Читать книгу VERURTEILT! - Tabita Dietrich - Страница 7
ОглавлениеWie alles begann
Ich schickte gerade die letzte Nachricht an meinen Freund, der mich freudig zu Hause erwartete, und teilte ihm mit, dass ich mich am Flughafen in Tobago befinde und meinen Anschlussflug nach London erwischen werde. Ich versprach ihm, mich am nächsten Tag zu melden, sobald ich in London gelandet wäre. Damals ahnte ich nicht, dass sich mein Leben in den kommenden Minuten von Grund auf verändern würde. Ich erinnere mich noch an das Mädchen mit den Goldlöckchen, das mich neugierig in meinem langen Kleid betrachtete, bevor mich ein Polizist in Zivilkleidung aufforderte, meine Tasche zu öffnen und zur Kontrolle freizugeben. Nachdem er und seine weibliche Kollegin mein Handgepäck durchsucht hatten, verlagerten sie die Kontrolle meines Reisegepäcks in einen Nebenraum. Sie nahmen den gesamten Inhalt aus der Tasche und durchsuchten auch die Laptop-Tasche, die ich für meine Schreibarbeit während einer Shoppingtour mit einem Kollegen gekauft hatte. Ich stand daneben und schaute ihnen bei ihrer Arbeit zu.
Als ich sie die Laptop-Tasche aufschneiden sah, durchfuhr mich ein gewaltiger Energiestoß und ich wusste schlagartig, dass sich eine dramatische Wende vollziehen würde. Im gleichen Augenblick rieselte weißes Pulver aus der aufgeschnittenen Zwischenwand. Mittlerweile schwebte ich bereits außerhalb meines Körpers und nahm den Rest des Szenarios fernab wie in einem bösen Traum wahr. Ich beobachtete die Geschehnisse von außen und hörte, wie mich der Polizist wegen gefährlichen Drogenbesitzes festnahm. Gleich darauf wurde ich in ein bereitstehendes Auto verfrachtet. Als ich im Auto saß, dämmerte mir allmählich, dass ich wahrscheinlich so schnell nicht mehr nach Hause zurückkehren werde und jemanden organisieren müsste, der meine Hündin am kommenden Tag beim Hundesitter abholt. Ich schickte meiner Hundesitterin eine schnelle Nachricht und teilte ihr mit, dass ich meine Hündin nicht abholen könne und deshalb jemanden schicken werde.
Nach einer kurzen Fahrt erreichten wir die Polizeistation nahe dem Flughafen Crown Point. Ich wurde in ein kleines Büro geführt, wo das Verhör begann. Ich schilderte meine Geschichte und erklärte dem Polizisten, dass ich nicht wusste, dass sich Drogen in der Tasche befanden. Ich könne es mir nicht anders erklären, als dass die Tasche am Abend zuvor ausgetauscht wurde, als wir alle gemeinsam feiern waren und einer meiner Kollegen mich zurück ins Hotel brachte. Ich hatte etwas zu viel getrunken und erinnerte mich nur noch daran, dass ich gleich weggedöst bin, als wir im Hotelzimmer angekommen waren. Als der Polizist die drei Pakete mit dem weißen Pulver gewogen hatte und ich das Gesamtgewicht auf der Waage sah, ergriff mich eisige Kälte. Ich begriff sofort den Ernst der Lage. Circa drei Kilogramm Kokain waren in der Laptop-Tasche eingenäht gewesen.
Der Kollege, der mich eigentlich auf diesem Flug begleiten wollte, ihn jedoch kurz zuvor absagte, hatte sich einen wunderbaren Plan ausgedacht und mich als Schmugglerin benutzt, in der Absicht, an die Ware zu kommen, sobald ich in die Schweiz zurückkehren würde. Während meiner Schilderung gelang es mir nicht, meine Fassung wiederzuerlangen. Der Polizist versuchte mich zu beruhigen und erklärte mir, dass es vielen jungen Frauen so ergangen wäre wie mir und dass es sein einziges Ziel wäre, die Männer und damit auch die ganze Organisation zu schnappen, die dahinter steht.
