Читать книгу Cináed - Tanja Hoefliger - Страница 6

Kapitel drei

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Irgendwann wurde ich wach. Es war noch vollkommen finster draußen.

Nachdem ich vergeblich versucht hatte, wieder einzuschlafen, stieg ich benommen unter die Dusche. Doch kein Wasser kam aus der Brause. Weder kaltes noch warmes. Nach mehreren Versuchen stieg ich genervt wieder heraus. Der Wasserhahn am Waschbecken funktionierte perfekt, also streckte in meinen Kopf notdürftig darunter und gönnte ihm einen kalten Wasserstrahl. Mit einem Handtuch um die Hüften geschlungen ließ ich den steten Wassertropfen, die mir vom Gesicht und aus den Haaren perlten, freie Bahn. Sie suchten sich ihren Weg über meine Haut, um schließlich vereinzelt auf dem Boden gestoppt zu werden. Eine angenehme Gänsehaut war die Folge. Gerade als ich in mein Zimmer laufen wollte, um die Uhrzeit von meinem Handy zu erfahren, durchfuhr mich ein solcher Schreck, dass ich wie angewurzelt auf die Wand starrte. Das angenehme Gefühl wich einer unangenehmen Gänsehaut. Mir war plötzlich kalt.

„Daniel, zieh dich sofort an.

Komm dann umgehend zur dritten

Kreuzung der Queensroad.

Dort wirst du bereits erwartet.“

Langsam ging ich auf die Wand zu und strich mit meinen Fingern darüber.

Die roten Buchstaben verblassten, bis sie ganz verschwunden waren.

Es war irgendwie gruselig. Woher wusste der Autor der Botschaft, dass ich fast nackt war?

Mit einer anhaltenden Gänsehaut am ganzen Körper schnappte ich mir meine Kleider und ging damit ins Badezimmer, um mich dort – hoffentlich unbeobachtet – anzuziehen.

Schnell kämmte ich meine nassen Haare nach hinten. Dass ich so einem braungebrannten Versicherungs- oder Autoverkäufer im Spiegel ähnelte, störte mich nicht.

Ohne Zeit zu verlieren, lief ich auf mein Bett zu und zog den Stift hervor, um ihn in meiner Hosentasche verschwinden zu lassen. Mit meiner Sporttasche über der Schulter schlich ich nach unten. In der Küche schenkte ich mir schnell ein Glas Milch ein, setzte mich damit an den Esszimmertisch und wartete. Worauf, wusste ich selbst nicht so recht, bis an der Esszimmerwand erneut die rote Schrift erschien:

„Deine Eltern schlafen noch tief und fest.

Du wirst dich nicht mehr von ihnen verabschieden.

Geh jetzt los.“

Eigentlich wollte ich mich nicht von so einer komischen Art der Manipulation oder der Befehlsansage einschüchtern lassen, doch ich widersetzte mich seltsamerweise auch nicht. Schon zog ich sachte die Haustür hinter mir ins Schloss. Die Queensroad war vollkommen leer.

Wie spät war es eigentlich?

Mein Handy zeigte zwanzig vor vier an. Plötzlich war mir auch klar, warum ich noch so müde war und mich wie gerädert fühlte.

Wer oder was erwartet mich?, schoss es mir durch den Kopf.

Auf einmal nahm ich ein Geräusch hinter mir wahr. Ein Auto musste mich verfolgt haben.

Verzweifelt suchten meine Augen nach einem Hauseingang, in dem ich notfalls Zuflucht suchen konnte, doch alle Grundstücke waren durch Zäune geschützt.

Als das Auto schneller wurde und fast neben mir zum Stehen kam, schlug mein Herz bis zum Hals. Niemand wusste, wo ich war, und meine Eltern träumten wahrscheinlich friedlich.

Verflucht, wie dumm konnte ich nur sein, einfach so einer roten Schrift nachzugehen!

Es musste eine Falle sein! Langsam drehte ich meinen Kopf in Richtung des Fahrzeuggeräuschs. Ein paar Meter von mir entfernt konnte ich eine komplett schwarze Limousine wahrnehmen. Auch die Fenster waren getönt, sodass ich keinen Fahrer erkennen konnte.

Lauf los, lauf schon davon!, schrie mein Gehirn immer lauter, doch meine Beine wollten mir nicht mehr gehorchen. Vor lauter Zittern waren sie im Begriff, ihren Dienst zu quittieren. Warum um alles in der Welt musste gerade in jener Nacht kein Auto unterwegs sein, das mir notfalls hätte helfen können?

Für einen kurzen Moment der Panik zog ich sogar Schreien in Betracht, das ich ansonsten immer den Mädchen überließ. Doch selbst wenn ich es gewollt hätte, es wäre kein Laut aus mir herausgekommen. Mein Herz klopfte bis zu meinen Ohren und ich hatte keine andere Möglichkeit, als mich meinem Schicksal zu ergeben und abzuwarten, was als Nächstes kommen mochte.

Dann wurde plötzlich das Fahrerfenster heruntergelassen, der Fahrer lächelte mich an und sagte leise: „Guten Morgen, Daniel. Entschuldigen Sie, ich meine Mr. Daniel. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Cassis. Sir Edmund schickt mich. Würden Sie mir die Ehre erweisen, Sie zu Ihrem Ausbildungsplatz zu begleiten?“

Unbeschreibliche Erleichterung machte sich in mir breit. Mr. Cassis mit seinem dunklen Anzug und der Melone auf dem Kopf wirkte nicht im Geringsten bedrohlich auf mich. Das Gegenteil war sogar der Fall. Er hatte mich sofort mit seiner zuvorkommenden Art in seinen Bann gezogen, denn so eine Freundlichkeit war nicht mehr oft anzutreffen.

