Читать книгу Herbstleuchten - Tanja Bern - Страница 5
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ОглавлениеDer Geruch des Krankenhauses lässt mich schwindelig werden. Jacob bemerkt, dass ich leicht schwanke und hält mich am Arm fest. Ich realisiere, dass er kurz mit einem Arzt spricht. Blinzelnd sehe ich auf meine Hände, die voll von Annes Blut sind. Ich versuche es abzuwischen, doch das gelingt mir nicht, weil es auf meiner Haut bereits getrocknet ist.
Anne!
Wie sind Jacob und ich ins Krankenhaus gekommen? Ich bin völlig durcheinander, kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Jacob muss uns mit dem Land Rover gefahren haben.
„Komm, wir waschen das erstmal ab“, sagt Jacob leise.
Er führt mich zu den Toilettenräumen der Klinik und bringt mich zu den Waschbecken. Er ignoriert, dass wir uns auf der Damentoilette befinden, lässt mich nicht allein. Wie in Trance wasche ich mir die Hände, sehe zu, wie das rötlich verfärbte Wasser im Abguss verschwindet. Er reicht mir Trockentücher, und ich schaue ihn an.
Jacob wirkt gefasst, aber nur oberflächlich, ich spüre, dass es in seinem Inneren brodelt. In seinen Augen ist das deutlich zu erkennen, zumindest für mich. Er hat seinen Talar ausgezogen. Ob er das Gewand in Coolough einfach über eine der Kirchenbänke gelegt hat? Nun trägt er eine schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd, und lediglich sein Priesterkragen weist ihn als Geistlichen aus.
Wir verlassen den Toilettenbereich, und Jacob bringt mich zu einigen Warteplätzen, wo wir uns hinsetzen.
„Geht es dir besser?“, fragt er besorgt.
„Mir?“, antworte ich fassungslos.
„Ja, dir. Du bist in der Kirche fast ohnmächtig geworden, zumindest war so mein Eindruck.“
„Mir war nur ein bisschen schwindelig.“
„Was ist denn überhaupt passiert?“
Ich begegne verblüfft seinem Blick. Plötzlich begreife ich, dass ich ihm noch gar nicht erzählt habe, was vorgefallen ist. Die Bilder von Annes Selbstmordversuch drängen sich mir mit Macht auf, und für einen Augenblick spüre ich wieder das warme Blut an meinen Händen. Ich atme tief durch, versuche die Fassung zu wahren.
„Sínead? Bitte sag mir, was geschehen ist. Hat Anne einen Unfall gehabt? Der Arzt sagte mir gerade nur, dass sie noch in Behandlung ist.“
Ich weiche ihm aus und starre auf meine Hände. Blutverschmiert bin ich zu ihm in die Kirche gekommen. Ich drängte darauf, ins Krankenhaus zu fahren, stand aber wohl so neben mir, dass er mich nicht weiter ausfragte … bis jetzt.
Weil er in der Rolle des Geistlichen geblieben ist, wirkte Jacob bisher sehr ruhig. Aber ich weiß, dass ihn meine Antwort in den Grundfesten erschüttern wird. Seine Sorge ist für mich fast körperlich fühlbar, und mein Zögern lässt ihn die Contenance verlieren.
Jacob steht auf, läuft unruhig im Warteraum hin und her. Mit bebenden Händen lockert er seinen Kragen. „Sínead, du kannst nicht einfach mit blutverschmierten Händen in meine Kirche gestürzt kommen, mir sagen, es wäre Annes Blut, und jetzt kein Wort mehr rausbringen!“ Er ringt förmlich um Atem.
Ich nicke, schlucke schwer. „Anne hat versucht, … sich umzubringen.“
Jacob ist still, ich wage nicht, ihn anzuschauen. Nur im Augenwinkel bemerke ich, dass er regelrecht erstarrt.
„Nein, … das … das kann sie nicht getan haben“, flüstert er rau.
Ich wische mir mit einer fahrigen Geste durchs Gesicht. „Sie hat es getan, Jacob. Man schlitzt sich nicht versehentlich die Pulsadern der linken Hand auf und schließt sich vorher im Bus ein. Hätte Fia nicht so panisch an der Autotür gekratzt, … wäre sie verblutet.“ Ich schnappe nach Luft. „Oh Gott, sie würde jetzt tot sein, und ich stände in der Küche und tränke Kaffee, ohne es zu ahnen!“ Die Erkenntnis lässt meinen Körper erbeben.
