Читать книгу Winterreise - Tanja Bern - Страница 7
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ОглавлениеMeine Eltern haben, warum auch immer, mein altes Zimmer nicht verändert. Die Jalousien habe ich heute Nacht offengelassen, damit der Mondschein das Zimmer erhellt. So liege ich in meinem Jugendbett und starre auf das Mobile, das sich im Luftzug des Fensters sachte bewegt.
Es fühlt sich zwar seltsam und ungewohnt an, dass Thomas nicht neben mir liegt und leise schnarcht, aber andererseits ist es für mich eine pure Erleichterung.
Ich seufze, lausche auf die Stimme meiner Schwester, die so spät am Abend noch telefoniert. Aber sie ist achtzehn, und ich erinnere mich noch gut an meine heimlichen Telefonate in der Nacht. Das Haus kommt mir hellhöriger vor als früher. Sogar Fergus‘ Husten nehme ich wahr. Ob der Schussel sich wieder an seiner Cola verschluckt hat? Er ist zwar dreiundzwanzig, wird aber für mich immer mein kleiner Bruder sein.
Ich muss an unsere Katze Lucy denken. Die Kleine ist schon seit Jahren tot, aber hier in meinem alten Zimmer ist sie mir wieder nah. Ihr bevorzugter Schlafplatz war an meinem Fußende. Dort schlief sie auch mit fast zwanzig Jahren für immer ein. Für einen Augenblick spüre ich wieder ihre tretelnden Pfötchen auf meinen Füßen. Überrascht fühle ich Tränen auf meinen Wangen. Durch meine Brust zieht sich ein Schmerz, den ich glaubte, längst überwunden zu haben.
Damals hätte ich gerne wieder eine Katze gehabt, aber Mum wollte keine Haustiere mehr, und Thomas kann mit Tieren überhaupt nichts anfangen.
Ich schließe die Lider, flüchte mich in meinen geheimen Mädchentraum, lasse die Bilder vor meinem inneren Auge entstehen.
Ich trete aus dem Haus, sehe hügelige Wiesen, auf denen Nebel schwebt. Schemenhaft erkenne ich einige Pferde. Eine schwarze Katze streicht mir um die Beine und maunzt leise.
In meiner Nähe steht ein alter Baum. Er erinnert mich an unsere Eiche auf dem Spielplatz. Eine breite Schaukel ist an einem dicken Ast befestigt, schwingt im Wind leicht hin und her. Hinter mir öffnet sich die Tür. Ethan kommt heraus.
Ich blinzle, runzle die Stirn.
Ethan?
Aber natürlich. Ohne ihn könnte ich mir ein Leben gar nicht vorstellen. Er ist mein Vertrauter und mein bester Freund.
Ich lasse dem Traum seinen Lauf.
Ethan kommt aus der Tür. Mein Herzschlag beginnt schneller und intensiver zu pochen, als er mich von hinten umarmt.
Früher hat er so etwas öfter getan.
Die Pferde grasen, die Katze springt auf einen Holzstapel, leichter Regen setzt ein. Aber es ist nur ein kurzer Schauer. Ethan und ich bleiben draußen stehen, geschützt unter dem Vordach. Er dreht mich zu sich herum, und sein Blick nimmt mich gefangen. Plötzlich erfüllt mich nur ein einziger Wunsch. Ihm näher zu kommen, seine Lippen nur einmal zu berühren.
Ich richte mich abrupt auf, vertreibe die Bilder. Was denke ich denn da? Ethan ist mein bester Freund!
Was hat die Trennung von Thomas bloß in mir ausgelöst? Ich reibe mir über mein Gesicht.
Mein Handy gibt ein leises Pling von sich. Ethan.
Hast du es dir schon überlegt? Kommst du mit?
Es ist verlockend, doch ich zögere immer noch. Würde es womöglich etwas zwischen uns ändern?
Du drängelst.
Es dauert eine Weile, bis er antwortet.
Du kannst nicht für immer und ewig in Galway festsitzen, Sínead. Komm mit mir!
Kein humorvoller Spruch? Verwundert starre ich auf die Nachricht. Er meint es ernst. Es geht ihm nicht um irgendeine Begleitung. Ethan will mich dabeihaben.
Diese Erkenntnis und das intensive Gefühl von vorhin lassen mich ratlos zurück. Ich überlege fieberhaft, was ich ihm sagen könnte. Kurzerhand wähle ich seine Nummer, und er nimmt das Gespräch sofort an.
