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1 Winde der Heimkehr

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Ach, nicht getrennt sein,

nicht durch so wenig Wandung

ausgeschlossen vom Sternen-Maß.

Innres, was ist’s?

Wenn nicht gesteigerter Himmel,

durchworfen mit Vögeln und tief

von Winden der Heimkehr.

Rainer Maria Rilke

Am Ende eines eintägigen Meditationsseminars nahm mich Pam, eine Frau Ende sechzig, beiseite. Pam und ihr Mann Jerry befanden sich am Ende eines schweren Weges, der drei Jahre zuvor begonnen hatte. Nun stand Jerry kurz davor, an seinem Lymphom zu sterben. Er hatte Pam gebeten, ihn durch diese letzte Phase seines Lebens zu begleiten.

»Tara«, flehte sie, »ich brauche dringend Hilfe.« Pam versuchte verzweifelt, alles Menschenmögliche für ihren Mann zu tun. »Ich möchte ihn so gerne retten«, erklärte sie mir. »Ich habe mich mit Ayurveda, chinesischer Medizin, Kräuterheilkunde und jeder alternativen Therapiemethode beschäftigt, die ich finden konnte. Ich habe alle Studien durchforstet …, ich war mir sicher, wir kriegen das hin.« Sie lehnte sich erschöpft zurück und ließ ihre Schultern hängen. »Und jetzt bleibt mir kaum mehr, als alle auf dem Laufenden zu halten und die Pflegekräfte zu koordinieren. Wenn er nicht schläft, versuche ich, es ihm angenehm zu machen, ihm vorzulesen …«

»Das klingt, als hättest du alles in deiner Kraft Stehende getan, um gut für Jerry zu sorgen«, antwortete ich mit mitfühlender Stimme. »Und warst damit sehr beschäftigt.«

Bei diesen Worten lächelte sie mir bestätigend zu. »Ja, sehr beschäftigt. Klingt verrückt, oder?« Sie hielt einen Moment inne. »So lange, wie ich mich erinnern kann, bin ich immer sehr beschäftigt gewesen, sogar jetzt, aber ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und ihn kampflos gehen lassen.« Pam schwieg ein Weilchen, dann sah sie mich ängstlich an. »Er könnte jetzt jeden Tag sterben, Tara. Gibt es nicht irgendeine buddhistische Praxis, die ich lernen sollte? Oder etwas, was ich lesen sollte? Vielleicht das Tibetische Totenbuch? Wie kann ich ihm bei diesem … Sterben … helfen?«

Bevor ich versuchte, ihr zu antworten, bat ich sie, nach innen zu lauschen und mir zu sagen, was sie fühlt.

»Ich liebe ihn so sehr und habe solche Angst, ihn im Stich zu lassen.« Sie begann zu weinen. Nach einer Weile sprach sie weiter: »Mein ganzes Leben lang habe ich gefürchtet, nicht zu genügen. Ich glaube, ich habe immer so geschuftet, um es besser zu machen. Und jetzt fürchte ich, da zu versagen, wo es am meisten darauf ankommt. Er wird sterben, und ich werde mich total einsam fühlen, weil ich ihn im Stich gelassen habe.«

»Pam«, erwiderte ich sanft, »du hast schon so viel getan, doch die Zeit für all die Aktivität ist jetzt vorbei. Du brauchst zu diesem Zeitpunkt nichts mehr in Gang zu setzen, du brauchst jetzt gar nichts mehr zu tun.« Ich wartete einen Moment und fügte dann hinzu: »Es geht darum, einfach bei ihm zu sein. Vermittle ihm deine Liebe durch deine volle Präsenz.«

In dieser schweren Situation bezog ich mich auf eine einfache Lehre, die in meiner Arbeit mit meinen Meditationsschülern und Therapieklienten eine zentrale Rolle spielt: Wenn wir liebevolle Präsenz als unsere eigentliche Essenz erkennen, wenn wir diese Essenz sind, entdecken wir wahre Freiheit. Angesichts eines unausweichlichen Verlustes kann diese zeitlose Gegenwärtigkeit unserem eigenen Herzen und dem Herzen anderer Heilung und Frieden bringen.

