Читать книгу Herbstleuchten - Tanja Bern - Страница 6

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Der Klingelton meines Smartphones ist längst verklungen, als ich am VW ankomme. Zaghaft trete ich ein. Annes Blut ist in den alten Teppich eingesogen. Den zugeschnittenen Läufer haben wahrscheinlich noch ihre Großeltern verlegt. Ich hatte mir den Anblick schlimmer vorgestellt. So kann ich mir einreden, dass es einfach ein dunkelroter Fleck ohne Bedeutung ist. Mit diesem Gedanken hangle ich nach meinem Smartphone und eile wieder hinaus.

Ethan hat für Anne einen alten Baumstumpf so zurechtgesägt und gefeilt, dass man ihn gut als Sitzplatz oder Ablage verwenden kann. Sie fand den noch verwurzelten Klotz so faszinierend. Ich nehme dort Platz und sehe, dass der Baum nicht so tot ist, wie es scheint. Unten an der Rinde sprießen kleine Sprösslinge hervor.

Ich tätschle das Holz. „Na, haben wir dich geweckt?“, raune ich ihm zu.

Ich zucke zusammen, als das Smartphone in meiner Hand vibriert und Ethans Klingelton ertönt. Ich nehme das Gespräch sofort an, obwohl ich noch immer nicht weiß, was ich ihm sagen soll.

„Hey, ist alles in Ordnung? Ich habe den halben Vormittag versucht, dich zu erreichen.“

Es tut so gut, seine Stimme zu hören!

„Ja, das tut mir leid, ich habe mein Handy bei Anne im Bus liegengelassen. Es ging ihr heute Morgen nicht so gut.“

„Was war denn los?“

Ich wusste, dass sich Ethan nicht mit so einer lapidaren Aussage abspeisen lässt. „Es ist jetzt alles wieder in Ordnung, so halbwegs. Jacob ist bei ihr.“ Ich schöpfe Luft. „Kann ich dir Genaueres erzählen, wenn du wieder zurück bist?“

Für einen Augenblick ist Stille am Telefon. Ich höre nur seinen Atem.

„Wenn du es so sagst, willst du nicht, dass ich mich sorge.“

„Gut erfasst.“

„Ist mit dir alles in Ordnung, Sínead?“

„Ja, mir geht es gut, wirklich!“ Ich schaue zu den Pferden und kann nicht anders, als zu lächeln. „Black Jack ist heute Morgen über die Abgrenzung gesprungen und hat mit Freya angebändelt.“

„Dieser verrückte Kerl. Ist was passiert?“

„Zum Glück nicht. Ich glaube, die beiden mögen sich. Ich werde die Abzäunung mal so verändern, dass Black Jack an einer Stelle Kontakt knüpfen kann. Sonst hopst er mir ja ständig rüber und streunt herum.“

Ethan lacht leise.

„Und wie läuft es bei dir?“

„Ach, meine Touris sind eigentlich alle ganz nett. Bisher gab es keine Zickereien und auch keine Versuche, mich ins Bett zu zerren.“

„Das klingt sehr beruhigend.“

„Mal im Ernst. Es ist alles recht unkompliziert, und ich schätze die Gruppe als sehr sportlich ein. Sie haben wirklich Lust auf Abenteuer.“

Im Hintergrund ertönt eine Stimme, die ich nicht verstehe, weil die Frau bei Ethan Deutsch spricht, zumindest hört es sich so an.

„Sínead, warte kurz, ja?“

„Okay.“

Ich höre, wie er der Frau in Deutsch antwortet. Doch das Gespräch dauert nicht lange, und Ethan konzentriert sich wieder auf mich. Allerdings werden wir kurz darauf erneut gestört. Ich warte geduldig.

„Entschuldige! Hier bricht gerade das Chaos aus.“ Ich höre ihn amüsiert schnauben.

„Was ist denn los?“

„Ach, nur das Übliche. In einem Zimmer fehlen Handtücher, jemand hat nasse Stiefel, weil ein Wasserloch im Weg war, und alle haben Hunger, aber die Küche ist noch geschlossen.“

„Dann geh sie retten, Adventure Man.“

„Mach ich.“

Wir verabschieden uns, und ich hauche einen Kuss auf den Bildschirm meines Smartphones.