Ich konnte jedoch an nichts anderes mehr denken als daran, dass mein Leben, wie ich es bis dahin kannte, vorbei sein würde. Wie sollte ich das bloß überleben? Ich fragte ihn, ob ich nach draußen gehen könne, um eine Zigarette zu rauchen, da ich nicht mehr in der Lage war, dem Verhör zu folgen. Ich hörte ihn zwar sprechen, konnte jedoch seine Worte nicht verstehen, sie kamen nicht bei mir an. Er sagte mir immer wieder, dass er schreckliches Mitleid mit mir hätte und ich sein Herz berühren würde. Vielleicht war das der Grund, warum er mich nach draußen gehen ließ, um eine Zigarette zu rauchen und dabei seinen Job riskierte. Das Rauchen auf allen öffentlichen Plätzen und Dienststellen ist in der Republik Trinidad und Tobago (TT) streng verboten.
Als ich versteckt zwischen zwei Autos etwa die Hälfte meiner Zigarette geraucht hatte, verließ mich das letzte bisschen Kraft in meinen Beinen und ich sackte zusammen. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Alle Kraft verließ mich. Zurück im Büro bekam ich meinen Anruf und rief zuerst meine Mutter an, die aber nicht antwortete, und dann meinen Freund in der Schweiz, um ihm mitzuteilen, was passiert war. Ich bat ihn darum, meine Hündin beim Hundesitter abzuholen und für sie da zu sein, so lange, bis ich wieder zurückkehre. Der Anruf dauerte nicht mehr als zwei Minuten.
Der erniedrigendste Teil stand mir bevor, als alle männlichen Polizisten den Raum verließen und die weibliche Polizistin mich aufforderte, mich nackt auszuziehen. Während ich mich bückte und hustete, suchte sie nach Drogen in meinem Vaginal- und Analbereich. Sie bestand vehement darauf, dass ich Drogenpakete geschluckt haben könnte und sie sicher gehen wolle, dass ich nicht über Nacht sterben würde, weil eins der Pakete in meinem Körper platzen würde.
Als die männlichen Polizisten wieder hereingebeten wurden, nahmen sie eine Urinprobe, um damit zu bestätigen, dass sich keine Drogen in meinem Körper befanden. Der Test bestätigte meine Aussage, doch sie glaubten mir immer noch nicht. Daraufhin beschlossen sie, mich ins Krankenhaus zu fahren, um mich einem Röntgentest zu unterziehen. Ich wurde zurück in den Jeep verfrachtet und mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Mir wurde Blut und Urin abgenommen. Dann steckten sie mich in ein durchsichtiges Gewand und nahmen den Röntgentest vor. Als die Tests zurückkamen, wurde ihnen meine Aussage von dem untersuchenden Arzt abermals bestätigt und sie wussten mit Sicherheit, dass ich keine Drogenpakete geschluckt hatte.
Zurück auf der Polizeistation wurde ich in eine der beiden Haftzellen gesperrt. Als ich die Zelle betrat, verschlug es mir komplett den Atem wegen des Gestanks, der mir in die Nase stieg. Am Boden waren Urin-, Kot- und Kotzreste. Es befand sich eine Toilette in einem Betonsockel in einer Ecke, die von Überresten an Kot und Toilettenpapier nur so überquoll. Sie ließ sich in der Zelle nicht spülen. Ich musste eine Polizistin rufen, die weitaus Besseres zu tun hatte, als auf der anderen Seite der Wand die Spülung zu betätigen. Die zerfetzte Matratze am Boden war der einzige Platz, auf den ich mich setzen konnte. Ich breitete meine Jacke aus und gab mich erneut meinen Tränen hin. Wie konnte so etwas nur geschehen? Immer wieder ging ich in meinem Kopf das Szenario durch und fragte mich, was ich hätte anders machen können. Wie konnte ich bloß so naiv sein und mich zu einer Reise überreden lassen, von der mir meine innere Stimme immer wieder abgeraten hatte. Die Zeichen waren alle da und hatten mich davor gewarnt, diese Reise anzutreten, doch meine Ignoranz hatte gesiegt. Schließlich hatte ich seit drei Jahren keine Ferien mehr gemacht, da konnte ich mir eine kleine Reise wohl erlauben, dachte ich.