„Ethan, ich muss erst mit Mum sprechen.“
„Das sind doch Ausflüchte.“
„Ertappt.“
„Worum geht es wirklich?“
„Das … das kann ich noch nicht sagen.“
Kurze Stille, ein Räuspern. „Hast du einen anderen und dich deshalb von Thomas getrennt?“
„Was? Nein! Wie kommst du denn auf sowas?“
„Weiß nicht. Sieht dir nicht ähnlich, dass du mir so ausweichst.“
„Reden wir morgen erstmal mit Mum, okay?“
„Sie wird nichts dagegen haben. Es ist doch keine Saison. Außerdem hast du wirklich lange nicht frei gehabt. Hat Thomas eigentlich nie was dazu gesagt?“
Ich seufze. „Er arbeitet doch selber nur. Eben ein echter Workaholic.“
„Dir sieht das aber nicht ähnlich.“
Auf einmal keimt leichte Wut in mir auf. Ich will nicht, dass er mir Vorhaltungen macht. „Lass mich doch einfach erstmal zur Ruhe kommen!“
Ich höre Ethan atmen, er schweigt.
Mein schroffer Tonfall tut mir sofort leid. „Entschuldige, Ethan.“
„Schon gut. Ich will dich doch gar nicht drängen. Aber ich glaube wirklich, du brauchst mal Abstand von all dem. Melde dich einfach. Zwei Tage bin ich noch in Galway.“
„Okay, danke.“
„Schlaf gut, und träum von deinem Ponyhof.“
Er ist der Einzige, dem ich davon erzählt habe, nicht einmal Mum und Dad wissen davon.
„Ich war gerade dabei.“
„Wie war das Wetter?“
„Es regnete natürlich.“
Er lacht leise. „Wusstest du eigentlich, dass es in Kerry Palmen gibt?“
„Palmen? Wie auf Mallorca?“
„Ja, sie stehen zwischen Rhododendronbüschen.“
„Dann scheint in Kerry auch mal die Sonne?“
„Im Winter bin ich mir da nicht so sicher.“
„Ich muss also mitkommen, um das nachzuprüfen?“
„Ja, … vielleicht.“
„Ich überleg’s mir.“
„Gut, dann schlaf jetzt, Galway Girl.“
„Du auch, Adventure Man.“
Unsere geheimen Superheldennamen werden wir wohl nie ganz loswerden, denke ich schmunzelnd.
„Ich bin immer noch dafür, dass wir uns Kostüme überlegen sollten“, sagt er vergnügt.
Ich lache leise auf.
„Wirst du denn jetzt schlafen können, Sínead?“
„Ja, ich überlege mir eine coole Rüstung für dich und schlaf dann bestimmt ein.“
„Ist sicher besser als Schafe zählen.“
„Obwohl wir davon ja wirklich genug für schlaflose Nächte haben.“
„Nun aber gute Nacht. Es ist schon spät.“
Ich schaue auf die Uhr. Mitternacht ist längst vorbei. „Oh je, du hast recht. Hast du morgen frei?“
„Nicht wirklich, ich muss an den Tourplänen arbeiten.“
„Okay. Gute Nacht, Ethan.“
„Sehen wir uns morgen?“
Fast hätte ich einen Tee im Cupán tae vorgeschlagen, denke jedoch an das Gespräch mit Thomas und sage nur „Ja, gern.“
„Dann bis morgen. Ich komm einfach ins Geschäft. Und jetzt besser keine Träumereien mehr. Schlaf!“
„Du aber auch!“
„Wir werden sehen.“
Ich sehe förmlich sein verschmitztes Lächeln vor mir. Eine wohlige Wärme erfüllt mich.
Schließlich beenden wir das Gespräch wirklich, und ich lege mich wieder hin.
„Also wieder die Adventure Man-Rüstung“, murmle ich und senke die Lider.
Schlaf bekomme ich in dieser ersten Nacht nur teilweise. Die Gedanken toben in mir. Ich komme einfach nicht zur Ruhe. Erst in den frühen Morgenstunden falle ich in einen leichten Schlummer und erschrecke regelrecht, als mein Radiowecker anspringt.
Ich stöhne auf, fühle mich erschöpft und lethargisch. Mir fällt es schwer, die Augen zu öffnen. Mit dem rechten Arm beschatte ich sie vor dem einfallenden Sonnenlicht.
Halt. Moment. Sonnenlicht?
In den letzten Wochen hat es wirklich viel geregnet, der Himmel war stetig von Wolken verdeckt.