Das Gespräch hat mich abgelenkt, ich konnte die Sache mit Anne für einige Augenblicke verdrängen. Jetzt bohrt sich wieder das Gefühl der Schuld in meine Brust. Noch immer kann ich nicht begreifen, dass ich nicht bemerkt habe, wie es Anne wirklich geht.

Ich richte mich auf, stecke das Handy hinten in meine Hosentasche und gehe zurück zum Bus. Die Unglücksstelle darf auf keinen Fall so bleiben. Es braucht einiges an Überwindung, doch ich schaue mir den Fleck genau an und dann, wie der Teppich befestigt ist. Er ist so zugeschnitten, dass er zwischen das Inventar passt.

Ich atme tief durch, suche eine Ecke, wo ich ansetzen kann und reiße den Bodenbelag heraus. Zum Glück geht das ohne große Schwierigkeiten, denn das beidseitige Klebeband ist schon halb zerbröselt. Ich zerre das Teppichstück hinaus, rolle es zusammen und bringe es zu unserem Abfallcontainer, der noch von der Renovierung hinter dem Haus steht. Ich zögere, dann werfe ich das blutige Teil auf den Müll.

In der Scheune haben wir noch ein größeres Stück des weichen Teppichs liegen, den wir in den Gästezimmern verlegt haben. Die nächste Zeit verbringe ich damit, den Boden des Busses zu säubern, den neuen Teppich anzupassen und sorgfältig aufzukleben.

„Viel besser“, sage ich danach und berühre den flauschigen Untergrund.

Erst als ich ein Auto höre, kann ich mich losreißen und gehe nach draußen. Karola und Florian sind zurück. Mit Tüten beladen gehen sie zum Haus. Karola winkt mir zu, und ich erwidere ihre Geste.

Als Florian die Tür öffnet, huscht Fia hinaus. Meine Katze bemerkt mich recht schnell und schlendert auf mich zu. Ohne mich zu begrüßen, geht sie an mir vorbei in den VW. Ich folge ihr, beobachte sie. Fia schnuppert an dem neuen Teppich, legt sich dann exakt dahin, wo wir Anne gefunden haben. Ihr aufmerksamer Blick ist auf mich gerichtet. Ich steige ebenso wieder in den Bus und setze mich zu ihr auf den Boden.

„Du hast sie gerettet, meine Süße.“ Ich strecke ihr die Hand hin, und sie schmiegt ihr Köpfchen hinein.

Draußen weichen die Wolken, und die Sonne lässt die Umgebung von Murphy’s Dream erstrahlen. Ich gehe hinaus, und Fia folgt mir.

„Es wird alles gut“, sage ich leise. „Es muss einfach alles gut werden.“

Ich schließe die Augen, halte mein Gesicht in das warme Tageslicht und überlege, wie ich Anne helfen könnte. Es muss doch eine Lösung geben.

Ich schaue zu den Pferden, mein Blick bleibt auf Gus haften. Er unterbricht das Grasen und hebt den Kopf, als spüre er, dass ich ihn beobachte.

Irgendwann muss ich auch wagen, die anderen Pferde zu reiten, aber ich möchte erst noch mit Rick einige Dinge durchgehen. Ich finde es wichtig, die Eigenheiten der Tiere kennenzulernen, möchte wissen, wie sie in unterschiedlichen Situationen reagieren. Zu Gus fühle ich schon Vertrauen, ihn kann ich einschätzen.

Als ich mich wenig später mit dem Sattel nähere, trabt Freya auf mich zu. Ich sehe in ihrem Blick, wie sehr sie auf einen Ausritt hofft. Gus hingegen wirkt eher desinteressiert. In mir tobt ein kleiner Kampf. Kann ich das Risiko eingehen? Schließlich bin ich nicht unerfahren. Die Leitstute kommt nah ans Gatter, wartet geduldig.

„Du willst unbedingt, oder?“

Sie dreht die Ohren zu mir, ist sehr aufmerksam. Ich erinnere mich an Ricks Worte.

Sie mag manchmal ein wenig wild sein, und man muss sie zu nehmen wissen, doch sie ist ein wundervolles Reitpferd, denn sie liebt das Gefühl, jemanden zu tragen.

Als ich sehe, wie Gus wegtrottet, um Black Jack zu beobachten, entscheide ich mich um. Ich trage kurzerhand Gus’ Sattel wieder zurück und hole dafür Freyas hervor, bringe ihn zu meinem Anbindeplatz, um ihn über den Sattelhalter zu legen.