Pam nickte. Jerry und sie seien Katholiken, erklärte sie mir, und die Achtsamkeitsübungen aus meinen wöchentlichen Kursen hätten ihnen zu einer tieferen Erfahrung ihres Glaubens verholfen. Doch die dramatische Verschlechterung von Jerrys Zustand überwältigte Pam. »Ich weiß, dass die Hospiz- und Pflegekräfte alles tun, um zu helfen, aber ich finde einfach, all dies sollte nicht so sein – so viel Erschöpfung, so viel Schmerz. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen. Es ist einfach verkehrt.« Wie so viele Menschen empfand auch Pam Krankheit als ungerecht, als einen Feind, dem es zu widerstehen gilt. Sie war mit Dukkha konfrontiert, dem Leiden, das mit dem Leben einhergeht.

»In diesen besonders schwierigen Momenten könntest du innehalten und dir bewusst machen, was du fühlst – die Angst, den Ärger oder den Kummer«, schlug ich ihr vor. »Und dann könntest du dir innerlich zuflüstern: ›Ich stimme zu.‹« Ich hatte diesen Satz kürzlich von Pater Thomas Keating gehört und dachte, als Katholikin könnte Pam damit vielleicht etwas anfangen. Wenn wir »Ich stimme zu« sagen – oder einfach »Ja«, wie ich meistens lehre –, entspannt sich unser Widerstand gegen den gegenwärtigen Augenblick, und wir können den Herausforderungen des Lebens mit einem offeneren Herzen begegnen.

Pam nickte, aber sie wirkte immer noch besorgt. »Ich möchte das gerne tun, Tara, aber wenn ich aufgeregt bin, wird mein Denken immer schneller. Ich fange an, mit mir selbst zu reden, mit ihm zu reden – wie kann ich mich daran erinnern, innezuhalten?«

Das ist eine gute Frage, und ich höre sie oft. »Du wirst es höchstwahrscheinlich immer mal wieder vergessen«, antwortete ich, »das ist ganz normal. Alles, was du tun kannst, ist, getreulich an der Absicht festzuhalten, innezuhalten, zu spüren, was gerade vor sich geht, und es so sein zu lassen.«

Pams Gesicht wurde weicher, als sie verstand. »Das kann ich. Ich kann von ganzem Herzen beabsichtigen, für Jerry da zu sein.«

Unser Ruf um Hilfe

»Alle Religionen und spirituellen Traditionen beginnen mit einem Hilferuf«, schrieb der amerikanische Psychologe und Philosoph William James im 19. Jahrhundert. In meiner Beratungspraxis und in den Gesprächen mit Übenden höre ich viele verschiedene Arten von Hilferufen. Wie kann ich mit dieser lähmenden Angst fertig werden, mit diesem Gefühl, versagt zu haben, mit der Qual dieses Verlustes?

Wir merken, ähnlich wie Pam, dass wir gegen die grundlegenden Realitäten wie Veränderung, Verlust und Sterblichkeit nichts ausrichten können, sosehr wir uns auch um eine Kontrolle über unser Leben bemühen. Unsicherheit wohnt dieser vergänglichen Welt inne. Und so beten wir um Zuflucht: »Hilfe! Ich sehne mich danach, mich sicher und beschützt zu fühlen, geliebt und in Frieden. Ich möchte zu etwas gehören, was größer ist als ich. Ich möchte mich in meinem Leben zu Hause fühlen.«

Doch wenn wir uns unser Leben genauer anschauen, wird deutlich, dass wir oft nicht weise im Sinne unseres Gebetes handeln. Statt nach echter Zuflucht zu streben, wenden wir uns dem zu, was ich »falsche Zufluchten« nenne. Sie sind falsch, weil sie zwar vorübergehend Trost oder Sicherheit zu geben scheinen, aber langfristig das Leiden vermehren. Vielleicht fürchten wir uns wie Pam vor dem Versagen und flüchten uns daher in Geschäftigkeit, einen hohen Leistungsanspruch oder die Sorge um andere. Oder wir fühlen uns nicht liebenswert und flüchten uns in das Streben nach Erfolg oder Wohlstand. Vielleicht fürchten wir uns vor Kritik und suchen Zuflucht darin, dass wir Risiken vermeiden und anderen immer gefallen wollen. Oder wir fühlen uns bedrückt oder leer und flüchten uns in Alkohol, übermäßiges Essen oder stundenlanges Surfen im Internet. Statt es zuzulassen und uns dem zu öffnen, was wir gerade fühlen, flüchten wir uns in diese Dinge, um den emotionalen Schmerz zu vermeiden. Doch das entfernt uns nur noch weiter von zu Hause.

