche Meinung: ›Die Aufgaben der Aiws bestehen nur darin das Reparierte, sofort wieder kaputt zu reparieren.

Mit anderen Worten sie werden weiterhin nichts Spektakuläres erleben. So auch in dieser Nacht, außer einem süßen neugeborenen Leben und einem arg verstimmten Magen gab es nichts für ihn zu versorgen. Das es nur ein paar Meter von seinem Ruheraum ganz anders aussah, ahnte er nicht mal ansatzweise.

* *

Lennard lehnte an der Wand neben dem Waschbecken und schwelgte in den Erinnerungen an jenem geselligen Abend. Unvermittelt musste er gähnen und reflexhaft wischte er sich mehrmals übers Gesicht. Es bewirkte nicht viel. An seiner Mimik sah man, er mochte schläfrig machende Dienste ganz und gar nicht. Zumal er sich zur Dienstübergabe stets wie gerädert fühlte. Schuld daran war, »Der lauschende Schlaf«, wie er es nannte. Jedoch seitdem Sophie ebenfalls auf Station lag, dankte er für jede Minute, in der er Einsatz frei blieb.

Gedankenversunken knüpfte er die Dienstjacke auf. Als er sich der Jacke entledigte, spürte er mental, dass seine Schwester eine weitere Kolik ereilt. Ihre heftigen Schmerzen vertrieben auf der Stelle seine Müdigkeit. Die mentale Verbindung zu blockieren gelang ihm jedoch nur mühsam. Gerade als es erträglicher wurde, meldete das schrille Indy Signal einen Notfall. Synchron dazu erfuhr er vom Hemdknopf großen Interfacechip, der war am Pullover Kragen angebracht, den Einsatzort. Die Belegzellennummer gehörte seiner Schwester.

Übereilt, noch im Jacke anziehen, verließ Lennard den Ruheraum. Sein wachsames Unterbewusstsein schickte ihn in den Medikamentenraum. Als er im Kühlschrank nach ihrem Amphispray griff, war seine Hand so unruhig wie die eines Alkoholikers.

»Süße, was hilft dir nur?«, seine Lippen sprachen unwillkürlich das aus, was er dachte. Zu seinen Worten überprüfte er mit aufgeregten Händen, am Labor Terminal, den Inhalt der bereitgelegten Ampulle. Danach verließ er mit schnellen Schritten den Raum. … Sekunden später erreichte er Sophies Belegzelle. Erschöpft, wie nach einem langen Marathonlauf holte er mehrmals kräftig Luft. Nur so gelang es ihm, Sophies mentale Schmerzübertragung abzublocken. Ihr Wimmern konnte er jedoch nicht aus seinem Geist verbannen.

*

Entgegen seiner Art, er klopfte sonst immer erst an, öffnete er sofort die Tür. Beim Eintreten streifte sein flüchtiger Blick die wachende Sartor. Am vorwurfsvollen Gesichtsausdruck der Pflegerin las er ab, dass ihr Sophies Schmerz nahe ging. Das Verhalten war für eine ihres Standes, sehr ungewöhnlich. Und dann!, während Lennard sich um die Pati Passio – leidende – kümmerte, stierte die Sartor verlegen auf ihre Schuhspitzen. Das taten jene Wesen nur, wenn sie versuchten, etwas zu vertuschen. Aber der Blick entging seiner Aufmerksamkeit, er stellte in dem Moment mit entsetzen fest: »Sophie ist im Wehen artigen Schmerz gefangen.«

Ihre zierlichen Finger, sie krallten in den weichen Griffen des Biobettes, untermauerten seine Worte.

Bekümmert blickend strich die Sartor über Sophies Hand.

Bei jeder Berührung spürte Lennard, die beauftragte Sartor hat kein reines Gewissen.

Die folgende Geste, sie tupfte ohne Unterlass Tränen und Schweiß der Patientin ab, vertiefte noch seinen Verdacht.

Sophie fühlte sich nicht imstande, gegen dieses aufdringliche Gehabe vorzugehen. Sie zog es stattdessen vor, all ihre Pein ungefiltert über die fiebrigen Lippen zu entlassen.

Lennard hingegen beschäftigte: »Was löste die Kolik aus.« Sophies wehklagen vereitelte ein Hinterfragen.

Beherzt, aber dennoch sehr behutsam, drehte er Sophie auf die Seite und die Sartor streifte ihr rasch die Haare beiseite. Im nächsten Moment ertastete Lennard zielgenau, an Sophies Nacken, einige neurologische Punkte. So wie er sie setzte, entspannte augenblicklich ihr blutjunger, zerbrochen wirkender Leib. Für Sekunden blieb sie zum Kraftschöpfen regungslos liegen, danach drehte sie sich langsam um.

»Lass es nicht wieder kommen«, bat sie mit flehender Stimme.

Wie gern hätte Lennard ihr das bestätigt, aber stattdessen konnte er ihr nur mitfühlend über die verheulten Wangen streichen.

Wenige Streicheleinheiten später zeigten ihre zusammengepressten Lippen, dass die Blockade aufbrach. Auf der Stelle verabreichte Lennard den mitgebrachten Amphispray, mit einer Schmerz betäubenden Mixtur. Jedem Tropfen begleitete sein mentales Gebet: »Lass es sie bitte diesmal annehmen.«

Als er den Amphispray entfernte geriet das mürbe mit Tränen überflutete Antlitz der Schwester in den Fokus. Knall auf Fall wurde all seine Zuversicht zerstört.

Sophies stummer Hilfeschrei galt hauptsächlich Lennards Medizin Experimenten. Denn er lag meilenweit neben dem Volltreffer. Sie wollte den trägen Verstand auf die Sprünge helfen, dazu setzte sie sich hin und hechelte wie eine Gebärende. Die vor Schweiß triefenden Hände umklammerten seinen linken Arm und die spitzen Fingernägel bohrten ungebremst in die zarte weiße Haut. Selbst die Hinweise brachten den Bruder keine zündende Idee. Sie hoffte dennoch sehnlichst auf ein gedankliches Wunder. Doch weit gefehlt, er litt stumm und blickte, wie er dachte – von ihr nicht bemerkt –, unentwegt zum virtuellen Biodaten Display. Aber es erfolgte keine Mixtur Annahme und über Sophies Leib rutschte ein leises Knistern.

»Wieso aktiviert sich ständig ihr körpereigenes Sicherheitssystem ...«, fragte er kummervoll.

Ein Blick in seine Kalab und er hätte binnen Sekunden die Erklärung. Leider kam er auch diesmal nicht auf die simple Idee. Hinzu kam noch: Er war wie immer vollends davon überzeugt, dass er für seine Schwester keinerlei Bedrohung darstellt. Und genau darin lag sein Irrtum. Lennards Medizin und Heil Experimente deutete Sophies Kalab nun mal als Angriff auf ihre Gesundheit. Folglich fuhr ihr Sicherheitssystem hoch. ...

~ ~

(Kalab; in diesem Teil des Skylup – des Gehirns –, ist das Wissen ihrer Shumerer Vorfahren abgelegt.)

~ ~

Für den Bruchteil eines Augenblicks zuckten drei Balken auf dem virtuellen Display.

Lennard verspürte einen Funken Hoffnung. Doch Sophies verkrampfte Finger in seinem Arm sagten, der Körper lehnt es komplett ab. Umgehend veranlasste er auf dem Terminal, das weitere Vorgehen. Und aus dem Stand, einem Sturzbach gleich, schoss das Betäubungsmittel über die Infusionseinheit in ihre Vene. Beim Einsetzen der Wirkung schaute sie ihren Bruder erbost an.

Seine Worte: »Schlaf Süße, Schlaf«, vernahm sie bereits wie durch eine Nebelwand. Lennards zaghaften Kuss auf der Stirn spürte sie nicht mehr, sie lag bereits in einen alles vergessen lassenden Beta-Phi Traum.

*

Wie er Sophie so daliegen sah, kam das ›warum bekam sie diese Kolik‹, ins Bewusstsein zurück. »Seit wann hatte sie erste Anzeichen?«, seine Stimme forderte eine rasche Aufklärung.

Anstatt sofort zu antworten, zupfte die Sartor nervös am Schürzenband. Erst ein ermahnender Blick von Lennard veranlasste sie zu berichten: »Als Sophies Besuch kam, ging es ihr gut. Damit ich nicht störe, habe ich die Belegzelle verlassen. Ich gestattete mir, in der nahen Messe eine Mahlzeit einzunehmen. Als ich zurückkam, ging es ihrer Schwester immer noch gut«, so wie die Sartor das sagte, hörte es sich nach einer Verteidigung an, »Magister ich hatte seit dem frühen Mittag nichts mehr an Nahrung«, ihre stimmliche Verbeugung verstärkte Lennards Empfindung.

»Ich mache ihnen deswegen keine Vorwürfe.« Seinen Worten zum Trotz sah er nunmehr die Sartor mit stechendem Blick an.

Es wirbelte ihr die Gedanken durcheinander. Sie starrte zum Boden. »Als ich zurückkam«, stammelte sie mit kleinlauter Stimme, »lag Sophie entspannt auf dem Bett. Sie führte via Interface ein Gespräch mit der Mom. Nichts deutete auf eine beginnende Kolik hin. Erst Minuten später ging es ihrer Schwester nicht gut ...«

Unterdessen die Sartor sprach, setzte sich Lennard mit nachdenklicher Mimik ans Fußende von Sophies Biobett, dabei verrutschte die Bettdecke. Zeitgleich stöhnte sie matt. Lennard wiederum strich ihr beruhigend über die Hand. Schlagartig spürte er ihren nur betäubten Schmerz. In Gedanken fragte er sich: »Wieso bekommst du aus heiteren Himmel Koliken? Wenn ich dich wenigstens abtastend untersuchen könnte ...«, mitten im Selbstgespräch entdeckte er auf der blütenweißen Bettdecke ein langes, nachtblaues leicht lockiges Haar. Es lag wie bestellt da. Er zupfte es ab, dabei schielte er flüchtig zur Sartor. In Gedanken schlussfolgerte Lennard: »Von der Sartor kann es nicht sein. Ihr kurzes Haar ist fast weiß und Luckas ist blond.«

Am Ende seiner Überlegung hielt er der Sartor das Haar unter die Nase und dabei warf er ihr einen misstrauischen Blick zu. Bevor sie was zu ihrer Entlastung sagen konnte, quetschte Lennard sie stimmgewaltig aus: »Wer besuchte noch meine Schwester?«

In eine schüchterne Unschuldsmiene gehüllt antwortete die Sartor mit blecherner Stimme: »Sire, als ich sie verließ, weilte nur er bei ihr.«

Ohne weiter darauf einzugehen, verwies er die Sartor mit einer wegweisenden Geste des Raumes. Schleunigst tat sie, was er verlangte. Ihr unterwürfiges Verhalten verdoppelte nahezu sein argwöhnisches Gefühl. Grimmig zur Tür sehend zischte er: »Da stimmt was nicht. Ohne Anweisung des behandelnden Heilers verlässt niemals eine Sartor die zu Pflegende.«

Kopfschüttelnd dreht er sich wieder zur schlafenden Schwester, die Finger veranlassten derweil, dass der lahmende Scanner ansprang.

