Читать книгу Im Thronsaal - Tanja Mühlan - Страница 9
Der Weg zum Thronsaal
ОглавлениеMühevoll setzte ich einen Schritt vor den nächsten. Meine Beine fühlten sich mittlerweile so schwer an, dass ich nicht wusste, wie lange ich noch weitergehen konnte. War ich erst einen Tag unterwegs oder schon zwei Wochen? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Mit letzter Kraft folgte ich dem Pfad, dessen Belag unter meinen Schuhen leise knirschte. Wohin ich auch schaute – es boten sich mir keinerlei Anhaltspunkte, wo genau ich war. Jeder Weg, jede Kreuzung sah gleich aus, und kein Pfad schien zu meinem Ziel zu führen. Da entdeckte ich in einiger Entfernung einen Stein am Rande des Weges. Er sah kantig und staubig aus, doch seine Größe und die Tatsache, dass er oben ganz flach war, ließen in mir den sehnlichen Wunsch entstehen, ihn für eine kurze Rast zu nutzen. Müde schleppte ich mich die letzten Schritte zu meiner provisorischen Sitzgelegenheit und ließ mich ächzend darauf nieder.
Schon nach wenigen Sekunden legte sich völlige Erschöpfung auf mich. Wie sollte ich bloß je wieder aufstehen und meinen Weg fortsetzen können – einen Weg, den ich so voller Erwartung und Vorfreude begonnen hatte und der nun in völliger Resignation und Kraftlosigkeit gemündet war? Da spürte ich auch noch das bekannte Ziehen in meinem Magen, das sich schon vor Stunden als mein ständiger Begleiter entpuppt hatte und mich unweigerlich daran erinnerte, wie lange ich schon nichts mehr gegessen hatte. Auch der Durst war mittlerweile unerträglich. Mit fahrigen Bewegungen griff ich nach dem Rucksack, den ich noch immer auf dem Rücken trug. Ich öffnete ihn und holte meine Trinkflasche heraus, die so leicht war, dass mich nichts über ihren mickrigen Inhalt hinwegtäuschen konnte. Gierig trank ich die letzten paar Schlucke der abgestandenen, viel zu warmen Flüssigkeit, die ich von zu Hause mitgenommen hatte – sicher, dass ich nur kurz unterwegs sein und dann bestens versorgt werden würde.
MATTÄUS 22,4Der furchtbare Geschmack des abgestandenen Wassers erinnerte mich sofort an den Grund meines Aufbruchs: Ich hatte – wie schon viele Male zuvor – meine persönliche Einladung in der Hand gehalten. Wie jeden Tag war sie auch diesmal wieder in einem edlen, wattierten Umschlag bei mir angekommen. Nicht nur die Qualität des Materials, sondern auch das Wachssiegel, das ihn auf der Rückseite verschloss, sprachen von der hoheitlichen Stellung des Absenders. Tatsächlich war es eine Einladung des Königs selbst, der mir anbot, bei einem herrlichen Festmahl in seinem Thronsaal sein einziger Gast zu sein.
JESAJA 55,1-2Dieser Briefumschlag war nicht der erste seiner Art gewesen, nein, ganz und gar nicht. Vor meinem inneren Auge sah ich die altmodische Kommode, die ich schon seit Kindertagen besaß. In einer der vielen großen Schubladen hatte ich Hunderte dieser Einladungen des Königs gesammelt, Briefumschlag für Briefumschlag. Täglich erhielt ich sie, schon seit vielen Jahren. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich den allerersten in der Hand gehalten und mich überrascht gefragt hatte, was er wohl enthalten würde. Wie hatte ich gestaunt, als ich das Siegel brach und vorsichtig das teure Papier herauszog, auf dem stand, dass der König selbst mich gerne empfangen würde – in seinem Thronsaal. Hungrig solle ich kommen, da er ein großes Festmahl für mich vorbereitet habe. Ich weiß noch, wie ich erstaunt über die Tatsache stolperte, dass der König das Festmahl anscheinend schon zubereitet hatte, obwohl er meine Antwort noch gar nicht kannte. Aber nichts und niemand hätte mich in diesem Moment davon abhalten können, der Einladung zu folgen. Voller Vorfreude und gleichzeitig sehr angespannt, ob ich mich diesem Vorrecht einer persönlichen Audienz beim König als würdig genug erweisen würde, fieberte ich dem Abend entgegen.
