Читать книгу Zwischen Bürokratie und Wahnsinn - Tamina Freier - Страница 9

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Eine Bahnfahrt, die ist lustig

Los geht's. Um 07:19 Uhr geht der Zug. In unserer Region ist zum wiederholten Mal eine Brücke marode und deswegen gesperrt, was zu einem weiträumigen Verkehrschaos führt. Ist glaube ich mittlerweile die dritte. Der Zahn der Zeit nagt an den Bauwerken. Zur Bauzeit waren noch nicht so wahnsinnig viele Autos unterwegs wie heute, und die Brücken waren nicht für so eine Masse an Verkehr ausgelegt. Konnte man damals auch nicht ahnen, daß sich das so explosiv entwickeln würde. Aber statt daß man regelmäßig repariert und ausbessert, wird bekanntlich oft alles so lange laufen lassen, bis es kracht – im wahrsten Sinne des Wortes.

Auf Anraten meiner Nachbarin habe ich mir ein Taxi bestellt. „Nachher fällt der Bus aus und dann klappt es mit dem Anschluß nicht." Recht hat sie, und das habe ich tatsächlich schon erlebt. Adrenalin pur. Das war damals ein historischer Sonderzug. Der wartet nicht. Der darf froh sein, daß er die Strecken nutzen darf. Aber das hatte gerade noch geklappt. Ich merke, das wäre ein eigenes Kapitel …Im aktuellen Fall kommt das Taxi aber nun auch nicht. Gottseidank habe ich ein bißchen mehr Zeit eingeplant. Mit zirka zehn Minuten Verspätung kommt es nach zwei Anrufen schließlich doch. Gottseidank ist kein Stau und ich komme beizeiten am Bahnhof an.

Der Zug kommt pünktlich. Ich stehe vor Wagen 14 – vor verschlossener Tür! Ich kann auch gar nicht ausmachen, wie ich sie öffnen soll. Keine Türklinke da. Seltsam. Ich gehe zur zweiten Tür. Selbes Spiel. Bringt nix. Ich gehe zum nächsten Wagen, um da einzusteigen, sonst fährt der Zug am Ende noch ohne mich ab. Von diesem Wagen will ich in den von außen verschlossenen, um an den von mir reservierten 1.-Klasse-Platz zu gelangen. Der Durchgang war ebenfalls versperrt. Ich treffe auf einen Zugbegleiter (was ja auch nicht immer der Fall ist, wenn man einen braucht). Sinngemäß: „Ja, der Wagen ist alt und dann geht er auch mal kaputt." Aha. Immerhin kann ich in dem aktuellen Wagen sitzen bleiben und bis Köln läuft alles gut. Es reicht sogar für einen kurzen Fotostop am Dom.

Der Folgezug nach Emden kommt zeitig und fährt pünktlich ab. Kurze Zeit später stehen wir. Signalstörung. Verzögerung zirka 30 Minuten. Zur Fähre beträgt die Umsteigezeit ganze acht Minuten. Das wird spannend! Aber es gab buchungstechnisch keine bessere Variante. Als es weitergeht, holt der Zug die Zeit wieder auf. Phantastisch! Aber die Freude währt nur bis Meppen. Irgendwann kommt die Durchsage, daß die Weiterfahrt unmöglich ist. „Die Strecke ist wegen Personenschaden gesperrt. Dauer zirka 105 Minuten." Oh Mann, auch das noch! Ob es ein Suizid oder ein Unfall war, erfahren wir nicht. Ungut ist es so oder so. Und wenn es Ersteres war, dramatisch, daß es soweit gekommen ist. In der aktuellen Corona-Situation hat die Zahl der Menschen mit psychischen Problemen noch weiter zugenommen. Die Isolation macht vielen zu schaffen und es macht was mit einem.

Neben mir sitzt eine Gruppe von vier Frauen, wir kommen ins Gespräch und bestellen beim Zugbegleiter ein Radler. Wenn es schon so ist, wie es ist, kann man es sich wenigstens im Rahmen des Möglichen ein bißchen nett machen. Eine zweite Runde Radler gibt es leider nicht mehr, ist aus. Für die Unannehmlichkeiten müßte es an sich Freibier zur zeitlichen Überbrückung und zur Verbesserung der nervlichen Belastbarkeit geben. Die Damen überlegen schon zu schauen, wann der letzte Katamaran fährt oder ein Hotel zu buchen. „Also ich mach mich da noch nicht verrückt“, entgegne ich. „Erstens wissen wir ja noch gar nicht, wann es weitergeht und wann wir überhaupt ankommen. Und zweitens denke ich, daß sich die Bahn da was einfallen lassen muß." Ich bin ja selten so ruhig, aber das ist eine Situation, da kann man nichts machen. So ähnlich wie "Vor Gott und in einem Verkehrsstau sind alle Menschen gleich." Aus den 105 Minuten werden drei oder vier Stunden. Ich kann mir gottseidank die Zeit vertreiben. Lesen, rätseln, dösen, mich unterhalten. Unter anderem tauschen wir uns über Karnevalskostüme aus. Die Idee, sich als Qualle zu verkleiden, finde ich sehr belustigend.