Als ich zu ihr auf die Weide komme, tritt sie von sich aus ein paar Schritte zurück, um mich vorbeizulassen. Sie neigt sogar den Kopf, damit ich ihr das Halfter umbinden kann.

„Wow, du bist wirklich scharf drauf, mh?“

Brav folgt sie mir durch das Gatter, das ich hinter mir wieder schließe. Beim Putzen ihres weißen Fells ist sie unruhiger als Gus, ich kann ihre aufgestaute Energie förmlich spüren.

„Ich bin froh, dass du heute auf ein Schlammbad verzichtet hast“, murmle ich, und sie schnaubt zustimmend, was mich zum Lachen bringt.

Auf Freya komme ich auch ohne Aufstiegshilfe. Es ist ein anderes Gefühl, auf ihrem Rücken zu sitzen. Sie ist viel zierlicher als Gus, ihr Schritttempo ist flotter, aber ich habe mich schnell daran gewöhnt. Da ich sie sehr zurückhalten muss, trabe ich an, sobald sie sich warmgelaufen hat. Freya genießt es sichtlich. Ihr Tritt ist erstaunlich weich, sie fliegt fast über den Weg.

„Du bist wirklich ein Feenpferd“, rufe ich ihr zu.

Ich reite in Richtung Fluss, bleibe aber auf den Wiesen und Feldern. Abgrenzungen kann ich in dieser Umgebung problemlos umgehen, nur einmal muss ich vom Sattel aus ein Gatter öffnen und wieder schließen.

Schon von Weitem kann ich die Ruine von Menlo Castle sehen. Ich pariere durch zum Schritt und lenke Freya direkt dorthin. Sie schüttelt unwillig den Kopf, will wahrscheinlich losjagen, doch sie spricht auf meine Gesten an und akzeptiert das langsamere Tempo.

„Auf dem Rückweg darfst du galoppieren.“

Von Menlo Castle stehen nur noch die hohen Außenmauern. Ein Feuer hat im Jahre 1910 alles andere vernichtet und Eleanor Blake, die Tochter von Sir und Lady Blake, getötet. Mein Mum hat mir das mal erzählt. Ich bleibe mit Freya stehen, schaue auf die Burgruine, die völlig von Efeu überwuchert ist. Die Natur holt sich die Mauern wieder zurück, indem sie jede Ritze nutzt, um sich auszubreiten. Die Ranken umhüllen die Ruine regelrecht, als wollten sie die Burg beschützen. Die Nachmittagssonne schenkt der eigentlich grauen Fassade einen goldenen Schein. Es sieht wunderschön aus.

Langsam reite ich näher und umrunde diesen verwunschenen Ort, um ihn von allen Seiten betrachten zu können. Der Corrib fließt in unmittelbarer Nähe, und sein Flussrauschen entspannt etwas in mir.

Oft sind vereinzelte Touristen hier, um zu fotografieren. Heute bin ich die einzige Person, obwohl ich mich nicht so fühle. Ob Eleanors Geist wirklich hier herumspukt? Mein verstorbener Großvater hat geschworen, sie an einem Abend als durchsichtige Gestalt gesehen zu haben. Wir waren noch Jugendliche, und daraufhin haben Ethan und ich die Nacht in den Mauern verbracht. Ich fürchte keine Gespenster, im Gegenteil, ich liebe alles, was mystisch ist. Leider habe ich Eleanor damals nicht gesehen.

Im Vorbeireiten lasse ich meine Hand durch das dichte Efeugewächs streifen, um eine Verbindung zu suchen. In mir kribbelt es, es schaudert mich ein wenig, aber ich empfinde es als positiv.

Ich lasse Menlo Castle hinter mir und reite eine Erhebung rauf, um in das kleine Wäldchen dahinter zu kommen. Ein schmaler Weg führt zwischen schlanken Laubbäumen hindurch.

Freya ist hier sehr aufmerksam, nicht unsicher, eher interessiert. Sie lässt sich problemlos von mir führen, bis zu einer Gabelung, die ich fast übersehen hätte. Freya drängt nach links auf einen holprigen Pfad. Ausnahmsweise lasse ich ihr ihren Willen und betrete mit ihr eine Allee von jungen Buchen. Felsen, von Moos überwuchert, prägen das Unterholz. Dazwischen stehen violett blühende Weidenröschen.

