Читать книгу Cináed - Tanja Hoefliger - Страница 5

Kapitel zwei

Оглавление

Als ich am Donnerstagmorgen meinen Wecker ausmachte, hörte ich unten schon geschäftiges Treiben. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, meiner Gewohnheit nachzugehen und wie jeden Morgen eine Dusche zu nehmen. Meine blonden Haare waren eigentlich zu lang, sodass sich ein paar Wellen formten, die ich aber mithilfe des Föhns und jeder Menge Haargel in den Griff bekam.

Eigentlich hatte ich gar kein so schlechtes Gefühl mit mir und meinem Selbstbewusstsein. Bis auf die Sache mit Sue und Ken.

Sofort verdrängte ich den trüben Gedanken und machte mich auf den Weg nach unten, um die ersten Geburtstagsglückwünsche entgegenzunehmen. Selbst meine beiden älteren Schwestern Maggie und Jil, die in Conwy arbeiteten, waren unter den überschwänglichen Gratulanten.

Als Letzter stand Dad vor mir. Er überreichte mir ein kleines, verpacktes Geschenk.

,,Alles Gute zum Geburtstag, Daniel! Mom und ich haben heute für dich ein etwas außergewöhnlicheres Geschenk. Wenn es dich nicht ansprechen sollte, bekommst du natürlich ein anderes.“

Die Worte machten mich zwar neugierig, aber da es in unserer Familie ein Geburtstagsritual war, zum einen während des Frühstücks zu schweigen und zum anderen eins der Geschenke erst am Abend zu öffnen, wählte ich enttäuscht das kleine Päckchen meiner Eltern dafür aus. Denn eins stand mit Sicherheit fest: Ein neues Brett zum Wellenreiten würde ich darin nicht vorfinden. Auch keins zum Zusammenklappen. Nachdem ich die Geschenke meiner Schwestern ausgepackt hatte, stand ich vom Tisch auf, nickte jedem freundlich zu und machte mich auf den Weg zur Schule.

Draußen blies ein angenehm kühler Wind, doch ich war so in Gedanken, dass ich ihn kaum wahrnahm.

Na super! Selbst ein materieller Wunsch sollte mir verwehrt bleiben. Kein neues Surfboard. Und in der Schule würde ich mich wieder selbst kasteien. Seit Jack und ich Sue mit Ken gesehen hatten, strafte sie mich mit noch weniger Beachtung als zuvor – wenn das überhaupt möglich war.

In Gedanken versunken stand ich immer noch auf der Türschwelle. Wieder wurde die Haustür hinter mir aufgerissen. Genervt wollte ich meiner Schwester endgültig die Meinung sagen, aber als ich mich umdrehte, stand nicht Emma im Türrahmen.

Es war Mom, mit glasigen Augen.

Zurück in der Diele umarmte sie mich fest und überschwänglich und sagte mit leicht zittriger Stimme: „Danny, ich bin fürchterlich neugierig darauf, ob dir unser Geschenk gefällt, und ich kann einfach nicht bis heute Abend warten.“

Sie streckte mir das kleine Päckchen entgegen. Da ich ihr nur schlecht etwas abschlagen konnte, öffnete ich das letzte Geschenk doch noch am Morgen. Was zum Vorschein kam, konnte ich kaum glauben: Es war ein Stift! Ein stinknormaler Stift! Weder hatte er eine besondere Gravur noch hatte er ein besonderes Aussehen. Es war ein durchsichtiger Stift, in dem eine dicke, rote Mine zu sehen war. Das war aber auch das einzige Außergewöhnliche an ihm.

Unter dem erwartungsvollen Blick meiner Mom packte ich ihn aus der Plastikhülle. Als ich wieder aufsah, um mich für das „unglaublich supertolle Geschenk“ zu bedanken, sah ich ins Leere. Ein Schlag und Mom lag ohnmächtig zu meinen Füßen. Meine restliche Familie war sofort da und kümmerte sich um Mom. Nachdem sie in ihrem Bett wieder zu sich gekommen war, versicherte sie mir, dass ich getrost zur Schule gehen könnte.

Widerwillig machte ich mich auf den Weg.

Doch das hätte ich lieber bleiben lassen sollen!

Prof. Zac hatte die nächste Gelegenheit gefunden, mir eine weitere Extrastunde aufzubrummen. Natürlich schenkte er mir keinen Glauben, als ich ihm in etwas abgewandelter Form von einem Zwischenfall in meiner Familie erzählte.

Somit konnte ich mich über zwei Stunden mit kniffligen Englischgrammatikaufgaben freuen, die mich nach dem eigentlichen Unterricht am Nachmittag erwarteten. Mit einem Stein im Magen verließ ich dann endlich das Schulgebäude. Sauer und enttäuscht hatte ich nicht die geringste Lust mehr auf meinen Geburtstag, geschweige denn auf den komischen Stift in meiner Jackentasche.

Ich steuerte auf einen Papierkorb zu und zog das grob wieder eingepackte Geschenk meiner Eltern heraus. Mit Zorn, der ins Unermessliche gestiegen war, betrachtete ich den Stift noch einmal. Dann wickelte ich ihn aus der Folie und donnerte ihn mit voller Wucht in den Papierkorb. Warum ich anschließend tat, was ich tat, wusste ich nicht, doch ich beugte mich sofort über den Abfalleimer, um den Stift zu suchen. Als ich ihn entdeckte hatte und wieder herausholte, durchströmte mich ein unglaubliches Glücksgefühl, ihn wieder zwischen meinen Fingern zu spüren.