Ich sah, wie mein ganzes Leben wie ein Kartenhaus vor meinen Augen zusammenfiel und ich konnte nichts dagegen unternehmen. All die schönen Praktiken und Techniken, die ich meine Klienten all die Jahre gelehrt hatte, fanden in meiner Situation keinen Anklang. Die nackte Angst hielt mich fest im Würgegriff. Ein riesiges schwarzes Loch tat sich auf und schluckte mich buchstäblich mit Haut und Seele. Ein Leben ohne Angst ist leicht, wenn man nicht gerade wegen Schmuggel und gefährlichen Besitzes von Kokain verhaftet wurde. Wo war Gott in dieser Sache? Ich habe den Menschen auf bestmögliche Weise geholfen. Womit hatte ich das verdient? Was war der Sinn dahinter? Warum sollte mein ganzes Leben zusammenbrechen? Werde ich je wieder aus dem Gefängnis entlassen?
Alle diese Fragen und Gedanken machten sich in mir breit. Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Ich erinnerte mich an ein Buch, das mir meine Mutter vor Jahren gegeben hatte. Es handelte von einer Frau, der das Gleiche widerfahren war wie mir, jedoch in Thailand. Gegen sie wurde die Todesstrafe ausgesprochen und ihre Mutter konnte sie in letzter Sekunde befreien, weil sie den Präsidenten um Gnade angefleht hatte. Was, wenn mir das Gleiche passieren würde? Erneut ergriff mich die nackte Panik. Ich flehte Gott auf Knien an, mir beizustehen und mir eine Chance zu geben, lebend aus dieser Sache herauszukommen und mir die Kraft zu geben, alles durchzustehen.
Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Ich sprach stets davon, dass wir frei wären, unser Leben so zu erschaffen, wie wir es uns wünschten. Womit hatte ich das erschaffen? Wie habe ich diese Erfahrung in mein Leben gezogen? Ich erkannte dieses Häufchen Elend nicht mehr, das hilflos und geschlagen am Boden kauerte. Das war nicht die Frau, die ich gewohnt war zu sein. Nichts, aber auch gar nichts konnte mich von der Angst, der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung befreien.
Ich wurde an einem Freitag verhaftet und an einem Montag vor Gericht gebracht. Ich bekam über das Wochenende einen Anruf vom schweizerischen Konsulat in Caracas, Venezuela. Er konnte mir nur noch sagen, dass ich auf keinen Fall plädieren sollte, solange ich keinen Anwalt hätte, bevor das Telefonat abrupt von einem wütenden Polizisten beendet wurde. Ihm gefiel es ganz und gar nicht, dass wir nicht englisch sprachen, und somit verweigerte er mir mein Recht, mit dem Konsulat zu sprechen. Als ich dann am Montag ins Gericht gebracht wurde, war die Anwältin, die meine Familie laut Aussage des Polizisten organisiert hatte, nicht anwesend. Ich ließ die Richterin wissen, dass ich ohne eine Übersetzerin und ohne eine Anwältin nicht plädieren könne, da ich sichergehen wolle, dass meine Rechte gewahrt würden. Sie vertagte die Verhandlung auf den kommenden Mittwoch. Als ich am Mittwoch erneut vor Gericht stand, war eine Übersetzerin zugegen, doch eine Anwältin war weit und breit nicht zu sehen. Ich plädierte ein weiteres Mal nicht und die Richterin wurde langsam ungeduldig. Sie vertagte die Verhandlung auf einen Monat später und schickte mich ins Frauengefängnis in Trinidad.
Die Reise über das Meer nach Trinidad war lang und mühselig. Mit Handschellen wie eine Schwerverbrecherin vor allen Leuten über die Reeling zu laufen, war eine zutiefst demütigende Erfahrung, die ich keinem Menschen wünsche. In den 28 Tagen im Frauengefängnis hatte ich Zeit, genügend Informationen zu sammeln, um zu erfahren, dass ich wahrscheinlich am schnellsten aus dieser Sache herauskommen könnte, wenn ich auf schuldig plädieren und meine Strafzeit akzeptieren würde. Ich erfuhr, dass, wenn ich nicht auf schuldig plädierte, die Drogen zur Beweisaufnahme in ein Labor geschickt würden. Bis diese Beweisaufnahme dann abgeschlossen wäre, könnten ein bis zwei Jahre vergehen, in denen ich alle 28 Tage eine anstrengende dreitägige Reise zurück nach Tobago auf mich nehmen müsste, während der ich auf harten Steinböden schlafen und stundenlang in Zellen für den Weitertransport warten müsste, nur um ein weiteres Mal vor Gericht zu erscheinen und gesagt zu bekommen, dass der Fall vertagt werden würde. Ich wäre im System verloren. Niemand würde sich mehr um mich kümmern.