RÖMER 8,15-16Doch ich hätte gar keine Angst haben müssen. Wie wunderbar und bahnbrechend das gemeinsame Essen gewesen war! Von der ersten Sekunde im Thronsaal des Königs aller Könige bis zu dem Moment, da ich satt und tief erfüllt diesen schönsten Ort, den ich je gesehen hatte, verließ, fühlte ich mich zutiefst geborgen und angenommen. Der König hatte mir sogar das Vorrecht gegeben, ihn »Papa« zu nennen. Ich weiß noch genau, wie seltsam es war, ihn in seiner ganzen Allmacht vor mir stehen zu sehen und dieses Wort in seiner Gegenwart auszusprechen. Doch es fühlte sich sogleich völlig richtig an, als wäre ich endlich nach Hause gekommen.
Wie hatte ich gestaunt, dass der König selbst mich gerne empfangen würde – in seinem Thronsaal.
JOHANNES 17,22.24Von diesem ersten Moment im Thronsaal an kannte meine Sehnsucht keine Grenzen: Jeden Tag bekam ich eine neue Einladung, jedem gemeinsamen Essen an der Festtafel des Königs fieberte ich mit Leidenschaft entgegen. Jedes Mal schickte mein Gastgeber seinen eigenen Sohn, um mich an dem im Brief festgelegten Treffpunkt abzuholen. Dieser begleitete mich bis in den Thronsaal und ließ mich dann mit einem verschmitzten Lächeln allein mit seinem Vater.
2. TIMOTHEUS 2,13Während die Erinnerungen an diese Zeit meinen müden Kopf eroberten, musste wohl ein Lächeln auf meine Lippen gekommen sein, das ich erst jetzt bemerkte. Doch sogleich erstarb es auch schon wieder. Erneut sah ich die Kommode mit all den Briefen vor meinem inneren Auge. Meine Leidenschaft für diese Treffen war mit der Zeit erlahmt. Irgendwann waren die Einladungen zur Gewohnheit geworden. Wenn der Brief mich erreichte, erfasste er mich nicht mehr mit dieser alles überlagernden Begeisterung, sondern wurde zu einem Teil meiner Alltagsroutine. Bald öffnete ich nur noch alle paar Tage den Umschlag, wusste ich doch ohnehin genau, welchen Inhalt er enthielt und wozu der König mich rufen würde. War ich zuvor jeden Abend der Einladung gefolgt, gab es nun immer größere Abstände zwischen den Tagen, an denen ich mich zum Thronsaal begleiten ließ. Und dann brach unser Kontakt für lange Zeit völlig ab. Lediglich die vielen ungeöffneten Briefumschläge in meiner Kommode zeugten noch von dem großen Interesse des Königs an mir. Während ich auf dem Stein kauerte und vorsichtig meine hart gewordenen Waden massierte, dachte ich darüber nach, wie es dazu hatte kommen können. Irgendwie hatte es ständig neue Gründe gegeben, die mich davon abhielten, den Einladungen des Königs weiterhin regelmäßig zu folgen:
MATTÄUS 22,5
LUKAS 8,14Da war so viel anderes, was mich in Anspruch nahm. Eine persönliche Audienz beim König kostete Zeit – und da gab es auch andere Dinge, die reizvoll genug erschienen, um mir eben diese Zeit zu vertreiben. Außerdem hatten die vielen wunderbaren Köstlichkeiten im Thronsaal mich für lange Zeit satt gemacht, so dachte ich zumindest. Schon die Erinnerung daran reichte mir. Ich verlor in der Folge den Hunger, die Freude an den einzigartigen Speisen, die mir der König zubereitete. Stattdessen kostete ich andere Mahlzeiten, angepriesen von einer Umwelt, JESAJA 55,2-3die mir dauerhafte Zufriedenheit und Sättigung versprach. Und nach und nach schlichen sich auch noch Ängste ein, die mich davon abhielten, die Nähe des Königs erneut zu suchen. Würde er nicht mittlerweile furchtbar enttäuscht von mir sein? Hatte er nicht täglich ein Festmahl für mich vorbereitet, das ich nun schon seit Langem verschmähte? Hatte er nicht immer wieder Zeit für mich reserviert, die ich achtlos verstreichen ließ? Wie konnte ich diesem König jemals wieder unter die Augen treten?
