Читать книгу Frühlingserwachen - Tanja Bern - Страница 7

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In dieser Nacht finde ich kaum Schlaf und fühle mich am nächsten Morgen völlig übernächtigt. Ethan sitzt mir am Frühstückstisch gegenüber und sieht ähnlich verschlafen aus.

Ich habe ihm noch keine Antwort geben können. Einen konkreten Gegenvorschlag gibt es nicht. Ich muss mich zuerst daran gewöhnen, dass mein Traum durch Ethan wieder möglich wird. Im Moment habe ich nicht die geringste Ahnung, wie ich das Ganze finanziell umsetzen sollte.

Ich bestreiche meinen Toast mit Marmelade. Ethan löffelt die weißen Bohnen in Tomatensoße und langt nach einem Spiegelei, das noch in der Pfanne auf dem Tisch warm gehalten wird.

Ich beobachte ihn, beiße von meinem Toast ab, schneide die gegrillte Tomate in der Mitte durch, ohne groß hinzusehen.

„Wann musst du fort?“, frage ich, um gewappnet zu sein.

„Ich fahre gleich noch mal zu Megan, um einige Dinge zu regeln. Heute Nachmittag muss ich dann aufbrechen.“

„Sylvie lässt keine Ruhe, was?“

„Sie hat schon die ersten Buchungen. Im Frühsommer leite ich die erste Tour. Deshalb muss ich das beenden.“ Er legt das Besteck hin, lehnt sich zurück. „Obwohl ich am liebsten alles canceln würde. Es ist gerade alles so … verworren.“

„Ich kümmere mich um Megan, sollte sie was brauchen. Und du bist ja nur eine Woche weg.“

Ethan zieht skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Ich möchte dir nicht zumuten, dich mit ihr zu befassen.“

„So schlimm ist sie nicht.“

„Sínead …“

„Ich meine es ernst. Beende du deinen Job, damit die Tour im Sommer steht, ich kümmere mich hier um alles weitere.“ Ich sehe, dass er protestieren will und halte ihn mit einer Geste auf. „Ich bin erwachsen, es ist okay. Sag mir nur, wo sie untergekommen ist.“

„In Glenarde House.“

„Alles klar, das kenne ich.“

„Und du bist sicher, dass …“

„Vertrau mir mal ein bisschen. Ich bin trotz allem noch deine beste Freundin.“ Ich sehe, dass ihm die Gesichtszüge entgleisen, weil er nicht einschätzen kann, wie ich es meine. Ich lächle ihn zuversichtlich an, beuge mich vor und küsse ihn auf den Mund. „Keine Sorge, das andere gilt auch noch.“

„Du hast mich ganz schön erschreckt.“

„Ich kann doch beides sein, oder nicht?“

„Das will ich stark hoffen.“

Später verabschieden wir uns, wie schon einmal. Obwohl er nach dem Besuch bei Megan sicher noch einmal nach Hause kommen wird, werde ich ihn wirklich erst in etwa einer Woche wiedersehen. Denn ich muss zu Mum in Murphy’s Gift Shop.

Mich befällt ein flaues Gefühl in der Magengegend, als Ethan die Tür hinter sich schließt. Vehement verdränge ich es, versuche mich anderweitig zu beschäftigen.

Sofort schleicht sich die schwarze Katze von Ray Brody in meine Gedanken. Ob sich überhaupt jemand um sie kümmert? Ich glaube es nicht. Die Erinnerung an ihr Maunzen, ihr bettelndes Anschmiegen lässt mich nicht los. Ich schaue auf die Uhr, es ist noch früh.

Kurzerhand hieve ich mein Fahrrad aus dem Keller, fahre in den nächsten Supermarkt und kaufe Katzenfutter.