Ich erfuhr außerdem, dass bei einem Drogendelikt normalerweise neben einer Verurteilung eine Buße verhängt würde, die nach Bezahlung meist zur Freilassung führte. Das weckte meine Hoffnungen. Darauf setzte ich, denn ich wollte auf keinen Fall auch nur einen Tag länger in dieser Hölle bleiben. Der Glaube daran, diese Buße zu erhalten, erhöhte sich, als ich in meiner Zeit in Arouca vor der Verurteilung miterlebte, wie eine Amerikanerin, die die gleiche Geschichte erlebt hatte wie ich und auch auf schuldig plädierte, mit einer Strafe von fünf Jahren und einer Geldbuße von 25000 TTD belangt wurde. Das sind umgerechnet etwa 2500 US Dollar. Ihre Familie bezahlte die Buße und sie konnte nach Hause zurückkehren, ohne die nächsten fünf Jahre, von denen sie drei Jahre und vier Monate hätte absitzen müssen, im Frauengefängnis von Arouca zu verbringen. Ich freute mich so sehr für sie und war in diesem Augenblick felsenfest davon überzeugt, dass ich ebenfalls eine Buße erhalten und nach Hause zurückkehren würde.
Als ich am 38. Tag nach meiner Verhaftung wieder vor Gericht stand, hatte ich 38 Tage gefastet und gebetet, um eine Buße zu erhalten und zurück nach Hause zu können. Meine Mutter und mein Freund reisten aus der Schweiz an, um das nötige Geld zu bezahlen und mich mit nach Hause zu nehmen. Doch es kam alles ganz anders als erhofft. Ich wurde am 21. 8. 2013 zu drei Jahren Haft mit »Hard Labour« ohne Buße verurteilt. Meine Mutter und mein Freund brachen weinend zusammen, während ich noch gar nicht richtig fassen konnte, was dieses Urteil wirklich zu bedeuten hatte. Die Beamten wollten mich gleich aus dem Gerichtssaal entfernen, als meine Mutter und mein Freund zu mir rannten. Ich sagte zu meiner Mutter: »Ich weiß nicht, ob ich das überleben werde.« Woraufhin sie erwiderte: »Du musst!« Dann rissen sie uns auseinander und meine lange und einsame Reise in einem fremden Land fernab von allem mir Bekannten begann.
Nach der Verurteilung
Meine Mutter und mein Freund kamen mich nach der Verhaftung besuchen und meine Mutter wollte gleich den Gefängnisdirektor sprechen. Als ich dann in den Besucherraum geführt wurde, waren meine Mutter, mein Freund und der Gefängnisvorsteher zugegen. Ich wusste damals nicht, dass meine Mutter ihm erzählt hatte, dass ich male und zeichne. Doch anscheinend redete sie stark auf ihn ein und hinterließ einen so bleibenden Eindruck, dass ich die weiteren Monate einen Aufpasser hatte. Von meinem Freund wusste ich, dass er auf mich warten würde, das hatte er mir versprochen. Als wir uns in diesem Raum in die Augen blickten, blieb die Welt um uns stehen; ich wusste in dem Moment und weiß es auch jetzt noch genau, als ob es gestern gewesen wäre, dass dies nicht das Ende unserer gemeinsamen Reise gewesen sein würde. Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter für die nächsten zwei Jahre gesehen habe. Sie musste zurückfliegen in die Schweiz und konnte nicht, wie mein Freund, noch eine Woche länger bleiben.
Meine Mutter redete auf die Mitarbeiter und die Gefängnisleitung ein, sodass meinem Freund ein zweiter Besuch gewährt wurde, bevor er zurückfliegen musste. Er kam mich nach der Abreise meiner Mutter sogar noch zwei weitere Male besuchen und kaufte den halben Gefängnisladen auf, um mir wenigstens Snacks und das Nötigste dazulassen, wenn er mich schon nicht nach Hause mitnehmen konnte. Am letzten Tag vor seiner Abreise, nachdem er mich besuchen kam, erhielt ich seinen ersten Brief. Das war der erste Brief von vielen und jener, der mich während der nächsten zwei Jahre über Wasser gehalten hat. Als wir uns hinter der Glasscheibe zum letzten Mal sahen und uns verabschiedeten, brach ich innerlich zusammen. Ich holte den Stift und das Heft hervor, das er mir gekauft hatte, und fing gleich, als ich wieder in meine Zelle kam, mit dem Schreiben eines Tagebuchs für ihn an.