Plötzlich weichen die Bäume, und Freya bleibt stocksteif stehen. Vor uns liegt eine Lichtung, von Gras bewachsen. Fast in der Mitte der Fläche wächst ein Feenring aus Wiesenchampignons.

Ich erinnere mich, dass Dad uns früher als Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat, wie manchmal in der Nähe von Menlo Castle leise Musik zu hören ist, und man in einigen Nächten auf den Feldern die Feen tanzen sehen kann.

Ich steige ab, nehme Freya am Zügel und betrete die Lichtung.

Neugierig schnuppert die Stute an den Pilzen. Wir beide scheuen davor, in den Feenring zu gehen. Ich weiß, dass dieses Phänomen einen natürlichen Ursprung hat. Dennoch hält mich ein Gefühl davon ab, diesen Ort unbedacht zu betreten. In unserem Wäldchen ist es anders. Ich hatte ein Geschenk dabei, mir gehörte dieses Land, und vielleicht ging ich sogar eine Art Bündnis ein. Hier bin ich eine Fremde, und als Irin achte ich solche Stätten, auch wenn mein Verstand gerne auf die wissenschaftliche Erklärung beharrt.

Freya schaut mich an, fast als wolle sie mich fragen, was ich dazu meine. Ihr Blick bringt mich zum Lächeln. Ich gehe in die Hocke, ohne die Zügel loszulassen. Zaghaft berühre ich einen der samtigen Pilzköpfe. Die Haut ist so zart, das Weiß der Champignons leuchtet regelrecht auf der dunkelgrünen Wiese.

Ich weiß, dass sich in der Erde ein zusammenhängendes Geflecht befindet. In der Mitte ist der Boden zu karg für die Pilze, weil dort die Nährstoffe als Erstes versiegen. Trotzdem wächst genau dort weiß blühendes Sternmoos. Nur am Rand sprießen die Champignons, bilden die Frucht dieses komplizierten Pilzgewächses und formen den besonderen Kreis.

Ich denke daran, was Jacob über seine Mutter gesagt hat.

Sie glaubte fest, dass das kleine Volk besondere Naturengel sind, die man respektieren müsse.

Der Gedanke gefällt mir. Ich habe die Sídhe nie als typische Feen mit Flügeln gesehen. Für mich waren sie schon immer … spiritueller.

Freya schnaubt verhalten, ich spüre ihren Atem im Nacken. Bedacht lege ich meine Handfläche ins Innere des Kreises. Der Boden wirkt viel wärmer, als ich angenommen hatte. Mich erfasst ein Kribbeln.

„Ich grüße euch“, wispere ich, und hier in der Einsamkeit, an diesem so mystisch angehauchten Ort, komme ich mir nicht lächerlich vor, im Gegenteil. Ich schließe die Augen, höre es überall rascheln, fühle seichten Wind, nehme Blütenduft wahr, ohne ihn einordnen zu können.

Als ich die Lider hebe, blendet mich kurz ein Sonnenstrahl, und ich blinzle. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich etwas Helles vor mir zu sehen.

Mum würde sagen: Kind, das war nur eine Lichtspiegelung.

Grandpa würde sagen: Das Herz sieht so viel mehr als das Auge.

Ich richte mich auf, streichle Freya über den Hals, küsse sie auf die Stirn, als sie sich runterbeugt, um mich sachte anzustupsen.

Das Pferd sieht hier in diesem Märchenwald aus, als stamme es von den Sídhe. Freyas schneeweißes Fell wirkt genauso auffällig wie der Feenring. In ihren dunklen Augen spiegelt sich das Abendlicht. Ihr Ausdruck strahlt vor Intelligenz. Ich begreife, warum gerade sie die Herde führt.

Ich nehme ihre Zügel, leite sie um die außergewöhnlichen Pilze herum und finde erneut einen Pfad, der von meterhohem Roten Fingerhut gesäumt wird. Hummeln surren um die wundervollen Blüten, die trotz der Schönheit hochgiftig sind. Ich muss aufpassen, dass Freya nichts davon nascht. Doch sie trottet brav hinter mir her und ignoriert die Pflanzen.