Na, jetzt geht’s aber los! Es ist doch bloß ein blöder Stift!

Ich war wohl auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Überrascht von den Glücksgefühlen, die ein gewöhnlicher roter Stift in meiner Hand hervorrief, ließ ich ihn erneut in den Mülleimer fallen. Fast fluchtartig rannte ich davon. Weg von dem Schulgelände! Erst recht aber weg von dem Papierkorb!

Nachdem ich mehrere Hundert Meter gejoggt war und ein aufkommender Sturm meinen Kopf mit voller Wucht durchblies, ging es mir ein klein wenig besser.

Zuvor hatte ich nur eins gewollt: umkehren und den Stift in meinen Händen halten. Umso dankbarer war ich, als mir einige meiner Schulfreunde, darunter auch Jack, entgegenkamen. Sie erzählten mir, dass ich gar keine andere Wahl hätte, als mit ihnen zum Bowling zu kommen, da sie die Bahn bereits gebucht und bezahlt hatten.

Es wurde tatsächlich ein lustiger und unbeschwerter Abend.

Doch ein paar Stunden später, gerade als ich unsere Haustüre hinter mir verriegelt hatte, dachte ich mit einem unglaublichen Verlustgefühl an den Stift.

Stimmen drangen zu mir in den Flur. Im Wohnzimmer sah ich, dass wir einen Gast hatten. Meine Eltern unterhielten sich angeregt mit ihm. Sie bemerkten mich erst, als ich mich räusperte. Sofort stand der fremde Mann mit seinen wirren grauen Haaren auf.

Er lächelte mich an und säuselte: „Guten Tag, mein Name ist Sir Edmund. Du bist sicher Daniel, schön, dich kennenzulernen, und auch von mir die besten Glückwünsche zu deinem Geburtstag!“

Bei seinen Worten suchte ich den Blick meiner Eltern, doch sie vermieden es, mich anzusehen.

Tonlos brachte ich nur noch hervor: „Danke. Ich bin müde, gute Nacht.“

In meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett. Auf meinem Notebook sah ich mir all die Boards an, von denen ich schon lange geträumt hatte. Nach kurzer Zeit musste ich mir eingestehen, dass es keinen Sinn machte. Tief in meinem Herzen hatte ich auf eins der genialen, schnellen und windschlüpfrigen Boards gehofft.

Die Enttäuschung saß ziemlich tief.

Erneut wuchs ein riesiger Kloß in meinem Hals. Das Gefühl war mir neu. Wie so vieles in meinem Leben – seit Kurzem.

Das Letzte, woran ich dachte, war jener seltsame Stift mit seiner roten Mine. Schließlich sank ich in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen traf ich in der Diele auf Sir Edmund. Überrascht starrte ich ihn an. Was macht der denn noch hier?

„Der Sturm!“, erklärte er lapidar.

Doch draußen war es bereits seit meinem Nachhauseweg am vorigen Abend wieder nahezu windstill.

Als ich im Unterricht saß und an nichts anderes mehr denken konnte als an den sonderbaren Stift, musste ich unbedingt etwas tun, um auf andere Gedanken zu kommen. Eigentlich wollte ich bei Prof. Zac nie wieder etwas zeichnen. Mein Vorsatz hielt jedoch nicht lange an, denn zeichnen lenkte mich immer noch am besten ab. Hektisch suchte meine linke Hand die Jackentasche nach einem Bleistift ab. Da war immer einer zu finden. Was ich allerdings hervorzog, ließ mein Herz einen Schlag lang aussetzen. Es war kein Bleistift. Ich traute meinen Augen nicht.

Es war ohne Zweifel der Stift, den ich am Vortag entsorgt und an den ich ununterbrochen gedacht hatte. Wie versteinert saß ich mit dem Stift in der Hand da. Dann drang Jacks Stimme zu meinem Gehirn vor.

„Hey, Danny, aufwachen! Jetzt komm schon, schnell! Zac dreht durch, wenn ich schon wieder keinen dabeihabe. Stift her, Danny!“

Die letzten Worte presste er nur noch hervor. Reflexartig schob ich den Stift in meiner Hand hinüber zu Jack.

Als sich seine Hand dem Stift näherte, verfolgte ich die Szene wie in Trance. Dabei überkam mich ein merkwürdig beklemmendes Gefühl. Ich wusste, woher auch immer, dass Jack ihn nicht anfassen durfte. Doch es war bereits zu spät. Er nahm ihn an sich, nur um ihn sofort wieder zwischen uns auf den Boden fallen zu lassen.

Sauer zischte er mich an: „Hey, sag mal, spinnst du? Was soll denn der Scheiß? Das war kein Witz, verstanden?“

Damit hatten wir endgültig die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse auf uns gezogen. Natürlich auch Zacs – schon wieder.

Während er auf unseren Tisch zusteuerte, hatte ich nur einen Gedanken: Ich musste meinen Stift schützen! Das Scheusal von Professor durfte ihn unter keinen Umständen in die Finger bekommen. Bemüht unauffällig stellte ich meinen Fuß darauf. Mehr konnte ich nicht mehr tun.

Zac stand direkt vor unserem Tisch, schaute mir tief in die Augen, fing an zu grinsen und sagte deutlich: „Her damit!“

Widerwillig bückte ich mich nach meinem Stift und überreichte ihn Zac mit unglaublicher Wut. Was dann geschah, war noch seltsamer als Jacks Reaktion zuvor.