Lächelnd deutete ich auf meine Sporttasche, die ich über der Schulter trug, da ich mir nicht sicher war, wie es weitergehen sollte. Mit einem Satz war Cassis ausgestiegen und schritt auf mich zu.

„Oh, Mr. Daniel, verzeihen Sie vielmals! Wie unaufmerksam von mir.“

Dabei nahm er mir die Tasche ab und verschwand hinter dem Auto. Kurz darauf kam er wieder hervor, ging zur Rücksitztür und hielt sie mir mit einer leichten Verbeugung auf.

„Danke, Mr. Cassis, aber ich bin Daniel, einfach nur Dan… Wow! Wie abgefahren ist das denn …“

Beim Einsteigen verschlug es mir die Sprache. Sicherlich konnte man vom Inneren einer Limousine so einiges erwarten, jedoch niemals in dem Ausmaß! Der hintere Bereich glich einem kleinen, aber komplett ausgestatteten Zimmer. Es gab sogar einen Mini-Fernseher, ein Bett, ein Notebook – und das Beste war ein kleiner Kühlschrank, gefüllt mit Knabbereien und Coke. Überfordert damit, was ich bei solch einem Angebot als Erstes machen wollte, setzte ich mich einen Augenblick auf das Bett. Das Fahren konnte man zwar spüren, aber es war sanfter als in allen anderen Autos, in denen ich je mitgefahren war.

Aus dem Lautsprecher des Fernsehers ertönte eine Stimme, und nach ein paar Worten konnte ich durch eine Scheibe, die den vorderen Bereich von dem hinteren Bereich der Limousine abtrennte, sehen, wie Mr. Cassis zu mir sprach.

„Mr. Daniel, ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt. Zu meinem größten Bedauern kann auch in diesem Fahrzeug nicht ganz auf die Sicherheit verzichtet werden, und ich muss Sie daher bitten, sich anzuschnallen.“

Tatsächlich, das Bett hatte zwei Brustgurte, die mich an Gurte erinnerten, mit denen Mom und Dad unsere Koffer vor einer anstehenden Reise zusätzlich verschlossen. Überschwänglich schnappte ich mir eine Dose Cola, nahm einen großen Schluck davon und legte mich dann auf das Bett, um mich anzuschnallen, wie es von mir erwartet wurde.

Das Fahren glich einem Wellenritt, das mich so sehr beruhigte, dass ich Mühe hatte, meine Augen weiterhin offen zu halten. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich die Dose geleert, doch das Koffein erzielte nicht die erhoffte Wirkung. Ich verlor den Kampf gegen meine Müdigkeit und schlief schon bald ein.

Ein starkes Vibrieren des Bettes ließ mich aufschrecken und aus einem Mikrofon konnte ich hören: „Mr. Daniel, schnell … Bitte wachen Sie auf … und gehen Sie sofort in die Luke! Wenn Sie den roten …“

Die Botschaft wurde mitten im Satz abgebrochen.

Verständnislos versuchte ich, durch die Scheibe Kontakt zu Cassis aufzunehmen, doch vor mir lag nur eine schwarze Wand, in der ich mich selbst widerspiegelte.

Was sollte ich tun?

Cassis hatte etwas von einer Luke gesagt, in die ich hineingehen sollte.

Nur wie?

Ich hatte die Dringlichkeit aus Cassis’ Stimme herausgehört. Schnell schmiss ich mich auf den Fahrzeugboden, um auf allen Vieren einen Hinweis auf eine Luke zu finden.

Doch dort war nichts.

Hektisch sah ich mich nach allen Seiten um, bis ich schließlich zu meinen Füßen ein kleines rotes Licht blinken sah. Schön und gut, doch was sollte ich damit machen? Cassis hatte zwar von etwas Rotem gesprochen, war dann aber unterbrochen worden. Ich starrte immer noch auf den roten Punkt, als sich plötzlich die Wörter ,,Drück mich” daraus formten.

Ohne nachzudenken, schoss mein linker Zeigefinger nach vorn. Kaum dass ich einen Buchstaben berührt hatte, klappte genau an der Stelle, an der ich saß, der Boden weg.

Durch einen Sog wurde ich nach unten gezogen und landete auf einem weichen Ledersessel, der die Luke komplett ausfüllte. Vor mir hing ein Monitor an der Wand. Meine Beine konnte ich nicht ausstrecken, da um den Sessel herum direkt die Wand der merkwürdigen Luke war. Augenblicklich verlangsamte sich das Fahrzeug und kam schließlich ganz zum Stehen. Der Monitor vor mir schaltete sich ein. Er zeigte mir, wie Cassis sich vom Fahrersitz aus mit einem Mann zu unterhalten schien, der neben dem Auto stand und sich leicht zu Cassis hinabbeugte.

„Morgen, Bobby, na, wie geht es dir bei diesem Sonnenschein? Wie kommt es, dass ihr in aller Frühe bereits die geheimen Schleusen kontrollieren müsst?“

„Danke, Cassis, besser. Meine alten Knochen brauchen die Wärme dringend. Wir erhielten von Edmund eine Eilmeldung, die Sicherheitsstufen zu erhöhen. Ich musste schon vor zwei Stunden den Schleusendienst übernehmen. Wie sieht es aus, Cassis, hast du was zu verschleusen?“, fragte der Mann, der in einer Art gelber Uniform steckte und damit mehr einem Straßenarbeiter als einem … wie war das noch gleich … Dingenswart … glich – was immer das auch war.