Solange wir diesen falschen Zufluchten nachgehen, wird uns das Leiden verfolgen. Wie viele von uns schlafen unruhig und erwachen mitten in der Nacht voller Angst und Sorgen? Oder schlagen sich mühsam durch den Tag und können vor Anspannung oder Getriebenheit nicht genießen, was gerade vor sich geht? Statt uns zufriedenzustellen oder unsere Ängste zu lindern, nähren die falschen Zufluchten unsere grundlegenden Selbstzweifel. Pam hatte sich ganz und gar der Fürsorge für Jerry gewidmet, doch alles, was sie tat, erschien ihr ungenügend. Ihr ängstliches Bemühen, es »richtig« zu machen, bestärkte sie in ihrem Eindruck, nicht zu genügen. Sie fühlte sich nicht im Einklang mit sich selbst und dem, was sie Jerry anbieten konnte.

Häufig erkennen wir erst, wenn uns eine Krise erschüttert – ein Herzenskummer, der Tod eines nahestehenden Menschen oder unser eigener bevorstehender Tod –, dass unsere falschen Zufluchten nicht funktionieren. Sie können uns nicht vor dem retten, was wir am meisten fürchten: dem Schmerz des Verlustes und der Trennung. Eine Krise hat die Macht, unsere Illusionen zu zerschmettern und zu offenbaren, dass es in dieser unbeständigen Welt keinen festen Boden gibt, auf dem wir stehen könnten, und nichts, woran wir uns festhalten könnten. In solchen Zeiten, wenn unser Leben in die Brüche zu gehen scheint, kann uns bewusst werden, wie sehr wir um Hilfe rufen. Dieser Hilferuf entspringt der Sehnsucht des Herzens nach einer Zuflucht, die so umfassend ist, dass auch unsere tiefsten Leidenserfahrungen darin aufgehoben sind.

Heimkehren zur liebevollen Gegenwärtigkeit

Einen Monat nach meinem Gespräch mit Pam rief sie mich an, um mir mitzuteilen, dass Jerry gestorben sei. Und sie erzählte mir, was nach unserem Gespräch geschehen war. Als sie an jenem Abend nach Hause kam, hatte sie Jerry eingeladen, still mit ihr zu beten. »Als wir fertig waren«, sprach sie weiter, »haben wir einander erzählt, worum wir gebetet hatten. Ich sagte ihm, wie sehr ich mir wünschte, dass er meine Liebe spürt.« Pam schwieg einen Moment, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme rau. »Er hatte um genau dasselbe gebetet …, nur umgekehrt. Wir umarmten uns und weinten zusammen.«

Pam gab zu, wie sehr sie selbst in jenen letzten Wochen mit dem Impuls zu kämpfen hatte, sich nützlich zu machen, geschäftig zu sein. Eines Nachmittags fing Jerry an, darüber zu sprechen, dass ihm nur noch wenig Zeit bliebe und dass er sich nicht vor dem Tod fürchte. Sie hatte sich über ihn gebeugt, ihm einen Kuss gegeben und rasch erwidert: »Ach, mein Lieber, heute war ein guter Tag, heute scheinst du mehr Kraft gehabt zu haben. Ich mache dir einen Kräutertee.« Er verfiel in Schweigen, und die Stille erschütterte sie. »Mir wurde in diesem Moment so deutlich, wie sehr es einzig und allein darum ging, einander zuzuhören, ganz präsent zu sein, und wie sehr uns alles andere nur trennte. Ich wollte nicht laut zugeben, was vor sich ging; das machte es so real. Also wich ich aus, indem ich Tee machte. Doch indem ich der Wahrheit auswich, entfernte ich mich von ihm, und das war herzzerreißend.«