Das Wetter weckt meine Lebensgeister, und ich krabble aus dem Bett, taumle verschlafen zum Fenster und öffne es. Die Einkaufsstraße unter mir glänzt vor Feuchtigkeit. Die Pfützen sind gefroren, auf den Autoscheiben liegt eine Eisschicht. Ich atme die kalte Luft ein und genieße darin die Nuance des Meeres, die man trotz der Kälte wahrnimmt.
Seufzend sperre ich aber schnell den Winter wieder aus, es ist eisig. Müde reibe ich mir über die Augen. Als ich in die Küche gehen will, um mir Frühstück zu machen, huscht meine Schwester an mir vorbei. Sie stoppt, sieht mich an und läuft zurück in ihr Zimmer.
„Du musst doch bestimmt einige von deinen Sachen waschen. Kannst du meine bitte mitwaschen?“ Sie drückt mir ein Bündel Wäsche in die Hand. „Danke!“
Ich bin so verblüfft, dass ich dastehe und ihr nur hinterhersehe. Ehe ich etwas sagen kann, poltert sie die Stufen herunter und verschwindet aus der Haustür.
„Maeve!“, rufe ich wütend, aber natürlich viel zu spät.
„Was ist denn, Sínead?“, antwortet stattdessen meine Mum aus der Küche.
„Ach nichts“, murmle ich und erwäge, meiner Schwester den Wäschehaufen vor die Zimmertür zu legen, entscheide mich aber dagegen. Murrend tapse ich in den Keller und stelle fest, dass sie die Wäsche nicht mal geordnet hat. Ich verteile sie in Mums Sortierkörbe und wasche zumindest schon mal die dunkle Wäsche mit Maeves stinkenden Socken.
Oben in der Wohnung ernte ich von Mum einen misstrauischen Blick. „Du wäscht am frühen Morgen, noch vor deinem ersten Kaffee, die Wäsche? Was hast du angestellt?“
„Nicht meine Wäsche. Maeve hat mich ausgetrickst.“
Mum schüttelt mit dem Kopf. „Wie früher, mh? Schmeiß ihr die dreckige Wäsche das nächste Mal zurück ins Zimmer.“
Meine kleine Schwester weiß genau, dass ich das nicht übers Herz bringe.
„Komm frühstücken, Sínead. Ich hab dir schon was fertiggemacht.“
„Mum, das musst du doch nicht.“
„Mach ich aber gerne.“
Der Frühstückstisch ist gedeckt. Dad sitzt bereits mit der Irish Times auf seinem Platz und trinkt seinen schwarzen Tee mit Milch, wie jeden Morgen. Ich selbst bevorzuge Instantkaffee zu Toast, Marmelade und Spiegelei. Dad liebt dafür Mums Würstchen.
„Guten Morgen, Dad.“
Er lächelt mich über die Zeitung hinweg an und erwidert meinen Gruß.
„Wo ist Maeve so früh schon hingegangen?“
„Sie hat irgendeinen neuen Job und will nicht drüber reden“, sagt Mum. Ich höre Sorge in ihrer Stimme.
Fergus kommt wie ein Zombie in die Küche geschlurft, greift nach den Cornflakes und verschwindet wieder. Nach kaum zwanzig Sekunden kehrt er zurück, schüttet sich Milch in eine Schüssel, grüßt uns mit unverständlichem Gemurmel und geht erneut hinaus. Ich höre ihn die Treppe zu seinem Zimmer heraufgehen.
„Die Krümel, die er im Bett hinterlässt, kann er heute selber wegsaugen“, kommentiert Mum säuerlich. „Ich bin arbeiten.“
„Er könnte auch mal die ganze Wohnung saugen und nicht den halben Tag im Internet surfen“, sagt Dad abwesend, während er die Zeitung liest. Mir scheint, er sagt das, was Mum hören möchte.
Sie nickt zustimmend. „Oder im Laden helfen.“
Ich lausche den Stimmen meiner Eltern, mische mich aber nicht ein. Es erinnert mich an früher, wo sie ähnliche Dinge über Maeve gesagt haben.
Reden sie so auch über mich, wenn ich nicht da bin?
Ich vermisse plötzlich die Ruhe, die ich in den letzten Jahren morgens hatte. Thomas ging schon immer sehr früh zur Arbeit, und die Wohnung gehörte dann vom Gefühl her mir allein. Ich habe das immer sehr genossen, muss mich nun wieder neu an den morgendlichen Trubel gewöhnen.
„Mum?“
Sie setzt sich an den Tisch und schaut mich an.