„Die Katze …?“, wispert er nur.
Draußen beginnt es leise zu donnern. Ich sehe aus dem verglasten Wartebereich und kann den Eingang erkennen. Die Sonne hat ein Loch im dunkelgrauen Himmel gefunden und strahlt ins Foyer, als gäbe es das kommende Gewitter nicht.
„Wie konnte ich es nicht spüren?“, frage ich ihn bestürzt.
Jacob antwortet mir nicht. „Sie wollte nicht mehr leben“, flüstert er stattdessen.
Danach schweigen wir.
Mir steigen Tränen auf, und so sehr ich sie unterdrücken möchte, es gelingt mir nicht. Ich schrecke auf, als Jacob abrupt an seinem Priesterkragen zerrt. Er reißt sich das Kollar ab und hält es unschlüssig in den Händen.
Ich stehe hastig auf. „Nein, nicht! Lass es um! Ich weiß nicht, ob du sonst zu Anne darfst. Als ihr Priester …“
„Aber das bin ich nicht!“, zischt er. „Ich habe eine Affäre mit ihr gehabt, und sie wollte sich das Leben nehmen, weil ich mich für die Kirche entschieden habe!“
„Jacob, rede leiser“, beschwöre ich ihn und sehe mich um. Zum Glück ist niemand mit uns hier.
Er atmet schwer, zerknüllt fast den weißen Kragen, bis ich ihm das Kollar aus der Hand nehme.
„Du weißt nicht, was ihre Beweggründe waren. Sie hat auch alles andere verloren.“
„Mach dir doch nichts vor!“
Ich drehe ihn entschieden zu mir um und befestige das Kollar wieder an seinem Kragen. Er lässt es geschehen, aber ich sehe Wut in seinen Augen aufblitzen.
„Anne hat sich doch nur verliebt und wollte mit mir zusammen sein“, raunt er und senkt den Kopf. „Und jeder lässt sie im Stich. Der Bischof hat sich ihrer entledigt, … und ich ebenso. Selbst Gott hat sie allein gelassen.“ Er beugt sich vor, schluchzt unterdrückt auf.
Draußen nähert sich das Gewitter, der Donner grollt bedrohlich.
Ich denke über seine Worte nach. Ist das wahr? Hat Gott Anne verlassen, womöglich wegen ihrer Liebe zu Jacob? Das wäre nicht der Gott, den ich tief im Inneren fühle. Hat er sie vielleicht nicht beschützen können, weil sie jegliche Hilfe verweigerte? Meine Gedanken stocken, denn … das ist doch gar nicht wahr. Gott hat sie beschützt.
Ich lege behutsam meine Hand auf Jacobs Arm. „Jacob, Gott hat sie nicht allein gelassen. Er hat eine kleine Katze geschickt, die verzweifelt versucht hat, zu Anne zu gelangen. Nur deshalb konnte ich ihr überhaupt helfen. Weil ich durch Fia darauf aufmerksam wurde.“
Jacob atmet tief durch, er nickt fast unmerklich. „Aber ich hätte spüren müssen, dass etwas nicht stimmt.“
Diese Vorwürfe mache ich mir ebenso. Gab es Anzeichen, die mich hätten warnen müssen? Wann hat sie diesen schrecklichen Entschluss gefasst?
Mir kommt unser Gespräch am Lagerfeuer in den Sinn, und mir fährt ein eisiger Schreck in die Glieder, denn nun bekommen ihre Worte eine ganz andere Bedeutung.
… Ich bin sein Splitter im Herzen … Ich werde gehen, für immer. Auf mich wartet etwas anderes …
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, nähert sich einer der Ärzte und steuert direkt auf uns zu.
„Gehören Sie zu Ms Moore?“
„Ja, das ist Pater Brown, mein Name ist Sínead Murphy, ich habe den Rettungswagen alarmiert. Was ist mit Anne? Wie geht es ihr?“ Mein Herz rast, als ich dem Blick des Arztes begegne.