Ruckelnd tastete der Strahl über Sophies matten Leib.

Zähneknirschend verfluchte Lennard die unbrauchbare Technik. Seine erzürnte Mimik zeigte, was im Inneren ablief. Er glaubte nicht daran, dass er mit den zu erwartenden Scandaten etwas anfangen kann. Doch allen bösen Vorahnungen zum Trotz wartete er auf das Ergebnis. Bis es soweit war, dachte er über die letzten drei Jahre nach. Was nicht heißen soll; dass sein Eheweib Cara und er nicht zufrieden sind. Allerdings wächst von Woche zu Woche das Gefühl, hier scheint irgendetwas nicht so zu sein, wie es ist. So hört er auf den Korridoren ab und an fremde Stimmen. Ebenso sah er dort Personen, die, wenn sie um eine Ecke bogen, verschwunden waren. Des Weiteren hörte er auf dem Deck, wo sein Quartier ist, Respekt einflößende Kampfgeräusche von Pogna cor Klingen. – Und dann die Heiler-Technik!, Schrott ist dazu noch zu gelinde ausgedrückt. … Nicht zu vergessen sein Freund Sorel Gwen. Sein Verhalten ist mehr als bedenklich. Kurzum Lennard ist der Meinung: Es ist Zeit darüber Aufzeichnungen anzulegen, vielleicht sind sie ihm einmal nützlich.

Weil der Scanner ohnehin noch einige Minuten braucht, beschloss er: Ich beginne jetzt sofort damit.

Hierzu nahm er das handflächengroße PAD aus seiner Dienstjacken Brusttasche.

Währenddessen sein Datenspeicher holografische Papierblätter erzeugte, rückte er einen Stuhl beim Wandtisch zurecht. Als seine robust gebaute Statur lässig an der kühlen Wand lehnte, tauchte er in seine Erinnerungen ab. Gleichwohl er wusste, dass er wieder in etliche Gedächtnislücken purzeln wird, begann er zu diktieren: »... Einleitend noch einige Sätze vorweg. Mein Studium zum Weiberheiler endete im Jahr zweiundzwanzig einundfünfzig mit dem Abschluss zum Macister.

Wo ich in den Jahren bis Mitte neunundfünfzig überall gearbeitet habe, fällt mir im Moment nicht ein. – Egal. Jedenfalls habe ich seit Anfang des achten Erden Monat desselben Jahres als Heiler-Ausbilder gearbeitet.

Mein Einsatzort war an einer Sternen Kinder Universität auf dem Planeten Polaris in der Stadt Zkyl. Mein Betätigungsfeld umfasste ausschließlich den praktischen Ausbildungsteil in einem U S R – Umgebungs-Simulations-Raum. – Wieso eigentlich nur dort? – Hmm?! – Unerheblich. Wurde eh mies bezahlt. – Alte Geschichte! Abgehackt und mit dem Schwamm drüber! … Zum Glück erhielten mein Weib und ich Job Angebote auf dem privaten Raumschiff Visitor α U P. Man bot meinem Eheweib dort eine Stelle als Lehrerin an, und mir eine Stellung als leitender Heiler sowie erster Heiler in der Studentenausbildung.

Am zwanzigsten September zweiundzwanzig sechzig, einen Monat nach dem Untergang vom Planeten Vulkan, Unterzeichneten wir die Arbeitsverträge. Und weil ich während meiner Studienzeit noch einige Semester in der Sparte Raumfahrt besuchte, erwarb ich den Status eines Captains.

Als solcher habe ich mich ebenfalls verpflichtet. Sodass ich, wenn das Raumschiff in besondere Situationen gerät, einen kommandierenden Captain unterstützen oder im Notfall sogar ersetzen kann. –

Unsere Dienste begannen am vierundzwanzigsten Neunten.

Bei unserem Quartiersbezug stellte ich mit Freude fest, dass Sorel Gwen – mein Freund aus Knabentagen gleich nebenan wohnt. Wir hatten uns unseligerweise vor Jahren aus den Augen verloren. Auslöser dessen war ein Anschlag auf ihm. Bei diesem wurde er niedergeschlagen und ausgeraubt. Währenddessen er besinnungslos am Boden lag, verabreichten die Gangster noch irgendwas, das seinen Geist auf Dauer vernebelte.

Sein Vater sagte mir mal unter vier Augen: ›Mein Sohn hat sich seitdem in seinem ganzen Wesen verändert.‹

Dem stimmte ich zu, aber ich konnte Sorels blonden Gemütszustand nicht einfach so hinnehmen. Deshalb wollte ich sein Gedächtnis, mit einem selbst angerührten Mittelchen, wieder auf das gewohnte Niveau bringen. Nur da er mehr als wirr im Kopf war, musste ich einen passenden Moment abfangen. Der ergab sich wenige Tage nach Sophies achtzehntem Geburtstag, auf unseren Heimatplaneten Advenu in Sorels Wohnturm.«

So wie Lennard an Sophies Geburtstag dachte, geriet er ins Grübeln. Mit nachdenklicher Mimik fragte er sich: »Wieso weilte sie bereits bei Moms, Dads und meiner Ankunft im Peshk Anwesen.« Seine Frage war gerade zu Ende gedacht, da klatschte er sich an die Stirn. »Na klar unserer Familien sind befreundet. Kerun wird Sophie als Geistheilerin konsultiert haben.« Mit dem Gedanken knüpfte er nahtlos an das Vorangegangene an: »Unter dem Vorwand, unsere geistigen Leistungen zu erhöhen, verabreichte ich uns eine Mixtur aus meiner Kräuterküche. Wenn Sorel und ich früher zusammen forschten, schluckten wir schon etliche Male dieses Zeug. Wir kannten die Wirkung, es brachte immer eine deutliche geistige Leistungssteigerung. Folglich schluckte er die Mixtur bedenkenlos. Nur, das Gebräu knockte uns diesmal für Tage aus. Als wir dann so einigermaßen wieder in die reale Welt zurückfanden, fehlten Sorel noch mehr Erinnerungen.

In meinem Gehirn ist gleichfalls etwas schiefgelaufen. So kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was wir früher zusammen erforscht haben. Ebenso vermag ich nicht zu sagen, als was Sorel vor dem Anschlag gearbeitet hat. … Oh man!, das Zeug hat bei uns bis heute Löschspuren hinterlassen. Dabei bin ich mir sicher, die Mixtur konnte nur unsere geistige Leistungsfähigkeit erhöhen. Das Dumme daran ist, ich vergaß die genaue Zusammensetzung. Somit kann ich nicht überprüfen, inwiefern eine Verbindung zwischen der Mixtur und dem von den Gangstern verabreichten Zeug besteht. Fakt ist; meine geheime Kräuteressenz hat Sorels Geist noch verworrener gemacht. Danach hatte er erst so richtig einen an der Waffel.

Mit meinem Wissen, im Allgemeinen, stimmt fast alles wieder. Hin und wieder purzle ich in mächtige Gedächtnislücken, aber das betrifft vorwiegend nur meine privaten Angelegenheiten. Wodurch ich uneingeschränkt als Heiler arbeiten konnte. Und nun habe ich mich an Bord der Visitor verpflichtet. Eingesetzt bin ich in der Weiber Abteilung ...« Mitten im Gedanken schaute er zum Scanner. Wie befürchtet hatte der noch nicht mal ein Viertel geschafft. Kopfschüttelnd schloss Lennard seine Augenlider und sogleich versank er in weitere Erinnerungen: »... Vor Tagen, Sophie war noch nicht an Bord, machte ich zufällig in einer uralten Datei eine Entdeckung. Daraus erfuhr ich, dass die Visitor bereits seit über zehntausend Jahre im Dienst der alles unterjochenden U P C stand ...« Unvermittelt schoss ihm eine Frage durch den Kopf: »Wieso ist dieser alte Seelenverkäufer jetzt noch im Dienst.«

Weil ihm auf die Schnelle keine plausible Antwort einfiel, nahm er seinen vorangegangenen Gedankenfaden wieder auf: »Die lange Dienstzeit und der Tatbestand, dass es nunmehr von uns Shumerer benutzt wird, weckte meine Neugier. Mit den Fragen; was war davor und was für ein Geheimnis wird es wohl haben, begab ich mich im Bordcomputer auf Spurensuche. Doch meine Bemühungen wurden zunächst nicht von Erfolg gekrönt. Erst als ich mit unseren Butler Aiws Sprite darüber sprach, kam Bewegung in die Sache.

Sprite, er ist ebenfalls der Butler meines Freundes Sorel, versprach: ›Ich werde mal im Quartier meines Dienstherren, in den Wänden und Fußböden, nach alten Logbüchern suchen.‹

Überrascht fragte ich: »Warum nur dort.«

Als Sprite die Frage hörte, wandte er sich von mir ab. Unterdessen seine Hand langsam zum Türöffner zustrebte, geruhte er zu antworten: ›Weil die Suite schon immer die vom Captain oder des Besitzers war.

Spontan hielt ich Sprite am Arm fest und bohrte noch mal nach: »Sorels Dienstgrad entspricht keins von beiden. Wie kam er dann an das Quartier?«

Sprite schmiss mir einen verschmorten Blick zu und begleitend dazu donnerte an meine Lauscher: Weil die Suite, so verkommen wie sie war, keiner haben wollte. Da hat er die Gunst der Stunde genutzt. Mit viel Schweiß haben wir zwei die Suite nunmehr zu einem prächtigen Domizil hergerichtet.

Noch mehr fragen konnte ich leider nicht, denn Sprite blickte mich genervt an und verließ übereilt unsere Unterkunft.

Sein gehetztes Verschwinden sowie meine Neugier ließ mich voller Ungeduld, auf die Benachrichtigung warten. … Mein Wissensdurst wurde etliche Stunden auf die Folter gespannt, dann endlich überreichte mir Sprite ein großes wuchtiges, gut erhaltenes in dunkles Leder eingeschlagenes Bordbuch. Auf der Vorderseite war der Name Visitor eingeprägt. Einige Zentimeter – Uapas – darunter befand sich ein drei Mal fünf Uapas großes Metall Wappenschild mit einer eingestanzten Anch-Hieroglyphe. Sie symbolisiert mehrere DNA-Stränge, welche sich im unteren Teil zu einem neuen formatiert haben.