Es vergeht vielleicht eine Viertelstunde, dann lichten sich die Bäume, und ich schaue auf ein brach liegendes Feld. Dahinter rauscht der Lough Corrib.

Ich steige wieder auf und erfülle mein Versprechen. Freya darf endlich über die Ebene galoppieren … und ich habe das Gefühl zu fliegen!

Ein Zaun bremst schließlich unseren Ritt, und ich lache trotzdem gelöst auf, einfach, weil es sich so wunderbar anfühlt, wieder im Sattel zu sitzen.

Den Rückweg reite ich gemächlich, genieße die Dämmerung, die langsam einsetzt. Dunst steigt von den Wiesen auf, als ich die ersten Umrisse von Murphy’s Dream erkennen kann.

Ich stutze, weil ich jemanden auf unserem Sídhefelsen sitzen sehe. Dieser große Steinbrocken liegt auf einer Erhebung mitten auf einer der Weiden, und da Ray Brody ihn lebenslang nicht angerührt hat, belassen wir ihn genau dort. Er markiert vielleicht wirklich einen Feenhügel. Auf jeden Fall kann man dort recht bequem sitzen und über die Ländereien schauen.

Freya wird unruhig. Sie wittert und hört bereits ihre Herde, doch sie muss sich noch ein bisschen gedulden. Denn ich ahne, wer dort sitzt und nachdenkt.

Ich trabe auf ihn zu, und Jacob schaut auf. Ein feines Lächeln legt sich auf seine Lippen. Ich zügle Freya sanft und komme vom Schritt in den Stand, bleibe vor dem Pater stehen. Mir fällt auf, dass Jacob sein Kollar in den Händen hält, als wüsste er nicht, was er damit machen soll.

„Mit dem weißen Pferd und dem wehenden Haar sahst du aus, als kämst du direkt aus dem Feenreich.“

Ich lache leise. „Das ist nur das Abendlicht in meinem Rücken.“ Nach dem Absteigen lockere ich schon mal den Sattelgurt, um Freya ein wenig Freiheit zu schenken. Die Stute schnaubt und schüttelt den Kopf, denn ein gedämpftes Wiehern kommt aus Richtung der Farm.

Jacobs Gesichtsausdruck wird wieder ernst. „Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich einfach hierhergekommen bin. Dies ist wirklich ein friedlicher Ort.“

„Aber natürlich, du kannst jederzeit kommen, und ich habe nichts dagegen, wenn du von Zeit zu Zeit auf unserem Feenhügel sitzt.“

„Ah, das ist es also. Ich hatte schon Sorge, Ethan würde ihn später mit dem Traktor wegräumen, da er ja eigentlich ziemlich ungünstig liegt. Aber in dem Fall …“

Freya wiehert nun laut und versucht, mich in Richtung Farm zu ziehen.

„Kommst du noch mit rein? Auf einen Tee vielleicht?“

Jacob nickt, er wirkt erleichtert.

Schweigend gehen wir über den grasbewachsenen Weg, der zwischen den Weiden verläuft. Die Abendsonne versinkt langsam hinter dem seicht geschwungenen Land, färbt die Wolken feuerrot.

Ich sattle Freya ab, befreie sie vom Zaumzeug und entlasse sie wieder auf die Weide. Die anderen beschnuppern sie zur Begrüßung. Sie lässt es sich eine Weile gefallen, dann lässt sie ihre Herde zurück und geht zum Zaun, wo Black Jack auf der anderen Seite scheinbar auf sie wartet. Es findet keine Berührung statt, aber sie stellt sich in seine Nähe, um zu grasen. Der Wallach beobachtet sie und folgt ihrem Beispiel.

„Das sieht aber sehr friedlich aus“, bemerkt Jacob.

„Ja, ich glaube, die beiden mögen sich. Trotzdem wage ich noch nicht, ihn zur Herde zu stellen. Geduld ist hier besser. Pferde können sehr eigen sein, wenn es um Rangordnung und Zusammenführungen geht.“ Ich hake mich bei Jacob unter. „Komm, wir gehen rein, es wird kühl draußen.“

Meine Gäste schauen wohl nach ihrer Shoppingtour oben im Aufenthaltsraum etwas fern, denn ich höre im Korridor die gedämpften Geräusche von einem Film.