Ich ziehe mir die Kapuze meines Parkas tief in die Stirn und trotze dem Nieselregen, der heute die Landschaft stetig durchfeuchtet. Der Weg zu Ray Brodys Farm kommt mir länger vor als beim letzten Mal. Vielleicht bin ich heute ungeduldiger, weil ich es kaum abwarten kann, nach der kleinen Schwarzen zu sehen und nicht von Flucht angetrieben bin.

Ich fahre an dem Unterstand vorbei, wo ich Jacob kennengelernt habe. Ob ich den Priester noch einmal wiedersehe?

Die alte Farm kommt in Sicht. Ich stelle das Rad am Wegesrand ab, klettere über die Trockenmauer und wage mich näher an das Gehöft heran. Der Regen verwandelt sich in einen heftigen Schauer, und ich flüchte unter das Vordach.

„Hey, Kleine, bist du hier irgendwo?“ Ich höre ein leises Maunzen und sehe mich um. „Wo bist du?“

Ich erspähe sie unter einem Holzstapel.

„Na, komm her.“

Langsam hocke ich mich hin, zeige ihr das Katzenfutter, öffne die Lasche der Dose. Das Geräusch scheint sie zu kennen, denn sie kommt hervor und rennt zu mir unter das Dach. Mit hoch aufgerichtetem Schwanz läuft sie aufgeregt um mich herum. Ich streichle ihr über das nasse Fell. Zittert sie etwa? Vielleicht vor Aufregung. Oder doch vor Kälte?

Ich ziehe den Verschluss der Dose ab, hole mit einem mitgebrachten Löffel etwas Futter raus und lege es ihr auf den Boden. Einen Teller habe ich vergessen. Binnen Sekunden verschlingt sie den Happen und verlangt nach mehr. Ich gebe ihr schließlich die komplette Dose und sehe zu, wie sie gierig frisst.

„Du armes, kleines Ding“, murmle ich und streichle ihr sanft über den Rücken.

Ich erwäge tatsächlich, sie mitzunehmen, verwerfe die Idee jedoch sofort. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob sie zwischendurch versorgt wird oder nicht. Außerdem ist sie das freie Leben auf der Farm gewöhnt. In der kleinen Wohnung wäre sie bestimmt nicht glücklich. Ich fühle mich hin- und her gerissen.

„Ich muss jetzt zur Arbeit, aber ich verspreche dir, dass ich wiederkomme.“

Sie lässt sich das Köpfchen kraulen, schmiegt sich an mein Bein. Ich richte mich aus der unbequemen Hocke wieder auf, sie scheint sofort zu verstehen, dass ich fortgehen muss, denn sie entfernt sich. Zuerst denke ich, dass sie wieder unter den Holzstapel flüchtet, doch da entdecke ich, dass sie tatsächlich ein Schlupfloch ins Haus gefunden hat. Ein kleines Kellerfenster ist einen Spaltbreit offen, gerade so, dass sie hineinhuschen kann.

Ich seufze erleichtert auf und wende meinen Blick auf die hügeligen Wiesen, die in Dunst gehüllt sind. Der kleine Wald ist nur als Schemen zu sehen, ich höre das Zwitschern der Amseln.

Ich fühle mich wohl an diesem Ort. Warum das so ist, kann ich nicht sagen, aber hier fühle ich einen besonderen Frieden.

Noch einmal sehe ich zu dem Spalt, in dem die Katze verschwunden ist. „Du brauchst einen Namen“, flüstere ich.

Mit einem Blick auf die Uhr reiße ich mich los und gehe zurück zu meinem Fahrrad, trockne meinen Sattel mit einem Taschentuch und radle zurück in die Stadt. Während der Fahrt denke ich darüber nach, wie ich meine kleine Freundin nennen könnte. Mir huscht ein Lächeln über die Lippen – Fia.

Gut gelaunt trete ich etwas später in Mums Laden. Sie ordnet gerade die Wollpullover nach Größen und begrüßt mich.