Ich weiß, wie viel Zeit sie in ihrem Laden verbringt, deshalb fällt es mir schwer, sie nach Urlaub zu fragen. Aber in der Nacht bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass Ethan recht hat. Ich brauche eine Auszeit.
„Mum, könntest du mir ein paar Tage freigeben? Ethan hat mich gefragt, ob ich ihn auf eine neue Tour begleite.“
„Das hast du doch noch nie gemacht.“
Ich seufze leise. „Ich habe mich zuvor auch noch nie entlobt“, murmle ich mehr zu mir selbst.
Mum legt ihre Hand auf meine. „Erzähl uns doch, was vorgefallen ist.“
„Ich bin einfach nicht glücklich. Es passt überhaupt nicht zwischen uns.“
„Das kann doch nicht alles gewesen sein“, hakt sie nach.
„Reicht das nicht?“, frage ich verwirrt.
„Ach, Kind. Dein Vater und ich haben auch so unsere Differenzen.“
„Haben wir?“ Dad legt die Zeitung vor sich auf den Tisch, wie er es immer macht, wenn es interessant wird. Aber Mum knufft ihn gegen den Oberarm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
„Mum, ich möchte jetzt nicht darüber reden.“
„In Ordnung“, antwortet sie gedehnt und wechselt mit Dad einen vielsagenden Blick. „Wie lange willst du denn weg?“
„Das weiß ich noch gar nicht. Ethan wollte nachher vorbeikommen und mehr über den Auftrag erzählen.“
„Gut, dann werde ich ja erfahren, was ihr vorhabt.“
Ich nicke zustimmend und streiche mir Marmelade auf den Toast.
Das erste Mal fühle ich mich in unserem Souvenirshop fehl am Platz. Mum beobachtet mich, und es kommen kaum Kunden. Sie zieht sich schließlich ins Büro zurück, während ich die Regale entstaube und herumstehe. Ich sortiere die Leprechaun-Figuren, bringe eine Spinne hinaus, stehe wieder herum, warte auf Kunden, warte auf Ethan.
Als nicht mein bester Freund, sondern Thomas zur Tür hereinkommt, erschrecke ich. Mit ihm habe ich jetzt nicht gerechnet! Er begrüßt mich sehr neutral, ich erwidere unsicher seinen Gruß.
„Entschuldige, dass ich dich auf der Arbeit störe, aber ich würde gerne den Verlobungsring zurückhaben“, sagt er, ohne eine Emotion zu zeigen.
Der Ring! Ich starre auf meine Hand, wo der schlichte Schmuck mit dem Diamanten noch an meinem Finger glitzert. Ich trage den Ring nun seit über einem Jahr und habe mich so daran gewöhnt, dass ich gar nicht daran gedacht habe, ihn abzulegen. Auch Thomas sieht auf meine Hand, und ich sehe, dass er für einen Augenblick die Fassung verliert.
„Du trägst ihn noch“, erkennt er mit fast tonloser Stimme.
Rasch streife ich den Ring vom Finger und halte Thomas das Schmuckstück hin. Zögerlich greift er danach.
„Ich bekomme keine zweite Chance, oder?“
Ich möchte ihm ausweichen, aber sein Blick hält mich gefangen. Kein Wort bringe ich heraus. Erst als die Kundenklingel an der Tür ertönt, kann ich mich losreißen und schaue zu dem Neuankömmling. Beim Anblick von Ethans vertrauter Gestalt durchströmt mich Erleichterung. Mir huscht ein Lächeln übers Gesicht.
„Ich sehe schon, es ist zwecklos“, platzt es aus Thomas heraus. Er starrt Ethan mit zornigem Gesichtsausdruck an und stürmt aus dem Laden.
Ethan schaut ihm verwirrt hinterher. „Was habe ich getan?“
Ich winke ab, will für den Moment nicht über Thomas’ Verhalten sprechen. Trotzdem frage ich mich, was er in meinem Gesicht ablesen konnte, das ihn auf einmal so in Wut versetzt hat.
„Ist alles in Ordnung, Sínead?“
„Was? Ja, natürlich.“
„Du siehst aus, als hätte dich ein Geist besucht.“
„Ich … na ja … Er kam unangemeldet und hat den Verlobungsring zurückgefordert.“
Ethan guckt völlig verdutzt. „Will er ihn für die nächste Frau noch einmal verschenken?“
„Wohl eher verkaufen.“
„Okay“, erwidert Ethan gedehnt.