In der Küche brühe ich den Tee auf und beobachte Jacob, der am Tisch sitzt und sich gedankenverloren mit seinem weißen Priesterkragen beschäftigt, indem er ihn in den Händen herumdreht. Auf seinem Gesicht zeichnet sich pure Zerrissenheit ab.

Ich hole eine Flasche von Ethans Whiskeyvorrat und gebe einen ordentlichen Schluck Alkohol in Jacobs Tasse. Nur wenig später sitze ich vor ihm, nippe an meinem Getränk, während er mit einer Hand sein Gefäß umklammert, als könne es ihm irgendwie Halt geben.

„Wie geht es Anne?“, frage ich vorsichtig.

Er nimmt einen Schluck und schmeckt den Whiskey. Erneut trinkt er von seinem Tee, dieses Mal ausgiebiger. Dann seufzt er leise und lehnt sich zurück. „Sie hat mich fortgeschickt, und ich verstehe es. Schließlich ist das alles wegen mir. Ich kann ihr nicht helfen.“

„Ich werde morgen mal zu ihr fahren. Vielleicht kann ich zu ihr durchdringen.“

„Das ist es nicht, Sínead. Sie … sie ist nicht verwirrt oder lässt sich nichts sagen. Im Gegenteil! Das war alles genau durchdacht. Sie hat nur nicht damit gerechnet, dass man sie so frühzeitig findet.“

„Trotzdem war es eine Verzweiflungstat, und jemand muss ihr zurück ins Leben helfen.“

Er holt Luft, um etwas zu sagen, stockt jedoch und presst stattdessen die Lippen aufeinander.

„Sag es, Jacob. Jetzt ist nicht die Zeit, etwas zurückzuhalten.“

Er schüttelt den Kopf. Schließlich hebt er seine Tasse an. „Kann … kann ich bitte noch was haben?“

„Tee oder Whiskey?“

„Bitte den Whiskey.“

Ich sorge mich ernsthaft um Jacob. So habe ich ihn noch nie erlebt.

Er sitzt auf der Couch, sein abwesender Blick ist aus dem Fenster gerichtet, und er wirkt wie erstarrt. Ich glaube nicht, dass er noch gerade laufen kann, die Whiskeyflasche ist halb leer, und ich habe keinen Schluck davon getrunken.

Ich setze mich zu ihm. „Jacob?“

Tränen glitzern in seinen Augen. „Ich habe ihr gesagt, ich würde mich für sie entscheiden.“ Er streicht sich in einer fahrigen Geste durchs Gesicht. „Anne hat es abgelehnt.“

Ich muss über seine Worte erst einen Augenblick nachdenken. „Das wäre aus den falschen Beweggründen, und das weißt du auch.“

„Nein! Darum geht es aber nicht. Das hat mich … erschüttert. Die Vorstellung, es würde sie nicht mehr geben … Ich ertrage das nicht!“

„Aber sie lebt, Jacob.“

„Ja, und ich habe begriffen, dass ich nicht ohne sie sein will.“ Er schluckt schwer. „Das werde ich auch meinem Bischof sagen.“ Er atmet schwer, ist völlig aufgelöst.

„Jacob, warte damit noch, ja? Ich will dich sicher nicht davon abhalten, mit Anne zusammen zu sein. Aber dies hier ist eine schwierige Lage. Ihr beide seid in einer Ausnahmesituation, in der man keine so bedeutsamen Entscheidungen treffen sollte.“

Er beugt sich vor, vergräbt das Gesicht in den Händen. „Wie soll es denn jetzt bloß weitergehen?“

Ich lege tröstend meinen Arm um ihn. „Wir finden eine Lösung. Vielleicht legst du dich ein bisschen hin?“

„Nein, ich muss … nach Hause.“ Sein Versuch aufzustehen scheitert, weil der Alkohol seinen Tribut fordert. Fast wäre er nach vorn gestolpert.

„Jacob, du bleibst hier. Setz dich.“

Meine resolute Stimme bringt ihn dazu, sich wieder hinzusetzen.

„Ich muss …“ Den Satz beendet er nicht, stattdessen zerknüllt er sein Kollar, das er immer noch krampfhaft festhält. Ich nehme es ihm entschieden ab, lege es auf den Tisch.

„Komm, leg dich ein bisschen hin“, sage ich sanfter.