Während sie den Tee zubereitete, betete Pam und bat darum, mit ganzem Herzen für Jerry da zu sein. An diesem Gebet orientierte sie sich in den Tagen, die danach kamen. »Im Laufe der letzten paar Wochen musste ich all meine Vorstellungen davon loslassen, wie sein Sterben sein sollte und was ich noch tun sollte, und erinnerte mich immer wieder daran, zu sagen: ›Ich lasse es zu.‹ Zuerst wiederholte ich die Worte nur mechanisch, aber nach ein paar Tagen spürte ich, wie mein Herz tatsächlich anfing, zuzulassen.« Sie beschrieb, wie sie innehielt, wenn starke Gefühle aufwallten, um innerlich wahrzunehmen, was gerade vor sich ging. Wenn sich ihr Bauch vor Angst und Hilflosigkeit zusammenzog, verweilte sie bei diesen Gefühlen und ließ ihre tiefe Verletzlichkeit zu. Wenn der rastlose Drang, »etwas zu tun«, auftauchte, nahm sie ihn wahr, blieb ruhig und ließ ihn wieder verebben. Wenn die Wellen der Trauer sie überrollten, sagte sie sich: »Ich lasse es zu«, und öffnete sich der schmerzhaften Schwere des Verlustes.

Die präsente Nähe zu ihrem inneren Erleben ermöglichte es Pam, ganz für Jerry da zu sein. »Als alles in mir die Angst und den Schmerz wirklich zuließ, wusste ich, wie ich für ihn sorgen kann. Ich spürte, wann es Zeit war, Worte der Ermutigung zu flüstern, und wann es einfach darum ging, zuzuhören, ihn mit Berührung zu beruhigen, für ihn zu singen, mit ihm still zu sein. Ich wusste, wie ich mit ihm sein kann.«

Am Ende des Gesprächs erzählte mir Pam, was für sie das Geschenk jener letzten Tage mit Jerry war und wie ihre Gebete erhört worden waren: »In der Stille schaute ich jenseits von ›er‹ und ›ich‹. Ich erkannte, dass wir uns in einem Feld des Liebens befanden – totale Offenheit, Wärme und Licht. Er ist jetzt von uns gegangen, aber dieses Feld des Liebens ist immer bei mir. Mein Herz weiß, dass ich heimgekehrt bin …, wirklich heimgekehrt zur Liebe.«

Lernen, sich den Wellen anzuvertrauen

Pams Bereitschaft, sich ganz auf ihre innere Erfahrung einzulassen, wie schmerzhaft sie auch sei, ermöglichte es ihr, sich mit der endlosen Weite der Liebe zu verbinden. Ihre zunehmende Fähigkeit zur Präsenz, ihre Bereitschaft, sich der Wahrheit ihrer Erfahrung in jedem Augenblick zu stellen, ließ sie mitten in einem großen Verlust nach Hause finden. Gegenwärtigkeit ist die Essenz wahrer Zuflucht.

Eine andere Art von Verlust hatte mich zu meinem ersten buddhistischen Retreat getrieben. Mein Sohn Narayan war zu jener Zeit vier Jahre alt, und ich stand kurz vor der Scheidung. Ich hatte bereits erlebt, wie gut mir die buddhistische Meditation tat, und hoffte, eine Zeit intensiver Praxis würde mir helfen, mit meinen Ängsten und meinem Stress umzugehen. Ich hatte Narayan zu meinen Eltern in New Jersey gebracht und fuhr durch dichtes Schneegestöber zu dem Retreatzentrum in Massachusetts. Auf dieser langsamen Fahrt durch die Kälte hatte ich jede Menge Zeit, um darüber nachzudenken, was mir wirklich wichtig war. Ich wollte nicht, dass die Liebe, die ich immer noch für meinen Mann empfand, durch die Trennung verschüttet würde. Ich wollte nicht, dass wir füreinander zu rücksichtslosen, gar feindseligen Fremden würden. Und mir lag daran, dass sich Narayan trotz unserer Trennung sicher und geliebt fühlte. So betete ich aus tiefstem Herzen, in all dem, was vor sich ging, einen Weg zu finden, mit meinem Herzen verbunden zu bleiben.