„Guten Morgen, Mum. Bist du wieder bei deiner Sisyphusarbeit?“

„Ja“, antwortet sie mit einem Seufzen. „Ich kann einfach nicht verstehen, warum die Kunden die Pullover und Shirts jedes Mal falsch zurückhängen. Ich meine, jeder kennt doch seine Größe, und diese ist mit gut sichtbaren Schildern gekennzeichnet.“

„Reine Bequemlichkeit.“

Ich helfe ihr und erinnere mich plötzlich an Brenda und Declan Doherty, die in den Wicklow Mountains eine Schaffarm besitzen.

„Da wir gerade von Pullovern sprechen: Ich habe auf meiner Abenteuerreise mit Ethan ein Ehepaar kennengelernt, die beiden halten Crossbredschafe. Brenda Doherty könnte uns mit Wolle und auch handgefertigten Pullovern beliefern. Hättest du Interesse daran?“

„Das kommt auf den Einkaufspreis an.“

„Ich glaube nicht, dass der überteuert wäre. Die Dohertys haben nur eine kleine Farm, mitten in den Wicklow Mountains.“

Mum schaut zu mir hin und setzt ihr Geschäftslächeln auf. „Sag mir was Konkretes, dann kann ich dir sagen, ob ich Interesse habe.“

„Okay, ich ruf sie nachher mal an.“

„Ich habe übrigens eine Gravurbestellung. Eine Kundin möchte ihren Namen mit keltischen Verzierungen auf einen der Kaffeebecher haben.“

„Welche Farbe?“

„Da muss ich nachschauen, Moment.“

Sie geht zur Kasse und holt ihre Karteikarten hervor, ich beende das Sortieren der Wollpullover und geselle mich zu ihr. „Sicher in irischem Grün, oder?“, frage ich schmunzelnd.

„Nein, sie möchte die violette Tasse.“

„Na, das ist mal was Neues. Haben wir überhaupt noch welche da?“

„Hier oben ist nur noch die in der Ausstellung.“

Die Türglocke bimmelt, und ein älterer Herr kommt in den Laden.

„Ich geh mal runter ins Lager.“

Mum haucht mir einen Kuss auf die Wange und begrüßt die neue Kundschaft.

Der Treppenflur ist nur spärlich beleuchtet, und ich mag die Kellergewölbe des alten Hauses nicht besonders. Als Kind musste ich mich regelrecht überwinden, hier herunter zu gehen.

Die alte Eichentür knarrt, als ich sie öffne, ein Luftzug kommt mir entgegen. Ist das Fenster wieder undicht? Ich schalte das Licht ein und orientiere mich kurz. Die Kartons mit den Tassen stehen ganz hinten links auf einem Regal, ich sehe die Aufschrift der Firma. Als ich über verstaubte, aussortierte Bücher steige und mich durch transparente Verpackungen voller Leprechauns kämpfe, flackert die Glühlampe über mir. Ich sehe noch das freche Grinsen einer der kleinen Koboldfiguren, da wird es stockdunkel. Auch das automatische Flurlicht ist bereits erloschen.

Mir entschlüpft ein leiser Fluch.

Ich taste mich durch den dunklen Raum und versuche zurück ins Treppenhaus zu gelangen, suche nach dem Lichtschalter. Draußen donnert es leise, ich höre Regenrauschen. Meine Hand streift durch Spinnengewebe, und ich ziehe sie rasch zurück. Mit einem tiefen Durchatmen entferne ich das Gespinst von meiner Haut, gehe weiter durch die Dunkelheit. Hinter mir raschelt es. Ich bleibe stehen und horche. Haben sich hier Mäuse eingenistet?

Ich denke an Fia. Wäre sie hier, würde sich dieses Problem wahrscheinlich von selbst regeln. Aber mich stören die Kleintiere nicht. Ich hoffe lediglich, dass sie nichts Wichtiges anknabbern.

Etwas schlägt sachte gegen das geschlossene Rollo des Kellerfensters.