Er zögert nur kurz, dann schlüpft er aus seinen Schuhen, und ich helfe ihm, sich auf die Couch zu legen.

Auf dem Sofa liegt meine Decke, in die ich mich abends gerne kuschle. Ich lege sie um seinen schmalen Körper, bleibe neben ihm sitzen und wache über ihn.

Das Klingeln meines Smartphones lässt mich aufschrecken. Ich bin neben Jacob eingedöst, der tief und fest schläft. Mein Nacken schmerzt, und meine Glieder fühlen sich steif an. Ich recke mich mit einem leisen Stöhnen. Mein Handy verstummt wieder, und ich richte mich auf. An der Melodie habe ich erkannt, dass es Ethan war, und ich nehme das Smartphone, um ihn zurückzurufen. Da blicke ich verwirrt auf die Dunkelheit, die ich durchs Fenster sehe. Wie lange habe ich geschlafen? Die Küchenuhr offenbart, dass es bereits nach zehn ist.

Ich stecke das Smartphone in meine Hosentasche und haste hinaus. Ich muss die Pferde noch füttern! Der Bewegungsmelder am Haus springt an und erleuchtet den Hof. Ich nehme trotzdem Rays alte Öllaterne mit, damit ich mich auf den Weiden zurechtfinde. Amüsiert lache ich auf, weil ich sehe, dass alle Pferde am Zaun stehen und mich abwartend anschauen, als wollten sie fragen, was das bitte für ein schlechter Service ist.

Ich karre Heu für sie auf die Weide und gebe Freya nach dem Ausritt noch etwas Kraftfutter. Die anderen sind so auf das Raufutter im Offenstall konzentriert, dass sie gar nicht mitbekommen, wie ich sie direkt aus dem Eimer fressen lasse.

Black Jack wiehert schon ungeduldig, und ich bringe auch ihm sein Heu. Während ich mit der Schubkarre die Weide betrete, beginnt es sanft zu regnen. Der Wallach klaut sich rasch einige Halme.

„Hey, du kleiner Dieb! Nichts von der Schubkarre klauen.“ Mein Verweis prallt an ihm ab. Er trottet mir auf der Wiese zufrieden kauend zu der Baumgruppe hinterher, die ihm als natürlicher Witterungsschutz dient. Die Kronen der Eichen sind so ausladend, dass sie uns vor dem Wetter schützen. Das Blätterdach lässt keinen Tropfen hindurch.

Ich schütte das Heu auf den Boden und setze mich auf einen niedrigen Ast einer der Eichen, sehe ihm noch einen Moment zu. Meine Laterne taucht alles in einen warmen Schein, selbst das Blätterdach wirkt wie aus Gold gewebt.

Ich hole das Handy aus meiner Hosentasche und rufe Ethan trotz der späten Stunde zurück. Er nimmt nach nur zweimal klingeln das Gespräch an.

„Ich hoffe, ich habe dich jetzt nicht geweckt?“, frage ich mit einem versonnenen Lächeln.

„Nein, ich habe eigentlich darauf gewartet, dass du zurückrufst.“

Im Hintergrund höre ich den Fernseher, der abrupt verstummt, weil Ethan ihn ausschaltet.

„Was hast du dir angesehen?“

Er lacht leise. „Den guten Inspector Barnaby, der läuft doch immer irgendwo. Und was machst du?“

„Ich sitze bei Black Jack in der Baumgruppe.“

„Ist was nicht in Ordnung mit ihm?“, fragt er hörbar alarmiert.

„Nein, nein, mit ihm ist alles gut. Ich bin nur auf der Couch eingedöst und musste die Pferde noch füttern.“

„Ach so.“

Es entsteht eine kleine Pause, in der auch mir die Worte fehlen, weil ich ihm ja eigentlich nichts von Anne und Jacob sagen möchte. Aber es liegt mir so sehr auf der Seele.

„Sínead, magst du mir nicht erzählen, was geschehen ist? Irgendetwas stimmt doch nicht. Ich weiß, du willst nicht, dass ich mir Sorgen mache. Aber diese Geheimnistuerei macht mich wahnsinnig.“

Ich schlucke schwer. Er kennt mich so gut.

„Es ist wegen Anne. Sie … sie hat sich heute Morgen im Bus eingeschlossen und dann versucht, … sich das Leben zu nehmen. Hätte Fia mich nicht auf sie aufmerksam gemacht …“ Wieder bleiben mir die Worte im Hals stecken.