Im Laufe der stundenlangen stillen Meditationen der folgenden fünf Tage kreiste ich viele Male durch klare, aufmerksame Geisteszustände und Phasen, in denen mich die Müdigkeit übermannte, mich körperliches Unwohlsein plagte oder ich in Gedanken abschweifte. An einem Abend verlor ich mich in Gedanken über die kommenden Monate: Sollten wir für den Scheidungsprozess Anwälte oder einen Mediator einschalten? Wann sollten wir auseinanderziehen? Und vor allem: Wie konnte ich in dieser schmerzhaften Übergangsphase für meinen Sohn da sein? Jeder sorgenvolle Gedanke, der auftauchte, lockte mich, alles durchdenken und innerlich klären zu wollen. Doch etwas in mir wusste, dass ich bei den unangenehmen Gefühlen in meinem Körper zu bleiben hatte. Ein Vers von Ryôkan, einem Zen-Dichter aus dem 18. Jahrhundert, kam mir in den Sinn: »Um das Buddha-Dharma zu finden, treibe nach Osten und Westen, komme und gehe, vertraue dich den Wellen an.«

Der »buddhistische Weg« bezieht sich auf die Wahrheit davon, wie die Dinge wirklich sind. Wir können die Natur der Wirklichkeit erst verstehen, wenn wir aufhören, unsere Erfahrung kontrollieren zu wollen. Es gibt keinen Weg, zu erkennen, was vor sich geht, solange wir auf einer gewissen Ebene versuchen, das Unwetter zu ignorieren oder ihm auszuweichen. Während der letzten paar Tage des Retreats versuchte ich wieder und wieder, loszulassen, doch meine lang erprobte Strategie, um mich besser zu fühlen − wiederholtes Darüber-Nachdenken −, hinderte mich immer wieder daran. Ryôkans Worte verwiesen auf neue Möglichkeiten: Vielleicht konnte ich mich tatsächlich den Wellen anvertrauen. Vielleicht bestand der einzige Weg zu echtem Frieden darin, mich dem Leben zu öffnen, wie es eben war. Sonst hatte ich hinter meinen Bemühungen, alles im Griff zu behalten, ständig das bedrohliche Gefühl, dass hinter der nächsten Ecke etwas Schreckliches lauern könnte.

Ich versuchte, mich den Gefühlswellen zu öffnen, aber meine alten Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ich spürte die Anspannung in meiner Brust, und schon machte ich mir wieder Sorgen über die neue Vorschule meines Sohnes, über die Fahrgemeinschaft und wie ich einen flexibleren Babysitter finden könnte. Dann ärgerte ich mich über mich selbst und verurteilte mich dafür, meine Retreatzeit zu »vergeuden«. Ganz allmählich begriff ich, wie krampfhaft zusammengezogen mein Herz war, wie sehr ich mich davor fürchtete, die Intensität des Lebens durch mich hindurchströmen zu lassen. Ich brauchte Hilfe, um mich »anzuvertrauen«.

Jeden Nachmittag hatten die Lehrer die ganze Gruppe durch eine Herzensgüte-Meditation geführt. Ich beschloss, zu versuchen, diese Übung in meine persönliche Praxis einzubeziehen. In der klassischen Form besteht diese Meditation darin, liebevolle Gebete für uns selbst und in sich erweiternden Kreisen für andere Wesen auszusenden. Ich begann, mir selbst Gutes zu wünschen: »Möge ich glücklich und zufrieden sein. Möge ich glücklich und zufrieden sein.« Zuerst fühlte es sich wie eine oberflächliche mentale Übung an, aber schon bald änderte sich etwas. Mein Herz begann, es wirklich zu meinen, ich kümmerte mich um mein eigenes Leben, und das Bewusstsein dieser Fürsorge löste ein wenig von der Anspannung in meinem Herzen.

Jetzt konnte ich mich leichter den Wellen der Angst und des Kummers hingeben und die vorüberziehenden Gedanken und Körperempfindungen − Druck und Schmerz − einfach in ihrem Kommen und Gehen wahrnehmen. Wenn die Sorgen, die mich gequält hatten, auftauchten, spürte ich, dass auch sie Wellen waren, hartnäckige Wellen, die mir schmerzhaft gegen die Brust schlugen. Doch indem ich keinen Widerstand leistete und die Wellen durch mich hindurchströmen ließ, stellte sich Entspannung ein. Statt gegen die stürmischen Brecher zu kämpfen, ruhte ich in einem Meer des Gewahrseins, welches alle Wellenbewegungen einbezog. Ich war in einem Heiligtum angekommen, das groß genug schien, alles aufzunehmen, was in meinem Leben vor sich ging.

