Читать книгу Sternentropfen - Tanja Lauber - Страница 4
Ich bin Milo
ОглавлениеIch brauche meine Träume, sie sind mein Antrieb. Ohne sie kann ich die Sterne nicht berühren und die Sterne fühlen sich doch so schön an, manchmal kühl und glatt, so dass ich ihre wunderschöne Form deutlich empfinde und wenn mir kalt ist, können sie auch kuschelig weich und warm sein.
Ich brauche doch meine Seifenblase, die es schafft bis zu den Sternen zu fliegen, weil ich sie mit realen Mitteln nicht begreifen kann, deshalb möchte ich sie mir erträumen.
Ich sei sehr intelligent sagen meine Lehrer und meine Eltern, ich würde nur zu viel
träumen. Das sei das einzige Problem und so könnte ich es im Leben nicht weit bringen.
Wie bringt man es denn weit im Leben?
Was bedeutet das - es weit zu bringen?
Was ist eigentlich das – es - in der Frage?
Was bitte soll man weit bringen?
Und wie weit ist weit?
Manchmal denke ich, die Erwachsenen glauben tatsächlich sie hätten auf alles eine Antwort und dabei merke ich nicht mal, dass sie Fragen stellen.
Wie kann man denn Antworten haben, wenn man keine Fragen stellt?
Die Erwachsenenwelt ist mir ein Rätsel. Die Erwachsenen tun so, als wäre ihre Welt die wirklich wahre. Sie tun so, als hätten sie den Überblick.
Mich interessiert eher, was sich hinter einer Sache verbirgt; also was ich zu einer Sache dazuerfinden kann. Vielleicht bilden sie sich ja nur ein einen Überblick zu haben, um nicht unterzugehen in den verborgenen Fragezeichenflüssen hinter den Dingen. Vielleicht sind Fragezeichen für sie auch wie Schlingen, von denen sie sich bedroht fühlen, weil sie Angst haben, sie könnten sie zu Fall bringen.
Die meisten Erwachsenen mögen jedenfalls keine Fragezeichen, das glaube ich.
Sie wollen schnell einen Punkt oder einen Haken hinter einer Sache machen.
In meiner Welt gibt es keine Punkte. Die Worte schwimmen immer weiter. Punkten glaube ich nicht, da fehlt doch immer was.
Fragezeichen liebe ich, weil sie weich und offen sind – Punkte und Haken sind hart.
Aber die Frau, die über mich schreibt, macht auch immer hinter jedem Satz einen Punkt, sie ist halt auch erwachsen und hat das so gelernt. Sie denkt Punkte seien nicht ganz unnütz, weil sie das Lesen leichter machen. Also ok, soll sie es machen wie sie will, ich bleibe bei meiner Meinung, Punkte sind unecht und deshalb nicht schön.
Ich bin ein Junge, darauf kommt es mir allerdings nicht an, es wäre bestimmt auch schön ein Mädchen zu sein. Aber ein Junge zu sein ist halt auch schön, es spielt also keine Rolle für mich.
Also ich meine es spielt deshalb keine Rolle, weil sich ja nur die Körper unterscheiden, die Seele hat kein Geschlecht. Die Seele besteht aus Farben, die ich nicht sehen kann, aber ich spüre sie.
Die Erwachsenen haben dunklere Seelenfarben als wir Kinder.
Über den Farben der Erwachsenen liegen meistens Schatten, das spüre ich, weil ich die Farben der Kinder stärker spüren kann.
Ich habe das Gefühl, dass die Erwachsenen oft vor irgendetwas Angst haben.
Vielleicht sind diese Schatten, die ihre Farben bedecken, Angstschatten.
Aber vor was könnten sie Angst haben?
Ich fühle mich frei und stark. Stark wie ein Kolibri, der seinen eigenen Flügelschlag wie ein König beherrscht, und frei wie ein Löwe, der sein Brüllen selbst am lautesten hört. Ich fürchte mich nicht.