„Nein, ich wollte nur eine kleine Spritztour machen. Ich bin natürlich alleine”, sagte Cassis.

„Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mir deinen Schlitten mal von innen ansehe? Du kennst ja meine Pflicht”, sagte Bobby und zeigte beim Grinsen sein lückenhaftes Gebiss.

Er ging zur Rücksitztür, stieg in das Fahrzeug ein und stand mit ziemlicher Sicherheit direkt über mir.

Eigentlich kannte ich das Gefühl von Platzangst nicht, doch Bobby war ein ziemlich großer und üppiger Mann mit dickem Bauch. Da wurde es mir dann doch flau im Magen. Ich kämpfte dagegen an, als ich Bobby sagen hörte: „Cassis, du kleiner Fuchs ... meinst wohl, schlauer als ich zu sein. Was ist mit dem Bett? Wo ist dein Passagier?“

Wie so oft in letzter Zeit krabbelte die Panik meinen Körper entlang und erreichte mich mit Hitzewellen.

Innerhalb von wenigen Sekunden war ich in Schweiß gebadet. Gerade als ich mir auszumalen versuchte, was mit mir geschehen würde, wenn Bobby mich entdecken würde, das Ganze auch noch, während er direkt über mir stand, sah ich auf dem Bildschirm Cassis, der verschmitzt grinste.

„Bobby, du kleiner Fuchs. Dir fällt auch jedes Detail ins Auge. Vielleicht kann ich dir ein kleines Trinkgeld geben und du erzählst niemandem davon? Du weißt so gut wie ich, wenn nicht noch besser, wie hübsch die Frauen hier in Wales sind, oder?“

Gebannt starrte ich auf den Monitor und sah die Veränderung in Bobbys Gesicht.

Ein Grinsen breitete sich langsam darauf aus, als er fragte: „Cassis, an wie viel hast du dabei gedacht? Ich meine, wie viel ist dir mein Schweigen wert?“

Der Bildschirm fing schlagartig an zu flimmern, ging dann ganz aus und ich saß im Dunkeln. Es war so finster, dass ich nicht einmal meine eigene Hand vor den Augen sah. Endlich konnte ich spüren, wie sich unser Fahrzeug nach einigen Minuten langsam wieder in Bewegung setzte, doch mehr geschah nicht.

Nach einer halben Ewigkeit – so empfand ich es jedenfalls – drang endlich Licht zu mir in die Luke. Steif geworden richtete ich mich auf und wartete einen Augenblick lang, bis sich meine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten. Gerade als ich mir überlegte, wie ich am besten wieder herauskommen sollte, setzte sich der Ledersessel in Bewegung und fuhr mich sanft nach oben. Die Autotür wurde geöffnet und Cassis stand wieder mit einer kleinen Verbeugung vor mir.

Beim Aussteigen nahm ich die Umgebung wahr und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Wir befanden uns in einer Art Tiefgarage. Überall um uns herum standen Autos. Nein. Das Wort war zu profan, um auszudrücken, was ich zu sehen bekam. Vom Sportwagen bis hin zum Doppeldeckerbus und einer Harley Davidson war alles vorhanden.

Cassis schenkte mir einen Augenblick, bis er lächelnd sagte: ,,Willkommen an der Conwy-Akademie! Es war mir eine große Ehre, Mr. Daniel, Sie hierher begleiten zu dürfen. Tom, würdest du bitte Mr. Daniel nach oben bringen?“

Im dem Moment fiel mir auf, dass an fast jedem Rennwagen oder, besser gesagt, an fast jedem Fahrzeug ein Mann am Arbeiten war.

Neben uns schlug ein Mann mit rotblonden Haaren die Tür eines gelben Lamborghinis zu und stellte sich mit „Tom, stets im Dienste von Sir Edmund” vor. Als ich mich nach Cassis umdrehte, um mich von ihm zu verabschieden, war er schon verschwunden.

Tom führte mich zu einer ziemlich großen Liftanlage, in der man sicherlich eine große Anzahl von Personen oder sogar Fahrzeugen transportieren konnte.

Wir stiegen in einen kleineren Lift daneben, der rundum mit rotem Samt bezogen war. An drei Liftwänden waren klappbare Samtsitze zu sehen, die mich an Kinostühle erinnerten. Die Zahlen, die auf den Druckknöpfen angebracht waren, begannen alle mit einem Minus. Sie erinnerten mich an die eines Parkhauses, wenn man nur in eine Richtung fahren konnte. Und zwar nach unten. Ein sonderbares Gefühl bestätigte mir, dass wir uns unter der Erde befanden.

Nachdem wir angekommen waren und die Lifttür aufging, verneigte sich Tom mit den Worten: „Auf unser aller Wohl.”

Ich stand in einer riesigen Halle. Vieles erinnerte mich dort an einen Bahnhof, vor allem die riesige und antik aussehende Uhr im Mittelpunkt. Sie verschmolz mit dem braunen Naturstein, der einen üppigen Torbogen bildete. Es herrschte ein ziemlich reges Treiben, jedoch frei von Hektik. Mein Blick fiel auf eine Gruppe, die ein paar Meter von mir entfernt lachte. Ein schwarzhaariges Mädchen drehte sich nach mir um. Unsere Augen trafen sich. Keiner von uns beiden unterbrach den Blick. Erst als es von einer Freundin mehrmals angestoßen wurde, senkte es kurz den Blick, bevor es mich wiederholt ansah.