Mir wird unheimlich zumute, ich beschleunige meinen Gang zum Flur und stolpere prompt über etwas, das auf meinem Weg liegt. Ich kann mich auffangen, höre jedoch, dass etwas umkippt.

Endlich erhasche ich einen vagen Lichtschein, der wohl vom Laden oben kommt. Ich merke, dass ich zu weit nach links abgekommen bin, finde endlich den Flur und auch den Schalter, der das Dämmerlicht an der Treppe einschaltet. Ich steuere Dads Werkzeugkeller an, weil er dort auch die Glühlampen aufbewahrt. Schnell werde ich fündig.

Damit das Flurlicht mir nicht wieder einen Strich durch die Rechnung macht und erlischt, öffne ich den Verteilerkasten und schiebe den Regler runter, um das automatische Ausschalten zu verhindern. Mit einer Trittleiter klettere ich im Lager rauf zur Lampe und wechsle die Birne. Die starke Leuchtkraft überrascht mich. Geblendet schließe ich die Augen und halte mich am Metallsteg der Leiter fest.

„Wow, das ist wohl keine der alten Energiesparlampen.“

Diese brauchen nämlich ewig, bis sie annähernd hell werden. Dad hat einen Riesenvorrat davon. Aber ich muss eine andere erwischt haben. So ausgeleuchtet habe ich das Lager noch nie gesehen.

Ich stelle die Trittleiter an ihren Platz und aktiviere wieder das automatische Ausschalten des Flurlichts, damit Mum mir keinen Vortrag übers Stromsparen hält. In der umgekippten Kiste finde ich ältere Unterlagen. Neugierig blättere ich sie durch.

„Lohnsteuerjahresausgleiche …“

Mum hat wohl die alten Papiere hier heruntergebracht, um sie zu archivieren. Verwundert blicke ich auf die Zahlen und stelle fest, dass in den letzten Jahren gleichbleibend gute Einnahmen erzielt wurden. Auch die geschäftlichen Ausgaben hielten sich in Grenzen, und vor allem in der Saison war gut verkauft worden. Aber bei Fergus’ Autounfall deutete meine Familie an, dass Mums Geschäft in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Was ist geschehen?

Ratlos ordne ich alles und packe es zurück in den Karton.

„Sínead?“, ruft meine Mum von oben. „Hast du dich im Lager verlaufen?“

„Fast hätte ich das“, antworte ich mit lauter Stimme. „Die Glühbirne hat den Geist aufgegeben.“

Sie hakt nicht weiter nach, denn sie weiß, dass ich mich hier um alles kümmere.

Wieder schlägt etwas gegen das heruntergelassene Rollo, ein kühler Luftzug erfasst mich. Der Regen prasselt nun laut gegen den Rollladen. In dem hellen Licht sehe ich, dass die Kartons, die direkt am Fenster stehen, bereits feucht sind. Es gibt also wirklich eine undichte Stelle.

Ich gehe in den Flur zurück.

„Mum?“

Schritte nähern sich. „Ja?“

„Es dauert hier unten etwas länger. Das Fenster ist undicht.“

„Dad wollte es doch reparieren!“

„Na ja, er hat das Rollo runtergezogen.“

„Hmpf, der kriegt nachher was zu hören.“

In Dads Haut will ich aktuell nicht stecken. Mum kann fies werden, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es geplant hat.

Ich begebe mich wieder ins Lager und räume alles weg, was in Fensternähe steht. Die feucht gewordenen Kartons kontrolliere ich. Zum Glück hat die Ware keinen Schaden genommen.

Das kleine Kellerfenster ist eher eine Luke auf Augenhöhe. Das Rollo hat Dad damals angebracht, damit man nicht so leicht ins Lager einbrechen kann. Eine schlanke Person könnte sich hindurchzwängen. Das Fenster hingegen scheint intakt zu sein, obwohl ich mich frage, woher der Luftzug kam, den ich zweimal gespürt habe. Ich sehe mich um. Die Feuchtigkeit kommt weiter unten aus dem Mauerwerk.