Unterhalb des Wappens steht stets der Clan Name. Nur bei dem hier klebte ein nicht entfernbares, undurchsichtiges Siegel darüber. Somit weiß ich nicht, wem es einst gehörte. Auf eine baldige Rätsellösung hoffend, schlug ich das Bordbuch auf. Zu meiner Überraschung wurde es von handgeschrieben. Anfangs machten mir die akkuraten, eng aneinandergefügten Buchstaben das Lesen schwer. Jedoch mit jeder weiteren Zeile gewöhnte ich mich an die altertümlichen Schriftzüge. Der Text selber wurde in alt Sumer geschrieben.

Zu meinem Erstaunen entdeckte ich in der Chronik, dass jenes vor mir liegende Exemplar, als vierhundertfünfzehntes Logbuch bezeichnet wurde. Laut der eingetragenen Jahreszahl reichten die Aufzeichnungen über vierzigtausend Dekaden zurück. Außerdem erfuhr ich, aber mit anderer Handschrift verfasst, dass die Visitor bei einem Hinterhalt geentert wurde. Die überflüssige Besatzung haben die vom U P C eliminiert. Sie wurde in die U P C Raumflotte eingegliedert und erhielt den Namen Viator.«

In Gedanken hielt Lennard dazu fest: »Ich sollte mal bei Gelegenheit Sprite bitten, dass er noch mal auf Suche geht. Vielleicht findet er noch mehr Aufzeichnungen.«

Am Satzende blickte Lennard zum Scanner. Der hatte noch nicht mal die Hälfte geschafft. Er konnte somit gedanklich weiter im Bordbuch blättern: »Ich erfuhr unter anderem, dass die Visitor (vor der feindlichen Übernahme) an einem Dimensionsportal fest vor Anker ging. Sie wurde dort als Notfallversorgungseinheit für die aus der U P C Knechtschaft befreiten sowie für verwundete Shumerer Freiheitskämpfer eingesetzt. – Daher das Wappen mit der Anch-Hieroglyphe. Das Anch steht schließlich für Leben. Und auf einem Rettungsraumschiff wird genau das gemacht.« Stirn reibend blubberte er vor sich hin: »Der Viator war mir bis zu jenem Tag als billiges Massendomizil für Urlauber ein Begriff, dem sogar der Ruf vorauseilte, das Flaggschiff der U P C zu sein. Aber, wenn ich mich in meiner Krankenstation umsehe, ist hier davon nichts mehr übrig. Wenngleich so was total abgewracktes, entsprach den verschobenen Weltansichten der U P C. Nichtsdestotrotz ist das jetzige Besitzverhältnis der Visitor eine nicht minder merkwürdige Angelegenheit.

Unsere Arbeitsvermittlerin vom Shumerer Planeten Polaris sagte uns dazu: ›... Der Reeder ist ein Capac Shumerer. Er kaufte es bereits, als es dem Planeten Vulkan noch gab.‹ –

Nun ja die Capac sind geschäftstüchtig. Sie versuchen aus jeder greifbaren Gelegenheit ein lohnendes Geschäft zu machen. Dennoch frage ich mich, wie gelang es einem von Advenu, das Raumschiff von der U P C abzukaufen. Zumal die kontrollsüchtigen Diktaturen solcherlei Privatbesitz nicht mal den einheimischen höheren Untertanen erlaubte. Wie sollte da erst ein Außenweltler solchen Besitz erlangen. … – Es sei denn!, der Käufer hatte eine führende Position in der regierenden Oberschicht vom Planeten Vulkan. Dieser jemand musste zusätzlich noch für unsere Shumerer Regierung tätig gewesen sein ...« Am Satzende lachte Lennard dunkel. »... In welch Doppel Diplomatie sind wir da geraten? Wie auch immer, der zweiseitige "Vermittler" ist nach dem Untergang von Vulkan fein raus. Dessen ungeachtet wüsste ich nur allzu gern, wer der Reeder und somit unser Boss ist. Leider gibt der sich nicht zu erkennen. Somit werde ich nicht so schnell heraus bekommen, warum der Eigner das marode Raumschiff kaufte. Zumal ihm die ganze Modernisierung mit Sicherheit enorme Summen kostet.

Egal nicht meine Knete! Dennoch wurmen mich seine teils recht unüberlegten Anschaffungen. Ein schräges Beispiel dafür sind die Quartiere. Sie haben eine gehobene Ausstattung. Dahingegen bei der Technik geizt er, wo es nur geht. Somit wird es noch lange dauern, bis das Raumschiff wieder flugfähig wird. Wenn es nicht so ist, hingen wir nicht nur im Trockendock ab, es sei denn: Es ist eine dauerhafte Stationierung ... Doch das kann nicht sein, weil meine Krankenstationen dafür gar nicht geeignet sind. Außerdem hatten wir noch nicht einen einzigen Notfallpatienten von außerhalb.

Nach den Berichten meines Freundes Sorel Gwen, er ist hier der zweite Kommunikationsoffizier, besteht der Wartungszustand bereits seit Ewigkeiten. Genauer gesagt, seitdem er zum Zweiten ernannt wurde. Das geschah vor Jahren.

Zudem sagte er mir: ›Es kommt mir so vor; als wenn es ein Raumschiff im Raumschiff wird. Selbst die Kennung änderte sich von U P C Viator in Visitor α U P.‹ –«

Bei der letzten Erinnerungen schaute Lennard ungeduldig zum Scanstrahl, dazu murmelte er: »Ich persönlich wüsste nur zu gern, wer sich als neuer Eigner hinter U P verbirgt. Nur an diese Information komme ich irgendwie nicht ran. Eins ist aber anhand der Vulkan Technik klar: Es gehörte vor der Privatisierung eindeutig zur feindlich gesinnten Vereinten Planeten Gemeinschaft. Daher ist es verständlich, das fast nichts an Bord von der Heiler-Technik funktioniert. Schließlich hatten wir blutsverwandten Mischlinge, im verdrehten Hirn der U P C Führungselite von Vulkan, keine Daseinsberechtigung.« Lennard atmete einmal kräftig durch, dabei sah er zu seiner unruhig schlafenden Schwester. »Nur gut das der Spuk vorbei ist. Oder doch nicht? Das U P, welches hinter dem Raumschiff Namen steht, konnte gut und gern für eine neue Gruppierung stehen. Welche von Überlebenden der Vulkan Elite gegründet wurde. Was ist, wenn der neue Reeder und der damalige Vermittler ein und dieselbe Person sind. Aufgrund seiner alten Seilschaft Beziehungen könnte er sich damals rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Jetzt hatte er mit weiteren Gesinnungsfreunden sein eigenes Machtzentrum gebildet. Somit hätte das mit dem hier im Trockendock "abhängen" eine makabere Erklärung.«

Am Ende seines Gedankens schielte er abermals zum Scanner. Von "Habe fertig", war dieser noch immer weit entfernt. Stirn kratzend ging er den Gedanken weiter nach. Dabei spülte es einige heftige Dispute mit seinen Freund Sorel an die Oberfläche: »Eine besonders derbe – atypische Unterhaltung blieb mir im Geist erhalten. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, läuft es mir herb-frisch übern Rücken und beim Nachfolgenden stehen mir glattweg die Nackenhaare zu Berge. Die Geschichte ereignete sich nach einem Fitnesstraining. Wieder mal lamentierte Sorel: ›Mich kotzt das Nichtstun hier dermaßen an.

Ich erwiderte: »Suche dir doch einen neuen Arbeitgeber. Gute Kommunikationsoffiziere sind ja bekanntlich rar.«

Wild schnaufend warf er mir mit scharfem Ton an den Kopf: ›Das ist für mich, einen unreinen Halbling von Vulkan, nicht so einfach möglich. Und ich kann dir nicht mal sagen, wann und wo ich den Abschluss als Offizier gemacht habe.

Ich entgegnete ihn mit ruhiger Stimme: »Geht doch nur bei einer Raumfahrt Akademie …«, weiter kam ich mit dem Satz nicht, denn wie ich an seinem Gesichtsausdruck sah, brachten meine Worte sein bodenloses Gedankenfass zum Überlaufen. Im nächsten Augenblick brüllte er mich mit bulliger Stimme an: ›An keiner Raumfahrt Akademie kennen die meinen Namen‹, seine Halsadern blähten dabei so sehr auf, dass ich annahm, sie zerbersten gleich. Und es sprengte mir fast die Lauscher weg. So hatte ich meinen Freund überhaupt noch nicht erlebt. Ich kannte ihn bisher als friedfertige und sympathische Persönlichkeit. Zu weilen ist er vergesslich und geistig abwesend. Jedoch aggressiv hatte ich ihn überhaupt noch nie erlebt. Doch das sollte erst der Anfang sein! Nach der verbalen Attacke nervte er mich stets und ständig mit: ›Weshalb ist die Visitor jetzt privat. So was darf es doch in der U P C nicht geben.

Obwohl ich es überdrüssig war, habe ich stets geantwortet: »Das weiß ich nicht, aber bei uns sind neben vielen anderen Sachen solche Flugobjekte stets in privater Hand.«

So wie Sorel das vernahm, lösten sich meine Worte in seinem Geist, wie kalter Rauch auf. Ich dachte zunächst, er hat kein Interesse an dem Thema. Allerdings!, was er dann zu mir sagte, machte mir große Sorgen.

›... Ich bin wegen meiner Erden Menschen Mutter nur ein minderwertiger Bastard. So was dulden die vom Säuberungskomitee überhaupt nicht. Ich bin für die gesamte Gemeinschaft nur eine Blut verunreinigende Schande. Genau aus diesem Grund haben die uns hier weggesperrt.‹ –

Ich frage mich, was ist, wenn er recht hat. Zumal bisher all unsere Anträge auf Heimaturlaub zwar genehmigt wurden aber; stets kam was dazwischen. Mal waren die Portierplattformen außer Betrieb oder es gab dort schwere Störungen. Ein andermal waren die Shuttle-Andockvorrichtungen defekt. Schlussendlich verbrachten wir unsere freien Tage, ebenso die der halbjährigen vertraglichen Rotation an Bord ...«, für einige Wimpernschläge überlegte er, »... warum eigentlich funktionierte bloß dann nichts, sobald wir runter vom Raumschiff wollten? Das sollte ich genauer analysieren ...«, es klang entschlossen. Ungeachtet davon schüttelte es Lennard und sogleich sprach er den Grund dafür aus: »Als Sorel damals die Behauptung aussprach, fühlte ich seinen – an sich gerichteten Ekel. Dummerweise rutschte mir heraus: »Bastard?! Quatsch ich weiß das du, ein astreiner Shumerer Mischling bist. Der zudem alle Kalab Weihen erhielt.«

Kaum das er das hörte, fauchte er mich gallig an: ›Wir! – Shumerer?! – Was hast du dir fürn Zeug rein geworfen! Die unsaubere Brut ist doch bereits vor Urzeiten umgekommen.