Ein kurzer, für einen Mann eigentlich viel zu schriller Schrei erfüllte den Klassenraum. Der Stift flog durch das Zimmer, während Zac mich mit zusammengekniffenen Augen anfunkelte. Er verzog schmerzvoll das Gesicht und hielt seine Hand mit der anderen fest, während er Mühe hatte, seine Worte hervorzupressen.

„Daniel Frayne, komm sofort mit dieser irren Erfindung ins Rektorat!“

Dort angekommen konnte ich kaum glauben, was ich sah. Zacs Handverletzungen, die mein Stift ihm zugefügt haben sollte, waren einfach nur krass. Am Zeige- und Mittelfinger sowie am Daumen waren ziemlich große Brandblasen zu sehen und ihm standen ganz offensichtlich vor Schmerzen Schweißperlen auf der Stirn.

„Warte hier”, brachte er noch keuchend hervor. Dann verließ er das Zimmer, während er unablässig vor sich hin murmelte: „Hab es doch gleich gesagt, dieser Junge hat nichts in dieser Stufe zu suchen! Hochbegabt, dass ich nicht lache! Nur gefährlich, dieser …“

Weiter konnte ich seinen Worten nicht folgen, da Zac sich immer mehr entfernt hatte.

Es reichte auch so. Ich hatte genug gehört. Es war also nicht nur so ein Gefühl, dass Zac mich nicht leiden konnte. Er hatte es mir mehr oder weniger offiziell mitgeteilt.

In dem Moment hatte ich allerdings nicht die geringste Lust, mich mit dem unfähigen Lehrer auseinanderzusetzen. Ich wollte einfach nur aus dem altmodischen Besuchersessel des Rektorats heraus. Ich wollte an die Caswell Bay, wollte dort über so viele Dinge in meinem Leben nachdenken. Leider war mir das erst mal nicht vergönnt. Zac kam und kam nicht zurück. Somit musste ich mir wohl oder übel dort so meine Gedanken machen. Ich konnte es mir einfach nicht erklären, aus welchem Grund Jack den Stift fallen gelassen hatte, geschweige denn, wie es zu den Handverletzungen von Zac gekommen war. Intuitiv fasste ich in meine linke Jackentasche. Als ich den Stift ertastete, durchströmte mich Wärme, die jede Zelle meines Körpers einzunehmen schien.

Seltsam.

Wieder eine neue Reaktion auf den Stift. Was war bloß los mit mir? Wahrscheinlich waren die sonderbaren Zwischenfälle der letzten Tage daran schuld. Kein Grund zum Grübeln.

Neugierig betrachtete ich ihn zwischen meinen Fingern. Wendete ihn von oben nach unten. Immer wieder. Dabei wanderten nur die wenigen kleinen Luftblasen in der roten Flüssigkeit auf und ab. Mehr geschah nicht. Keine weiteren Reaktionen, schon gar keine Brandblasen an meinen Fingern. Beim Anblick der roten Mine wurde mir erneut warm. Besser gesagt richtig heiß. Sofort schob ich ihn zurück in die Jackentasche und versuchte mich krampfhaft abzulenken, indem ich an irgendetwas anderes dachte. Meine Augen suchten das Rektorat ab. Es gehörte eindeutig zu der Kategorie alt und langweilig. In der Mitte des Raums stand ein großer Konferenztisch. An der linken Seite befand sich der Schreibtisch von Prof. Blind, des Rektors an der Gore.

Als ich schon dachte, ich würde mein restliches Leben dort drinnen verbringen müssen, ging endlich die Tür auf. Doch nicht Zac kam, um mich zu erlösen. Ich sah direkt in das Gesicht meines Dads.

„Rektor Blind ist nicht da. Daher hat sich dein Kursleiter in seinem Auftrag bei mir gemeldet. Ich sollte dich so schnell wie möglich abholen. Über weitere Konsequenzen würden wir informiert werden. So lange bist du vom Unterricht ausgeschlossen.“

Zack – das saß!

Wie Dad das sagte, verletzte mich unglaublich. Hatte ich da Enttäuschung heraushören können? Was war nur in den letzten Tagen mit meinem Leben los? Warum befand es sich plötzlich in einer Achterbahn, die unentwegt nach unten schoss, ohne dass ich überhaupt jemals hatte einsteigen wollen?

Dad stand im Türrahmen und zweifelte mein Verhalten an. Und das alles wegen des drecksblöden Geschenks, das ich von ihm erhalten hatte. Das konnte doch nicht wahr sein! Wuttränen stiegen mir in die Augen, die ich nicht zurückhalten konnte.

Es war weder der richtige Ort noch die richtige Lautstärke, doch ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Verzweifelt brüllte ich Dad an: „Ich fasse es einfach nicht! Sag mal, Dad … warum fragst du mich nicht einfach, wie es wirklich war? Oder interessiert dich meine Version überhaupt nicht? Glaubst du nur den schwachsinnigen Worten eines alten, knöchrigen Professors?“

Erneut wählte mein Lehrer den denkbar ungünstigsten Augenblick für sein Erscheinen. Mit verbundener Hand tauchte er ohne Vorwarnung hinter Dad auf.

Oh, Hilfe! Wie viel hatte er gehört?

Nach einem peinlichen Moment des Schweigens ergriff Dad als Erster das Wort.