„Das ist gar nicht gut“, murmle ich.

Am Boden hat sich eine Pfütze gebildet, die Wand ist durchfeuchtet. Ich ziehe das Rollo hoch und luge durch die Scheibe. Ich verkneife mir einen weiteren Fluch und seufze nur leise. Der Lichtschacht unter dem Fenster besitzt einen Abfluss für das Grundwasser. Doch hier fließt rein gar nichts ab. Das Wasser steht sicher zehn Zentimeter hoch und durchdringt das alte Mauerwerk. Wahrscheinlich ist der Abfluss mit irgendetwas verstopft.

Ich verlasse das Lager, sage Mum kurz Bescheid und ziehe meinen Parka über. Mum nickt nur, da sie gerade eine Kundin berät. Beide stehen beim keltischen Schmuck.

Ich laufe durch den Regen ums Haus herum. Manchmal ist der Abfluss mit Unrat verstopft, das die Leute einfach auf die Straße werfen. Ich kremple meinen Ärmel auf und tauche in das Dreckwasser ein. Ich fische eine alte Plastiktüte, einen Kaffeebecher und … einen tropfnassen Socken hervor. Ungläubig starre ich auf das Teil und wünschte mir, ich hätte mir Mums Einmal-Handschuhe aus der Küche geholt. Schließlich finde ich noch einen Ast, der wohl von dem Regen angespült worden ist. Das Regenwasser läuft gluckernd ab.

Von außen sehe ich nun, dass oben im Fenster tatsächlich ein Spalt ist. Dad hat es also wirklich noch nicht repariert. Je nach Wetterlage verzieht sich manchmal der Flügel und muss dann neu justiert werden.

Ich will mich aufrichten, den Müll entsorgen, als mir noch etwas auffällt. Unten im Lichtschacht ist ein Riss im Mauerwerk. Das erklärt wohl das Eindringen der Nässe.

„Oh je. Dad, wie lange hast du das hier nicht kontrolliert?“, murmle ich.

Ich erwäge ernsthaft, es Mum zu verheimlichen und es nur meinem Dad zu sagen. Aber als ich zurück ins Geschäft komme, schaut sie mich schon erwartungsvoll an.

„Und?“

„Der Abguss war verstopft. Ich sag Dad trotzdem Bescheid, dass er noch mal gucken soll.“

„Er hat das Fenster also nicht repariert?“

Ich zucke nur mit den Schultern. „Ich wollte wegen des Abflusses mit ihm reden.“

„Ich dachte, der war nur verstopft.“

„Ja, ich meine nur, dass ich mit Dad überlege, wie wir verhindern können, dass der Unrat reinfällt.“

„Er kann das tun, was ich schon seit zwei Jahren predige! Ein Gitter anbringen.“

Ich spüre, dass sie sich wieder aufregt. „Du weißt, dass das bei unserer Eigenkonstruktion nicht so einfach ist. Lass mich das mit Dad machen, du hast schon genug zu tun.“

„Na, wenn du es in die Hand nimmst, passiert wenigstens was“, grummelt sie.

„Ach Mum, nun sei doch nicht wieder sauer auf Dad. Er geht auch jeden Tag arbeiten.“

Mum weicht meinem Blick aus. „Nein, geht er nicht.“

Ich glaube, mich verhört zu haben. „Wie meinst du das?“

In diesem Moment stürzt ein junges Paar in unseren Laden und sucht Schutz vor dem Regenschauer. Wieder donnert es leise, jedoch weit entfernt. Ich starre Mum verwirrt an. Die ist schlagartig wie umgewandelt, setzt ein Lächeln auf und begrüßt freundlich ihre Kundschaft.