Um ihn nicht abermals bis zum Äußersten zu reizen, gab ich vor, da was verwechselt zu haben.

Sorel stimmte dem zu und erteilte sogleich eine astreine Geschichtsstunde. Je mehr er mir von den Disputen vorschwärmte, um so mehr kam es mir vor: Er betet was "Eingetrichtertes" herunter. Um eine Bestätigung zu erhalten, fragte ich ab und an scheinbar neugierig dazwischen. Mein Verdacht verhärtete sich. Und als ich irgendwas von den "Shumerer" erfahren, löste das Wort schlagartig eine verpuffende Reaktion in seinem Geist aus. Nicht mal die Frage konnte er wiederholen.

Und dann der Hammer! Sobald wir uns nicht über privates Zeug unterhielten, tauchten ständig weitere Begriffe und logische Zusammenhänge auf, welche die gleiche verpuffende Reaktion hervor riefen. Dem nicht genug! Es ging soweit, das Sorel sich selber ins Gesicht schlug, sobald ich ihm von den eigentlichen Machenschaften der U P C Diktatoren berichtete. Oder er stellte seine spitzen Ohren auf Durchgang wenn ich ihm, was über die Freiheitskämpfer erzählte.

Damit er sich keine ernsthaften Verletzungen zufügt, zog ich meine Konsequenzen: Spaa Gen, Shumerer, Advenu, ebenso unsere Gaben …, streiche ich bei unseren Gesprächen aus meinem Sprachgebrauch. Klappt bestens! Allerdings!, warum das so ist oder weshalb Sorel glaubt: Nur ein unreiner Halbling zu sein, ergründete ich noch nicht. Ebenso verhält es sich mit seinem Hauptwohnsitz. Er behauptet doch allen Ernstes: die Stadt Sinu i wäre auf dem Planeten Anuna. Ich kenne nur eine Stadt, die so heißt und die ist auf Advenu, aber weil es besser für unsere Nerven ist, lasse ich ihm in den Irrglauben. Mal abgesehen von diesen Marotten ist Sorel einer, auf dem man sich verlassen kann.

Er ist, soweit ich es beurteilen kann, genauso intelligent wie ich. Nur wo und was genau er studierte, vermag ich mich nicht zu erinnern. Wobei, dass was er hier ausübt, studiert man nicht. – Ich sollte mal seinen Vater danach befragen. Doch bis ich dazu die Gelegenheit bekomme, heißt es für mich, bei unseren Unterhaltungen, weiterhin die Zunge im Zaum halten.

Bedauerlicherweise musste ich danach feststellen, dass in Sorels Kopf noch mehr quer läuft. So ist er davon überzeugt: ›Ich habe meine Gemahlin verloren. Sie ist mir irgendwie abhandengekommen. Das Einzige, was von ihr in mir zurückblieb, ist die Erinnerung an den köstlichen ahl pii. Jener schwirrt noch in meinem Geist herum. Der unstillbare Durst nach dem Sinn berauschenden Duftwogen zwingt mich, sie unter allen Umständen wieder zu finden.‹

Das imaginäre Weib zu suchen machte er mehr als gründlich. Denn sowie er Witterung von einem für seine Begriffe passenden und betörenden Nasenkitzel aufnahm, verfolgte er deren Fährte. Geradezu heißblütig umwarb er diese Weiber. Nun ja Sorel ist schon eine Augenweide. Was nicht nur an seinem gut durchtrainierten Leib liegt. Zudem beflügeln seine dunklen schulterlangen Haare geradezu die Weiberfantasien. Die sinnlichen Lippen sprachen auf charmante Art sein Anliegen aus. Blickten sie ihm dann in seine warmherzigen braunen Augen, spreizten sie hingebungsvoll ihre Schenkel.

Da waren Traumweiber dabei. Aber nein! Nach dem Gebrauch verschmähte er sie. Angeblich stanken sie am anderen Morgen. Weg damit. Was Neues heran geflirtet. Flach gelegt. Abgewickelt ... Dass der sich dabei nichts weggeholt hat, grenzt an ein Wunder.

Damit das Weiber besteigen gerechtfertigt blieb, faselte er munter weiter: ›Ich will doch nur meine schmerzlich vermisste Gemahlin wieder finden.

Etliche Male erwischte man das zügellose Treiben. Mich wundert es, dass der Raumschiff Eigner ihm deshalb nicht schon längst feuerte. Zumal man es mit den Weibern so machte.

Eines Tages traf er das schnuckelige Weib Stella Kama, auf einer meiner Geburtstagsfeiern stellte er sie als seine Gefährtin vor. … Merkwürdig war, sie passte überhaupt nicht in Sorels Beuteschema. Seine bisherigen hellhäutigen Weiber standen gut im Futter. Sie hingegen war dunkelhäutig und spindeldürr. … Was mich allerdings an dem Weib verwirrt ist ihre gereifte persönliche Duftnote. Jener erinnert mich irgendwie an synthetische ahl pii. –

Na ja!, … das mit meiner Nase ist so eine Sache. Sie vermag nicht mehr, wie gewöhnliche Menschen Nasen zu riechen. Folglich konnte sie mir etwas vorgaukeln. – Jedenfalls ist Sorel, nach Stellas Aussage: ›Der treuste Gefährte, den sie sich vorstellen kann ...‹ –«

Vom Scanner erschallte ein Abschlusssignal, es lenkte seine meergrünen Augen aufs virtuelle Display. Die angezeigten obskuren Biodaten genügten, dass in ihm ungezügelter Jähzorn emporstieg.

›Es liegen keine Organschäden vor‹, verkündete der Scanner.

Es klang wie Hohn in Lennards spitzen Ohren und brachte seine Empörung zum Überkochen. Wutentbrannt rauften die Hände im Haar. »Nutzloses Ding«, brummte er verärgert.

Er, der sich sonst immer unter Kontrolle hatte, drehte bei diesem stets wiederkehrenden, unwahren Ergebnis fast durch. Die Empörung reagierte er am virtuellen Display ab, und zu jedem patzig eingetippten Buchstaben klagte er der Citraa mit ranziger Stimme sein Leid: »... Fast alles an Bord entsprach mittlerweile bester Qualität von Advenu. Nur die Heiler Gerätschaften der Krankenstationen sind noch aus der Zeit, wo das Raumschiff zum U P C gehörte.

~ ~

(Der Hass auf diesen erpresserischen "Verein" kam nicht von ungefähr. Die U P C Führungskräfte vereinnahmten nur allzu gern andere Planeten. Selbst die eigene Heimatwelt hatten sie fest in der ausquetschenden Hand. Und nur absolut Systemtreue Vulkan Firmen durften die zur Gemeinschaft gehörenden Raumschiffe mit Heiler-Technik ausstatten.

Bei allen Untertanen funktionierte die perfekt, bloß sobald sie einen von unseren Freien Shumerer Volk – den Ingratus – mit dem unerwünschten Spaa Gen erkannten, verweigerten sie jedweden Einsatz.)

~ ~

Lennard fragte sich nun: »Wieso lässt der Eigner die Technik der Feinde weiterhin im Einsatz? Wo es doch hinlänglich bekannt ist, dass deren einprogrammierter Leitsatz lautete: Verunreinigtes Shumerer Blut hat kein Anspruch auf Leben ...« Unvermittelt lachte er bitterböse. »... Haben die uns wirklich hier "Weggesperrt"? – Aber was ist; wenn Mal der "Saft" für die Technik wegbleibt. Soviel ich weiß, haben wir hier nicht mal einen echten Chirurgen an Bord. Wobei ich damit sagen will – der es noch versteht mit Skalpell, Nadel und Faden umzugehen. Ich könnte zwar mittels Schnitt eine Kindsfrucht ins Leben verhelfen, aber das wars …! Wegen der Probleme muss ich dringend mit dem Eigner sprechen. Schließlich brauchen wir zur Instandsetzung von humanoiden Leben neben einer exakt arbeitenden Technik auch noch eine handwerklich begabte Heilercrew. Wenn er dann nichts dagegen unternimmt, haben wir den berechtigten Grund anzunehmen: Er ist doch einer von der U P C. Und alles nicht Funktionierende ist gewollt. Das wiederum erklärt, warum die Crew in den vergangenen Jahren nicht einmal vom Raumschiff herunterkam. Somit stimmt Sorels Behauptung. Doch bevor wir das nicht beweisen können, gehen wir davon aus, die neue Technik sowie das Personal wurden bloß wegen der hohen Kosten noch nicht angeschafft. Folglich muss es weiterhin ohne Technik gehen. Vorsichtshalber werde ich mich mal näher mit dem Wissen eines Skalpell Künstlers auseinandersetzen.« Beim letzten Satz schaute Lennard nachdenklich auf die falschen Scandaten. »Es muss da aber etwas in Sophie sein, das diese Kolik Anfälle verursacht. Nur was ...?«

Während er angestrengt nachdachte, öffnete er ihre virtuelle Krankenakte. In den Aufzeichnungen fiel ihm etwas auf: »Ihre Koliken kommen fast ausschließlich im vier Stunden Rhythmus. Gelegentlich ist mal ein Ausrutscher von neun Stunden dabei. Wenn ich recht habe, bricht die nächste Kolik in knapp drei Stunden über Sophie herein.« Die Augen beschäftigten sich bereits mit den virtuellen Laborwerten. Jene sagten ihm klipp und klar, das seine Schwester ein kerngesundes und kräftiges Weib ist. Sie dürfte diese Krämpfe eigentlich nicht haben. »Da muss aber etwas sein«, jedes Wort begleitete ein unverständliches Kopfschütteln. Frustriert sinnierte er: »Ich tappe völlig im Dunkeln. Nicht mal ansatzweise vermag ich zu sagen, um was für eine Erkrankung es sich handeln könnte. Zu meiner Schande muss ich mir eingestehen, dass ich vor einem Mysterium stehe.«

Die Hilflosigkeit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als er an Sophies Biobett herantrat. Mit entsetzen stellte er fest: »Ihr Gesicht ist noch ganz vom Krampf gezeichnet.« Zu seinen Worten strich er Sophie mitfühlend übers Haar. »Ich finde den Grund …!«, sowie Lennard das dachte, überwältigten ihn starke Unterleibsschmerzen. Er wusste auch ohne einen Scan, diese entsprangen Sophies Erinnerungen und das aktive Sicherheitssystem verstärkt die Empfindung noch um ein Vielfaches. Und weil Lennard unmittelbar neben ihr stand, wurde es eins zu eins – durch das geschwisterliche Band – mental übermittelt. Er wurde völlig unvorbereitet damit konfrontiert. Die mental aufschlagenden Gefühle waren so stark, er konnte sie nicht mal abblocken. Sie raubten Lennard, von einem Herzschlag zum anderen, dass Jugendliche aus den sehr weichen Gesichtszügen und seine robust gebaute Statur nahm eine ausgemergelte sowie gekrümmte Haltung eines Uralten an. Mit der abgelaufenen Erscheinung kaufte ihm niemand ab, dass er erst vor Kurzen seinen dreißigsten Geburtstag beging.