„Nun, ich denke, Sie haben mir bereits am Telefon alles gesagt. Sie entschuldigen uns jetzt bitte, Professor.“

„Warten Sie, Mr. Frayne. Gerne würde ich noch das eine oder andere Wort mit Daniel wechseln. Alleine.“

Dad zögerte kurz, doch dann nickte er knapp, drehte sich um und ließ uns alleine im Rektorat zurück.

„Daniel, komm, setz dich zu mir an den Konferenztisch.“

Instinktiv wählte ich von den acht vorhandenen Stühlen den aus, der am weitesten vom Professor entfernt stand.

„Daniel, sieh mich an! … Ich muss wissen, woher du diese irre Erfindung hast, besser gesagt, was du damit vorhattest! Ich will jetzt nicht sofort vom schlimmsten ausgehen, nämlich dass du diese Waffe selbst entwickelt hast ...“

Oh mein Gott, wo war ich da nur reingeraten? Darauf gab es keine Antwort. Zumindest keine vernünftige. Ich wusste es doch selbst nicht. Ungeduldig ließ Zac mich nicht aus den Augen, während er immer wieder mit seiner gesunden Hand die verletzte am Knöchel umfasste.

Meine Gedanken überschlugen sich, aber mir fiel keine plausible Ausrede ein. Ich konnte ja schlecht die Wahrheit erzählen. Selbst wenn, wer würde das schon glauben?

„Aha, du bleibst stur. Dachte ich es mir doch! Dann muss dieser Stift eben dem Rektor vorgeführt werden. Leg ihn sofort auf den Schreibtisch des Rektors! Mehr habe ich dir für heute nicht zu sagen.“

Ruckartig stand Zac auf, lief zu Blinds Schreibtisch und streckte mir eine Plastikfolie entgegen.

„Los, rein damit!“ Kurz starrte Zac auf seine verbundene Hand. „Warte, mach du es selbst, leg ihn in die Folie und lass ihn dann hier auf diesem Tisch zurück.“

Wie versteinert blieb ich sitzen. Was wurde da von mir verlangt?

Ich wollte unter keinen Umständen meinen Stift in der Schule lassen. Langsam glitt meine Hand in meine Tasche, doch mein Gehirn weigerte sich, sie auch nur einen Millimeter wieder hervorzuziehen.

„Frayne, ich warne dich! Her damit oder du wirst an keiner Schule im ganzen Land mehr aufgenommen! Dafür werde ich persönlich sorgen, dessen kannst du dir sicher sein!“

Mit einem zwiespältigen Gefühl der Trauer und der Erleichterung legte ich den Stift in die Folie und verließ, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, das Rektorat. Ich hatte keine Kraft mehr, mich dem zu widersetzen.

Zu Hause öffnete Mom uns die Tür. Ich konnte nicht anders und fiel ihr im Flur in die Arme, wobei ich sie schon um mehr als einen Kopf überragte.

Ihr fast schwarzes Haar kitzelte mir in der Nase. Erst dann bemerkte ich ihre etwas steifere Haltung. Langsam löste ich mich von ihr und sah ihr für einen Moment in die Augen. Ihre gelbbraunen Augen wollten mich warnen, doch es war bereits zu spät. Sir Edmund tauchte auf. Na super!

Ich hatte keine Lust auf Gesellschaft. Doch wen interessierte das schon?

Er strahlte mich wieder an und sagte überschwänglich: „Hallo, Daniel, komm mit uns ins Esszimmer. Es gibt großartige Neuigkeiten.“

Mit pochenden Kopfschmerzen und Übelkeit stürzte ich hinaus. Ich brachte noch ein „Sorry, muss an die Luft” heraus, bevor ich mich in unserem Vorgarten übergab. Mich überkam ein kurzer Moment des Schwindels und ich musste mich an unserem Treppengeländer festhalten, aber kurz darauf fühlte mich bereits viel besser.

Ich wollte definitiv nicht wieder ins Haus. Erst mal weg!

Langsam ging ich zu Jack. Er musste mir dringend helfen, die geplante Party in der Bay abzusagen.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen dachte ich an die riesige Menge von Lebensmitteln zu Hause. Sofort wurde mir erneut übel.

Nein! Stopp! Es sollte mir egal sein. Zum einen regnete es in Strömen und zum anderen war mir sowieso nicht nach Feiern zumute.

Jack war anfangs noch etwas reserviert mir gegenüber, glaubte mir dann aber doch, dass ich keine Ahnung von der Gefährlichkeit des Stifts gehabt hatte. Er beschrieb mir sogar den Moment, in dem er meinen Stift in die Hand genommen hatte. Es war für ihn so gewesen, als wenn er mehrere Stromstöße abbekommen hätte, gepaart mit einer unglaublichen Hitze.

Doch leider konnten wir damit nichts weiter anfangen. Jack half mir dabei, die geplante Party an der Bay abzublasen – und das, obwohl ich mich schon seit Wochen darauf gefreut hatte. Nachdem wir alle erreicht und ausgeladen hatten, vibrierte mein Handy.

Auf dem Display konnte ich lesen: „Home.“

Ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen drückte ich den Anruf weg. Doch es half nichts.

„Ja, einen Moment bitte, Mr. Frayne, Daniel ist hier. Danke, Ihnen auch noch einen schönen Abend”, sagte Jacks Ma, während sie mir den Telefonhörer mit den Worten „Dein Dad möchte dich sprechen” entgegenstreckte.

Na, toll. Wie lange sollte eigentlich der Nervenkrieg noch gehen? Hatte ich denn in der letzten Zeit nicht den geringsten Anspruch auf ein Privatleben?