Ein Windstoß kam auf und unterbrach schließlich die Verbindung. Meine Aufmerksamkeit wurde zum Torbogen gelenkt. Dort entstand wie aus dem Nichts zu dem starken Wind auch noch dichter Nebel. Manche Gruppen, die sich in der Halle aufhielten, steuerten darauf zu. An einer Art Öffnung in der danebenliegenden Wand erschien aus dem Nebel ein geformtes Wort: HELFER.

Da ich damit nichts anfangen konnte, ging meine Aufmerksamkeit zurück zu dem Mädchen. Doch es war nicht mehr da.

Mit langem Hals und auf Zehenspitzen balancierend suchte ich erfolglos die Menge nach ihr ab. Sie war spurlos verschwunden.

Ein Junge steuerte in lässigem Gang direkt auf mich zu. Er hatte schwarze Haare, die unter einer Baseballmütze zu sehen waren. Seine schwarzen Augen kamen mir irgendwie bekannt vor. Woher, wusste ich jedoch nicht.

„Tag, kann ich dir helfen? Du siehst so aus, als bräuchtest du dringend Hilfe”, sagte er mit einem schalkhaften Lächeln.

„Na ja”, setzte ich verwirrt an, ,,was ich suche, kann ich dir gar nicht genau sagen, es ist … Eigentlich suche ich gerade ein Mädchen.“

„Was?“, sagte der Junge lachend. „Du suchst ein Mädchen?“

Als er das fragte, kniff er seine Augen zusammen und legte dabei seinen Kopf schief. Sah ich außerdem ein ironisches Lächeln auf seinen Lippen?

„Einen wunderschönen guten Morgen an alle Neuankömmlinge!“, tönte es plötzlich schallend aus mehreren Lautsprechern, die an den Wänden angebracht waren. „Kommt bitte mit unserem Nebelblitz in unser Auditorium. Wenn das Wort ‚Neuankömmlinge’ in der Einfahrtsschleuse erscheint, freut euch, dann seid ihr an der Reihe. Auf unser aller Wohl, Ende der Durchsage.“

„Wo muss ich hin?“, fragte ich mehr mich selbst, da ich immer noch verwirrt von dem intensiven Blickkontakt mit dem Mädchen war.

„So ist das also, hätte ich mir auch gleich denken können. Du bist also ein Frischling hier. Komm mit, du wirst dort drüben einsteigen. Ich bin übrigens Levi.“

„Ich bin Daniel, aber meine Freunde nennen mich alle nur Danny.“

„Alles klar, Danny. Komm schon, du musst dich beeilen. Ihr seid schon an der Reihe.“

Nebel und Wind kamen erneut hinter dem Bogen auf, und es erschien in der Nebelschrift: NEUANKÖMMLINGE.

Eine Traube von jungen Leuten entstand an der sogenannten Einfahrtsschleuse. Einige davon schauten sich unsicher um. Ein Junge mit einer Baseballkappe hielt ein Schild in die Höhe, auf dem einige Namen standen.

„Das ist Kilian aus meinem Kollegium. Anscheinend ist er heute für euch zuständig. Folge ihm, sei aber auf der Hut. Viel Spaß”, wies Levi mich an.

Kilian machte plötzlich einen Schritt nach vorne in den Nebel hinein und war augenblicklich nicht mehr zu sehen. Unruhe entstand in der Gruppe, sodass ich meinen ganzen Mut zusammennahm, meine Augen schloss und einen Schritt in den Nebel machte.

Auch wenn ich nicht wirklich davon ausgegangen war, mich mit dem Schritt in die Tiefe zu stürzen, war ich doch sichtlich erleichtert, als ich meine Augen wieder öffnete. Ich fand mich in einem Fahrzeug wieder. Es sah exakt so aus wie ein Achterbahnwagen in einem Freizeitpark. Ich konnte zehn Sitzplätze pro Reihe zählen. Wie viele Reihen der Nebelblitz hatte, war auf die Schnelle nicht zu erkennen, da ich in der ersten gelandet war. Neben mir hatte Kilian bereits seinen Platz eingenommen. Er beugte sich nach vorne, um das Schild in einer Öffnung vor uns zu verstauen. Dann gab er mir durch eine klare Geste mit der Hand zu verstehen, dass auch ich mich setzen sollte.

Er wartete einen weiteren Moment, schaute sich dabei immer wieder um und wies uns dann schließlich weiter ein: „Ihr müsst alle den Bügel über euren Köpfen nach unten ziehen. Ihr müsst ihn so fest gegen euren Körper pressen, dass ihr ein Einrasten spürt.“

Es dauerte eine ganze Weile. Die einen hatten sich schnell angeschnallt, während andere es einfach nicht hinbekamen. Na, so schwierig war es doch wirklich nicht … Ich wunderte mich ein wenig darüber. Dann bekam ich das eigentliche Problem mit. Ein kleiner und untersetzter Junge musste wieder aussteigen, denn sein Bügel ließ sich einfach nicht schließen. Selbst als Kilian bei ihm war, um mit Druck nachzuhelfen, war es unmöglich. Der Bügel stand in einem 45-Grad-Winkel vom Körper ab. Schließlich hatte Kilian keine Geduld mehr. Er wies den Jungen an, auszusteigen. Draußen sollte er sich an andere Ausbildungsschüler wenden, die ihm einen umständlicheren und mühsameren Weg zum Auditorium zeigen würden.