Ihr denkt jetzt bestimmt ich übertreibe. Ok, ich gebe es zu, vor einer Sache habe ich Angst. Ich habe Angst erwachsen zu werden, weil ich Angst habe, meine Seelenfarben könnten dann auch unter Schatten liegen und ich könnte sie dann nicht mehr so gut spüren. Ich möchte nicht dunkler werden. Aber muss das jeder, der erwachsen wird. Ist das so eine Art Geheimcode?
Also ich stelle mir das so vor:
Kinder können unter Wasser atmen, da sie noch nicht wissen, dass das eigentlich nicht geht, doch irgendwann kommen die Erwachsenen und sagen:
Du kannst nicht im Wasser atmen, so verlernen es die Kinder, weil ihnen bewusst wird, dass es nicht möglich ist.
Die Kinder werden an Land gezogen wie wunderschön leuchtende Vogelfische.
Sie werden in eine dunkle Kammer gelockt und in dieser Kammer flüstern ihnen die Erwachsenen die Schatten ins Ohr, die sich dann auf ihre Farben legen.
Sie geben dir noch ein Foto aus deiner Kindheit mit, das sie in der Dunkelkammer entwickelt haben.
Danach bekommst du noch einen Stempel auf die Stirn, ein Strichcode, an dem jeder erkennen kann, dass du kein Kind mehr bist.
Raus aus der Tür geschoben, die Kammer verschwindet, das Wasser ist weg und schwups sitzt du fest in dieser Welt der Seelenschatten.
Ich nenne die Erwachsenen einfach Schattis, weil sie ja alle einen Schatten haben.
Nun wisst ihr es, ich fürchte mich vor der Dunkelkammer.
Doch genau diese Angst hat mich zu einem Wunsch geführt, zu dem Wunsch ein großer Entdecker zu werden. Durch die Angst vor der Schattenwelt hat sich für mich meine Mission ergeben: Ich möchte herausfinden, wie man erwachsen werden kann ohne die Dunkelkammer zu betreten. Ja, ich sollte die Schattis mal genau untersuchen, um herauszufinden, was mit ihnen nicht stimmt.
Und dann muss ich mir auch Exemplare herauspicken, die es geschafft haben der Dunkelkammer zu entgehen und die trotzdem erwachsen sind; die keine Schattis sind, aber vielleicht sind diese Exemplare die wirklichen Erwachsenen.
Die Diamanten, nein die Brillianten unter den Schattis.
Aber das wird eine gefährliche Mission, die gefährlichste Mission meines
10- jährigen Lebens, denn die Schatten lauern über mir. Auf meiner Mission könnten sie mich in die Dunkelkammer ziehen, dann wäre ich mutiert und meine Mission gescheitert.
Vor allem darf ich niemandem von meinem Vorhaben erzählen, einfach aus dem Grund, weil eine Mission, die streng geheim ist, aufregender ist, und damit es sich schön wichtig anfühlt.
Vielleicht denkt ihr, es ist doch unwahrscheinlich, dass ein 10- Jähriger schon ein Buch schreibt. Ja es ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Doch ich möchte an dieser Stelle ganz offen zu euch sein: Mich gibt es eigentlich gar nicht – ich bin frei erfunden. So eine Frau schreibt nur aus meiner Sicht, weil sie denkt, ich eigne mich gut für die Geschichte. Vielleicht könnt ihr euch trotzdem vorstellen, dass es mich gibt und verzeiht der Frau, wenn sie mich mal unglaubwürdig darstellt, sie ist ja auch nur ein Mensch.
Ich will meiner Mission einen Namen geben: Entschattung
Ich nenne mich: der Schattenentdecker oder der unerschrockene Schattenentdecker,
nein, lieber Entschatterhand. Ja der Name gefällt mir, ich bin Entschatterhand.
Die Schattis beschatten ja die Kinder, weil sie ihnen in der Dunkelkammer die Schatten einflüstern. Und ich möchte das Geheimnis dieser Beschattung aufdecken,
deshalb muss ich die Schattis beschatten, im Namen meiner Mission.
Aber eine Mission braucht ja auch ein Ziel.