„Ja, hallo?“, meldete ich mich etwas reserviert.

„Danny, sag mir bitte nur, ob du deinen … Ich meine … ähm, ob du … Na ja, hast du den Stift bei dir?“ Dad stotterte die Frage flüsternd in den Hörer.

Darum ging es also mal wieder. Um mein supertolles und verletzungsgefährdendes Geburtstagsgeschenk.

„Klar, dass es bei deinem dringenden Anruf mal wieder um diesen blöden Stift …“

„Daniel, sag mir doch einfach nur, wo er sich befindet, und ich lasse dich in Ruhe”, unterbrach Dad mich sehr bestimmend.

„Im Rektorat.“

Mein Vater erhob seine Stimme und sagte: „Oh, nein! Das ist doch nicht dein Ernst?“

„Sorry, aber ich verstehe eure ganze Aufregung um so einen Stift wirklich nicht, also bye, Dad.” Ich beendete genervt das Gespräch.

Doch ich fand keine Ruhe mehr, was Jack nicht verborgen blieb. Deshalb schlug er mir vor, mich nach Hause zu begleiten, um die dicke Luft zu bereinigen.

Schon als ich meinen Schlüssel in das Schloss steckte, wurde die Tür von Mom aufgerissen. So hatte ich sie noch nie gesehen. Sie hatte rote und geschwollene Augen, in ihrem Gesicht verteilten sich überall rote Flecken.

,,Hey, alles o. k.?“, fragte ich sie, doch ich zweifelte ernsthaft daran.

„Daniel, du musst dein Geschenk unbedingt heute Abend noch an dich bringen! Glaube und vertraue mir. Ich würde das nie von dir verlangen, wenn es nicht so wichtig wäre.“

Nach jenen Worten drehte sie sich um und verschwand.

Die Tür fiel ins Schloss und Jack meinte: „Wow, Danny, ich denke, du hast tatsächlich ein Problem.“

Ob genau der Satz mich dazu trieb, den Stift wieder besitzen zu wollen, oder ob es an meiner Mom lag, war letztlich egal. Aus welchen Gründen auch immer, ich musste ihn einfach wiederhaben. Zurückgewonnene Energie und Abenteuerlust durchfuhren meinen ganzen Körper bis in jede Haarspitze.

Bis wir an der Bishop Gore School ankamen, hatte ich Jack bereits eingeweiht. Uns fiel allerdings kein sonderlich brauchbarer Plan ein, wie wir unbemerkt ins Rektorat kommen sollten. Während wir überlegten, ging allmählich die Fantasie mit uns durch.

Wir malten uns alle möglichen Rettungsaktionen aus, bis hin zu Spiderman. Als wir bei Harry Potter mit seinem silbernen Tarnumhang landeten, war es endgültig um uns geschehen.

Ein Lachanfall folgte auf den anderen. Unser schwierigstes Unterfangen war im Moment das Aufhören. Wir lachten so laut und aus vollem Halse, dass natürlich etwas kommen musste!

„Was soll das, was lungert ihr hier herum?“, fragte jemand verärgert hinter uns.

Wir drehten uns um.

„Oh, Daniel Frayne und Jack Meyer, ihr seid es. Tut mir einen Gefallen und seid um diese Zeit bitte nicht so laut hier auf dem Schulgelände. Rektor Blind tagt noch mit einigen Kollegen über ein sehr wichtiges Thema.“

Schlagartig war selbst mein noch vorhandenes Grinsen weg und mein Unbehagen wuchs. Das Rektorat war also nicht leer …

Mrs. Corn, die Hausmeisterin, lächelte uns freundlich an und fragte: „Aber sagt mal, was habt ihr beide heute Abend noch an der Gore verloren, noch dazu am Wochenende?“

„Mom!“, rief eine bekannte Stimme im Dunkeln.

„Ich bin hier draußen!“, rief Mrs. Corn ihrer Tochter zu.

Als das Mädchen näher kam und uns erkannte, wurde es rot wie eine Tomate.

,,Hallo, Kim”, begrüßte ich sie.

Kim war bis zur zehnten Klasse meine Mitschülerin gewesen, vor meinem Sprung in die zwölfte.

„Tja, ich denke, es ist schon spät und ihr solltet auch nach Hause”, sagte Mrs. Corn nach einer kurzen Pause.

Da fiel mir schlagartig mein eigentliches Vorhaben wieder ein. Aber wie war es möglich, es durchzuführen? Mrs. Corn wusste über unsere Anwesenheit Bescheid, sodass wir unter keinen Umständen heimlich in das Rektorat eindringen konnten. Vor allem, da der Rektor noch da war.

Plötzlich kam mir eine Idee.

„Kim, du hast heute sicherlich einiges über Zacs Handverletzung gehört. Blöderweise habe ich beim Warten im Rektorat meinen Schlüssel verloren. Der muss mir irgendwie aus der Hosentasche gerutscht sein. Deshalb sind wir heute Abend hier.“

Ich versuchte, die Dringlichkeit mit meinem charmantesten Lächeln zu unterstreichen. Mannomann, das war sehr dünnes Eis, auf dem ich mich befand! Eigentlich war ich weder ein guter Schwindler noch ein Mädchenheld, aber es ging an dem Abend um mehr als um die Misshandlung unerwiderter Schwärmereien.