Natürliche Präsenz: Wach, offen und feinfühlend

Präsenz ist kein exotischer Zustand, nach dem wir suchen oder den wir irgendwie erzeugen müssten. Ganz einfach ausgedrückt ist Präsenz das Empfinden von Wachheit, Offenheit und Feinfühligkeit, welches entsteht, wenn wir ganz bei unserer Erfahrung im Hier und Jetzt sind. Sie haben sicherlich schon Präsenz erlebt, auch wenn Sie es vielleicht nicht so genannt haben. Vielleicht haben Sie Präsenz erfahren, als Sie in einer lauen Sommernacht wach im Bett lagen und den Grillen lauschten. Oder als Sie allein durch den Wald gingen. Auch bei einer Geburt oder einem Sterben anwesend zu sein, kann einen in einen Zustand vollkommener Präsenz versetzen.

Präsenz ist das Gewahrsein, welches uns von Natur aus innewohnt. Präsenz ist eine unmittelbare, körperliche Erfahrung, die durch die Sinne wahrgenommen wird. Die genauere Betrachtung einer Erfahrung von Präsenz offenbart die drei oben genannten Qualitäten:

Wachheit heißt, dass wir uns dessen, was gerade geschieht, bewusst sind. Mit dieser Intelligenz erkennen wir den sich von Augenblick zu Augenblick ständig verändernden Fluss der Erfahrung – die Geräusche, die uns gerade umgeben, unsere Körperempfindungen, unsere Gedanken. Wachheit bezeichnet die »wissende« Qualität des Gewahrseins.

Offenheit bezieht sich auf den Raum der Bewusstheit, in dem das Leben stattfindet. Diese Bewusstheit widerspricht unserer Erfahrung nicht und wertet sie auch nicht auf. Selbst wenn schmerzhafte Gefühle oder Gedanken ausgelöst wurden, erkennt sie einfach, was vor sich geht, und erlaubt unserem Gefühlsleben, so zu sein, wie es ist. Wie der Himmel, durch den das Wetter zieht, ist auch der offene Raum der Bewusstheit unabhängig von den wechselhaften Ausdrucksformen des durch uns hindurchziehenden Lebens. Doch dieses Gewahrsein verfügt über eine natürliche Sensibilität und einen Ausdruck von Wärme. Diese empfindsame Art der Zuwendung nenne ich Feinfühligkeit. Unsere warmherzige Feinfühligkeit ermöglicht es uns, auf all die Schönheit und all den Kummer, auf alles, was sich zeigt, mit Mitgefühl, Liebe und Staunen einzugehen.

Wir können also von drei Qualitäten der Präsenz sprechen, doch letztlich sind sie untrennbar. Denken Sie an einen sonnendurchfluteten Himmel. Es ist unmöglich, das Licht des Himmels von dem Raum zu trennen, den es durchleuchtet; es ist unmöglich, die Wärme, die wir spüren, von dem Raum und dem Licht zu trennen. Licht, Raum und Wärme sind alles inniglich miteinander verwobene Ausdrucksformen eines Ganzen.

Unsere Sehnsucht, ganz und aus unserem Sein heraus zu leben, ruft uns heim zu dieser natürlichen Gegenwärtigkeit. Unser Erkennen der Wahrheit erwächst aus der Klarheit der Präsenz. Liebe strömt aus der Empfänglichkeit der Präsenz. Lebendigkeit und Kreativität entfalten sich, wenn wir in der Offenheit der Präsenz sind. Alles, was uns kostbar ist, ist bereits hier, durch Gegenwärtigkeit. Jedes Mal, wenn wir nach Hilfe rufen, kann uns unsere Sehnsucht daran erinnern, uns unserer wahren Zuflucht zuzuwenden, der Heilung und Freiheit natürlicher Gegenwärtigkeit.