JEREMIA 17,7-8 PSALM 63,2Doch vor ein paar Tagen hatte sich etwas in mir entscheidend verändert. Wieder einmal war der Brief mit der Einladung des Königs eingetroffen. Ich hielt ihn nachdenklich in den Händen, unfähig, ihn einfach zu den anderen ungeöffneten Umschlägen in der Kommode zu legen. Mehrere Male drehte ich ihn in meinen Händen hin und her, betrachtete die wunderschöne, charakteristische Handschrift des Herrschers, der sich von mir »Papa« nennen ließ. Ich strich zärtlich über das kunstvoll gestaltete Siegel auf der Rückseite. Etwas in mir, das ich schon lange nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte, brach von einem Moment auf den anderen machtvoll in mir auf, sodass ich taumelnd auf einen Stuhl sank. Zunächst konnte ich es nicht erfassen, nicht klar umreißen, was es war, doch je mehr ich diesem Empfinden in mir nachgab, desto mehr kristallisierte es sich heraus: Ich spürte Hunger – einen überwältigenden und schier unbändigen Hunger, von dem ich wusste, dass nur die Speisen des Königs selbst und seine wundervolle Gegenwart ihn zu stillen vermochten. Als hätte man einen Schleier von meinen Augen genommen und mir einen neuen Zugang zu meinem Herzen gegeben, erkannte ich mit einem Mal, was mir in all der Zeit entgangen war. Vermeintlich satt hatte ich mich all die Tage, an denen ich der Einladung des Königs nicht gefolgt war, von Dingen ernährt, die es nie auf die Tafel im Thronsaal geschafft hätten. Ich fühlte mich, als hätte ich die ganze Zeit neben dem besten Essen der Welt gestanden, nur um stattdessen die Krumen auf dem Boden ringsumher aufzusammeln, um meinen Hunger zu stillen. Wie hatte ich das nur alles zulassen können? Wie hatte ich ernsthaft glauben können, dass mich irgendetwas auch nur ansatzweise so sättigen würde wie das, was der König selbst mir zubereitete?
Und vor allem: Wie hatte ich mich seiner liebevollen Gegenwart und seiner ungeteilten Aufmerksamkeit entziehen können, die er mir jedes Mal schenkte?
PSALM 63,3 & 84,11Trotz der enormen Angst, die mein Herz erfasste, wenn ich an den Kummer dachte, den ich diesem wunderbaren König durch mein Verhalten gemacht hatte, festigte sich in mir nur noch ein Wunsch: Ich wollte zum Thronsaal kommen. Ich wollte der Einladung meines Königs folgen und nicht einen Tag länger warten. Eilig packte ich schnell einige vermeintliche Notwendigkeiten in einen Rucksack, um mich sofort auf den Weg zu machen, ehe mich die Angst meine Entscheidung wieder rückgängig machen lassen würde. Den Briefumschlag mit der Einladung darin öffnete ich erst gar nicht, wusste ich doch ohnehin, was darin stehen würde. So oft schon hatte ich die Karte in Händen gehalten, auch wenn dies schon lange her war …
Mit wachsender Vorfreude und schmerzhaft großer Sehnsucht in meinem Herzen rannte ich los. Ziel war der Treffpunkt, an dem mich der Sohn des Königs abholen würde. Mit jedem Schritt wurde ich zuversichtlicher, mit jeder genommenen Abbiegung sicherer, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ein König, der nicht aufgegeben hatte, mich weiterhin einzuladen, würde mich doch sicherlich nicht verstoßen, jetzt, wo ich seiner Einladung erneut Folge leistete. Er würde mir zuhören, meine Beweggründe und ganz neu erwachten Erkenntnisse verstehen. Mein König würde mich liebevoll in seine Arme nehmen und mir sagen, wie sehr er sich über mein Kommen freue.
All diese Gedanken trieben mich förmlich an – und zerbrachen in einem einzigen Moment: Als ich bei unserem Treffpunkt ankam, war ich völlig allein. Der Sohn des Königs war nicht gekommen! War ich zu früh, zu spät? Hastig schaute ich auf meine Uhr. Nein, ich war zur gewohnten Zeit am gewohnten Ort. Was sollte das bedeuten? Hatte der König sich ausgerechnet heute umentschieden und seine Einladung bereut? Wollte er nun doch nicht, dass ich ihn in seinem Thronsaal besuchte, und hatte mir nur deshalb nicht abgesagt, weil er ohnehin nicht erwartet hatte, dass ich kommen würde? Verzweifelt drehte ich mich nach allen Seiten um, horchte schwer atmend auf sich nähernde, eilige Schritte, weil der Sohn des Königs sich vielleicht verspätet hatte. Aber nichts geschah. Ich blieb allein – allein mit meinen aufkommenden Zweifeln. Hätte ich nicht doch zu Hause bleiben sollen? Hatte ich mir nicht alle Privilegien durch mein törichtes, undurchdachtes Verhalten in letzter Zeit verspielt?
