Читать книгу SEELENKRATZER Skin Picking und Trichotillomanie - Tanja Heller - Страница 10
Оглавление1. Haut- und Haarmonster
Körperfokussierte Verhaltensstörungen
Body-focused repetitive behaviours (BFRB) sind monotone Verhaltensweisen, mit denen man sich selbst schadet. Wie zwanghaftes Lippenbeißen, Wangen- oder Nägelkauen, Haarereißen oder Hautkratzen, - reiben, - quetschen. Man führt sich keine Substanz zu, sondern hat die Droge - den eigenen Körper - immer dabei. Lebenslang. Oft werden nervöse Verhaltensweisen von Familienmitgliedern durch Modelllernen nachgeahmt. So ist das Verhalten sozial akzeptiert und wird übernommen.
Skin Picking
Skin Picking (im Folgenden SP) bezeichnet zwanghaftes Hautknibbeln: Dermatillomanie. Die Manipulation von Wunden, das Aufreißen alter Blessuren und somit die Verhinderung des Heilungsprozesses. Mit Zuhilfenahme von Nadeln, Pinzetten, Scheren, Messern und Klingen. Auch Härchen werden entfernt. Verwandt mit Haut knabbern und essen: Dermaphagie.
SP ist eine Impulskontrollstörung. Die episodenhaften Knibbelimpulse an der Haut, stets mit der positiven Absicht sein Hautbild zu verbessern, steigern sich bis in eine Trance, aus der sich Betroffene stundenlang nicht befreien können. Das zwanghafte Knibbeln kommt wahrscheinlich häufiger vor als man vermutet, weil es verheimlicht wird. In neueren Publikationen spricht man von einer Wahrscheinlichkeit von über 5 % der Bevölkerung. 60-90 % sind Frauen. Sie können dem starken Drang nichts entgegensetzen und tun alles, damit Wunden nicht verheilen. Klassischer Beginn ist die Streuselkuchenzeit: Akne in der Pubertät. Eine psychische Störung liegt vor, wenn man die Kontrolle über das Verhalten verloren hat.
Die Kratzer
Wovon wollen sich Skin Picker befreien? Was macht uns Druck? Was muss da raus? Für was ist es ein Ventil? Übertriebene Körperpflege ist zutiefst menschlich. Man entfernt sich unbewusst eine Hautschuppe, wenn der Chef Überstunden ankündigt. Das ist Stressabbau im frühen Stadium. Bekannt auch aus dem Tierreich als Übersprungshandlung. Gänse und Hasen zeigen bei Stress ein exzessives Putzverhalten. Gerät es außer Kontrolle, ist es eine psychische Störung. Wie Trichotillomanie.
Trichotillomanie
Die Sucht, sich die Kopf- oder Körperhaare auszureißen. Ähnlich Haare essen und lutschen: Trichophagie. Haare schneiden aus Wut, Trauer, Selbsthass: Trichotemnomanie.
Trich (Haar), tillo (rupfen), mania (Leidenschaft, Liebhaberei, Trieb, Sucht). Trichotillomanie (im Folgenden Trich) ist eine Impulskontrollstörung. Eine neurobiologische Verhaltensstörung aus dem Bereich der Zwangsspektrumsstörungen, von der es keine genauen Zahlen gibt aufgrund der hohen Dunkelziffer. Vermutlich sind bis 5 % der Bevölkerung betroffen. Du bist nicht allein! Wir sind viele! Man kann dem intensiven Impuls, sich die Haare auszureißen, bei zunehmender Spannung keinen Widerstand leisten. Man kämpft jeden Tag dagegen an. Du bist nicht willensschwach. Du hast keine Schuld. Ist das nicht wunderbar? Du musst dich nicht dafür schämen! Oft geschieht es unbewusst. Wie eine Tüte Chips essen. „Hab ich gar nicht mitbekommen.“ Es hat etwas Hypnotisches, Meditatives. Ein tranceähnlicher Zustand: „Ich wollte doch nur mal kurz vorm Spiegel ...“ und dann findet man den Boden voll mit Strähnen. Oder du fragst dich: „Wo sind bloß meine Augenbrauen hin?“
Die Ausreißer
Die Ursachen von Trich sind unerforscht. Mangelndes Selbstwertgefühl, Perfektionismus, ein Trauma, die Anlage zu Zwangserkrankungen sowie emotionale Belastungen bei Pubertätsbeginn sind meist die Eintrittskarte. In Studien wurde ein niedriger Serotoninspiegel als Auslöser oder Folge festgestellt. Bei mir auch im Neurostressprofil. Serotonin wirkt wie ein Antidepressivum. Immunstörungen werden vermutet. Man züchtet Mäuse mit Putzfimmel. Sie haben defekte Immunzellen. Hoxb8-Mutation.