Schwer keuchend gab er sich mit jedem weiteren Atemzug der imaginären Qual hin. Plötzlich spürte Lennard in seinem Geist die mentale Anwesenheit seines Eheweibes Cara. Sie schwelgte in Gedanken bei der letzten, sehr ausgelassenen Geburtstagsfeier vom Ehegatten sowie Sorel Gwen. Caras heiteren Erinnerungen rissen den Ehegatten aus der Schmerzillusion. Desorientiert schaute er sich in der Belegzelle um, als Sophie ins Blickfeld geriet, murmelte Lennard mit verzweifelter Stimme: »Du Mysterium, womit kann ich dir nur helfen.«

Damit Lennard die Umstände von Sophies Erkrankung besser eingrenzen konnte, schrieb er das dafür wichtige auf die vom PAD erzeugten holografischen Papierblätter, danach begann er endlich, alles logisch zu analysieren. Im Endeffekt kam er zu dem Ergebnis: »Die Koliken treten stets wie Anfälle auf. Sie verlaufen alle bis ins Detail gleich ...« Er fuhr sich rau übers Gesicht, und die Lippen fluchten ungehalten: »Verdammt und ich kenne immer noch nicht den Auslöser.«

So sehr er sich auch anstrengte ihm viel nicht ein, was einen brauchbaren Ansatz lieferte. Rein zufällig streifte sein Blick die Uhr vom Bio-Daten-Display. Die Uhr zeigte ihm, dass es noch eine Viertelstunde dauert, bis Sophie wieder gesund aus dem Beta-Phi erwacht.

Im Blick abwenden sprach er kampfentschlossen: »Da ist eine Ursache und die finde ich heraus.« Hierzu überprüfte er am Bio-Daten-Display nochmals ihre Laborwerte. Er fand nichts Auffälliges.

Für einen flüchtigen Augenblick lauschte Lennard den ruhigen Herzschlägen der Schwester. Das ruhige Badomm, Badomm … Badomm … Badomm … schickte sein Bewusstsein weit in die Vergangenheit. Bei Sophies Studium strandete er: »… An welcher Universität war sie? … Hmm …!? War es auf der Erde in Saint Andrews bei den Sternen Kindern oder bei unseren Eltern im schottischen Perth, aber ebenso gut konnte es an einer Tempel Universität auf Advenu gewesen sein. … Hmm?«

Das Unvermögen, es genau zu benennen, ließ Lennard betrübt Luft holen. Er kannte diese unüberwindbaren Gedächtnislücken nur zu gut und die dazugehörigen niederschmetternden Gefühle waren ihm ebenso vertraut. Aber anstatt, wie sonst in trübselige Gemütsverfassungen abzusacken, durchfuhren ihm diesmal blitzartige Empfindungen. Im Handumdrehen lichtete sich der geistige Nebel und ihm fielen weitere Details ein: »Mit ihrem Studium muss Sophie vor vier Jahren, zweiundzwanzig achtundfünfzig fertig geworden sein. Wo sie die praktischen Ausbildungen machte, weiß ich nicht.

Mein Eheweib Cara teilte mir mal mit: ›Sophie will noch den Heiler Macister ablegen. Die Menschen sagen Doktor. Ebenso will sie das Maccister Navis, das Captains Patent der großen Reise erwerben. Um beides anerkannt zu bekommen, muss sie noch die praktische Arbeit dafür nachweisen. Das eine setzte Sophie bereits in die Tat um.

Nun ja, mehr kann ich dazu nicht sagen. Nicht viel anders sieht es mit ihrem privaten Kram aus. Von Cara weiß ich: ›Sophie hat ihr Glück in der Liebe gefunden ...‹, abrupt stöhnte Lennard, »Verdammt! Der dumpf schmerzende Schädel bringt mich fast um. Es ist so massig, mir fällt selbst das Denken schwer.«

Für Minuten hielt Lennard mit geschlossenen Augenlidern regungslos inne. Sein Gesichtsausdruck zeigt, er kommuniziert mit "Etwas". Das etwas war seine Kalab. Seit über drei Jahren sucht er dort endlich wieder im Heilwissen der Vorfahren. Auf Anhieb fand er, was bei Kopfschmerzen hilft. Hierfür atmete er mehrmals kräftig in den Bauch, anschließend rieb er seine Handinnenflächen kräftig aneinander. Als er ein angenehmes Wärmegefühl spürte, hielt er die Hände dicht vors Gesicht. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Stelle, wo der stechende Schmerz saß.

Innerhalb von Sekunden wirkte die Selbstheilung, woraufhin er mit frischem Elan zu sich sprach: »Der Vorname von Sophies Gefährten fängt mit L an. Verflucht, seinen Namen kann ich mir einfach nicht merken. Egal! … Leider habe ich ihn, weil wir bisher noch nie von Bord kamen, nicht kennengelernt.

Nach Caras Worten ist der schlanke Blonde ein äußerst sympathischer Gatte, seine Wurzeln liegen im District Schweden. Er lebt allerdings seit vierzig Jahren in Nord Preton. Ebenso lange arbeitet er für den Freiheitskampf.

Alles schien Perfekt zu laufen. Doch vor elf Tagen, da begannen übrigens meine quälenden Kopfschmerzen, teilte Sophie uns mit: ›Mein Gefährte hat grundlos die Beziehung für beendet erklärt.‹ In starken Tränenausbrüchen gehüllt schluchzte sie: ›Ich will Abstand von hier haben. Daher habe ich mich nach einem neuen Arbeitgeber umgesehen. Auf der Visitor könnte ich sofort als Geistheilerin anfangen. Das Ganze hängt von einem Quartier ab ...‹, zu guter Letzt bat sie uns: ›Kann ich bitte in eurem Gastzimmer wohnen‹, die Stimme war sehr emotional bewegt.

Das meine Schwester mit diesen Anliegen an mich herantrat, war mehr als wunderlich, denn zwischen uns Geschwistern bestand seit Jahren eine schlechte Funkverbindung. Erst nachdem Cara und ich unsere Partnerschaft mit einer standesamtlichen Unterschrift bestätigt hatten, wurde unser sehr gestörtes Geschwister Verhältnis ein Fünkchen besser. Das liegt bereits zweieinhalb Jahre zurück. Mir kommt es allerdings schon viel länger vor. – Hmm!? … Erstaunlicherweise pflegen Cara und Sophie seit Anbeginn eine feste Weiberfreundschaft. Daher verwunderte es mich nicht, dass mein Weib auf Anhieb dem überfallenden Anliegen zustimmte. Nicht ahnend, auf was für ein Mysterium ich mich da einließ, stimmte ich ebenfalls dem Einzug zu. Somit blieb nur noch die Frage, nach einer sicheren Reisemöglichkeit offen. Das Problem nahm Sophie sofort in Angriff, und bereits wenige Minuten nach unserer Zusage meldete sie sich erneut: ›Der Eigner hat mir mitgeteilt, dass ich von der Erde aus in einer Fracht Bark zur Visitor mitreisen kann. Die Bark Rückkehr erfolgt in den nächsten acht Tagen. Den genauen Termin nennt er mir noch ...‹ –«

Ein klapperndes Geräusch, das vor der Belegzelle zum Stehen kam, trennte Lennard von den zurückblickenden Gedanken. Bevor er erkannte, um was es sich handelt, fuhr die Belegzellen Tür auf.

Gut gelaunt trat der Heilerstudent Luckas Gallen ein. In den Händen hielt er ein Tablett.

Der selbstbewusste – lockere Typ hatte wie immer einen flotten Gruß auf den Lippen. Sein strahlendes Lächeln verpasste der kühlen und sterilen Belegzelle eine dicke Portion an Wärme und Geborgenheit.

Wie Luckas nun so auf Lennard zu lief, schwenkte er lässig das Tablett hin und her. »Das schickt uns ihr Eheweib.«

Lennards hungriger Blick musterte das Tablett. Es enthielt neben der Suppenterrine, drei Teller, Besteck und Kelle noch ein kleines Körbchen mit reifen Erdbeeren. Darauf hatte er keinen Appetit. Anders sah es mit der dampfenden Terrine aus, ein Fingerzeig von ihm genügte und Luckas hob kurz den Deckel an. Ein köstlicher Duft von aromatischem Gemüse sowie fein abgestimmten Gewürzen mit deftigem Fleisch wehte ihm entgegen.

»Hmmh! Bist du so nett und füllst die Teller.«

»Ja Sire.«

In Windeseile deckte der Student den drei Personen Wandtisch. Der oberste Teller war für den Ausbilder bestimmt. Auf diesem wurde ein Schlafmittel aufgebracht.

Luckas wählte den Sitzplatz so, dass er Sophie im Blickfeld hatte.

»Sire es ist aufgetragen.«

Alsbald schlürften sie genüsslich ihre Suppen, und als Lennard einen Nachschlag nehmen wollte, machte sich das Biodisplay bemerkbar. Wie sie am Klang des Signals hörten, ist es Sophies Beta Traum.

Lennard nahm sich das Vorrecht des Chefs heraus und forderte: »Justiere ihn bitte nach.«

Die Aufforderung kam Luckas gerade recht, denn er musste an seiner Patientin eine Behandlung vornehmen. Damit der Ausbilder von seinem Handeln nichts mitbekam, bedurfte es eine kleine Ablenkung. Jene hatte er im Erdbeerkörbchen bereitgelegt. Als er nun Aufstand und an Lennard vorüberlief, griff er ein wenig ungelenk nach dem Körbchen. Just in dem Moment fiel eine kleine beschriebene Karte heraus. Lennard hob sie auf und dabei geriet der nette Gruß in sein Blickfeld.

Luckas lächelte entwaffnend und dazu stibitzte er eine Beere. Bevor er sie vernaschte, hielt er kurz inne. »Die sind gut für Sophies angeschlagene Psyche.«

»So ..., so ...!« Insgeheim dachte Lennard: »Erdbeeren werden bevorzugt als Liebesgabe gereicht. Da läuft doch nicht etwa was Handfestes.« Bei seiner Vorahnung betrachtete er den Kandidaten von der Seite. Dabei fiel ihm auf: »Luckas passt eigentlich ganz gut zu meiner Schwester.« Gleichlaufend mit der Erkenntnis griff er zum Löffel und verspeiste weltvergessen seine Suppe.