Dann unterbrach Kim meinen Gedankenfluss. Sie sagte mit geröteten Wangen: „Ma wollte eigentlich gerade Feierabend machen. Aber ich kann dir sicherlich helfen, oder, Ma?“

Wow, ihr Blick erinnerte mich an den meiner Schwestern, wenn sie unbedingt etwas haben wollten.

„Ich weiß nicht recht, Kim, dir ist doch bewusst, wie sorgsam die Universalschlüssel der Schule zu handhaben sind?“, sagte Mrs. Corn sehr eindringlich und blickte dabei ihrer Tochter scharf in die Augen. „Daniel, ich werde dir erst dann, wenn Prof. Blind seine Sitzung beendet hat, Zugang zum Rektorat verschaffen können. Da das aber noch eine Weile dauern kann, werden wir es so machen, dass Kim den Schlüssel später für dich sucht und ihn bis Montag –“

„Nein, auf gar keinen Fall!“ Ich fiel der Hausmeisterin entschieden ins Wort. „Bitte, Mrs. Corn, ich bekomme einen solchen Ärger mit meinen Eltern. Sie dürfen erst gar nicht erfahren, dass mein Schlüssel weg ist. Bitte, lassen Sie uns den Schlüssel heute Abend noch suchen. Wenn er nicht da sein sollte, habe ich zumindest noch die Chance, woanders zu suchen, bitte”, sagte ich ehrlich verzweifelt, denn ich musste unbedingt noch an dem Abend zu meinem Stift.

„Na gut, dann kommt mal mit. Wir wollen schauen, was sich machen lässt”, murrte sie mitleidig und ging zur Eingangstür der Schule.

Das Rektorat befand sich im zweiten Stock am Ende des Ganges.

Je näher wir dem Zimmer kamen, desto mehr schlichen wir. Komischerweise schien es leer zu sein, denn es drangen keine Stimmen heraus, obwohl die Tür weit offen stand. Dort angekommen, schlüpfte ich sofort hinein und schloss reflexartig die Tür hinter mir.

„Daniel!“, rief Kim drängend und öffnete sie wieder einen Spalt.

Ich sah mich um. Da, auf dem Tisch, lag mein Stift genau so, wie ich ihn zurückgelassen hatte. Schnell packte ich die Plastiktüte und steckte sie in meine Tasche. Ich hatte es gerade bis zur Tür geschafft, als wir Schritte im Flur hörten.

,,Guten Abend, meine Herrschaften. Wir hatten hier noch Licht gesehen und wollten nachschauen, ob irgendetwas zu tun wäre. Meine Tochter und ihr Freund wollten mir dabei zur Hand gehen”, sagte Mrs. Corn geistesgegenwärtig.

Ich schaute auf den Boden und meinte mit verstellter Stimme: „Der Raum war leer, Mrs. Corn. Irgendjemand muss das Licht vergessen haben.“

„Das müssen wir gewesen sein“, sagte Rektor Blind lächelnd. „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Mrs. Corn, aber hier ist alles in Ordnung. Sie können Feierabend machen.“

Wir verabschiedeten uns schnell und verließen das Schulgebäude. Draußen fragte Mrs. Corn mich: „Hast du wenigstens deinen Schlüssel wieder?“

Ich nickte erleichtert. Nach unendlichen Dankesreden an Kim und ihre Mutter verabschiedete ich mich von ihnen.

Auf dem Nachhauseweg zeigte ich Jack den Stift. Falls er die Aufregung um den Stift nicht verstand, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Fröhlich und aufgekratzt kamen wir bei mir zu Hause an. Das Haus lag dunkel in der Nacht. Nirgendwo brannte Licht. Wir hatten überhaupt nicht bemerkt, wie spät es eigentlich schon war.

Vorsichtig schlichen wir in mein Zimmer. Da Jack häufig bei mir schlief, war mein Sofa innerhalb weniger Sekunden zum Bett umfunktioniert.

Als gerade die Sonne aufging, wurde meine Zimmertür aufgerissen.

Dad stand im Türrahmen und fragte mich ohne Umschweife: „Hast du ihn?“

,,Wen?“, fragte ich verschlafen.

„Ja, Mr. Frayne, er hat ihn”, kam es aus der anderen Ecke von Jack.

Dad stürzte ohne Vorankündigung ins Zimmer und umarmte mich fest mit den Worten: „Es ist nicht das erste Mal, dass ich von dir überrascht werde, doch jetzt hast du endgültig den Vogel abgeschossen. Gute Nacht, ihr beiden, und entschuldigt meine Störung.”

Dann verschwand er wieder.

Lange Zeit lag ich nach der Aktion noch wach, doch irgendwann fielen mir die Augen zu. Als ich beim Aufwachen an all die sonderbaren Geschehnisse dachte, kam mir vieles unwirklich vor. Unter anderem die Umarmung meines Dads, der es bei uns Kindern nicht so mit körperlicher Nähe hatte.

Jack schlief noch, so konnte ich mir ein paar Gedanken über die Wochenendplanung machen. Auf jeden Fall wollte ich an den Strand zum Wellenreiten. Es waren sonnige 14 Grad vorhergesagt, zwar nur mit mäßigem Wind, aber er musste eben ausreichen. Meist gab es trotzdem ordentliche Wellen in der Bay.