Menschen mit Trich verletzen und entstellen sich nicht absichtlich. Sie regulieren ihre Emotionsspannung, oft automatisiert. Die Hände suchen sich ihren Weg von alleine. Die vorausgehenden Anspannungsgefühle werden nicht wahrgenommen und keine Erlösung danach. Welche Haare können betroffen sein? Alle! Meistens werden die Kopfhaare gerissen. Beliebt sind auch Augenbrauen und Wimpern. Kinder reißen auch Puppen. Und Haustiere sind nicht vor ihnen sicher. Räusper! Einmal krachte es laut, als ich unserem Hund heimlich ein viel zu dickes Barthaar entfernte. Alle sahen mich fragend an. Besonders der Hund. Ich war in Erklärungsnot. Die Krankheit hat verheerende Folgen für die Selbstachtung und das Selbstbewusstsein. Man fühlt sich durch den Verlust der Haare nackt und erbärmlich, seines natürlichen Körperschmucks beraubt. Das Schlimmste: Man tut sich die Verstümmelung ja immer wieder selber an. Und traut sich selbst nicht mehr über den Weg, weil man trotz aller Vorsätze nicht davon loskommt.
Ein haarige Angelegenheit
Es ist wie eine geheime Mission, die du erfüllen musst: Die Grauen, die Fettigen, die Kaputten. Die du aufgrund ihrer Farbe oder Struktur als Fehlhaare interpretierst. Sie haben kein Bleiberecht. Sie müssen weg! Einzelne, Strähnen oder ganze Büschel. Dein Arbeitsauftrag verändert sich mit der Zeit. Reißen fühlte sich für mich lange Zeit so normal an, dass ich das gar nicht hinterfragt habe. Ich riss anfangs nur dicke, schwarze, geriffelte Haare. Sie sind heute alle weiß, dünn und seidig. Ich liebe sie und sie dürfen bleiben. Meine Hände suchen jetzt ritualisiert und automatisch igelige in den Augenbrauen. Kopfhaare reiße ich nicht mehr. Ich fühle nur ihre geriffelte Struktur. Beim Telefonieren, Fernsehen oder in geistiger Abwesenheit. Ich habe eine leichte Trich. Eine hartnäckige Trich!
Manche lassen sie über die Lippen oder durch die Finger gleiten oder machen Knoten, drehen und zwirbeln sie. Besondere Highlights: spalten, lutschen oder essen des Haars. Achtung, jetzt wird es eklig! Ich mag besonders, wenn die Haarwurzel nass ist. Dann fühle ich mich porentief gereinigt. Damit streiche ich über meine Haut. Am liebsten würde ich die schwarze Haarfarbe in der Wurzel auf einem Taschentuch zermalmen und damit malen. Das erlaube ich mir aber selten. Die Haarzwiebel ist eine besondere Beute für mich - die Krönung. Eine Art Säckchen, die eigentliche Haarfabrik: Das verdickte Ende der Haarwurzel wächst schräg in die Unterhaut.
Manche Ausreißer sind lange abstinent. Sie rupfen nur gelegentlich. Oder bei besonderer Belastung. Andere täglich. Nach dem überraschenden Auszug meiner Tochter zupfte ich nicht mehr kontrolliert oder gelegentlich. Wie all die Jahre zuvor. Mein Tag hatte plötzlich keine Struktur mehr. SP gab sie mir. Ab da zupfte ich täglich mehrere Stunden. Vor der Periode reißen Frauen stärker. Ich fühle mich dann gewaltbereit! Ausreißer und Kratzer sind meist gehemmte Menschen, die ihre Aggressionen nicht ausleben können. Alle Körperhaare können bewusst ausgesucht werden. Bei mir verschieben sich die Baustellen von selbst. Die Krankheit hat sich generalisiert. Ich kann das nicht mehr beeinflussen. „Ich zupfe jetzt mal Wimpern. Damit sich meine Augenbrauen erholen können“ ist nicht! Wäre praktisch. Aber: Wimpern sind meinem Monster egal.
Chronik einer Monsterparty
1. Du bist geil drauf. Du spürst einen Spannungsbogen aus Lust und Anspannung. Oder du spürst nichts und machst es impulsiv: Unüberlegt. Unerwartet. Plötzlich. Wie ferngesteuert. Ich kenne beides.
2. Du reißt oder knibbelst. Das fühlt sich richtig gut an. Es hat etwas Erlösendes.
3. Es wird dir bewusst, was du getan hat.
4. Du bereust es.
5. Du machst dir Vorwürfe und schämst dich.
6. Du wertest dich ab: „Ich bin eine Null! Ich habe mich einfach nicht im Griff! Ich werde das nie schaffen! Ich habe wieder versagt.“
7. Du hast Wiedergutmachungsrituale: die verletzten Stellen kaschieren, kühlen oder cremen. Baden, duschen. Maske, Peelings.
Nicht jeder durchläuft alle Phasen.