Die darauffolgenden Wochen waren noch düsterer als alles andere zuvor. Ich war der wandelnde Tod. Ich wusste die erste Zeit weder wer ich war, noch wie ich diese Zeit überstehen sollte. Jeder Tag, den ich abermals hinter Gittern aufwachte, bestärkte mein Gefühl nur noch mehr, sterben und nie wieder aufwachen zu wollen. Das schwarze Loch, das sich bereits seit meiner Verhaftung unter meinen Füßen aufgetan hatte, wurde nur noch größer und zog mich tiefer in seine Materie hinein. Ich hatte weder eine Identität noch den Willen, weiterzumachen. Ich befand mich in einem leeren, schwarzen Loch des endlosen Nichts.
Damals wusste ich nicht, dass diese vollkommene Selbstaufgabe der Beginn war, meine wahre Essenz erst wirklich in ihrer ganzen Tiefe zu erfahren. Dieses neue Erwachen breitete sich in mir eines Tages im Gottesdienst aus, nachdem ich monatelang ohne jegliches Gefühl für mich herumirrte. An diesem besagten Tag allerdings drang neues Leben in mich. Ich gab mich, mein selbstsüchtiges Ich, auf und mich demütig einer Kraft hin, die so viel größer war, als ich es jemals erahnen konnte. Ich spürte auf einmal, dass ich nicht mehr allein war und dass neues Leben in mich eingehaucht wurde. Ein Leben, das mir eine Kraft verlieh, von der ich getragen wurde und die mich wissen ließ, dass ich nicht vergessen und nicht verlassen wurde. An diesem Tag änderte sich etwas in mir und ich entschied mich dazu, weiterzuleben. Ich hatte die erste Todesphase durchgestanden und erwachte zu neuem Leben.
Immer nur einen Tag auf einmal leben
Tagebucheintrag vom 26.9. 2013
Hier gibt es nichts, was mich davon abhalten könnte, einfach im Hier und Jetzt zu sein. Es werden keine Erwartungen an mich gestellt, derer ich nicht sowieso schon gerecht werde. Es bestehen keine von außen auferlegten Rollen, die eine Projektionsfläche über mich stülpen, die nichts mit mir zu tun haben. Einen Verlust der Freiheit kann ich nur erleiden, wenn ich den freien Raum in mir verlasse, indem ich mich in den Fesseln meines Geistes verliere, der mir etwas vorspielt, was nicht wirklich ist.
Was macht es schon, dass ich mit meinem physischen Körper nicht überall hingehen kann. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, den ich nicht schon gesehen habe. Denn wo immer ich mich aufhalte, ich sehe die Welt durch die Filter, die schon seit jeher Teil meines Repertoires sind. Ich kann durch die Augen der Traurigkeit, durch die Augen der Schönheit, durch die Augen der Liebe, durch die der Freude, der Einsamkeit und durch viele mehr sehen, je nachdem, welchen Gemütszustand ich wähle, während ich mich an diesem oder jenem Ort aufhalte. Es spielt für mich keine Rolle, wo ich bin, denn mein Zuhause liegt in meinem Inneren. Es ist jener Platz in meinem Herzen, in dem Frieden herrscht. Sanft wiege ich mich in den Wellen der Leere, die mich zu neuen Ufern tragen, die ich meinte im Außen suchen zu müssen, die aber nirgends zu finden sind außer in meinem Inneren.
Es gibt in dieser Welt da draußen so vieles, was uns von der Wahrheit, dass alles, was wir dort suchen, bereits in unserem Inneren vorhanden ist, ablenken möchte. Ich kann also einfach hier im Korridor am Ende meines Trakts sitzen und die frische Brise genießen, die sanft meine Haut umschmeichelt und kühlt, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen. Vor meiner Inhaftierung war ich viel zu sehr damit beschäftigt, dieses oder jenes zu tun, weil so viele Verpflichtungen nach mir verlangten, dass ich dabei ganz vergessen habe, dass es nichts gibt, was ich dafür tun kann, um die Liebe und den Frieden zu finden, außer mich einfach meinem Atem hinzugeben, der mich durch den Schmerz in die Leere führt, inmitten derer der Frieden ruht, der mir zur Freiheit verhilft. Ich kann keine Freiheit im Außen erlangen, weil der einzige Weg, sie zu finden, durch die Akzeptanz dessen führt, was ist.