„Ich bin Dr Warren“, stellt er sich vor. „Ms Moore hat unglaubliches Glück gehabt. Sie hat sich eine tiefe Wunde zugefügt und viel Blut verloren. Dazu kommt, dass sie zusätzlich Schlafmittel zu sich genommen hat, deshalb war sie nicht ansprechbar. Sie hat es aber überstanden. Die Schnittverletzung ist genäht worden, und ihr wurde der Magen ausgepumpt. Wir werden sie zur Beobachtung hierbehalten. Danach muss über das weitere Verfahren entschieden werden.“
„Ich bin damit vertraut“, informiert Jacob den Arzt leise.
Dr Warren nickt mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Er wirkt, als wolle er das Gespräch rasch abwickeln. Ich mache ihm keinen Vorwurf, denn wahrscheinlich warten andere Notfälle auf ihn.
Regen prasselt gegen den verglasten Eingang des Foyers, obwohl ein Vordach eigentlich Schutz bieten müsste. Der Wind peitscht den Regen gegen die Scheiben.
Mir fallen meine Pensionsgäste Karola und Florian ein, und ich hoffe, dass sie trotz des Wetters einen schönen Tag in Galway haben.
Der Arzt erklärt Jacob kurz, wo wir Anne finden, da sie bereits auf ein Stationszimmer verlegt worden ist. Dr Warren verabschiedet sich, und wir sehen ihm nach. Keiner von uns rührt sich von der Stelle. Am liebsten würde ich durch die Flure rennen, um so schnell wie möglich zu Anne zu kommen.
„Jacob, sollen wir zu Anne gehen?“
Keine Reaktion. Warum zögert er?
„Jacob?“
„So einfach ist das nicht.“
„Was meinst du?“
„Ich habe schon zweimal mit Suizidversuchen zu tun gehabt. Ob sie mich überhaupt sehen will?“
„Das werden wir erst wissen, wenn wir dort sind.“ Ich nehme ihn am Arm, will ihn mit mir ziehen.
„Sínead, du verstehst nicht!“
Entfernter Donner grollt wie ein Drache, der über Wald und Feld fegt, um dabei alles zu zermalmen.
„Dann erklär es mir, Jacob.“
Er atmet wie nach einem langen Lauf. Ich sehe, wie sehr er mit sich kämpft.
„Jetzt in diesem Augenblick braucht sie Beistand und Hilfe. Es gibt kein Versteck mehr für sie. Ihre Verzweiflung liegt nun für alle offen da. Und ich bin die Wurzel ihres Schmerzes. Ich kann nicht als ihr Priester kommen und ihr sagen, dass alles wieder gut wird.“
Ich blinzle, denke über seine Worte nach.
Er hat recht. Kurzerhand fasse ich an seinen Kragen und ziehe ihm das Kollar wieder aus, reiche es ihm. Zögerlich nimmt er es an sich.
„Dann gehe als Jacob zu ihr, und ich werde Annes Beistand sein.“
Sie ist wach. Ihr verletzter Arm ist unter der weißen Bettdecke verborgen. Zurzeit scheint sie das Zimmer noch für sich allein zu haben. Ihr Blick ist nach draußen gerichtet, sie beobachtet die vorbeiziehenden Wolkenberge des Gewitters. Für einen Moment folge ich ihrem Beispiel und schaue auf den Himmel, der gerade wieder aufreißt und Lichtstrahlen durchlässt. Das Fenster ist gekippt. Frische Luft und das Zwitschern einer Amsel dringt zu uns in den Raum. Am Fensterhebel fällt mir ein kleines Schloss auf, welches ein Öffnen des Fensters verhindern soll. Das ist mir schon öfter aufgefallen, wenn ich jemanden im Krankenhaus besucht habe. Bisher habe ich mir keine weiteren Gedanken darum gemacht. Jetzt begreife ich, was das Schloss bedeutet.
Jacob tritt zu Anne ans Bett. Ich halte mich zurück, will aber auch nicht im Flur warten. Ich bin hier involviert und weigere mich, trotz der Intimität, auf meinen Impuls zu hören, das Zimmer zu verlassen. Deshalb bleibe ich wie ein Geist an der Tür stehen.
„Anne …“, raunt Jacob und setzt sich behutsam auf die Bettkante. Seinen Priesterkragen legt er auf den Nachttisch.