Ich sehe ein, dass dieses Gespräch aktuell nicht fortgeführt werden kann. „Ich bin dann wieder unten, Mum.“

Sie nickt mir knapp zu. Nachdenklich gehe ich wieder runter ins Lager, hole mir aus dem alten Bad im Keller einen Aufnehmer, um den Boden aufzuwischen.

Was meinte Mum damit? Hat Dad seinen Job verloren? Wieso weiß ich das nicht? Hat Thomas es doch irgendwie geschafft, dass ich mich von meiner Familie entferne? Dieser Gedanke nagt an mir.

Missmutig wische ich die Pfütze auf und sehe plötzlich etwas durch den Keller huschen. Draußen verebbt der Regen, es wird still. Da höre ich ein leises Fiepen rechts von mir.

Kommt das aus einem der Kartons?

Ich lege den Wischer beiseite und schleiche zu den Verpackungen im unteren Regal. Vorsichtig öffne ich nach und nach jeden Behälter. Ich seufze tief auf, als ich ganz hinten aufgehäufte Papierschnipsel, einen zerfetzten Putzlappen und kleine Kartonstückchen finde. Behutsam hebe ich ein wenig davon an und entdecke fünf winzige Mäuse, die ihre Augen noch geschlossen haben.

Mum erfährt besser nichts von den kleinen Untermietern im Karton. Das hier regle ich allein, wie schon einmal. Aber dafür benötige ich Futter zum Anlocken.

Ich gehe zur anderen Seite des Lagers, ziehe mir Handschuhe über und krame die große Mörtelwanne hervor. Dad hat mir beigebracht, wie man diese kleinen Tiere fängt, ohne sie zu töten. Mum würde wahrscheinlich Gift auslegen, da ist sie gnadenlos. Dad und ich sind da eher auf einer Wellenlänge.

Ich polstere den Boden der Wanne mit alten Lappen aus und lege überall zerknülltes Toilettenpapier hinein, damit sich die größeren Mäuse verstecken können und nicht gleich in Panik geraten. Am Schluss hole ich unser Winterfutter für die Vögel und bringe meine Spezialfalle zu dem Nest, das ich ganz vorsichtig in die Mörtelwanne umbette. Den Karton stelle ich zur Seite, um später nachzuprüfen, was sich darin befindet. Vielleicht ist es noch zu retten.

Ich gebe den Mäusen als Zugang ein schmales Brett, um auf die Kunststoffwanne zu kommen, und bastle noch eine Vorrichtung mit einer präparierten Plastikflasche, die ich mit einem Stab durchbohre und damit auf die Wanne lege. Wenn die Maus die Flasche betritt, wird diese sich drehen, und der kleine Nager fällt hinein. Die Wände sind so hoch und glatt, es gibt kein Entkommen mehr. Ich stelle noch ein flaches Schälchen mit Wasser dazu, später werde ich noch etwas Obst hineinlegen. Dann schalte ich das Licht aus und setze mich mit dem Karton auf die Treppe im Hausflur.

Ich schmunzle, als ich in der einen Ecke das Loch sehe, das die Mäusemutter reingenagt hat, um in die Pappschachtel zu kommen.

Ich hole die Unterlagen hervor und schüttle den getrockneten Schmutz ab. Obenauf liegt das Faltblatt eines Psychotherapeuten. Verwundert blättere ich den Flyer auf. Die Praxis ist darauf spezialisiert, Suchtkranken zu helfen.

Warum bewahrt Mum so etwas im Lager auf?

Ich durchforste weiter den Karton. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, als ich einige Rechnungen finde, von genau diesem Therapeuten. Mein Vater ist der Empfänger. Ich finde Rezeptkopien von Medikamenten, die ich nicht kenne. Verwirrt sehe ich auf die Unterlagen in meinen Händen. Bevor ich weitere Nachforschungen tätigen kann, erlischt das automatische Flurlicht, und ich sitze im Dunkeln.

Was hat das zu bedeuten?