Indem ich akzeptiere, was sich in meinem Leben an äußeren Umständen und Reaktionen zeigt, erlaube ich mir anzukommen, wo immer ich gerade bin. Das ist genug! Mehr braucht es nicht. Sobald ich den Schritt der Akzeptanz getan habe, kann der Frieden nachkommen. Mein Verstand möchte sich ab und an dazwischendrängen und Bedingungen anknüpfen, damit ich Frieden leben kann. Dann untersuche ich diesen Gedanken auf seinen Wahrheitsgehalt und sehe, was sich zeigt. »Ich brauche eine bessere Matratze, um ausgeruht zu sein«, so ein Gedanke. Wenn ich mich dann auf die dünne Kaltschaummatratze lege, meine Augen schließe und mich einfach dem Atem hingebe, dann verstummt mein Verstand und ich sehe, dass es keine Veränderung im Außen braucht, damit ich meinen Frieden wahren kann.
Freiheit und Frieden gehen Hand in Hand.
Es gibt niemanden, der mir meine Freiheit nehmen
und niemanden, der sie mir zurückgeben kann,
außer mir selbst.
Indem ich jenen Raum in meinem Inneren betrete,
wo der Frieden zu Hause ist,
finde ich meine Freiheit.
Im Gefängnis gibt es keine positive Stimulation und keine Quelle der Befriedigung im Außen. Alles sieht immer gleich aus. Jeder Tag war gleich öde und die gleichen Menschen mit den gleichen Gesichtern begegneten mir auf dem Flur. Nur allzu oft vergaß ich, welcher Tag es war. Sobald ich anfing, die Wochen und Monate zu zählen, wurde ich wahnsinnig und bekam das Gefühl, nie mehr aus dem Gefängnis herauszukommen. Ich lernte schnell, alles auszublenden und nur für den Moment zu leben. All jene, die Erleuchtung predigen, indem man nur den Augenblick lebt und alle Gedanken beiseiteschiebt, waren noch nie im Gefängnis. Welch eine Ironie, eine solche Lektion erzwungenermaßen integrieren zu müssen.
An meinem ersten Tag im Gefängnis erteilte mir eine zu lebenslang verurteilte Frau, die in der Zelle gegenüber meiner wohnte, den wichtigsten Rat auf dieser Reise: »Lebe immer nur einen Tag auf einmal.« Das tat ich von da an, denn anders war Überleben nicht möglich. Ich konnte nicht mehr als den einen Tag bewältigen, den ich gerade erlebte. Meine psychischen Mauern wären eingestürzt und ich hätte mich depressiv in einer Ecke verkrochen, um nie wieder aufzustehen. Ich überlegte mir also immer, was ich aus diesem einen Tag herausholen, was ich erledigen, wie ich mich über Wasser halten und mein inneres Licht aufrechterhalten konnte. Wenn ich diesen einen Tag meistern konnte, war ich auf der Gewinnerseite. Mehr als diesen einen Tag hatte ich nicht. Gestern war bereits eine schwammige Erinnerung und das Morgen konnte ich nicht ins Auge fassen. Ich begann, mir zwar längerfristige Ziele zu setzen, die mich am Laufen hielten und mir einen Fahrplan boten, doch integrierte ich davon immer nur eine Teilaufgabe in meine tägliche Routine. So konnte ich jeden Tag ausfüllen und mich dennoch einer längerfristigen Aufgabe widmen, ohne verzweifelt und hoffnungslos zu werden.
Meine mentale Kontrolle und Gedankenhygiene verbesserte sich mit jedem Tag. Immer, wenn ich wieder über Zeit oder den Augenblick meiner Entlassung nachzudenken begann, fühlte ich, wie ich augenblicklich zurück in das schwarze, zeitlose Loch fiel, das meine Seele folterte und nichts als Leere und Angst zurückließ. Ich bin kein Mensch, der aufgibt und sich von den Umständen im Leben in die Knie zwingen lässt. »So I’ve always made up my mind«, wie man auf Englisch so schön sagt. Ich entschied mich dafür, nicht aufzugeben, kein Häufchen Elend zu werden und mit einer Verbitterung im Herzen durch den Tag zu gehen. Letztendlich bin ich es, die mein Bewusstsein so ausrichten muss, dass ich mich von den äußeren Begebenheiten nicht negativ beeinflussen lasse. Möglichkeiten, mich zu beschweren, gab es mehr als genug. Möglichkeiten, mich zu bedanken auch.