Sie wendet sich ihm zu, ihre Augen sind rotgeweint. „Es tut mir so leid, Jacob.“
Ihm fehlen die Worte.
„Ich wollte, dass du frei bist“, sagt Anne leise.
Jacob schluchzt leise und verbirgt das Gesicht in den Händen.
Anne richtet sich auf. „Nicht weinen …“ Zärtlich streicht sie ihm übers Haar. „Wir hätten uns eines Tages wiedergesehen.“
Er schüttelt den Kopf, ohne aufzublicken.
„Doch. Denn ich glaube nicht an das Fegefeuer. Ich wollte, dass du deiner Bestimmung folgst, und eines Tages, wenn du alt bist und mir gefolgt wärst, hätte ich dich gefunden. Ich hätte schon auf dich gewartet.“
Jacob hebt den Kopf, wischt sich über die Augen. Liebevoll streichelt er ihr über die Wange. „Aber Anne, … dein jetziges Leben ist so wertvoll.“
Entschieden schüttelt sie den Kopf. „Ich bin ein Dorn in deinem Leben. Und meine Eltern scheint es nicht zu kümmern, was aus mir wird. Außer Grannys Bus habe ich nichts.“ Sie atmet tief durch. „Und ich will nicht mehr vor irgendwelchen alten Priestern die unterwürfige Magd geben. Ich … ich kann es nicht.“
Jacob ringt um Fassung. „Anne, ich brauche dich. Wie sollte ich denn leben in dem Wissen, dass du für immer fort bist … für mich gestorben bist?“
Anne legt die Hand an seine Wange. „Ich dachte, Gott steht dir bei.“
Bevor sie sich ihm entziehen kann, nimmt er ihre Hand, hält sie fest. „Aber Gott will nicht, dass du stirbst.“
„Ich dachte, es ist das Richtige, nach allem, was geschehen ist.“ Tränen laufen ihr über die Wangen. Ich krame nach einem Taschentuch, wage mich näher und reiche es ihr.
Anne blinzelt verwirrt. „Sínead?“
„Sie hat dich gerettet“, erklärt Jacob meine Anwesenheit.
Ich sehe Erschrecken in ihrem Gesichtsausdruck, ihr Atem beschleunigt sich, und sie richtet sich auf. Wieder quellen Tränen aus ihren Augen.
„Du musstest mich so sehen. Das … das hast du nicht verdient.“
Ich eile an ihre Seite und streiche ihr das verschwitzte Haar aus der Stirn. „Ich bin einfach nur froh, dass ich dich rechtzeitig gefunden habe. Fia hat nicht lockergelassen, sie wollte verzweifelt in deinen Bus rein. Ich habe sie noch nie so panisch gesehen. Meine Katze ist die wahre Heldin.“
Über Annes Lippen huscht ein kleines Lächeln, doch es erreicht ihre Augen nicht.
Ich nehme mir einen Stuhl, überlasse Jacob wieder die Nähe zu Anne und setze mich ans Fenster.
Was sollen wir jetzt bloß tun?
Geräusche aus dem Flur dringen zu uns durch. Die Mittagszeit ist bereits überschritten. Ich sehne mich nach einem Kaffee.
Jacob und Anne flüstern miteinander, ich versuche nicht hinzuhören. Ob ich besser gehen sollte? Ich sehe die Vertrautheit zwischen den beiden und verspüre den Impuls, ihnen ein bisschen Privatsphäre zu geben. Deshalb stehe ich wieder auf, lege meine Hand auf Jacobs Schulter.
„Ich hole mir einen Kaffee. Möchtest du auch einen? Oder du, Anne?“
Beide schütteln den Kopf, und ich verlasse das Zimmer.
Auf dem Korridor stehen zwei Schwestern und räumen Krankenhaus-Utensilien in die Schränke ein. Sie unterhalten sich angeregt. Ich seufze, denn ich hatte gehofft, sie teilen Kaffee aus.
Ich entschließe mich dazu, in die Cafeteria zu gehen und fahre mit dem Aufzug in die entsprechende Station. Mittlerweile ist mir die Klinik vertraut, denn mein Bruder Fergus lag nach seinem Unfall für einige Zeit ebenfalls hier.
Während mich der Fahrstuhl nach unten bringt, denke ich an Ethan. Er wird sich Sorgen machen, weil er mich nicht erreicht, denn mein Handy liegt noch immer in Annes VW-Bus.