Es ist still am Telefon.

„Ethan?“

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das … ist ja furchtbar!“

„Sie ist noch im Krankenhaus, hat aber alles überstanden. Nur Jacob ist noch hier. Er hat eine halbe Flasche Whiskey intus und schläft tief und fest auf unserer Couch.“

„Was wird er tun?“

„Er ist total aufgelöst, weiß gerade noch nicht, wohin mit sich.“

„Das kann ich gut verstehen.“

Ich möchte ihm sagen, dass ich ihn vermisse, dass ich wünschte, er wäre hier. Doch das würde alles nur verschlimmern, darum schweige ich.

„Sínead, ich wünschte, ich wäre jetzt bei dir.“

Als würde er meine Gedanken selbst über diese Entfernung spüren. Mir steigen Tränen in die Augen. „Das wünschte ich mir auch“, sage ich mit bebender Stimme. „Ich gebe zu, … Anne so zu sehen, das hat mich ganz schön mitgenommen.“

Er atmet geräuschvoll ein. „Am liebsten möchte ich die Tour abbrechen und sofort zurückkommen!“

„Nein, tu das nicht, Ethan. Ich war mit Freya ausreiten, und ich hab mich wieder gefangen.“

„Dann sag mir, wie ich dir helfen kann.“

„Lenk mich ab. Erzähl mir, was bei dir los war.“

Er scheint kurz zu überlegen, weil ich für einen Moment nur seinen Atem höre. „Sínead, ich habe eine andere Idee.“

„Dann raus damit.“

„Du ahnst nicht, wen ich heute getroffen habe. Hailey ist auch hier in der Gegend.“

„Hailey? Ist sie wieder on Tour? Ich habe ewig nicht mit ihr gesprochen.“

„Ja, das sagte sie mir auch. Ist da was zwischen euch vorgefallen?“

„Eigentlich nicht, wir haben uns nur ein bisschen auseinandergelebt. Ihr Studium hat sie völlig vereinnahmt, und ich gebe zu, ich habe sie im letzten Jahr etwas aus den Augen verloren, weil ich so viel anderes im Kopf hatte.“

„Früher hat sie dich immer aufheitern können.“

„Ja, das ist wahr. Kommt sie im September nach Galway? Letztes Jahr hat es ja nicht geklappt.“

„Sie hat es fest vor. Anscheinend hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie deinen Brief wohl noch nicht beantwortet hat.“

Hailey und ich blieben stets bei unserer altmodischen Brieffreundschaft, wenn wir getrennt waren. Natürlich kommunizieren wir auch auf moderne Weise, aber die handgeschriebenen Briefe sind uns immer heilig gewesen.

„Ach, das braucht sie nicht. Ich würde mich einfach freuen, sie wiederzusehen. Bei ihr ist es doch egal, wie lange wir uns nicht getroffen haben. Steht sie vor der Tür, ist es, als hätte sie sich erst gestern von mir verabschiedet.“ Bei dem Gedanken lächle ich versonnen.

„Und deswegen würde ich Hailey gerne fragen, ob sie nicht schon eher runter nach Galway fahren mag.“

„Wegen mir?“

„Ja. Du könntest zurzeit eine Freundin gut gebrauchen. Jemanden, der dich auf andere Gedanken bringt.“

Eigentlich ist mein Bruder neben Ethan immer mein Seelentröster gewesen. Aber Fergus ist gerade sehr eingespannt in seinem neuen Leben in Dublin. Und ich scheue noch davor, meine Eltern zu viel zu belasten. Beide neigen dazu, sich übermäßig zu sorgen. Sollte ich also zustimmen?

„Sínead, ich weiß, dass du jetzt wieder hin und her überlegst, weil du niemandem Umstände bereiten möchtest. Ich weiß aber, dass du auch nicht zögern würdest, wäre Hailey in einer ähnlichen Situation.“

Ethan hat recht, seine Worte treffen auf den Punkt. Es gab immer Zeiten, in denen wir länger keinen Kontakt hatten, auch wegen der Entfernung, da sie in Cork wohnt. Aber braucht eine die andere, sind wir füreinander da.

„In Ordnung“, sage ich endlich.

„Alles klar, ich rede mit ihr.“

Herbstleuchten

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