Ich wählte, mich auf meine innere Welt zu fokussieren und die Schätze des Geistes und der Seele zu ergründen. Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl, Weisheit, Erkenntnis, Stille inmitten des unaufhörlichen Lärms waren die, die ich vertiefen wollte. Und dafür reichte ein Tag, auch schon ein einziger Moment aus. Ich begann zu verstehen, wie komplex das Leben sich gestaltet, wenn man vergisst, dass es nur den Moment gibt. Und wie einfach das Leben sein kann, wenn man ganz und gar im Moment aufgehen kann. Warum sollte ich mir den Stress auferlegen und während ich eine Aufgabe erledigte, mit meinem Verstand bereits bei der nächsten Aufgabe sein? Im Gefängnis sind solch kleine Ausrutscher ein Unterschied von Himmel und Hölle. Nur ein gedanklicher Fehltritt und ich wachte auf und erkannte, dass ich mich nicht in meinem selbst geschaffenen Paradies befand, sondern geradewegs in der Hölle gelandet war. Nur ein Blick auf die äußere Realität und die Vergessenheit holte mich ein, dass ich die Freiheit habe, meine innere Welt so zu erschaffen, wie ich sie mir vorstellte.
Menschen wurden unwichtig. Ich lernte, alles und jeden um mich herum so gut zu ignorieren, dass ich meist nicht einmal hörte, wenn jemand meinen Namen rief oder ich eine Anweisung erhielt. Was natürlich nicht vorteilhaft war, wenn diese Anweisung von einer Aufseherin kam. Vielleicht weil ich Ausländerin war, wurde mein abwesendes Verhalten entschuldigt. Wirklich wichtig war es mir sowieso nicht. Solange mich alle in Ruhe ließen und ich weiterhin in meiner eigenen Welt sein konnte, war mir alles egal. Ich wusste vorher nicht, dass man so sehr in einem einzigen Moment leben kann, nur mit sich und seiner Fantasie allein. Ich erwartete nichts mehr, und außer meinen Pflichten wurde auch nichts von mir erwartet.
Ich begann, Zeit und Raum zu vergessen. Nur die drei täglichen Mahlzeiten holten mich ab und an zurück in die zeitliche Realität. Ansonsten widmete ich mich stundenlang dem Schreiben, Meditieren, Nachdenken, Beten oder Lesen. Ich reiste in andere Dimensionen und Parallelwelten, holte Erkenntnisse und Informationen ein, die sich tief in meinen Geist brannten, und erarbeitete mir dadurch jene Freiheit, die mir niemand jemals wieder nehmen kann. Irgendwann hörte ich ganz auf, in Zeit zu denken und die Tage zu zählen. Ich dachte nicht einmal mehr an den einen Tag, der vor mir lag, sondern lebte von Augenblick zu Augenblick. Meine Aufmerksamkeit galt der Aufrechterhaltung meines TAO und nichts weiter zählte. Ich wurde sehr geschickt darin, die Energien zu interpretieren und Visionen zu deuten, die mich in meinen Träumen oder meinen Meditationen heimsuchten. Dadurch konnte ich mich geschickt um Schwierigkeiten navigieren und jene Leute meiden, die dem aktuell vorherrschenden Geist anheimgefallen waren. Sie waren diejenigen, die Streit suchten oder sich durch Nettigkeiten einschleichen wollten, nur um einen selbst mit hinunterzuziehen oder in Schwierigkeiten zu bringen.