Schon war er verschwunden und ich vernahm von meinem Nebenmann ein „Alles klar, es kann losgehen”. Bei den Worten streckte er beide Daumen in die Höhe.

Mit einer unerwartet großen Wucht schossen wir im freien Fall nach unten. Mich hob es komplett aus meinem Sitz und ich wurde gegen die Schultergurte gepresst. Das abrupte Bremsen war dann endgültig zu viel. Glücklich darüber, noch kein Frühstück im Magen zu haben, torkelte ich aus dem Nebel.

Wir standen, allesamt kreideweiß im Gesicht, in einem kleinen, ovalen Raum. Die Rundung war mit Kinostühlen ausgestattet. Jeder sollte seinen Namen an den Plätzen suchen, um sich zu setzen. Eine Tür ging auf und zwei Männer, die ich als Sir Edmund und Cassis erkannte, betraten den Raum. Beide hatten weiße Haare, doch bei Sir Edmund stand es in alle Richtungen ab, sodass er mich an Einstein oder an einen anderen wirren Professor erinnerte – im Gegensatz zu Cassis. Er schien seine Haare unter der Melone voll unter Kontrolle zu haben.

Sir Edmund nahm sich ein Headset und deutete uns an, es ihm gleichzutun.

An den Rückenlehnen waren Kopfhörer angebracht, die wir alle auf unseren Köpfen platzierten. Die beiden Männer setzten sich unten an einen Schreibtisch und schauten etwas ungeduldig auf uns Neue. Nachdem auch der Letzte einen Kopfhörer aufhatte, begann Sir Edmund zu sprechen. Er hieß uns herzlich willkommen, musste uns aber, bevor er seine Rede fortsetzen wollte, zuerst über ein sehr wichtiges Thema unterrichten. Zum zweiten Mal an dem Morgen hörte ich, dass an der Akademie die höchste Sicherheitsstufe eingetreten sei. Leider würden wir nicht darum herumkommen, all unsere persönlichen Dinge für kurze Zeit abzugeben, da sie noch in einer Kontrollschleuse geprüft werden müssten. Zwar hatte ich an jenem Tag bereits etwas von Schleusen gehört, doch ich hatte mich zu dem Zeitpunkt alles andere als in einer gewöhnlichen Situation befunden. Ich hatte in einer sonderbaren Luke der Limousine gesessen, die mich hergebracht hatte. Wer würde sich dabei schon Gedanken darüber machen, was es mit Bobby und den Schleusen alles auf sich hatte, wenn man bereits bei den Grübeleien über eine Erklärung der Größe des Fahrzeugs scheiterte?

Cassis war unweit von mir bereits am Einsammeln. Hektisch zog ich mein Handy aus der Hosentasche und löschte noch schnell die beiden Fotos von Sue, die ich mir erschlichen hatte. Dann fiel mir mit Schrecken der Stift ein, den ich mir zu Hause in die Hosentasche geschoben hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn verschwinden lassen sollte … Doch dann bemerkte ich, dass er gar nicht mehr da war. Verdammt, ich war mir sicher, dass ich ihn zu Hause eingesteckt hatte! War er mir in der Limousine aus der Hose gerutscht?

Schon stand Cassis vor mir. Verwirrt starrte ich in den kleinen Korb, den er mir entgegenstreckte, bis ich verstand, was er von mir wollte. Mit gemischten Gefühlen legte ich mein Handy hinein. Einerseits war ich froh, dass der Stift weg war und ich ihn nicht durch die Schleuse schicken musste, was immer das auch war. Andererseits dachte ich mit einem unguten Gefühl daran, dass ich ihn verloren haben könnte.

Sir Edmund riss mich aus meinem Grübeln, indem er seine Rede fortsetzte. Kurzfristig konnte ich mir keine Sorgen um den Verbleib des Stiftes machen, obgleich ich einen merkwürdigen Kloß im Hals nicht mehr ganz losbekam. Schnell konzentrierte ich mich auf Sir Edmund.

„Danke an alle für das Vertrauen. Selbstverständlich werden die persönlichen Dinge in wenigen Minuten wieder ausgeteilt. Nun zum offiziellen Teil: Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass in unserem Hause schon seit vielen Generationen eine exzellente Ausbildung in fünf Institutionen stattfinden kann. Nur die besten Ausbilder werden Sie in den verschiedenen Zweigen dabei betreuen. Auch über Generationen hinweg hat sich hierfür der sogenannte Findungstag bewährt. An diesem Tag werden wir feststellen, für welchen Zweig jeder Einzelne von Ihnen hier geeignet ist. Neben den allgemeinen Fächern wie Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften bietet jeder Zweig eine eigene Spezialisierung. Dazu eine ganz kurze Erläuterung meinerseits. Wir unterrichten in fünf verschiedenen Zweigen: in dem der Kämpfer, der Helfer, der Finder, der Mützenträger und der Erben. Was genau jeder Zweig an Aufgaben zu erfüllen hat und worin die Auszubildenden spezialisiert werden, das wird das Geheimnis der Zweige bleiben. Wir sehen unsere Verantwortung darin, allen die bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen und alle in ihren Fähigkeiten zu stärken. Das geht bekanntlich am Besten, wenn wir die Talente eines jeden Einzelnen kennenlernen dürfen. Daher der Findungstag, um für jeden den geeigneten Zweig zu finden. Dieser wird für Sie am morgigen Montag stattfinden. Da die Vorgehensweise schon immer geheim war und es auch bleiben soll, bitte ich Sie, morgen früh um 5:00 Uhr in der Kantine zu erscheinen.“

Ein unüberhörbares Raunen ging durch den Raum. Um 5:00 Uhr sollten wir bereit sein! Das ging ja schon super los. Müde von der letzten Nacht musste ich ein Gähnen unterdrücken, als Sir Edmunds Stimme erneut über die Kopfhörer zu uns sprach.