Diese Unterlagen gehören auf keinen Fall ins Lager. Hat Mum sie dort vor mir und meinen Geschwistern versteckt? Mich erfasst ein ungutes Gefühl, das mir wie Übelkeit im Magen liegt.

Ich höre Mums Stimme, ihr Lachen, als sie mit einem Kunden spricht. Ihre spitzen Bemerkungen in Bezug auf Dad bekommen eine völlig andere Gewichtung. Die Türglocke ertönt, vermutlich bräuchte Mum meine Hilfe oben. Dennoch bleibe ich sitzen.

Und wenn Dad die Unterlagen hier verborgen hat? Nein, er würde sie nicht in Mums Lager bringen, er hätte sie wahrscheinlich vernichtet. Aus irgendeinem Grund bewahren meine Eltern diese Unterlagen auf.

Es ist plötzlich völlig ruhig, ich spüre mein Herz, nehme deutlich wahr, wie es in meinem Brustkorb schlägt. Ich habe das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen und hole tief Luft.

Aus dem Lager höre ich ein leises Trippeln, meine Vorrichtung mit der Plastikflasche macht ein surrendes Geräusch, und es raschelt leise in der Mörtelwanne. Wahrscheinlich hat sich die Mäusemutter von ihrem Nachwuchs nicht lange fernhalten lassen.

Ich halte verkrampft die Rechnungen in der Hand und bleibe im Dunkeln sitzen. Nach einiger Zeit höre ich, wie die gefangene Maus den Meisenknödel anknuspert. Das Licht im Flur geht an, und ich blinzle dagegen an.

„Sínead, was machst du hier auf der Treppe?“

Langsam lasse ich die Unterlagen zurück in den angeknabberten Karton gleiten. Ich stehe auf, schaue Mum aufmerksam an. Sie bemerkt als Erstes das Loch in dem Karton.

„Oh nein, schon wieder Mäuse? Ach, verflixt.“

„Darum kümmere ich mich schon, Mum.“

„Wahrscheinlich hast du wieder eure Konstruktion gebastelt, mh?“ Sie schüttelt unwillig den Kopf. „Einmal Gift ausgelegt, und der Spuk wäre vorbei.“

„Die Diskussion hattest du doch schon mit Dad. Es sind Lebewesen, die einfach überleben wollen.“

„Ja, ja … was hast du da überhaupt?“ Sie beäugt skeptisch den Karton.

Ich halte ihn ihr hin, damit sie hineinsehen kann. Mum erbleicht sichtlich, starrt auf den Flyer des Therapeuten.

„Sagst du mir was dazu, Mum?“

Ihr Gesichtsausdruck versteinert sich. „Nein“, bringt sie heiser hervor. „Rede mit deinem Dad.“

Sie lässt mich stehen, ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln. Ihr Verhalten trifft mich wie ein kleiner Pfeil ins Herz. Mit zusammengepressten Lippen bringe ich den Karton zurück ins Lager, hole mir die violette Tasse und gehe nach oben in den Laden. Mum weicht meinem Blick aus. Als eine neue Kundin kommt, überlasse ich sie meiner Mutter. Ich flüchte an meinen Arbeitstisch im Hinterzimmer, um die Tasse zu verzieren.

Enttäuschung durchflutet mich. So wenig vertraut mir Mum? Oder ist sie schlicht zu feige, mir zu sagen, was in unserer Familie geschieht? Ich denke an die finanziellen Probleme, die sie mir auch verschwiegen hat, obwohl ich im Murphy‘s Gift Shop seit Jahren arbeite.

Kopfschüttelnd entferne ich die Verpackung der Tasse und greife nach meinem Gravurgerät, stecke die Schleifspitze für Keramik ein. Die Karteikarte der Kundin liegt bereits auf dem Tisch, Mum muss sie schon hierhergebracht haben. Ich schaue wie erstarrt auf den Namen, den ich eingravieren soll.

„Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, murmle ich.

Der Name ist Megan.

Ich hoffe inständig, dass nicht Ethans schwangere Exfreundin diese Bestellung aufgegeben hat. Lieber stelle ich mir ein kleines Mädchen vor. Vielleicht bekommt sie die Tasse zum Geburtstag? Auf jeden Fall liebt sie Irland.

Das monotone Surren meines Gravurstiftes beruhigt mich. Für den Moment verblassen meine Sorgen, denn ich sehe vor meinem inneren Auge den freudestrahlenden Blick der Kleinen, wenn sie ihre Tasse das erste Mal sieht.

Die Buchstaben gelingen mir mühelos. Ich schalte das Gerät aus, schließe die Augen, versuche zu sehen, wohin mich diese neue Kunstarbeit bringen würde.

Hinter mir ist das Fenster auf Kipp, ich höre das zarte Zwitschern der Sperlinge. Gitarrenklänge werden vom Wind zu mir getragen, zusammen mit dem Geruch des Meeres.

Ein Lächeln huscht über meine Lippen, als ich die Lider hebe und meine Gravurarbeit fortsetze.

Ich zeichne aus der Schreibschrift heraus eine keltische Verzierung, mit der ich einen kleinen Vogel umrahme. Zwischen grazilen Ornamenten füge ich winzige Instrumente ein. Als Abschluss kommt mir ein Seestern in den Sinn, von einer Welle umspült. Denn ich rieche noch immer die Algen, denke an den Strand in Salthill, während ich die feinen Arme der Meereskreatur eingraviere.

„Sínead?“

Ich blinzle, brauche einen Augenblick, um aus meiner eigenen kleinen Welt hervorzukommen. Meine rechte Hand ist verkrampft. Ich schüttle sie leicht, um die Muskeln und Gelenke zu lockern.

Mum kommt näher. Ich zeige ihr die fertige Tasse. Sie nimmt sie behutsam an sich und streicht über die Gravur. „Eigentlich ist so etwas unbezahlbar.“

Sie lobt mich selten, darum schätze ich ihre Reaktion sehr.

„Ist die Kundin schon da?“

„Sie steht an der Kasse. Komm, sie würde dich bestimmt gerne kennenlernen.“

Ich möchte protestieren, denn ich bleibe lieber im Hintergrund, wenn es um meine künstlerische Arbeit geht, aber Mum fasst mich am Arm und zieht mich nach vorne zum Eingang.

Dort steht eine zartgliedrige Frau um die achtzig, kaum so groß wie unsere Theke. Als Mum ihr die Tasse zeigt, setzt sie rasch ihre Lesebrille auf und nimmt sie ehrfürchtig entgegen. Mit Tränen in den Augen schaut sie mich an.

„Und das haben Sie nur für mich gemacht?“

„Ja“, antworte ich ihr mit einem Lächeln.

„Miss Murphy, ich habe schon viel von Ihren Fähigkeiten gehört. Aber das hier übertrifft wirklich meine Erwartungen.“

„Das freut mich sehr.“

Ich packe ihr die Tasse in einen entsprechenden Karton und überlasse Mum die Bezahlung. Die alte Frau schenkt mir noch ein Lächeln, setzt sich ihre gepunktete Regenhaube auf und verlässt den Laden.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr und wundere mich, wie spät es schon ist. Wenn ich graviere, vergesse ich völlig die Zeit.

Ich höre Mum neben mir seufzen. „Geh hoch zu deinem Dad und rede mit ihm“, sagt sie leise und schaut mich dabei nicht an.

Mit diesem Satz zerstört sie meinen eben gewonnenen Frieden. Ohne eine Antwort hole ich den Flyer des Therapeuten, stopfe ihn in meine Jeanstasche und gehe in die Wohnung meiner Eltern, die sich direkt über dem Geschäft befindet.

Frühlingserwachen

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