Dennoch – ich konnte nicht mehr anders. Der unbändige Hunger in mir und die tiefe Sehnsucht nach dem König, die mich zu Hause erfasst hatten, als ich den Brief in Händen gehalten hatte, ließen sich nicht mehr ignorieren oder anderweitig stillen. Es blieb mir keine Wahl mehr – ich musste in den Thronsaal gelangen, dann eben ohne die Begleitung des Sohnes. Das sollte auch gar kein großes Problem sein, war ich die Strecke doch unzählige Male gemeinsam mit ihm gegangen. Sicherlich würde ich sie auch nach dieser langen Zeit noch wiederfinden können.
Also machte ich mich auf den Weg, von neuer Zuversicht erfüllt, bald bei meinem König angekommen zu sein. Bei dem Gedanken an all die leckeren Speisen auf seiner Tafel lief mir schon jetzt das Wasser im Mund zusammen, und ich beschleunigte meine Schritte.
Lange war ich unterwegs gewesen, sorgsam auf den Weg achtend, an jeder Kreuzung darauf bedacht, mich zu erinnern, wie ich die Strecke an der Hand des Königssohnes gelaufen war. Seltsamerweise war ich an enorm vielen Abzweigungen vorbeigekommen. In meiner Erinnerung war der Weg so viel eindeutiger gewesen, so viel gerader. War ich vielleicht irgendwo falsch abgebogen?
SPRÜCHE 14,12Ständig hatten sich Dinge ungefragt in mein Bewusstsein gedrängt – vermeintliche Orientierungspunkte, die mir plötzlich bekannt vorkamen und meine Schritte in eine bestimmte Richtung lenkten. Auch Begegnungen, die sich scheinbar nicht vermeiden ließen, hielten mich immer wieder auf. Da war zum Beispiel diese Frau am Wegesrand gewesen. »Ich bin so hungrig, bitte gib mir etwas zu essen«, rief sie mir schon von Weitem zu. Schnell kramte ich in meinem Rucksack nach meiner kleinen Wegzehrung, die ich eingepackt hatte. Schließlich würde ich ja bald an der Festtafel des Königs sitzen, also konnte ich dieser Frau wohl meinen Proviant geben. So war ich lange Zeit gelaufen, hatte mal hier gehalten und mal dort geschaut. Immer wieder hatte ich in meinen Rucksack gegriffen und Menschen, die mir auf dem Weg begegneten, etwas von meinen wenigen Habseligkeiten gegeben. Erst recht spät hatte ich dann gemerkt, was mir von Anfang an hätte klar sein müssen: Ich hatte mich verirrt! Ich wusste weder, wo genau ich war, noch, wie ich zum Thronsaal des Königs finden konnte. In meinem Rucksack befand sich seit geraumer Zeit nur noch die kleine Flasche mit dem abgestandenen Wasser, die ich nun, auf dem Stein sitzend, gierig geleert hatte. Dennoch war es mir vorgekommen, als wäre der Rucksack mit jedem Schritt schwerer geworden, eine schier unerträgliche Last, die ich mit mir herumschleppte und die mich zusätzlich spüren ließ, wie erschöpft ich mittlerweile war.