Durch meine Lebensweise wurde ich irgendwann als unfreundliche Person bezeichnet, was mir ehrlich gesagt auch ganz gelegen kam. Denn ich wollte mich mit niemandem anfreunden und auch keine Gefälligkeiten erweisen oder erwiesen bekommen. Ich wollte wie immer einfach nur meine Ruhe haben. Solange ich in meiner Welt lebte, ging es mir fantastisch. Sobald jemand an mein Feld anklopfte, erst einmal energetisch und dann auch physisch, bekam ich schlechte Laune, da mir klar war, dass diese Person irgendetwas von mir wollte. Denn nur aus Nettigkeit und Nächstenliebe nähert sich einem niemand im Gefängnis. Entweder kamen sie an, weil sie Essen brauchten, sich Sex erhofften oder mich in kriminelle Machenschaften verwickeln wollten, und nichts von alledem hatte ich zu geben. Also sah ich zu, dass ich sie so schnell wie möglich wieder loswurde, damit ich in meine Welt zurückkehren konnte, in der ich mich auskannte und wohlfühlte. So wurden aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate, bis schließlich zwei Jahre vergangen waren und ich mich fragte, wie ich diese Hölle eigentlich überstanden hatte.
Kämpfen, um zu überleben
Nachdem ich diese Lektion verinnerlicht und die ersten Schockerlebnisse verdaut hatte, begann das Kämpfen ums Überleben. Ich nutzte meine Fähigkeit, mich schnell in ein System einzufinden und es adaptieren zu können, und begann, die Leute und die Kultur zu studieren. Ich begriff sehr schnell, dass ich besser dran war, wenn ich mich grundsätzlich als Einzelgängerin aufhalte. Im Gefängnis wird einem nichts geschenkt und die gemeinsame Geschichte der »Weißen« gegen die »Schwarzen« hatte eine tiefe Prägung hinterlassen, die ich als eine von vier weißen Frauen im ganzen Gefängnis deutlich zu spüren bekam. Einer der kulturellen Hintergründe war, dass in einem Drittweltland wie Trinidad grundsätzlich alle Weißen als reich angesehen werden. Weiße Menschen kommen normalerweise als Touristen in ihr Land, geben verhältnismäßig viel Geld aus und fördern so den Tourismus. 100 Euro sind umgerechnet circa 1000 TT-Dollar. Mit diesem Geld kann man in Trinidad und Tobago eine ganze Weile leben.
Ich hatte die Möglichkeit, durch das Konsulat, das mich alle drei Monate besuchen kam, zusätzliches Essen einzukaufen. Ich kaufte natürlich nur das Allernötigste und teilte mir mein Essen sehr gut ein, da ich wusste, dass ich davon sehr lange würde leben müssen, da ich, wie bereits gesagt, das Brot, das im Gefängnis zum Morgen- und Abendessen ausgeteilt wurde, nicht vertrug. Meine Mitinsassinnen versuchten natürlich, von den großen eingekauften Mengen etwas abzubekommen und sahen in mir eine Nahrungsquelle.
Auch sahen sie Menschen mit weißer Hautfarbe als höher oder besser an. Sie benutzten dafür den Ausdruck »high color«. Wahrscheinlich kam das aus ihrer Geschichte, weil weiße Menschen früher ihre Sklavenaufsicht waren. Es gab Insassinnen und Aufseherinnen, die sich mir gegenüber schon fast ehrfürchtig verhielten, während andere mich vor Neid fast umbringen wollten. Es gibt eine Geschichte in Trinidad, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann. Darin hat eine weiße Frau HIV auf die Inseln gebracht. Sie hat angeblich ohne Verhütung mit jedem Mann geschlafen, der ihr gelegen kam. Ich denke, der Blickwinkel, von dem aus diese Geschichte erzählt wird, sagt alles. Daher entschied ich mich, mich von allen fernzuhalten. Man kann niemandem vertrauen, der einen bei der ersten Gelegenheit entweder fi… oder ausnützen will, weil man glaubt, dass etwas geholt werden kann.
Ich legte mir einen Schlachtplan zu und steckte mir Ziele, die ich in diesen zwei Jahren erreichen wollte. Ich erkämpfte mir den Weg zurück zu mir selbst, indem ich alle Insassinnen als meinen eigenen Spiegel betrachtete, als einst mal ausgesandte Gedanken, die jetzt in physischer Manifestation wieder vor mir standen. Ich konnte mir selbst nicht entfliehen, mir blieb nur übrig, mit mir selbst und meiner Vergangenheit Frieden zu schließen. Und genau das tat ich. Im Gefängnis erkennt man wie nirgends sonst, dass alles, was man einst ausgesandt hat, wieder zu einem zurückkehrt und man die volle Selbstverantwortung übernehmen muss. Es gibt kein Entrinnen.