„Ich hätte ihm den Ring schon im Cupán tae zurückgeben müssen, aber er stand einfach auf und ging.“ Ich verschweige ihm, dass ich es zudem schlicht vergessen habe. Bewusst wechsle ich das Thema. „Hast du die Tourpläne dabei?“
„Ja, aber du wirst sie nicht zu sehen kriegen, nur deine Mum.“
„Warum darf ich nicht wissen, wo wir hinfahren?“
„Ha! Du kommst also mit?“
„Äh …“ Mist. Erwischt.
Er zieht abwartend die Augenbrauen hoch. Ich mustere ihn, bemerke, dass er sich den Bart gestutzt hat. Er trägt auch ein neues Hemd, zumindest kenne ich es noch nicht. Der oberste Knopf ist wie immer geöffnet.
„Sínead?“
„Oh, ich …“ Kurz presse ich die Lippen aufeinander. „Ja, ich komme mit.“
Ethan strahlt mich an. „Die Tour wird aber eine Überraschung sein.“
„Ich hoffe, ich muss die Autofahrten nicht mit verbundenen Augen hinter mich bringen?“
„Wer sagt was von Autofahrten?“ Er lacht belustigt auf, als mir kurz die Gesichtszüge entgleiten.
„Ethan!“ Ich boxe ihm hart gegen den Oberarm.
Unbeeindruckt grinsend geht er zu Mum und lässt mich ratlos im Geschäftsraum stehen. Er schließt sogar die Tür hinter sich, was unterschwellig Ärger in mir aufkeimen lässt. Ich möchte nicht ausgeschlossen werden! Aber eine Überraschung ist auch nicht so schlecht. Warum tut er das?
Ein älteres Ehepaar kommt in den Laden, und ich seufze ob der Ablenkung. Sie lächeln mich an, ich grüße freundlich. Ihren eigenen Gruß verstehe ich nicht. Deutsch oder Französisch ist es nicht, das hätte ich erkannt. Etwas Skandinavisches? Sie tragen edle, schlichte Kleidung, haben tatsächlich ein bisschen höfisches Gehabe an sich, ihre Hand ist locker bei ihm eingehakt. Die beiden wirken wie ein Königspaar. Ich erwarte fast, dass sie Passanten zuwinken, und insgeheim muss ich über meinen Gedanken schmunzeln.
„Haben Sie auch diese Claddagh-Ringe?“, fragt der Mann in sehr gutem Englisch, aber mit einem starken Akzent.
„In Silber oder Gold?“
„Bitte in Gold.“
Ich führe sie zu dem Schmuckständer, und er bedankt sich. Die beiden tuscheln und flüstern wie ein frisch verliebtes Paar.
Mir hat noch nie jemand einen Claddagh geschenkt.
Diese Erkenntnis versetzt mir einen kleinen Stich ins Herz. Thomas bestand auf einen Ring, der weniger symbolbehaftet ist. Doch ich liebe Schmuck, der etwas aussagt.
Der Ring mit seiner Bedeutung hat hier im County Galway seinen Ursprung und besteht aus zwei Händen, die ein Herz mit einer Krone halten. Liebe, Vertrauen, Treue. Für die meisten bedeutet er genau das, oder eben auch Freundschaft, je nachdem, wofür man ihn verwenden möchte.
Ich umfasse den unter meinem Pullover verborgenen Kettenanhänger, der sich meiner Körperwärme angepasst hat. Ethan hat mir das keltische Kreuz zum achtzehnten Geburtstag geschenkt.
Einige Souvenirs im Laden gestalte ich selbst, und das Kreuz ist mit seinen verschlungenen Ornamenten ein wahrer Fundus an Inspiration. Mich beflügeln die feinen Verzierungen auf ihm.
Mein Blick fällt auf ein Glas, das ich kunstvoll mit keltischen Knoten graviert habe. Hauptsächlich fertige ich solche Einzelstücke, die bei den Touristen immer beliebt sind, sehr zur Freude von Mum.
Doch die Kette besitzt für mich zusätzlich eine Symbolik, die vielen nicht mehr bewusst ist. Sie erschafft eine Verbindung zwischen dem alten Irland mit all seinen Legenden und dem christlichen Glauben.
Worin steckt der wahre Kern?
In beidem?
Mir gefällt die Vorstellung.
Das Ehepaar kommt zur Kasse, sie lächelt glücklich, während er den Ring bezahlt. Einerseits reißen sie mich aus meinen Überlegungen, andererseits geben sie mir Anlass zum Nachdenken.
Hand in Hand verlassen sie das Geschäft, und ich schaue ihnen noch lange nach.