Hier saß ich nun. Etwas brannte in meinen Augen. Ich nahm meine schmutzige Hand und rieb damit über mein Gesicht, nur um festzustellen, dass ich wohl zu weinen begonnen hatte, als ich über all das nachgedacht hatte. Was sollte ich jetzt tun? Hatte ich mich jemals zuvor so allein gefühlt? Wäre ich doch zu Hause geblieben! Dort wäre ich zwar sicherlich nicht in den Genuss der Speisen des Königs gekommen, aber hätten nicht auch die gereicht, die ich mir selbst hätte besorgen können? Oder ich hätte dem König eine Nachricht zukommen lassen können, dass ich nach all der Zeit wieder bereit war, seiner Einladung zu folgen. Dann hätte er ganz sicher gewusst, dass ich unterwegs war, und mich niemals auf dem Weg zu seinem Thronsaal alleine gelassen. Wieso war sein Sohn nicht am vereinbarten Treffpunkt gewesen? Warum hatte er mich nicht wie sonst an seine starke Hand genommen und mich zielsicher zu seinem Vater geführt? Er wusste doch sicherlich ganz genau, dass ich den Weg ohne ihn nie finden würde. Wie konnte er zulassen, dass ich mich nun in dieser ausweglosen Situation befand? Völlig ohne Orientierung, hungrig, durstig, erschöpft! Mein Herz wurde von Frust darüber ergriffen, dass meine Erwartungen so bitterlich enttäuscht worden waren. Und dann stieg eine unbändige Wut in mir auf: War es das, was der König gewollt hatte? War das vielleicht seine Strafe für meine Ablehnung, für die vielen Male, die ich ihn versetzt hatte? Wollte er mich nun leiden sehen?
Mittlerweile weinte ich nicht nur stille Tränen, sondern schluchzte laut. Sollte man meine Verzweiflung doch hören! Hier war sowieso keiner weit und breit, der mir helfen konnte. Rasend vor Wut und Verzweiflung stand ich auf und schlug mit meinem Rucksack gegen den Stein. Wieder und wieder schleuderte ich den altersschwachen Stoff gegen die scharfen Kanten, in der irren Hoffnung, sie würden den Rucksack zerschneiden, ihn in kleine Stücke zerfetzen, damit er sichtbar machen würde, wie ich mich innerlich fühlte.
Plötzlich hielt mich etwas zurück. Mein Arm, der den Rucksack schwang, wurde umfasst, sachte und doch bestimmt. Überrascht ließ ich ihn sinken und drehte mich ruckartig um. Was ich sah, brachte mich aus dem Gleichgewicht: Da stand er – der Sohn des Königs, nur einen Schritt von mir entfernt, so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Augen waren auf mich gerichtet, sein Blick war leidenschaftlich und einnehmend.
»Wo bist du gewesen?«, waren seine ersten Worte, liebevoll, ohne jeden anklagenden Unterton.
»Wo bin ich gewesen?«, stieß ich fassungslos hervor. »Du warst es doch, der nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen ist. Deinetwegen habe ich mich verlaufen und irre nun schon seit Stunden in dieser Gegend herum!«
Ich höre nie auf, dich zu suchen, Liebes! Leidenschaftlich gehe ich dir wieder und wieder nach, bis ich dein Herz erreiche.
Fragend schaute der Sohn mich an, während er meine wild herumfuchtelnden Hände ergriff, um mich zu beruhigen und auf das zu fokussieren, was er mir sagen wollte. Dieser Blick ließ mich sogleich innehalten. »Hast du die Einladung meines Vaters denn nicht gelesen?«, fragte er nun, als er sich meiner vollen Aufmerksamkeit gewiss war.
Bei diesen Worten sah ich mich wieder in meinem Haus stehen, den ungeöffneten Briefumschlag in Händen. »Nein«, erwiderte ich zögernd, »ich kannte den Inhalt doch ohnehin genau.«
Der Sohn des Königs musste gar nicht antworten. Ich sah es sofort in seinen Augen.
»In der Einladung stand ein anderer Treffpunkt als der, den wir sonst vereinbart hatten, richtig?«, flüsterte ich.