Dann musste ich an unsere Rettungsaktion vom Vorabend denken. Dabei schob ich meine linke Hand unter mein Kopfkissen. Der Stift lag noch an genau derselben Stelle, an der ich ihn in der Nacht platziert hatte. Mit einem kleinen Unterschied. Als ich ihn hervorzog, war er angenehm warm in meiner Hand. Mich überkam wieder das überwältigende Glücksgefühl und ich schob ihn schnell zurück unter das Kissen. Dann hob ich meinen Kopf für einen Augenblick, um mich zu vergewissern, dass Jack nichts von meiner Gefühlsregung mitbekommen hatte. Er schlief noch tief und fest. Ich konnte es nicht nur sehen, sondern auch an seinen tiefen Atemzügen hören.

Komisch war nur, dass mir das laute Geräusch nicht aufgefallen war, als ich den Stift noch in der Hand gehalten hatte, denn es war eigentlich unüberhörbar. Hatte mich der Stift so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich nichts um mich herum mitbekam?

Schnell schob ich auch den Gedanken daran unter mein Kopfkissen und machte mich schleichend auf den Weg ins Badezimmer. Unter dem warmen Strahl der Dusche ärgerte ich mich anfangs, dass die Gedanken unter dem Kissen hervorgeschlüpft waren, um direkt wieder in meinen Kopf zu springen. Allerdings war der Ort intim genug, um meine neuen Gefühle hinterfragen zu können. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Stift um eine Art Glücksbringer, den mir meine Eltern …

Nein, das war er sicherlich nicht, ich brauchte gar nicht lange darüber nachzugrübeln, um mir selbst ein Veto einzulegen. Denn würde ein Glücksbringer Mom vor meinen Augen in Ohnmacht versetzen und meinem Lehrer – obwohl ich es ihm fast ein bisschen gegönnt hatte – so eine Handverletzung zufügen?

Die Antwort lag auf der Hand und die Theorie des Glückbringers musste ich entschieden verwerfen. Doch was war mit dem Stift dann los?

Warum fühlte ich mich sogar unter der herrlich warmen Dusche so stark zu ihm hingezogen, dass ich das Gefühl vermisste, ihn einfach nur in meiner Hand zu halten?

Wie nur …?

„Danny, sorry, dass ich deine stundenlange Schönheitspflege für einen Moment unterbreche, aber ich sollte wirklich ganz dringend mal …“

Schnell verfrachtete ich alle weiteren Gedanken in ein kleines Kästchen meines Gehirns. Ich wollte nicht Gefahr laufen, dass ich erneut von ihnen übermannt wurde. Die Taktik zeigte eine weitaus größere Wirkung als das Ablegen unter dem Kissen und endlich konnte ich mich ganz auf den anstehenden Tag mit all seiner Sonne und dem herrlichen Meer freuen.

Gegen drei Uhr nachmittags standen wir auf unseren Boards. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, an nichts anderes denken zu müssen als daran, die richtige Welle zu suchen, um von ihr bis fast an den Strand getragen zu werden. Jack, Jamie, Ben und ein paar andere Jungs hatten lange vor mir aufgehört, doch ich konnte einfach nicht genug davon bekommen.

Erschöpft, aber mit mir im Reinen kam ich zu Hause an. Um sieben wollten sich einige von uns bei „Tonys“ treffen. Erhitzt stieg ich aus der Dusche. Als ich schnupperte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Es roch einfach nur köstlich. Mom übertraf sich jedes Mal selbst, wenn sie kochte. Fertig gerichtet und gestylt kam ich nach unten ins Esszimmer und zählte vier Gedecke. Dem Essen konnte ich nicht widerstehen, so nahm ich mir vor, eine Kleinigkeit zu naschen. Sir Edmund war unerwarteterweise immer noch unser Gast. Dad kam erst, als das Essen bereits in vollem Gange war. Er küsste im Vorbeigehen meine Mutter auf den Scheitel und entschuldigte sich.

„Du weißt ja, warum ich Überstunden mache. Tut mir leid, dass ihr ohne mich anfangen musstet.“

Mom beobachtete mich während des gesamten Dinners. Wenn sich unsere Augen trafen, lächelte sie mich mit einem Ausdruck von Stolz an. Doch das war nicht das Einzige, das ich in ihren Augen erkennen konnte. Eine Spur von Traurigkeit lag darin.

Verstohlen schaute ich auf die Uhr. 18:28 Uhr, gut, noch etwas Zeit blieb mir, bis ich losgehen wollte.

Plötzlich erhob Sir Edmund sein Rotweinglas und sagte in einem sehr feierlichen Ton: „Mein lieber John, liebe Marie, vielen Dank für eure überaus großzügige Gastfreundschaft. Ich fühle mich geehrt und im höchsten Maße der Verantwortung bewusst, eurem einzigen Sohn Daniel eine ihm zustehende Ausbildung zukommen zu lassen. Da, wie ihr wisst, die Zeit drängt, werde ich schon heute nach dem Abendessen meinen weiteren Pflichten nachgehen. Daniel”, dabei schaute Sir Edmund mir tief in die Augen, „ich freue mich auf dich. Bis morgen! Auf unser aller Wohl, Prost!”

Peng!

Die Bombe war geplatzt.

Ich sollte eine Ausbildung beginnen, und das mit erst sechzehn Jahren.

Daher wehte der Wind. Deshalb war der schmierige Kerl noch in unserem Haus. Meine Eltern wollten mich also loswerden.

„Was werde ich denn Schönes lernen?“, fragte ich in einem unüberhörbar ironischen Ton in die Runde.