Mit einem Seufzen hole ich mir einen Coffee-to-Go, denn ich möchte nicht im Krankenhauscafé bleiben. Zu dem Getränk kaufe ich mir noch ein abgepacktes Kuchenstück. Wahrscheinlich wird es wie Pappe schmecken, aber in diesem Moment ist es mir egal, denn ich bin ziemlich hungrig.
Ich gehe nach draußen in die Sonne. Auf einer von Bäumen umrundeten Rasenfläche steuere ich eine Bank an. Mit meinem letzten Taschentuch wische ich die Regennässe vom Holz und setze mich.
Verwundert sehe ich mich um, als ich gedämpfte Klaviermusik vernehme, und sehe einen Mann mit einem kleinen Lautsprecher, der wohl an sein Smartphone gekoppelt ist. Er geht langsam den Weg auf und ab, schiebt seine Infusion in einer fahrbaren Halterung vor sich her.
Ich genieße die leise Musik. Mit dem seichten Rauschen des Windes und dem Gezwitscher der Vögel wirkt die Atmosphäre fast unwirklich. Der Kaffee und der zuckersüße Kuchen mit Schokolade helfen mir, die Anspannung in mir zu lösen. Ich atme tief durch.
Was sage ich bloß Ethan? Er soll sich nicht um mich sorgen, denn er muss in guter Stimmung sein, wenn er seinen Gästen ein vernünftiger Reiseleiter sein möchte.
Ich schließe die Augen, spüre die Sonne auf meiner Haut. Noch immer kann ich es kaum fassen, was geschehen ist. Es kommt mir wie ein Albtraum vor.
Gedankenverloren nippe ich an meinem Kaffee. Der Patient mit der Klaviermusik entfernt sich. Es wird still um mich herum.
Das Alleinsein lähmt mich auf seltsame Weise. Ich sollte zurück zu Jacob und Anne, ich muss mich um meine Pferde kümmern, nach Fia sehen … Stattdessen sitze ich hier und versuche, das Geschehene zu verarbeiten. Nur die Wärme meines Kaffees dringt wirklich zu mir durch.
Plötzlich ruft jemand meinen Namen. Ich zucke ein wenig erschrocken zusammen und sehe dann Jacob auf mich zukommen.
„Ich wollte euch ein bisschen Privatsphäre lassen“, sage ich leise.
Er nickt nur, kramt in seiner Hosentasche und holt mein Schlüsselbund hervor, das er mir reicht. „Fahr nach Hause, Sínead.“
Ich nehme meine Schlüssel und suche seinen Blick. Er weicht mir nicht aus.
„Bleibst du noch?“
„Ich möchte sie noch nicht allein lassen und werde einiges für sie regeln. Ein Suizid ist für das Krankenhaus immer … problematisch.“
Nicht nur für das Krankenhaus, denke ich.
„Wird sie therapeutische Betreuung benötigen?“
„Ich denke schon. Und ich fürchte, ich falle hier als Seelsorger raus.“
„Was werdet ihr sagen? Wenn die Wahrheit herauskommt, dann …“
„Sínead, ich werde nicht lügen.“
„Und was wird dann geschehen?“
„Das werden wir sehen. Auf jeden Fall muss ich mit dem hiesigen Bischof reden.“
Er ist so gefasst! Obwohl seine Lebensaufgabe, die Arbeit, die er liebt, auf der Kippe steht. Ist das alles nur Fassade? Oder hat Annes Selbstmordversuch ihn zu einer Entscheidung gezwungen?
Ich greife nach seinem Arm, weil ich fürchte, er könnte vor diesem Gespräch davonlaufen. „Anne würde nicht wollen, dass du alles aufgibst. Du solltest dich nicht … dazu gedrängt fühlen.“
„Das wird nicht geschehen. Also, dass ich mich zu etwas drängen lasse. Aber ich muss Klarheit schaffen, um zu entscheiden, wie es weitergeht. Ich muss auch mir helfen lassen. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich verstehe, dass du in einer riesengroßen Zwickmühle steckst.“
„Aus der ich aktuell allein nicht herausfinde.“
„Ach, Jacob.“ Ich ziehe ihn in eine freundschaftliche Umarmung. „Bitte sag mir, wenn du irgendetwas brauchst. Ich bin für dich da. Und natürlich für Anne. Vielleicht kannst du sie überreden, erst einmal zu mir in die Pension zu ziehen.“
„Ich danke dir, Sínead, für alles.“
Wir lösen uns und stehen unschlüssig voreinander. Da sehe ich für einen Augenblick, wie es wirklich in ihm aussieht. Seine Mimik verrät ihn, und er braucht einen Moment, um die fast ausdruckslose Maske wieder aufzusetzen.