Sein Blick drückte so viel Liebe und Mitgefühl aus, dass ich es nicht mehr aushielt, ihn anzuschauen. Schluchzend drehte ich mich weg, mir meiner eigenen Schuld nur allzu bewusst. Doch sogleich spürte ich seine starken Arme, die mich von hinten umfingen und mich zärtlich umdrehten, bis ich mich in seine Umarmung fallen lassen konnte. Liebevoll hielt der Sohn mich fest, während ich all die Verzweiflung der letzten Stunden aus mir herausweinte. Als ich mich endlich wieder imstande fühlte zu sprechen, brachte ich leise heraus: »Wie schön, dass du mich jetzt trotz meiner Dummheit gefunden hast!«
LUKAS 19,10 OFFENBARUNG 3,20 RÖMER 8,38+39Sein Lächeln ließ augenblicklich einen großen Teil meiner Müdigkeit von mir abfallen. »Ich höre nie auf, dich zu suchen, Liebes! Leidenschaftlich gehe ich dir wieder und wieder nach, bis ich dein Herz erreiche. Niemals gebe ich mich damit zufrieden, dass wir voneinander getrennt sind. Keine deiner Entscheidungen kann mich je davon abhalten, dich mit ganzem Herzen zu lieben und um dich zu werben!«
RÖMER 8,37Während der Sohn des Königs diese Worte an mich richtete, spürte ich, wie er meine Hand ergriff und sich in Bewegung setzte, einer klaren Vorstellung folgend, wohin uns der Weg führen würde. Sofort erfassten mich die alten Erinnerungen wieder. Ich spürte, wie auch das letzte bisschen Erschöpfung dem Gefühl wich, an der Hand des Sohnes unbesiegbar zu sein. Ich durfte mich in der absoluten Gewissheit fallen lassen, dass er mich ans sichere Ziel bringen PHILIPPER 1,6würde. Für einige Minuten schwiegen wir und ich genoss einfach die unbeschwerte Zweisamkeit, die sich zwischen uns eingestellt hatte. Doch dann wurde ich erneut unruhig. Fragen drängten sich mir auf, die den gerade gewonnenen Frieden wieder zu zerstören versuchten. Ich konnte nicht anders. Ich musste sie laut stellen: »Warum war es diesmal ein anderer Treffpunkt? Warum habe ich dich nicht dort gefunden, wo ich dich immer getroffen habe?«
GALATER 5,6Die Schritte meines Gegenübers wurden langsamer, wenngleich wir nicht stehen blieben, während er sprach, den Blick weiterhin nach vorne gerichtet: »Die Einladungen meines Vaters an dich sind Ausdruck unserer Sehnsucht nach Beziehung zu dir, einer Beziehung, die lebt und pulsiert, die durchdrungen ist von Leidenschaft und tief gehendem Austausch. Auch wenn bestimmte Gewohnheiten hilfreich sind, bergen sie doch die Gefahr, dass sie zur leeren Routine werden. Dies ist einer der Gründe, warum du die Einladungen meines Vaters nun schon so lange ausgeschlagen hast. Für dich wurden sie zur Normalität, du hast sie als eine immer wiederkehrende Abfolge von gleichen Handlungen wahrgenommen. Für den König waren sie jedoch ein Ausdruck seiner leidenschaftlichen Sehnsucht nach Gemeinschaft mit dir.«
Darüber musste ich erst einmal nachsinnen. Schweigend ging ich neben meinem Begleiter, während sich ein Gedanke in meinem Kopf formte, der mich neugierig und zugleich traurig werden ließ. »Wäre dein Vater eigentlich auch auf eine Einladung hin zu mir gekommen?«, fragte ich zögerlich, brennend darauf, was der Sohn antworten würde.
2. CHRONIK 16,9»O ja, das hätte das Herz des Vaters zutiefst berührt. Es wäre ein Ausdruck davon gewesen, dass du dich genauso nach ihm sehnst wie er sich nach dir«, erwiderte er und schaute mir dabei direkt in die Augen. »Mein Vater liebt es, wenn er Herzen entdeckt, die sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit und Sehnsucht auf ihn richten.«
Die Worte meines Gegenübers stimmten mich nachdenklich. Zu Hause hatte mich die Erkenntnis mit Wucht getroffen, wie sehr ich den König mit meiner Abwesenheit traurig gemacht haben musste. Nun begriff ich erstmals, dass unsere Beziehung auch zuvor nur einseitig leidenschaftlich gewesen war.
1. KORINTHER 2,9-10Die folgenden Worte schienen dem Sohn des Königs so wichtig zu sein, dass er dafür stehen blieb und sich mir zuwandte: »Erlaube dir und dem Vater eine Beziehung, die dadurch lebt, dass beide das Herz des anderen verstehen und berühren wollen. Solche Begegnungen werden dich in einer Art und Weise durchdringen, dass dein gesamtes Sein, dein Denken und Wollen in wunderbarer Weise erneuert werden. Dann wirst du mehr und mehr die wunderbaren Pläne meines Vaters für dich erkennen können. RÖMER 12,2Bisher kennst du nur einen kleinen Bereich seiner großen Güte für dich.« Nachdem er geendet hatte, berührte mein Begleiter mich leicht an der Schulter und hob seinen Arm. »Schau, wir sind da.«