Luckas, der wiedermal seinen Chef belauschte, griente in sich hinein. Jedoch als er das Körbchen auf den Nachttisch abstellte, streifte sein Blick Sophies Antlitz, auf der Stelle war seine gute Laune verflogen. Tief bewegt sprach er zu sich: »Ihre anmutigen, fast noch kindlichen Gesichtszüge sehen grau und elendig aus. Die himmlischen Lippen, die ich an ihr so liebe, rissig und spröde.«

Bei den Gedanken berührte er Sophies glühende Wangen. Wie befürchtet spürte Luckas augenblicklich ihren nur betäubten Schmerz. Seine Hand brannte an der Kontaktstelle wie Feuer, innerlich schrie er. Sein erschrockener Blick schwenkte zum Ausbilder. Der hatte nichts bemerkt. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, verabreichte Luckas der Patientin den mitgebrachten Amphispray. Indessen die Mixtur sich über Sophies Haut am Unterleib verteilte, berührte er noch einmal die Wangen. Der heftige Schmerz von eben war nicht mehr da. Luckas lächelte zufrieden, dabei ging er zum Tisch zurück.

»Wie sahen die anderen Werte aus«, fragte Lennard, als Luckas sich hinsetzte.

»Großartig!«

»Großartig?«, in Lennards Stimme lag Zweifel, und bevor der Student es aufklären konnte, hastete er zum Biodisplay.

Der Studiosus folgte unaufgefordert.

Als Lennard vorm Display stand lachte er höhnisch. Das unnütze Ding gaukelte ihm doch tatsächlich vor, das Sophie in den Wehen lag. Im Moment ruhten die Kontraktionen.

Gereizt blickend kommentierte er das Gesehene: »Eine Geburt ist das Einzige, was das nutzlose Ding von unseren Weibern richtig anzeigt. Und das nur; damit kein einziger der zukünftigen U P C Sklaven schon bei der Geburt verloren geht«, seine Stimmenlage klang gallig. Als Zeichen der Technik Verachtung schnippte er an das Display. »Hat sie vielleicht was bekommen, was die Kolik auflöst?«

»Was soll sie bekommen haben. Wo doch, wie Sie sagen, ihr Körper alles ablehnt.« Am Satzende streichelte Luckas liebevoll über Sophies Haare und dann hauchte er zwei heiße Küsse auf ihre Lippen.

Lennard nahm es schmunzelnd hin. In Gedanken fragte er sich jedoch: »Wie nah, steht er Sophie. Ist das gar am Ende ihr blonder Schweden Ex.« Seine Vermutungen behielt er vorerst für sich. Stattdessen antwortete er, auf Luckas Feststellung, mit betrübter Stimme: »Das stimmt leider.« Zu den Worten forderte er Luckas mit einer Geste auf, das sie weiter essen. ...

»Woher kommt nur jedes Mal ihre plötzliche Genesung«, fragte sich Lennard.

Luckas, der die Gedanken des Ausbilders belauschte, gefiel das Grübeln überhaupt nicht. Es zögerte nur unnötig hinaus, dass sein Ausbilder schläfrig wird. Weil der bereits einen Nachschlag verputzte, müsste das Schlafmittel längst schon sichtbare Zeichen setzen. Bloß solange dieser sich noch mit dem Analysieren beschäftigt, wurde er nicht müde. Also musste Luckas handeln. Dazu rutschte ihm der lässig gehaltene Löffel aus den Fingern. Scheppernd landete dieser auf der metallenen Tischplatte. Es verfehlte nicht die Wirkung und von hier auf jetzt überkam Lennard Müdigkeit.

Grienend griff Luckas nach seinem Mehas (medizinischer Handscanner) und nachdem der ihm bestätigt hatte, du kannst getrost den Ausbilder nochmals wecken, sprach er ihn an: »... Sire, Sie sind erschöpft. Eine Pause tut ihnen gut. Indessen Sie schlafen, werde ich bei ihrer Schwester wachen«, er wählte hierzu einen schmeichelnden Tonfall.

Gähnend stimmte Lennard zu und danach schlich er in seinen Ruheraum, und kaum das er alle Glieder von sich streckte, übermannte ihm das Schlafmittel. Weil es nur sehr schwach dosiert war, verfiel Lennard alsbald in eine Wach-Traumphase. Darin beschäftigte ihm ebenfalls der Gedanke, was die Kolik spontan hervorruft und beendet. Wenig später erwachte er und von Sorge getrieben, ging er in seinen Bereitschaftsraum.

*

Vom Schreibtisch Terminal aus überprüfte Lennard nochmals alle Laborwerte. Aber wie gehabt fand er darin nichts Auffälliges. Unbewusst kratzte er sich an der Stirn. Es sah gerade so aus, als wenn er einen zündenden Geistesblitz freikratzt. In der Tat, ihm fiel tatsächlich ein, wo er was finden könnte: »Citraa von der Fracht Bark, mit der Sophie Minn anreiste, das Bordbuch anzeigen.«

Nichts geschah.

Ungehalten wiederholte er den Wunsch.

Diesmal meldete sich sofort ein Techniker: »Sire, der Citraa steht noch nicht dem Heiler System zur verfü...«

Zornig unterbrach Lennard die Verbindung. Im selben Atemzug zischte er: »Also alles wieder übern lahmen U P C Computer.«

Nach unzähligen nervenaufreibenden Fragen und Antwort Dialogen, mit dem begriffsstutzigen Sprachsystem, erschien vor Lennard das angeforderte. Zuerst informierte er sich, um was für einen Typ von Frachtraumschiff es sich handelt:

~

Langstrecken Fracht und Transport Bark. Sie wird ausschließlich von Aiws gesteuert.

Die Schwerkraft und Klimabedingungen sind für humanoide geeignet. Die Ausstattung ist als zweckdienlich einzustufen.

Die Bark ist für Bend Blasen in der Cybord Dimension ausgelegt.

~

»Cybord Dimension. Da war was ...«, es klang, als habe er die Erklärung unter der Zunge und er bekommt sie nicht hervor. … Während er weiter überlegte, verfolgten seine Augen die nächsten Textzeilen.

~

Die Passagierin Miss Vacca portierte um acht Uhr früh (Anuna Standardzeit), von vor den Toren der Stadt Dahl brie, an Bord …

~

»Anuna?«, rief Lennard mit überraschter Stimme, »Die Koordinaten gehören doch zu unserer Heimatwelt Advenu. … Ich dachte, meine Süße kam von der Erde. Was macht sie in Dahl brie. Da ist unser Ferienhaus sowie unser Geburtshaus. Aber in der glutheißen Jahreszeit ist sie doch sonst nie dort. – Und wieso benutzt sie den Nachnamen unserer Mutter? ...«

Fragen über Fragen. Auf plausible Erklärungen hoffend, las er weiter:

~

Bereits beim ersten Blickkontakt zu den Aiws bekam Miss Vacca einen Panikanfall.

(Nach ihrer Aussage leidet sie an einer sehr schweren Aversion gegenüber Aiws von Vulkan. Nur mit einer List gelang es mir, Miss Vacca zu überzeugen, dass die Aiws nicht von dort kommen.)

Sie erwähnte eher beiläufig, was mich allerdings aufmerksam werden ließ: ›Ich nehme einen stark konzentrierten Duft wahr. Er bereitet mir arge Probleme.

(Anmerkung meinerseits, was ich auch der Mitreisenden sagte: Ich benutze keinerlei Deos oder Riechwasser ...)

~

Sophies Aussage ließ Lennard schmunzeln. Zumal er doch wusste, dass seine Schwester sofort jammert, wenn es ihr auch nur ein Fünkchen nicht gut ging. Auf eine Bestätigung hoffend schlug er erwartungsvoll die nächste virtuelle Seite auf.

~

Ich bemerkte auch den Duft. Ich empfinde ihm

~

Den restlichen Text verdeckte ein fetter schwarzer Balken. Lennard vermutete: Der Schreiber entdeckte was und schrieb es nieder. Später sah er darin ein Irrtum, dass er widerrufen hat. Aber falls er es doch braucht, stand es noch unter dem Geschwärzten. Nickend las er weiter.

~

Zur Sicherheit wurde die Raumluft, auf Schadstoffe überprüft. Es wurde nichts Schädliches gefunden …

~

Um vielleicht doch noch den entscheidenden Hinweis zu finden, blätterte er um. Zu seiner Verblüffung wurde auf den nächsten zwei Seiten alles maschinell geschrieben und zudem in einer für Lennard unverständlichen Sprache verfasst. Aufgebracht bat er den Computer um eine Übersetzung.

Erstaunlicherweise teilte der ihm umgehend mit: ›Sprache erkannt. Uraltes irdisches Latein. Es wurde von antiken Heilkundigen benutzt und später von Ärzten ...

~

Verwundert stellte Lennard fest: »Bei der Reise war weder ein Aiws mit medizinischer Programmierung, Heiler, oder Arzt auf der Bark anwesend. ... Hmm! ... Der Schreiber nahm, vorsorglich Kontakt zu einem Heilkundigen auf. Dieser diagnostizierte in jener Sprache. Der Bark Citraa übersetzte und verfasste es.«

Neugierig, was sich hinter dem Latein verbarg, forderte er: »Computer übersetzt vorlesen.«

~

Nach dreißig Minuten Flug wurde es Miss Vacca mehrmals schlecht, sowie schwarz vor Augen und sie verspürte leichte, wehenartige Schmerzen. Die strahlten in ihren gesamten Körper aus.

Auf meine Frage: »Ob sie eine Kindsfrucht trage«, antwortete sie: ›Nein. Und an Flugparanoia leide ich nicht.‹

Habe ihr mit meinem Taschenmesser, eine Wunde geritzt/ zugeführt, damit ich etwas Cruor von ihr erhalte.

Habe einen Aiws so modifiziert, damit dieser die freigesetzten Blutstropfen – von Miss Vacca – analysieren kann.

Die Blutanalyse ergab: Nichts Auffälliges feststellbar!‹ –

~

Lennard nickte anerkennend: »Der weiß sich zu helfen.«

Die weiteren Hörzeilen saugte er voll Mitgefühl ein.

~

Ihre Schmerzen klingen nicht mehr ab. Habe daher mit Heiler MaccGallen auf der Visitor gesprochen. Handle nach seinen Anweisungen.

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Auf der Stelle verursachte "MaccGallen" in Lennards Verstand einen mächtigen Konflikt. Wusste er doch, dass es an Bord der Visitor nur einen Studiosus Gallen gab. Der Name beschäftigte ihm so sehr, alles andere prallte von ihm ab. So auch die letzte Computer-Übersetzung: ›... Sie wurde dadurch sofort schmerzfrei.‹

Alsbald hatte Lennard eine Erklärung gefunden: »Der Arzt wird ein neuer Austausch in der Gatten Abteilung sein. Mein Kollege Doktor Pieter McSpleen wird es mir sicher bestätigen.« Am Ende seiner Analyse war an seiner lebhaften Mimik ersichtlich, dass er alles zusammenfasste. Dabei stieß er sich gedanklich mehrmals am schwarzen Balken. »Was stand da wohl ursprünglich.«

Mit der Frage auf seinen Lippen schlug er erneut die besagte Stelle auf. »Computer Balken entfernen«, schoss es über seine Lippen.