„Einen Moment der Aufmerksamkeit erbitte ich mir noch von Ihnen. Wir sind sehr stolz auf die Größe unserer Conwy-Akademie. Doch die Größe bringt auch Tücken mit sich. Nicht allein aus diesem Grund wird jeder von Ihnen einen Paten für das erste Ausbildungsjahr zur Seite gestellt bekommen. Er wird Sie in die Akademie sowie in viele weitere Abläufe einführen.“

Ein erneutes Stöhnen zeigte den Unmut aller Neuankömmlinge. Wir waren doch keine Kindergartenkinder mehr!

„Bitte … ich muss Sie ermahnen, mir noch wenige Minuten Ihrer kostbaren Zeit Gehör zu schenken. Ich habe noch eine äußerst wichtige Sache zu guter Letzt – und diese ist sehr, sehr wichtig! Wichtiger als alles andere zuvor! Informieren Sie mich bitte umgehend, wenn Sie einen durchsichtigen Stift mit roter oder grüner Flüssigkeit irgendwo hier an dieser Akademie finden sollten. Ich wiederhole mich noch einmal: Es geht um zwei durchsichtige Stifte mit jeweils einer grünen und einer roten Mine. Und jetzt spreche ich eine Warnung aus: Fassen Sie diese Stifte unter keinen Umständen an! Auch wenn es lächerlich klingt, befolgen Sie dies zu Ihrer eigenen Sicherheit. Sollten Sie einen dieser Stifte sehen, informieren Sie bitte umgehend Ihren Zweigleiter. Nun möchte ich Ihnen allen nicht vorenthalten, warum es so wichtig ist. Diese lebensnotwendige Vorschrift wurde leider in der Vergangenheit missachtet. Es endete für den betreffenden Schüler tödlich. Diese Tragödie soll sich unter keinen Umständen wiederholen. So, genug der Warnung. Ich bin mir sicher, dass ich es bei Ihnen mit vernünftigen Personen zu tun habe. Jetzt wünsche ich Ihnen allen einen gesegneten Appetit bei Ihrem ersten Frühstück hier bei uns im Castle. Bis bald. Auf unser aller Wohl.“

Cassis verwies uns auf eine Liste an der Tür, während er uns die Handys wieder austeilte. Darauf würden wir unsere Namen mit den jeweils zugehörigen Paten finden.

An der Tür angekommen, suchte ich nach meinem Namen. Doch hinter „Frayne, Daniel“ stand nur ein Fragezeichen. Was sollte das denn schon wieder? Warum wurde mir kein Pate zugewiesen? Schnell überflog ich die Liste. Bei allen stand ein zweiter Name dahinter. Nur bei mir nicht! Warum war ich der Einzige mit einem Fragezeichen? Verwirrt stieg ich in das Fahrzeug, das uns hergebracht hatte. Die Fahrt nach oben war etwas besser. Oder … unter anderen Umständen hätte es mir wahrscheinlich sogar Spaß gemacht, aber so … Ich hatte keinen Plan, wie ich mich verhalten sollte.

Es brachte uns direkt in eine Kantine. Dort roch es einfach köstlich nach Ei und Speck. Vor der langen Essenstheke standen einige Jungs und Mädchen mit Zetteln vor ihrer Brust, auf denen Namen zu lesen waren. Alle aus unserer Gruppe liefen sofort auf ihren Paten zu, nur ich stand da und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Keiner schien auf mich zu achten. Die Kantine war recht groß. Es befand sich eine Unmenge an Tischen darin, in allen möglichen Größen und Formen. Ziemlich weit hinten in der Ecke konnte ich sogar Bistrotische sehen, mit jeweils zwei oder mehreren Stühlen daran.

Da immer noch keiner auf mich achtete, wollte ich mir erst einmal ein ordentliches Frühstück gönnen. Mit vollem Magen konnte mein Gehirn sicherlich besser arbeiten. Mir lief das Wasser im Munde zusammen, als ich all die leckeren Sachen sah, die ich mir von der Essenstheke nehmen konnte. Ohne genau darauf zu achten, was ich alles auf meinen Teller häufte, musste ich beim Obst feststellen, dass er bereits übervoll war. Schnell nahm ich mir noch Besteck und suchte mit meinen Augen den Raum nach einem Platz ab, an dem nicht auffallen würde, dass ich alleine war.

Dann sah ich Kilian, der alleine an einem runden Tisch mit vier Stühlen saß und das Essen in sich hineinschaufelte. Als ich den ihm gegenüberstehenden Stuhl zurückzog, um mich zu setzen, schaute Kilian nicht einmal von seinem Essen auf. Doch viele Bissen von meinem köstlichen Frühstück waren mir nicht vergönnt. Ohne Vorankündigung hob Kilian seinen Kopf und sah mir direkt in die Augen.

„Was willst du an meinem Tisch? Wo ist dein Pate?“

Zum Glück hatte ich mir kurz zuvor eine riesige Menge an Rührei in den Mund geschoben. Ich deutete mit meinem Zeigefinger darauf und gewann so wenige Sekunden, um zu überlegen. Mir musste schnell eine Antwort einfallen. Was sollte ich nur sagen? Wusste Kilian bereits, dass mir kein Pate zugeteilt worden war, und es war ein Test, ob ich bei der Wahrheit bleiben würde? Ich kaute übertrieben deutlich, aber es war mir tatsächlich nicht möglich, den Bissen hinunterzuschlucken.