Um etwa 15 Uhr heißt es, wir sollen in den Regionalzug steigen, der gleich am Gleis nebenan einfährt. Einem Teil der Passagiere glückt das. Als ich mich einreihe, macht er einfach die Tür zu – und fährt ab! Was ist das denn nun wieder! Da werden sogar Paare getrennt, der eine kann einsteigen, der Partner bleibt auf dem Gleis zurück! Als die Zugbegleitung wieder in Erscheinung tritt, heißt es, der Zug wäre eh nicht durchgefahren, das wäre ja wegen der Sperrung der Strecke auch für diesen nicht möglich gewesen. Wir sollen den nächsten nehmen. Der kommt in einer Stunde … Mein Gott! Ich will mich doch einfach nur mal entspannen! Nicht mal im Urlaub ist man von diesen ganzen Unwegbarkeiten verschont. Aber Aufregen bringt nichts und so lasse ich es sein. Kommt selten bei mir vor, aber schlußendlich ändert es ja nichts. Die Frauengruppe stimmt auf dem Bahnsteig karnevalistisches Liedgut an.

Der RE15 zum Emdener Hauptbahnhof kommt um 16:09 Uhr. "Genießen Sie das Leben in vollen Zügen" – und das in Corona-Zeiten. Aber ist ja klar, wenn diverse Züge nicht weiterkonnten, ist es nun eben voll. Eine Jugendliche unter den Passagieren verhält sich verbal recht aggressiv und haut immer wieder mit der Faust irgendwo dagegen. Hoffentlich flippt sie nicht gleich aus. Gottseidank verläßt sie irgendwann den Zug. Keine Durchsage, wie es für uns "gestrandeten" Passagiere weitergeht, wo wir uns hinwenden müssen.

Am Emdener Hauptbahnhof steigen wir aus. Eine Treppe hoch, über eine Brücke die Gleise überqueren, eine weitere Treppe runter und zum Serviceschalter. „Nee, Sie müssen da rüber, da unten an den Schalter, der Kollege, der kümmert sich", bedeutet uns die Angestellte. Also alle Mann wieder zurück, Treppe hoch, über die Brücke, Treppe wieder runter. Unsere Meute fällt gesammelt bei dem Herrn ein. Es fährt ein Zug nach Norddeich Mole ein. Wäre auch ein alternatives Ziel, denke ich so bei mir. Mitten im Gespräch meint der Bedienstete hektisch: „Oh Scheiße! Moment mal!" Und greift zum Mikro, und aus den Lautsprechern ertönt über den ganzen Bahnhof: „SCHEEEIIIIßEEEEE!!! Der Zug nach Norddeich Mole fährt nicht auf Gleis vier, sondern auf Gleis FÜÜÜÜNF, Gleis FÜÜÜ-HÜÜNF!" Das kam von Herzen! Schallendes Gelächter rundherum über diese Durchsage. Der Ärmste hat vor lauter Stress mit der Organisation für uns die Anzeige für den besagten Zug auf das falsche Gleis projiziert.„In der Zeit, wo Sie Alle drei Stunden im Zug gesessen haben, habe ich hier sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt und für Sie Transfer und Hotelzimmer organisiert." „Sie Ärmster! Ich kann mit Ihnen mitfühlen, in Ihrer Haut wollte ich nicht stecken. Sie können ja auch nichts dafür. Vielen, vielen Dank", lobe ich ihn. Nein, seinen Job hätte ich auch nicht haben wollen.

Es läuft alles überraschend unbürokratisch und der Transfer steht direkt bereit. Es ist ein sehr schnuckeliges Hotel mitten am Marktplatz. Als ich mir ein Paar Flyer am Empfang anschaue, erinnere ich mich. Ich war schon mal kurz hier in Emden. Wasser, alte Schiffe, Otto-Huus, schönes Wetter, Fisch essen – ich lasse es mir gut gehen und mache mir einen netten Abend.

Am nächsten Morgen geht es nach einem Frühstück genauso unbürokratisch weiter. Die Hotelabwicklung wurde von der Bahn erledigt, mit den ursprünglichen Tickets geht es auf die Fähre. Bei allem Chaos hat sie diese Situation, die nicht in ihrem Einflußbereich lag, doch schlußendlich gut gelöst, das muß ich zur Verteidigung sagen. Wenngleich der Informationsfluß während des Verlaufs natürlich hätte besser sein können. Klar kam ich einen Tag später an meinem Urlaubsziel an. Aber der Zwischenstop in Emden war wirklich schön. Und durch die Verspätung habe ich eine Bekanntschaft gemacht, die ich einen Tag vorher nicht gemacht hätte. Wir sind immer noch in Kontakt. So ist selbst so ein Vorfall wieder für was gut.

Die Rückfahrt verläuft dafür einwandfrei, auch die besagte Reservierung aus dem vorigen Kapitel. Sogar das WLAN ist durchgehend stabil. Unterwegs werden Kekse verteilt mit der Aufschrift „Lieblingsgast“. Das finde ich einfach nett. Eine Verspätung unter fünf Minuten am Zielort bei einer achtstündigen Reise finde ich nicht der Rede wert. Auch so kann es gehen – und so soll es auch.

Das Fahrgastrechteformular ist problemlos auszufüllen und ich gebe es nach meiner Ankunft am heimischen Bahnhof ab. Zirka vier Wochen später bekomme ich Post. 50% des Fahrpreises wurden erstattet, aber nicht die entgangene Hotelübernachtung auf der Insel. Dann rufe ich mal wieder die Hotline an. Immerhin habe ich nach zwölf Minuten einen Menschen am Telefon. Er leitet die Frage weiter und ich soll Post bekommen …

Zwischen Bürokratie und Wahnsinn

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