Rückkehr zur Präsenz

Nach jenem Retreat fuhr ich mit der Absicht zurück, jedes Mal, wenn ich mich gereizt, ängstlich und angespannt fühlte, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen. Eine Woche nach meiner Rückkehr bot sich die erste Gelegenheit, und ich nahm sie wahr. Mein Exmann rief mich an und teilte mir mit, er könne an diesem Abend nicht auf Narayan aufpassen. Das bedeutete, dass ich in kürzester Zeit einen Babysitter organisieren musste, um meine Klienten empfangen zu können. »Ich bringe hier das ganze Geld ins Haus, und dann kann ich mich nicht mal in dieser Hinsicht auf ihn verlassen!«, schimpfte mein Geist. »Schon wieder übernimmt er nicht seinen Anteil, schon wieder lässt er mich im Stich!«

Doch am Ende jenes Tages setzte ich mich hin und nahm mir Zeit, mich den Bewertungen und den Schuldzuweisungen zuzuwenden, die in meinem Körper zu spüren waren, und meine Selbstgerechtigkeit ließ nach. Ich saß still da, während die beschuldigenden Gedanken und die Wogen des Ärgers kamen und gingen. Unter meinem Groll spürte ich die ängstliche Frage »Wie kann ich das alles schaffen?«. Und als ich diese untergründigen Wellen der Angst und Sorge durch mich hindurchlaufen ließ, eröffnete sich mir ein ruhiger, innerer Zustand, in dem ich mehr Spielraum und einen weiteren Horizont hatte. Natürlich wusste ich nicht, was die Zukunft bringen würde. Ich hatte nur den gegenwärtigen Augenblick, und dieser Augenblick war in Ordnung. Aus diesem Zustand heraus konnte ich spüren, wie schwierig es für meinen Exmann war, eine neue Wohnung zu finden, unsere Zeitpläne abzustimmen und sich auf tieferer Ebene auf eine völlig andere Zukunft, als er sich vorgestellt hatte, einzustellen. Das half mir, toleranter und freundlicher auf die Situation zu schauen.

Zu anderen Zeiten tat ich mich schwerer damit, mich den Wellen anzuvertrauen, vor allem, wenn mein Ex und ich unterschiedliche Ansichten über Finanzen oder Sorgerechtsvereinbarungen hatten. Jedes Sich-Anvertrauen fühlte sich an, als würde ich damit zulassen, ausgenutzt zu werden. Ich erkannte, dass ich zunächst mich selbst mitfühlend annehmen und meine Fürsorge für mich selbst wirklich ernst nehmen musste. Dann konnte ich mir selbst meine wütendsten, gemeinsten Gedanken verzeihen. Allmählich entspannte sich mein Herz ein wenig, und ich konnte die schmerzhaften Strömungen der Wut und der Angst besser durch mich hindurchfließen lassen.

Wie auf dem Retreat stellte sich dann in mir eine Verbindung mit einer weiten Präsenz ein, die das aktuelle Geschehen mit einbezog und mir ermöglichte, mein Leben mit mehr Weisheit zu betrachten. In dieser Gegenwärtigkeit ruhend, konnte ich anfangen, mir klarer meiner gesunden Bedürfnisse bewusst zu werden – nach einer fairen Aufteilung unserer Finanzen, nach eigenem Wohnraum – und sie von Impulsen zu unterscheiden, die aus Angst oder Misstrauen entstanden. Wenn ich für das einstand, was ich brauchte, fühlte ich mich mehr in mir selbst zu Hause, jedoch nicht, wenn ich enge Kontrolle auszuüben versuchte. Und ich bemerkte, wie mein Exmann umso respektvoller und flexibler wurde, je mehr er spürte, wie ich mich um genau diese Qualitäten bemühte.

Diese Zuflucht zur Präsenz ermöglichte es meinem Exmann und mir, Freunde zu bleiben und einander immer noch als Teil der Familie zu betrachten. Aber es war nicht leicht. Wir waren beide auf dem spirituellen Weg und glaubten naiverweise, uns deshalb auf eine ehrenhafte und erwachsene Art voneinander trennen zu können. Keiner von uns beiden rechnete damit, dass wir einander aus dem Stress heraus absichtlich wehtun würden. Und doch taten wir es bisweilen – wir waren unehrlich, wir sagten Dinge, die wir hinterher bereuten, und konfrontierten einander mit unserem Ärger und unserer Verachtung. Wir hielten in dieser emotional schmerzhaften Zeit nur durch, weil uns die Bedürfnisse unseres Sohnes so wichtig waren und weil wir die Liebe zueinander nicht aufgaben. Die Praxis, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen, ermöglichte es mir, uns beiden unsere Menschlichkeit zu verzeihen, und sie half, unsere Zuwendung zueinander aufrechtzuerhalten.