Einen peinlichen Moment lang herrschte absolute Stille im Raum, bis Mom schließlich sagte: „Tja, das ist so … na ja … es ist nicht ganz so einfach mit Worten zu erklären. Nun, wir denken, dass es dir Spaß machen wird, nicht wahr, John?“

Verlegen sah sie dabei zu Dad. Eine weitere längere Pause entstand, die mich noch mehr in die Höhe trieb. Verärgert, aber um Haltung bemüht, sah ich Sir Edmund in die Augen und meinte nur knapp: „Ich werde da sein. Mom, Dad, kann ich euch bitte für einen Augenblick unter sechs Augen sprechen?“

Sofort war ich von meinem Platz aufgesprungen, denn das Esszimmer drohte mich zu erdrücken, so dicht schienen die Wände auf einmal auf mich zuzukommen. Beim Hinauslaufen stach mir ein Familienfoto, das auf der Vitrine stand, ins Auge. Ein Willkommensschnappschuss kurz nach meiner Geburt. Zum ersten Mal bekam ich dabei ein beklemmendes Gefühl, denn meine Eltern lächelten nicht. Sie sahen überhaupt nicht glücklich aus. Stattdessen starrten sie nur überrascht in die Kamera.

Ich wählte mein Zimmer für die von meiner Seite aus schon längst überfällige Aussprache. Von meinem Bett aus beobachtete ich, wie meine Eltern den Raum betraten und dicht an der geschlossenen Tür stehen blieben. Keiner von uns dreien machte den Anfang, und so starrten Dad und ich uns in die Augen, während Mom unentwegt auf den Boden sah.

Nach einer gefühlten Ewigkeit sah Mom zu mir auf und unterbrach die Stille.

„Kannst du mir einen Zettel und einen Stift geben, bitte?“, fragte sie leise.

Womöglich wollte sie etwas aufschreiben, was sie nicht laut auszusprechen wagte? Als ich ein Blatt aus meinem Schreibtisch holte, kam mir ein Blitzgedanke. Ich wollte es wissen. Mit dem Zettel in der Hand lief ich zu meinem Bett, um den Stift unter dem Kopfkissen hervorzuholen. Kurz zögerte ich bei dem Gedanken, dass er auch meine Mom verletzen könnte. Allerdings wollte ich zum einen nicht automatisch davon ausgehen, einen gefährlichen Stift zum Geburtstag bekommen zu haben, und zum anderen war ich so wütend über die Sache mit der Ausbildung, dass meiner Mom ein kleiner Stromschlag – wie es Jack beschrieben hatte – nicht schaden würde, ja, sie vielleicht sogar zur Vernunft bringen würde.

„Hier, bitte schön”, sagte ich und hielt ihr ein Blatt sowie den Stift entgegen.

Sie nahm mir beides aus der Hand, schaute mir dabei aber tief in die Augen. Nichts weiter geschah. Mom hielt meinen Stift wie jeden anderen in ihrer Hand, wobei ich in ihrem Blick zwar Schmerz erkennen konnte, der aber aller Wahrscheinlichkeit nach mir galt.

„Ma, was soll das alles? Warum können wir ihn anfassen, während er andere Menschen verletzt? Was ist mit diesem Stift, mit meiner Ausbildung, mit diesem Sir Edmund? Dad geht mit mir zu ‚Tonys‘ und weckt mich mitten in der Nacht, nur um mich zu fragen, ob ich dieses Ding wiederhabe, das ein sehr merkwürdiges Geburtstagsgeschenk von euch war. Du fällst beim Auspacken dieses Stiftes vor meinen Augen in Ohnmacht. Könnt ihr mir endlich sagen, was das alles zu bedeuten hat?“

Verzweifelt versuchte ich, Antworten auf die Fragen zu bekommen, die sich in den letzten verwirrenden Tagen aufgedrängt hatten.

Mit Tränen in den Augen und belegter Stimme erklärte Mom mir: „Daniel, du musst uns nur das eine Mal noch vertrauen. Hier ist dein Stift. Vergiss ihn morgen bitte nicht. Doch gehe sorgsamer mit ihm um. Du solltest niemandem von ihm erzählen und ihn auch nirgendwo vergessen. Du wirst schon bald erfahren, warum. Ich liebe dich.“

Dad schloss sich schnell an, indem er sagte: „Ich freue mich schon auf unser nächstes Wiedersehen! Vielleicht kannst du dich auch mal bei uns melden. Tschüss, mein Junge.”

Dann verließen beide mein Zimmer, fast schon fluchtartig.

Nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte, schaute ich auf die Uhr. 19:34 Uhr.

Mein Handy vibrierte. Auf dem Display sah ich drei Anrufe in Abwesenheit. Wie ein Roboter fing ich an, meine Sporttasche mit Kleidern und anderen persönlichen Dingen zu füllen.

Wohin musste ich gehen? Ein überwältigendes Gefühl der Beklemmung nahm von mir Besitz, klammerte sich um meinen Körper wie ein Schraubstock, der sich immer weiter schloss. Das erste Mal in meinem Leben spürte ich den enormen Drang, mich meinen Eltern zu widersetzen. Mein Zuhause, mein Board, meine Freunde, meine Bay, „Tonys“, vor allem Jack – und da war auch noch Sue, die ich einfach so mir nichts, dir nichts zurücklassen sollte. Gut, meine Zusage würde ich einhalten. Jack und die anderen müssten nichts erfahren, denn spätestens in einer Woche würde ich wieder zurück sein. Davon war ich zumindest überzeugt, als ich schließlich noch angezogen auf meinem Bett einschlief.

Cináed

Подняться наверх