Die Kantine leerte sich so langsam. Als schließlich die Letzten im Nebel verschwanden, saßen Kilian und ich alleine am Tisch. Ich kaute immer noch unter penetranter Beobachtung.

Irgendwann schien Kilian keine Geduld mehr zu haben. Ruckartig stand er von seinem Stuhl auf, nahm sein Tablett in die Hände und sagte nur: „Na ja, kann mir auch egal sein, wenn du zu blöd bist, deinen Namen auf einer Liste zu finden. Schau selbst, wie du deinen Paten findest.“

Und schon war auch er im Nebel verschwunden.

Meine Augen suchten die Kantine ab. Außer mir waren nur noch Menschen auf der anderen Seite der Essenstheke im Raum, die gerade am Abräumen waren. Ratlosigkeit machte sich in meinem Kopf breit.

Plötzlich vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche.

Daniel … du benötigst dringend einen Paten, sonst schweben wir, ich meine, sonst schwebst du in höchster Gefahr! Bis jetzt weiß noch niemand von deinem Patenfragezeichen. Die Patenauswahl trifft die Schleuse. Da niemand würdig ist, deine Patenschaft zu übernehmen, müssen wir dringend selbst handeln! Geh jetzt los, aber nicht durch den Nebel. Wähle die Tür links neben den Tabletts. Denke an eine Person, die dein Pate sein könnte, bei dieser Person wirst du ankommen. Beeile dich, die Zeit drängt. Lösche jetzt sofort diese Nachricht und befolge meinen Rat.

Ohne nachzudenken drückte ich die Taste „Löschen“.

Mit der Aussicht auf eine Lösung meines Patenproblems war mir der Absender der Nachricht kurzfristig egal. Es musste ein Pate her. Ich hatte keine Lust, bereits in den ersten Stunden an der Akademie durch so etwas aufzufallen. Ich hob meinen Kopf, während ich das Handy in der Hosentasche verschwinden ließ.

Alle Anwesenden waren nach wie vor beschäftigt. Noch könnte ich mich unauffällig aus dem Staub machen. Ich schob eine Tür auf und kam wieder ins Staunen. Hinter der schweren Holzschiebetür befand sich doch wahrhaftig noch ein Paternoster. Zusteigen konnte man nur in eine Richtung. Ich machte einen Schritt nach vorne und stand drin. Sehr langsam wurde ich nach unten gefahren. Ungeduldig sah ich mich um. Der Paternoster schien noch von einer ganz alten Sorte zu sein. Er bestand überall aus Holz. Dann wandte ich meinen Blick von den drei Holzwänden ab und der Öffnung zu. Ich fuhr, besser gesagt, ich tuckerte an verglasten Wänden vorbei, durch die man hindurchsehen konnte.

Im ersten der Räume konnte ich sehen, wie alle anwesenden Personen in einer Art Kreis saßen, während sie sich an den Händen hielten. Die Fahrt ging unaufhörlich in monotoner Geschwindigkeit weiter und ich starrte gebannt in den nächsten Raum. Darin standen alle Anwesenden in einer Warteschlange; ihre Gesichter, die ich kurz wahrnehmen konnte, wirkten angespannt und ernst. Na so was! Anfangs war ich unzufrieden mit der trödeligen Geschwindigkeit des Fortbewegungsmittels gewesen, doch mittlerweile ging es mir viel zu schnell. Ich hatte immer nur wenige Sekunden, um mir ein Bild von den verschiedenen Räumen zu machen.

Schon kamen wir am dritten Raum vorbei. Dort lagen alle Anwesenden auf Ledersesseln, die nach hinten geklappt waren. Irgendwie erinnerten sie mich an solche bei einem Zahnarzt. Sie waren in einem Halbkreis angeordnet und alle, die in den Sesseln lagen, hatten Kopfhörer auf, wozu auch immer. Ans Musikhören dachte ich komischerweise bei der Szene nicht.

In Gedanken starrte ich plötzlich nur noch auf Betonwände. Eine Gemeinsamkeit fiel mir spontan ein, die den Unterricht an der Gore mit der Ausbildung an der Akademie vergleichbar machte: In allen Räumen gab es eine Person, die auf den Rest einzuwirken schien.

Der Paternoster wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Ich befand mich in einem Computerraum, in dem jemand alleine vor den Bildschirmen saß. Es war Levi, dem ich bereits in der Halle begegnet war.

Er musste ein Geräusch wahrgenommen haben, denn sein Kopf fuhr zu mir herum. Dann starrte er mich an.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens meinte er: „Wow, was machst du denn heute schon hier unten? Sag jetzt bloß nicht, dass dich jemand zu mir geschickt hat, denn das nehme ich dir nicht ab. Du bist ja echt der Knaller! Heute erst hier angekommen und schon auf Entdeckungsreise. Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich heute Dienst habe, noch dazu alleine. Junge, wenn das Sir Edmund mitbekommt! Aber woher wusstest du überhaupt von dem Paternoster?“

Endlich schien er Luft holen zu müssen. Ohne den geringsten Plan zu haben, redete ich einfach drauflos. „Tja, das erzähle ich dir am besten ein andermal. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, wo du eigentlich bei der Veranstaltung warst. Finde es übrigens klasse, dass du mein Pate bist.“

Levis Mund öffnete sich für einen Moment. Ohne ein Wort gesagt zu haben, schloss er ihn wieder. Dann schob er seine Baseballmütze leicht nach oben. Etwas blasser um die Nase fand er schließlich seine Sprache wieder.