Was könnte mein Ziel sein, mal überlegen. Ach so, ich hatte das ja schon geschrieben: Ich möchte herausfinden, wie man erwachsen werden kann, ohne die Dunkelkammer zu betreten. Aber ich habe noch ein anderes Ziel:
Ich möchte erforschen, ob man die Beschattung, die man als Kind durch die Erwachsenen angehängt bekommt, wieder aufheben kann.
Also muss ich enträtseln, ob es einen gegensätzlich wirkenden Raum zur Dunkelkammer gibt.
Die Frage ist also: Gibt es einen Raum, der den Erwachsenen die Schatten wieder von der Seele nimmt, damit die Seelenfarben wieder leuchten können?
Gibt es einen Entschattungsraum?
Also zusammenfassend notiere ich mir:
Mission: Entschattung
Agentenname: Entschatterhand
Ziele: Woher kommen die Schatten?
Wie kann man ihnen entgehen?
Gibt es einen Entschattungsraum?
Wie kann man die Schatten wieder auflösen?
Was brauche ich für meine Mission:
-Stift
-Notizblock
-Aufnahmegerät
Papa hat noch ein altes Aufnahmegerät auf dem Speicher, das weiß ich. Er hat früher Musik gemacht und auf dieses Gerät hat er immer Textideen gesprochen für seine Songs.
„Papa, kann ich dein altes Aufnahmegerät vom Speicher holen?"
„Wofür brauchst du das denn?"
„Herr Goldfisch hat in der Schule gesagt, wir sollen üben mit starker Stimme zu sprechen, da wir im Leben eine starke Stimme brauchen. Und mit dem Aufnahmegerät kann ich das dann ausprobieren und mir anhören, wie stark meine Stimme klingt."
„Ok“, antwortet Papa, „klar, ich helf dir später suchen, ich weiß gar nicht mehr, wo ich es genau hingeräumt habe."
Also, ihr müsst wissen, Herr Goldfisch ist mein Lehrer und er hat das wirklich gesagt, ist mir halt gerade eben wieder eingefallen und deshalb ist es nur eine halbe Lüge, dass ich das Gerät brauche, um meine Stimme zu trainieren. Eine halbe Lüge ist immerhin besser als eine ganze.
Denn eine halbe Lüge ist eher ein Flunkern und wegen Flunkern kommt ja niemand ins Gefängnis. Das ist also völlig ungefährlich.
Ihr wisst ja, meine Mission ist streng geheim, da werde ich wohl noch öfter flunkern müssen oder man könnte auch sagen, ich muss ab und zu etwas erfinden. Und wenn man etwas erfindet, trainiert man doch auch seine Phantasie. Kleine Lügen sind also auch wichtiges Training für die Phantasie. Ich hab mir das bei den Erwachsenen abgeschaut, die Trainieren ständig ihre Phantasie mit kleinen Lügen, aber sie sind nicht so wirklich gut darin, deshalb brauchen sie wohl das harte Training.
Ich durchschaue sie meistens.
Also, jetzt muss ich mal überlegen, wer wird mein erstes Beobachtungsexemplar?
Mein Vater? Meine Mutter? Die Freundin meines Vaters? Herr Goldfisch?
Oder sollte ich einfach warten bis sich eine interessante Situation ergibt?
Meinen Notizblock halte ich jedenfalls immer bereit.
Ich bin Milo, die mutige Entschatterhand, immer bereit, den Stift zu ziehen.
Mit diesem tatendurstigen Gedanken schlief Milo lächelnd ein.
Doch er stürzte in einen nervenaufreibenden Alptraum.
Er bewegte sich in einem Land voller Schatten, als Detektiv verkleidet taumelte er durch eine düstere Welt. In diesem Traum war er nicht der Jäger.
Die Schatten jagten ihn.
Sie flogen blitzschnell über ihn hinweg, streiften seinen hellblonden Lockenkopf, umkreisten ihn, zischten durch ihn hindurch, so dass er Kälteblitze in sich spürte.