Nach seiner Eingabe der geforderten Geheimkennziffern verschwand der Sichtschutz. Mit weit aufgerissenen Augen las er, was darunter stand.

~

Ich empfinde ihm als sehr angenehm. Der vorzügliche Wohlgeruch entströmt Miss Vacca. Ihr Duft, er berauscht mich.

~

Bei diesen Textzeilen blitzte vor Lennards inneren Augen noch eine andere Textpassage auf:

Ich nehme einen stark konzentrierten Duft wahr. Er bereitet mir arge Probleme.

~

Eine Handfläche schlug erkennend an die Stirn. »Pheromone. Hier reagieren, schlicht und ergreifend zwei passende ahl pii aufeinander. Bloß Sophies Gefährte trennte sich erst kürzlich von ihr. Daher lehnt sie, aus verständlichen Gründen, den Kontakt zu einem neuen Kandidaten ab. Nur sie konnte es nicht verhindern, dass sie dennoch auf einen umwerbenden ahl pii reagiert.« Sein Gesichtsausdruck sagte dazu ganz deutlich Volltreffer. Und angesichts der unumstößlichen Tatsachen stand für ihn sofort die Diagnose fest: »Sophies Psyche sträubt sich gegen eine neue Beziehung. Es geht so weit, dass sie mit Phantom Schmerzen darauf reagiert. Ein kräftiger ahl pii Blocker sollte genügen, um die Kolik-Artigen-Anfälle zu unterbinden. Damit das Pheromon des störenden Kandidaten auch Ruhe gibt, müsste er ebenfalls diesen erhalten. Nur wer ist es?«

Lennard atmete mehrmals kräftig durch, dann blätterte er bis zur letzten virtuellen Seite.

»Neiiin!«, sein Tonfall kochte vor Unverständnis. Dort, wo für gewöhnlich ein Name steht, stand lediglich: – diensthabender Offizier –

~

Niedergeschmettert vergrub Lennard das Gesicht in den Händen. Frustriert stellte er fest: »Ich bin wieder ganz am Anfang meiner Recherche.«

Seine nächste Handlung rührte mit ziemlicher Sicherheit nicht von den Blockaden, sondern es lag an seinen sturen Schädel. Sein falscher Stolz verhinderte sogar, bei Captain Delune den Namen vom besagten Offizier zu erfragen. Was verständlich war: Beide fochten seit ihrem ersten Blickkontakt einen offenen zudem scharfen Wortkampf aus; daher ist es mehr als unwahrscheinlich, das Delune den Namen so einfach herausrückt.

Ob er nun einen Gedanken daran verschwendete, sei dahingestellt. Jedenfalls schlug Lennard übel gelaunt mit der Faust auf den Tisch. Lauthals schellte er sich: »Hätte ich doch nur freigenommen und Sophie mit abgeholt, dann wüsste ich jetzt, wer der großzügige Pheromon "Versprüher" ist.«

Dem Gedanken widersprach allerdings der noch offene Anreisetermin. Und sofern es von ihr erwünscht worden wäre, hätte er einen fixen Termin erhalten. Es war nicht erwünscht! Und seinen damaligen Wochendienstplan fädelte "Jemand" ganz geschickt ein. So bot dieser, was oft vorkam, drei verschiedene Möglichkeiten. Lennard hatte die Wahl zwischen einer Woche frei, – langweiligen Nachtdienst oder genauso lange die Vertretung eines erkrankten Kollegen zu übernehmen.

Er entschied sich für die dritte Variante, welche den Beisitz der praktischen Zwischenprüfungen von Heiler Studenten im letzten Ausbildungsjahr vorsah. Bei dem Prüfungsmarathon hing als Lockmittel noch eine zusätzliche Vergütung dran, welche in Form von in goldgefasstem Agamenon ausgezahlt wurde. Der Anreiz war letztendlich ausschlaggebend, weshalb er unbedingt persönlich bei den Studenten die "Spreu vom Weizen" trennen wollte.

Doch so einfach waren die zusätzlichen Agamenon Dukaten nicht verdient, denn man schickte ihm die falschen Studenten. Die Richtigen waren nicht besser. Deren Ausbildungsstand entsprach bestenfalls denen von blutigen Anfängern. So blieb es nicht aus, dass während der abzuarbeitenden Prüfungsaufgaben die Warnakustik nicht ein einziges Mal schwieg. Bloß gut das es sich bei diesen Patientinnen nur um holografische handelte.

Damit die Warnakustik endlich schwieg, musste Lennard ständig Behandlungskorrekturen vornehmen. Ihm – dem Ausbilder kam es so vor, dass er der zu Prüfende sei.

Dem nicht genug! Vor Prüfungsbeginn gab er die Anordnung heraus: Unter keinen Umständen stören. Danach werte ich das Prüfungsprotokoll aus, da will ich nicht gestört werden!

Weil alle im Team wussten, wie stressig solche Tage sind, hielten sie sich strikt an Lennards Order. Was wiederum zur Folge hatte: Seine Vertretung Heiler Chris McPalmer informierte ihm erst am anderen Morgen über Sophies Ankunft. Mit entsetzen vernahm Lennard, was seiner Schwester während der Reise widerfuhr. Und auf seine Frage: »Wer nahm den Notruf entgegen«, antwortete Chris: ›Ich. Zum Einsatz selber schickte ich meinen Kollegen Doc McSpleen und deinen Heiler Studenten Luckas.‹

Darüber war Lennard nicht gerade erfreut, Pieters Fachgebiet ist ausschließlich die Gatten Heilkunde. Nun ja, Chris nachfolgende Sätze besänftigten Lennards aufgebrachtes Gemüt. Denn entgegen seinen Befürchtungen hatte Pieter das richtige Medikament dabei. Und wie er von Sophie erfuhr, half es sofort.

Erst jetzt fiel ihm auf: Weder Sophie noch Chris erwähnten, was Pieter konkret injizierte. Um es nun im Nachhinein zu erfahren, öffnete er nochmals ihre virtuelle Patienten Akte. Nur an dem besagten Tag wurde lediglich eingetragen: Nach dem Erhalt der Behandlung ging es der Patientin Sophie Minn wieder bestens.

Die fahrlässige Ungenauigkeit seines sonst sehr gewissenhaften Kollegen verwunderte Lennard. »Wieso nennt er das Mittel nicht.« Nachdenklich schnippte er die Patienten Akte weg. Wodurch wieder Sophies virtuelle Medikamentenakte ins Sichtfeld geriet. Seine Augenbrauen zuckten erwartungsvoll. »Da könnte es natürlich stehen.«

Bloß bei dem gesuchten Zeitpunkt wurde in den angelegten Listen nichts eingetragen. Das konnte nicht sein. Aufgebracht blätterte er um. Doch da stand nichts weiter. »Hey, was soll das? Was soll die Geheimniskrämerei.« Enttäuscht schnippte er diese Akte weg.

Wieder einmal hatte er, anstatt Antworten zu bekommen, nur neue Fragen erhalten. Frustriert fuhr er sich durchs Haar. Diese selbstbemitleidende Geste begleitete nachdenkliches Schweigen. Es wurde abrupt von einer markanten Erinnerung unterbrochen. Diese Begebenheit führte zum ersten gemeinsamen Abend an Bord. Sophie hatte sich da "in Schale geworfen" um, wie sie es nannte: ›Die Visitor unsicher zu machen.‹

In Gedanken erlebte er nun den darauffolgenden Morgen noch mal. »Chris teilte mir bei der Dienstübergabe mit, dass Sophie am frühen Morgen mit einer Kolik eingeliefert wurde.« Lennard fragte sich nun: »Wo war sie in jener Nacht.«

Hätte er seine Schwester nach jeder spontanen Heilung mit strenger Bettruhe unter Beobachtung gestellt, wären ihm regelmäßig fremde Heiler über den Weg gelaufen. Sie versorgten seine Schwester mit der überbrückenden Therapie, welche ihre schmerzhaften Vergiftungen unterbanden.

Wie er nun so über Sophies nächtliche Ausflüge sinnierte, drifteten seine Gedanken noch zu einem anderen Vorfall. Seit ihrer Ankunft auf der Visitor war genau ein Tag verstrichen. Kurz nach seinem Dienstantritt meldete sich der Student Luckas Gallen: »Sophie wird gerade zu uns gebracht.«

Lennard nahm sie da erstmalig persönlich in Empfang. Die Verfassung, mit der sie eingeliefert wurde, konnte erbärmlicher nicht sein. Sie war nicht mal imstande, dem Bruder zusagen, wo es ihr genau wehtut. Ihm blieb auf die Schnelle nichts weiter übrig, als ihr mit einem neuralen Nackengriff den Schmerz zu blockieren. Vorsorglich verabreichte er ihr ein Betäubungsmittel, und im Anschluss wollte er Sophie vom Computer scannen lassen. Wie gewohnt verweigerte die Technik ihren Dienst. Lennard seinerseits wiederholte mehrmals seine Forderung. Während er mit dem nutzlosen Ding kommunizierte, gab Luckas mehrmals mit Handzeichen zu verstehen, das er etwas sagen will. Sein Ausbilder ließ sich nicht stören. Erst als nichts mit dem Scanner geschah, schenkte er den Studiosus die geforderte Aufmerksamkeit.

Der Studiosus blickte beschämt zum Fußboden. »Sire, ich habe einen Fehler gemacht ...«, gestand er kleinlaut.

Ein breites Grinsen lag quer über Lennards Gesicht. Er nahm an, weil diesem Musterknaben von Heiler Studenten nie ein Fehler passiert, dass dieser scherzt.

Ohne auf den unausgesprochenen Spot einzugehen, vollendete Luckas den Satz: »... ich setzte ein Shuttle unter strenge Quarantäne.«

Lennards Mimik erstarb auf der Stelle: »Welches?«

Bevor Luckas antwortete, schaute er seinen Maccister treuselig an. »Mit dem die neue Heiler-Software ankam.«

Ein kraftvoller Atemzug erstürmte Lennards Rachen, dem folgte ein herauskatapultiertes »Latuu!«, es verließ so kräftig seine Kehle, das selbst seine Schwester im künstlichen Schlaf erschrocken zusammenzuckte und Luckas, er wollte im selben Moment sein Missgeschick entschuldigen, brachte nur ein wirres Wortgestammel hervor.