,,Da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich bin nicht dein Pate.“

Verzweifelt wusste ich nicht mehr, was ich noch sagen sollte. Zu allem Übel krallten sich bestimmte Worte der sonderbaren Nachricht in meinem Gehirn fest: „Sonst schwebst du in höchster Gefahr … sonst schwebst du in höchster Gefahr … sonst schwebst du in höchster Gefahr …“

Die Worte schienen allen möglichen Raum in meinem Kopf einzunehmen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken.

„Verstanden?“

„Was soll ich verstanden haben?“

„Hahaha! … Na gut, für alle hier anwesenden Verwirrten, die gleich am ersten Tag ein Mädchen suchen, wiederhole ich mich gerne noch einmal, und wenn es nötig sein sollte, sogar noch ein weiteres Mal.“

Er lächelte verschmitzt und zeigte dabei seine makellos weißen Zähne, doch kurz darauf wurde er ernst und fuhr fort: „Warum ich heute Dienst hatte, obwohl ich anscheinend dein Pate sein soll, weiß ich selbst nicht. Lass uns zu Cassis gehen, er wird das mit der Patenschaft klären können. Vielleicht ist ihm einfach auch nur ein Fehler bei der Einteilung unterlaufen? Komm, ich kann für kurze Zeit die Sicherungsanlage einschalten.“

Als Levi an einen Sicherungskasten ging, begann ich vor Panik wie wild auf ihn einzureden. Ehrlich verzweifelt versuchte ich ihn davon zu überzeugen, dass es wohl keinen guten Eindruck machen würde, wenn ich gleich an meinem ersten Tag für Stress wegen der Patengeschichte sorgen würde. Als Levi mich skeptisch über seine Schulter hinweg ansah, redete ich mir meine Seele aus dem Leib. Mein Monolog, zu dem ich angesetzt hatte, endete bei dem Paternoster und dem Raum, in dem ich offensichtlich gar nicht hätte stehen dürfen.

Endlich veränderte sich Levis Gesichtsausdruck. Genau das sah er zu meinem Glück genauso!

Mit dem Versprechen des absoluten Stillschweigens über den Vorfall kamen wir in der Halle an. In der Nähe der Einfahrtsschleuse war ein sehr großes Display an der Wand angebracht.

Levi steuerte direkt darauf zu, überflog es für einen Moment und sagte: „Daniel … richtig? Ja … da haben wir dich schon. Super!“

Wieder stiegen wir in einen Lift. Levi gab fix eine Zahlenkombination ein, während sich die Türen auffallend geschmeidig schlossen. Als sie sich öffneten, starrte ich in ein Zimmer, das mir sehr bekannt vorkam. Verblüfft machte ich einen Schritt aus dem Fahrstuhl. Ich stand wirklich und wahrhaftig in meinem Zimmer – das in Swansea, das in der Queensroad in meinem Elternhaus. Ich konnte es nicht fassen! Meine Sporttasche stand vor meinem Bett und alles erinnerte mich exakt an das gleiche Bild, das ich am Vorabend hatte. Selbst mein Badezimmer schien dasselbe zu sein.

Wie war das möglich?

Ich ließ mich auf den Boden gleiten. Wie lange ich im Schneidersitz dort saß, wusste ich nicht. Als Levi mir wieder einfiel, rappelte ich mich mit eingeschlafenem Fuß hoch, um mich von ihm zu verabschieden, doch ich konnte ihn in meinem Zimmer nicht mehr finden. Ich humpelte hin und her, um mein Bein wieder aufzuwecken. Es fing wie verrückt an zu kribbeln.

Mir war nach einer kalten Dusche. Sowohl ich als auch mein Bein benötigten so schnell wie möglich eine Abkühlung.

Nackt in der Duschkabine stehend ließ ich für kurze Zeit eiskaltes Wasser an meinem Körper herunterlaufen, so lange, bis es schmerzte. Langsam öffnete ich den Schraubhahn für warmes Wasser. Müde und vollkommen erschöpft lehnte ich mich mit meinen Armen gegen die kalte, geflieste Wand und stützte meine Stirn darauf. Es schossen mir unzählige Fragen in den Kopf, die ich bisher erfolgreich verdrängt hatte.

Was hatte Sir Edmund mit der Warnung vor zwei Stiften gemeint? Hatte er etwa auch von meinem Stift gesprochen?

Ich erinnerte mich an die Handverletzungen von Prof. Zac an der Gore School. Was hatte das zu bedeuten? War mein Stift tatsächlich gefährlich? Und was hatte es mit dem grünen Stift auf sich? Gab es etwa mehr davon als nur mein seltsames Exemplar?

Und warum verflucht noch mal musste ich mir meinen Paten selbst organisieren, ohne den ich noch dazu in höchster Gefahr schweben würde? Was war aus meinem Leben geworden? Ich befand mich in meinem Zimmer, im Bad, unter meiner Dusche, und doch war ich nicht zu Hause …

Ob mich da momentan zu viel an meine Freunde, meine Heimat, mein altes, schönes Leben erinnerte oder ob ich langsam zu einem anderen Menschen mutierte, konnte ich nicht einordnen, als sich unter das heiße Wasser in meinem Gesicht warme Tränen mischten.

Cináed

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