Am liebsten würde ich ihn darauf ansprechen, aber ich halte meine Zunge im Zaum.
„Vielleicht holst du dir einen Tee in der Cafeteria? Der abgepackte Kuchen, den sie haben, ist nicht so übel, wie er aussieht.“
Er lacht verhalten auf. Die leise Bitterkeit in seiner Stimme entgeht mir dabei nicht. „Hätten sie Tee mit Whiskey, würde ich tatsächlich darüber nachdenken.“
„Ich fahr dann jetzt zurück zur Farm, okay? Ich muss nach den Pferden sehen.“
Wir verabschieden uns, und ich gehe zum Land Rover.
Als ich in die Einfahrt von Murphy’s Dream fahre, bemerke ich sofort, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich erkenne nur nicht sofort, was es ist. Die vier Pferde der O’Donnellys grasen friedlich, Black Jack scheint ebenso zufrieden, steht direkt neben Freya und …
Neben Freya?
Täusche ich mich vielleicht? Wirkt es nur so? Rasch steige ich aus dem Auto und eile zu den Weiden. Tatsächlich! Black Jack hat seinen Bereich verlassen. Er muss einfach über die Trockenmauern gesprungen sein, die wir extra mit einem zusätzlichen Draht abgesichert hatten. Zum Glück trennt ihn noch der Elektrozaun von den anderen Tieren. Den hat er nicht gewagt zu überspringen. Gott sei Dank!
„Du kleiner Mistkäfer“, murmle ich.
Als Black Jack mich sieht, trabt er an und kommt schnaubend auf mich zu.
„Ich wette, du willst dafür jetzt auch noch gelobt werden. Aber was erwarte ich auch von einem ehemaligen Springpferd?“
Freya und die anderen Pferde beäugen uns. Die Leitstute kommt nahe an den Zaun, und Black Jack reagiert darauf, indem er wieder auf sie zugeht. Ich fürchte eine Rangelei und folge ihm. Doch Freya beschnuppert Black Jack nur über den Zaun hinweg, wobei jeder darauf achtet, nicht an die feinen Drähte zu kommen.
„Okay, wenn ihr zwei schon so weit seid, könnte ich mich darauf einlassen, deine Weide so abzustecken, dass du Freya näherkommen kannst, okay?“
Black Jack sieht mich interessiert an, und ich lache amüsiert auf.
„Aber der Elektrozaun bleibt noch dazwischen!“
Ich hole ihnen Heu, das ich mit einer Schubkarre zur Weide bringe. Black Jack will sich sofort etwas stibitzen, aber ich erlaube es ihm nicht, und er akzeptiert meine abwehrende Geste. Ich sehe förmlich, wie es in seinem Pferdehirn arbeitet. Auf einmal dreht er sich um, galoppiert auf seinen Wiesenbereich zu. Ich schreie erschrocken auf, weil er keine Anstalten macht, vor der Absperrung abzubremsen. Da sehe ich ihn das erste Mal springen. Leichtfüßig, als hätte er Flügel, erhebt er sich, und springt problemlos über das Hindernis. Ich starre ihn mit offenem Mund an.
„Du … bist unglaublich!“
Ich fahre die Schubkarre näher zu seiner Weide und werfe ihm sein Futter über die Trockenmauer.
„Eines muss man dir lassen. Du bist ganz schön clever, wenn es um dein Futter geht. Na ja, oder um Stuten.“
Ich füttere auch die anderen vier und fahre die Schubkarre zurück zur Scheune. Als ich wieder aus dem Gebäude herauskomme, höre ich von Weitem mein Smartphone klingeln. Mein Blick fällt auf Annes Bus. Ich scheue mich davor, in den VW zu gehen, aber ich muss endlich mit Ethan sprechen.