Lennard ignorierte es. »Was ist mit der neuen Software?«

Software löste sofort die Stimmenlähmung in Luckas: »Die Techniker kommen nicht an mein versiegeltes heran.«

Lennard kamen diese Worte wie abgelesen vor. Den Unwillen darüber drückten die auf den Hüften abgestützten Fäuste aus und dazu schrie er entrüstet: »Das ist ein Scherz?«

Luckas blickte flüchtig zu Sophie, dabei flüsterte er: »Leider nein.«

Wild gestikulierend holte Lennard Anlauf sich noch mehr verbal Luft zu verschaffen, sein Studiosus kam ihm jedoch zuvor: »Ich fand heraus, dass die Koliken als Geburtskontraktionen angezeigt werden. Und wir können sie genau wie Wehenschmerzen blockieren.«

»Das geht?«, erwiderte Lennard mit skeptischem Blick.

»Korrekt. Ich machte es bei Sophie bereits mehrfach mit Erfolg.« Zu seinen Worten öffnete er ihre Datei mit den dazugehörigen Biodaten.

Das Angezeigte besänftigte Lennards Gemüt, jedoch es verminderte nicht im geringsten das Misstrauen gegenüber dem Studenten. Im Gegenteil, dass was dieser dann forderte, verstärkte die Empfindung noch mehr.

»Wenden Sie es unverzüglich an.«

Verdattert blickend konterte Lennard: »Und du begibst dich zu den Technikern. Komme ja nicht ohne gute Nachricht zurück.«

»Aye Sire.«

*

Hals über Kopf lief Luckas zur Tür hinaus, und Lennard rollte die Schwester auf die Seite. Weil er es zu grob anging, fuhr Sophie erschrocken hoch. Der Schmerz lag auf den Lippen. Kläglich wimmernd kam sie seiner Bitte nach, die Seitenlage einzunehmen. Er raffte ihr das Shirt am Rücken hoch und im nächsten Moment rasten seine Finger auf die neuralen Punkte der Wehenschmerz Blockade zu. Just in dem Moment, wo er die Finger auf Sophies Rücken aufsetzen wollte, spürte er einen Widerstand. Noch bevor er begriff, was es ist, wurden seine Hände von einer unsichtbaren Kraft weggestoßen. Zischende Atemluft drückte Lennards Fassungslosigkeit aus. Er ignorierte die Gefahr und unternahm umgehend den nächsten Versuch. Abermals wurde er daran gehindert.

»Ich habe nichts gemacht«, flüsterte Sophie angsterfüllt.

Ihre Worte machten ihn stutzig. Dessen ungeachtet führte er seine Hände zu den vorherigen Ausgangspunkten. Seine unruhigen Finger allerdings sagten – ich ahne Schlimmes. Um dafür gewappnet zu sein, und damit die Schwester im Notfall handeln konnte, setzte er zunächst die bewährte Blockade am Nacken.

Als es Sophie besser ging, entschuldigte sie sich für das Geschehene. Als Zeichen der Annahme strich ihr Lennard mitfühlend übers Haar. »Schon gut. Ich fühlte, bevor es mich traf, ebenfalls nichts.« Seinen ernsten Gesichtsausdruck sah sie zum Glück nicht.

Ob seine düstere Vermutung wirklich begründet ist, testete er umgehend mit einem Blitzangriff. Bei diesem fasste er Sophie derb an die Schulter. Sie zuckte erschrocken zusammen, mehr geschah nicht. Davon ermutigt bat er: »Darf ich deinen Rücken abtasten.«

Sophie stimmte ohne Zögern zu, dann drehte sie sich auf den Bauch. Sofort näherten sich seine Hände vorsichtig ihren oberen Rücken. Lennard verspürte keinerlei Barriere, dennoch blieb er wachsam. Millimeter um Millimeter bewegte er die Hände weiter abwärts. Einen fingerbreit vorm Auflegen hielt er inne. Nichts geschah. Nicht mal ein Kribbeln verspürte er. Dessen ungeachtet wagten sie nicht, sich zu bewegen. Für Sekunden waren nur ihre angespannten Atemzüge zuhören.

»Nun denn! Ich lege die Hände auf«, flüsterte Lennard.

»Ja«, raunte sie.

Wie in Zeitlupe überwand Lennard die restliche Distanz. Knapp über der Haut, er spürte bereits ihre Körperwärme, knisterte es. So wie er das vernahm, wurde er von einer unsichtbaren Kraft vom Bett weggeschleudert. Sein unaufhaltsamer Flug katapultierte ihn ungebremst an die hintere Wand. Schmerzerfüllt ächzend rumpelte er zusammengeknautscht, rücklings an der Wand hinab. So wie er Fußboden Kontakt hatte, blieb er regungslos liegen. Bloß gut das die Zellen I P S, das in der verzerrten Luftspirale davon preschende Geschoss als einen humanoiden erkannten und bereits vor Lennards aufschlagen stummen Alarm auslösten. Gleichlaufend veranlassten diese, dass ein Trägerstahl den humanoiden abfängt, doch bevor jener auf das Geschoss fixiert war, schlug es an der hintersten Wand ein. Die davon ausgehende Erschütterung sowie die I P S Daten lösten einen Notfallalarm aus, der wiederum aktivierte einen realen Scanner der Heiler und informierte den Bereitschaftsdienst.

Luckas informierte man zuerst, er stand, bis es in der Belegzelle polterte vor der Tür, es wurde so mit Sophie abgesprochen. Sein ankommender Blick schwenkte, von dem am Boden liegenden Lennard zum Biobett. Sophie kauerte zitternd auf dem Kopfkissen, ihr verstörter Blick war auf den Bruder gerichtet. Sie hatte, wie Luckas im vorübereilen sah, keine äußeren Verletzungen, jedoch mental fühlte er, ihr saß der Schreck im Nacken. Binnen weniger Sekunden begriff auch Sophies gelähmter Geist, was mit dem Bruder geschah. Reflexhaft sprang sie vom Bett und stolperte ihm entgegen. Jedoch auf halber Höhe schlug der Kolik Anfall wieder gnadenlos zu. Schmerzerfüllt aufschreiend stützte sie sich an der Labortür ab.

Der Student schaute kurz auf, er war inzwischen damit beschäftigt Lennard "auseinanderzufalten", »Hältst du es aus«, fragte er Sophie.

Unter größter Anstrengung presste sie hervor: »... Hilf ihn ...« Der Rest ihrer dünnen Worte ging in der sehr lauten Citraa Mitteilung unter: ›... Innere Verletzungen, rechtsseitig Schlüsselbeinbruch, schwere Gehirnerschütterung ...‹

Während die Citraa sprach, veranlasste Luckas, dass sein Ausbilder in eine Notfall Staze Abteilung der echten Krankenstation portiert wurde, und noch bevor der letzte Portierstrahl verschwunden war, wandte sich Luckas seiner Schutzbefohlenen zu. Im nächsten Augenblick verschmolzen ihre Blicke. Zeitgleich fixierte er auf Sophies Rücken einige neurologische Punkte.

Sofort war sie schmerzfrei. Dicht an ihm geschmiegt atmete sie erleichtert auf, und wie gehabt spendete er so, etwas Lebenskraft. Die Nähe tat ihr gut, sie entspannte und er löste den hypnotisierenden Blick von ihr. Für etliche Herzschläge hielten sie sich noch fest umschlungen. Die Lippen besiegelten mit zaghaften – schüchternen – Küssen die unnahbare Distanz der Gefühle. Dennoch genoss sie die flüchtigen Berührungen.

»Nimmersatt«, scherzte er.

Auf der Stelle nahm Sophies Gesicht bis zu den Haarwurzeln Farbe an.

Die Schamhaftigkeit belustigte Luckas. Frech grinsend stupste er an ihre Nase. Sie blickte verschämt zu Boden und schwieg. Kaum einen Lidschlag später liefen ihr dicke Tränen über die Wangen.

Das sie urplötzlich von starken Gefühlsausbrüchen überrannt wird, hängt mit ihren niedrigen und zudem chaotischen Elias-Werten zusammen. Dadurch ist ihre Psyche stark angeschlagen und sie stand sehr nah "am Wasser".

Weil Luckas das wusste, bereute er die Witzelei. Hastig, fast ein wenig derb, riss er sie an sich heran.

»Hey, ist gut. Ich habe es nicht so gemeint.«

Sophie lächelte angestrengt zurück. »Lenn–Lennard«, stotterte sie verheult. Ein Zeigefinger von Luckas legte sich über ihre Lippen.

»Dein Bruder ist in guten Händen.« Er löste seine Umarmung und eilte ins Belegzellen Labor. … Mit einer Infusionsflasche kam er zurück. »Ich sorge dafür, dass Lennard erst wieder in vier Stunden hier herumgeistert.«

Sophie hatte sich inzwischen aufs Bett gelegt, und einen Kleiderärmel hochgezogen. Während dann die verordnete Flüssigkeit in ihre Ader tröpfelte, meditierte sie und Luckas verließ kurzzeitig die Belegzelle.

~

Nach zwanzig Minuten kam Luckas zurück. Die Infusionsflüssigkeit ging, wie von ihm berechnet, soeben zuneige. Bevor er die Nadel aus der Dauerkanüle entfernte, weckte er den Schützling behutsam. Sophie brauchte Sekunden bevor sie wieder im Jetzt und Hier ankam. ... Indessen sie sich aufsetzte, rollte sie behäbig den Kleiderärmel herunter.

»Hoffentlich hält der Sapor Vorrat lange genug.« Während sie sprach, schaute sie Luckas mit glühenden Augen an.

»Deshalb sollst du vorher noch mal zum Auffüllen kommen.« Zu seinen Worten stupste er Sophie keck an die Nase. Sie erwiderte seine charmante Geste, indem sie liebevoll über seinen muskulösen Arm strich. »Danke.«

Er gab ihr einen flüchtigen Lippenkuss. »Wofür? Haltet euch an meine Anweisungen, das ist dank genug.«

Nochmals bekam ihr Gesicht einen kräftigen Anstrich. Grienend wandte sich Luckas von ihr ab, und mit langsamen Schritten lief er aus ihrer Belegzelle. Sophie hingegen tippelte zum Wandschrank. Zielsicher griff sie nach einem langärmeligen, dicht gewebten nur dezent gemusterten, weinroten bodenlangen Kleid.

~

Als Sophie die Belegzelle verließ, stand ihr die Vorfreude auf ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Das Hochgefühl übertrug sich auf ihre Schritte. Die kurze Entfernung bis zum internen Portal überwand sie im schnellen Lauftempo, und als sie das sichtbar gemachte Energiefeld durchschritt, trafen er und Luckas gerade auf der anderen Seite ein.

* * *

INGRATUS - Das Unerwünschte in uns

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