Er fühlte sich den Dunklen hilflos ausgeliefert. Er hatte nicht mal Boden unter den Füßen. Er stolperte in der Luft hängend vorwärts und bei jedem unsicheren Schritt erfasste ihn die Angst vollends in die Tiefe zu stürzen. Weit unter ihm brodelte ein Schattenmeer. So waren auch die Wellen Schatten, die in allen möglichen, nicht zu fassenden Formen nach oben peitschten. Mit jedem Schritt sank er etwas tiefer.
Die Kälte des nebligwabernden Meeres stieg schon zu ihm herauf. Über ihm waren Schatten und unter ihm. Er drehte sich vor Schwindel und Angst.
Nein, er konnte keinen Schritt mehr tun, sonst würde er in freien Fall stürzen und in den Schattenfluten untergehen. Und dann diese Stille, nichts war zu hören, nur sein Atem. Und da war noch sein Herz, das pochte, lauter und schneller, lauter und schneller.
Milo wachte auf. Er schwitzte stark.
„Wo bin ich?" fragte er in die Stille hinein. Er machte das Licht an und das Schattenmeer blieb zurück im Schattenland seines Traumes.
Hier bin ich wieder, ich Milo, die mutige Entschatterhand. Eben hat gerade die Frau, die eigentlich mir das Schreiben überlässt, über mich geschrieben. Die denkt wohl, sie weiß alles über mich und kennt sich mit meinen Träumen bestens aus. Aber diesen Traum hat sie nun wirklich übertrieben dargestellt. So schlimm war er eigentlich gar nicht. Sie übertreibt halt gerne, diese komische Frau. Die ist einfach komisch, schließlich tut sie so, als würde es mich geben, dabei weiß doch jeder, der das liest, dass es mich nicht wirklich gibt.
Aber ich lasse ihr die Freude, sie will halt auch mal zu Wort kommen und so tun, als kenne sie sich mit etwas aus, also mit mir in dem Fall. Und trotzdem bleibt es meine Geschichte.
Ja wisst ihr, die Erwachsenen mögen das überhaupt sehr gerne, wenn sie jemand anderem zeigen können mit was sie sich auskennen. Sie sind so Möchtegernauskenner. Und sie mögen das sehr, wenn zum Beispiel wir Kinder sehen, was sie alles können und wissen. Ich denke, das ist wirklich wichtig für sie, schließlich sind sie ja für die Erziehung zuständig und es wäre schon blöd für sie, wenn die Kinder von ihnen denken: Die kennen sich ja mit gar nichts aus, da erziehen wir uns lieber selber. Also die Erwachsenen wollen halt auch wichtig sein, das ist auch nichts anderes als bei uns Kindern. Alle wollen wichtig sein.
Da habe ich ja schon was entdeckt, was Kinder und Erwachsene gemeinsam haben,
das könnte auch wichtig sein für meine Mission.
Schließlich gibt es bestimmt nicht nur Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern; so ein paar Dinge wird es schon geben, die bei Erwachsenen und Kindern gleich sind.
Erwachsene sind ja auch Menschen, auch wenn wir Kinder natürlich wichtiger sind, denn ohne uns hätten sie ja niemand, der ihnen sagt wo es lang geht. Und das brauchen sie eben die Schattis.
Notiz 1:
Alle wollen wichtig sein
Ich will ja auch wichtig sein, deshalb mache ich ja überhaupt diese gefährliche, streng geheime Mission.
Also nochmal zu dem Traum, ihr braucht euch da wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Ich habe öfter Alpträume, aber ich hab das alles im Griff, bin ja kein Baby mehr. Und so geschwitzt habe ich auch nicht, als ich aufgewacht bin, ich sag ja, die Frau hat übertrieben. Die schreibt: Er schwitzte stark.
Also nein, die mit ihren Adjektiven. Ich habe ein bisschen geschwitzt, ein ganz kleines bisschen.
Und außerdem, ich war in dem Traum doch der Sieger, ich habe es geschafft aufzuwachen.
Aber so kann ich schon meine 2te Notiz machen, läuft bei mir.
Notiz 2:
Erwachsene übertreiben gerne