Wenn wir leiden, steigt manchmal aus unserer Tiefe der Ruf nach Hilfe auf. Wie damals bei Pam während Jerrys Sterben oder bei mir am Ende meiner ersten Ehe kann uns dieses tiefe, aufrichtige Sehnen aufwecken und zu der Vollständigkeit und Freiheit führen, die im gegenwärtigen Augenblick zu finden sind. Doch wenn wir in Schwierigkeiten sind, ist das Hier und Jetzt oft der letzte Ort, wo wir sein wollen. Was hält uns davon ab, zur wahren Zuflucht der Präsenz heimzukehren? Was hindert uns daran, uns zu entscheiden, hier zu sein? Ich nenne es »die Trance des kleinen Selbst«. Dem wollen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden.

Geführte Meditation

Innehalten für Präsenz

Ein natürlicher Zugang zur Präsenz geht durch den Körper. Die folgende kurze Meditation können Sie durchführen, wann immer Sie ein wenig Ruhe und Zeit dafür haben.

Setzen Sie sich ruhig und bequem hin und schließen Sie die Augen. Beginnen Sie mit drei bewussten Atemzügen: Atmen Sie lang und tief ein, füllen Sie die Lungen, und dann atmen Sie langsam aus. Spüren Sie beim Ausatmen, wie sich Spannungen in Körper und Geist lösen.

Laden Sie Ihr Gewahrsein ein, Ihren ganzen Körper zu erfüllen. Können Sie sich Ihre physische Form als ein Feld von Empfindungen vorstellen? Können Sie die Bewegungen und die Qualitäten dieser Empfindungen spüren – sei es ein Kribbeln, ein Beben, Wärme oder Kühle, Härte oder Weichheit, Festhalten oder Fließen? Nehmen Sie sich eine Weile Zeit, um mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei diesem Tanz der Empfindungen zu verweilen.

Öffnen Sie jetzt Ihr Gewahrsein auch für den Raum um sich herum. Können Sie sich vorstellen, die Symphonie der Sie umgebenden Klänge aufzunehmen, sie durch sich hindurchströmen zu lassen? Können Sie nicht nur mit den Ohren, sondern mit Ihrem ganzen Gewahrsein auf das sich ständig verändernde Spiel der Geräusche lauschen? Nehmen Sie sich etwas Zeit, um sich mit offener Aufmerksamkeit den Geräuschen um Sie herum zuzuwenden.

Lassen Sie mit weiterhin geschlossenen Augen Ihr Gewahrsein das Spiel der Bilder und Lichter aufnehmen, das sich hinter Ihren Augenlidern abspielt. Vielleicht bemerken Sie ein Flimmern von Licht und Dunkel, oder es zeigen sich Ihnen schattenhafte Umrisse oder Lichtformen. Nehmen Sie sich Zeit, bewusst zu sehen.

Spüren Sie Ihren Atem und spüren Sie den Raum um sich herum. Nehmen Sie die Gerüche auf, die in der Luft liegen. Entdecken Sie, wie es ist, zu riechen, wie das Umfeld duftet, in dem Sie sich gerade befinden.

Lassen Sie jetzt alle Ihre Sinne weit offen sein. Ihr Körper und Ihr Geist sind entspannt und empfänglich. Lassen Sie das Leben frei durch sich hindurchströmen. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten, um Ihre Erfahrung von Augenblick zu Augenblick bewusst hörend und fühlend wahrzunehmen. Bemerken Sie den sich ständig verändernden Fluss der Empfindungen und Klänge, bemerken Sie die Lebendigkeit darin und die zugrunde liegende Präsenz. Genießen Sie diesen wachen, inneren Zustand der Präsenz. Vergegenwärtigen Sie sich zum Abschluss die Möglichkeit, dieses wache, offene Gewahrsein in das mitzunehmen, was Sie als Nächstes tun.

Halten Sie im Verlauf Ihres Tages mehrmals inne und erwecken Sie für einen kurzen Moment Ihre Sinne, indem Sie sich vor allem Ihrer Körperempfindungen bewusst werden und auf die Geräusche lauschen. Mit etwas Übung werden Sie sich in der natürlichen Präsenz immer mehr zu Hause fühlen.

Nach Hause kommen zu sich selbst

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