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2 Das Heim verlassen – Die Trance des kleinen Selbst
ОглавлениеWas im Sein erscheint,
verliert sich im Sein, vergisst vor Trunkenheit
den Weg nach Hause.
Rumi
Wir werden mit einem wundervollen offenen Geist geboren, voller Lebendigkeit, Unbefangenheit und Widerstandsfähigkeit. Doch wir bringen diesen Schatz in eine schwierige Welt.
Ich stelle mir vor, wie wir von dem Augenblick der Geburt an anfangen, eine Art Raumanzug zu entwickeln, um uns in diesem merkwürdigen neuen Umfeld zurechtzufinden. Dieser Raumanzug soll uns vor Gewalt und Habgier schützen und uns helfen, die Zuwendung unserer Betreuungspersonen zu gewinnen, die mehr oder weniger in ihrer eigenen Selbstbezogenheit und Unsicherheit verstrickt sind. Wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, erzeugt unser Raumanzug die besten abwehrenden und proaktiven Strategien, die ihm möglich sind. Dazu gehören Anspannungen im Körper und Emotionen wie Ärger, Angst und Scham, mentale Aktivitäten wie Urteilen, Sich-Festbeißen und Fantasieren und eine große Bandbreite von Verhaltensweisen, um an das zu kommen, was einem fehlt: Sicherheit, Nahrung, Sex, Liebe.
Unser Raumanzug dient wesentlich unserem Überleben, und manche seiner Strategien helfen uns durchaus, produktive, stabile und verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden. Doch derselbe Raumanzug, der uns schützt, kann uns auch daran hindern, uns spontan, fröhlich und frei durch unser Leben zu bewegen. Dann wird unser Raumanzug zum Gefängnis. Unser Selbstverständnis wird durch seine Stärken und Schwächen geprägt. Wir identifizieren uns mit unseren Fähigkeiten, Probleme zu lösen oder zu kommunizieren, identifizieren uns mit unseren Urteilen und Zwangsvorstellungen, identifizieren uns mit unserer Angst und unserem Ärger. »Identifiziert« bedeutet, wir meinen, wir sind der Raumanzug! Es scheint uns so, als seien wir tatsächlich jenes Selbst, das ängstlich und wütend ist, das urteilt, von anderen bewundert wird, etwas Besonderes ist oder unvollkommen oder allein.
Wenn wir mit dem Raumanzug verschmelzen, fangen wir an, in einem Zustand zu leben, den ich »Trance« nenne. Unser Selbstverständnis wird dann extrem eng. Wir haben vergessen, wer durch die Maske des Raumanzugs schaut; wir haben unser weites Herz und unser Gewahrsein vergessen. Wir haben die mysteriöse Präsenz vergessen, die immer da ist, jenseits aller flüchtigen Emotionen, Gedanken und Handlungen.
In Trance zu leben, ist, als wäre man in einem Traum gefangen, abgeschnitten von der eigenen unmittelbaren Erfahrung des Augenblicks, getrennt von dieser lebendigen Welt. Wir haben unser Zuhause verlassen – unser Gewahrsein und unsere Lebendigkeit – und uns unwissentlich auf ein verzerrtes Fragment der Wirklichkeit reduziert.
Wir haben alle unsere eigene Art, von zu Hause fortzugehen, und unsere eigenen Strategien, mit dem Schmerz unerfüllter Bedürfnisse umzugehen. Doch das Aufwachen an sich ist ein universeller Prozess. Wir merken – langsam oder schnell –, in welch reduzierter und häufig schmerzhafter Wirklichkeit wir gelebt haben. Wir wollen uns wieder mit unserer Unschuld und grundlegenden Güte verbinden. Wir möchten unser wahres Sein erkennen. Unser tiefes Sehnen drängt uns, einen Weg zu wahrer Zuflucht und Geborgenheit zu finden.
Dieses Erwachen begann für mich etwa acht Jahre vor meinem ersten buddhistischen Retreat. Wie Sie bereits aus dem ersten Kapitel wissen, geschah es nicht einfach alles auf einmal. Doch wenn die Trance sich auch nur für einen kurzen Moment auflöst, können wir das Potenzial für Freiheit und den Weg aus dem Leiden heraus erkennen.
Das Perfektions-Projekt
Solange ich mich erinnern kann, habe ich mich danach gesehnt, die Wahrheit zu erkennen und bewusst und gütig zu sein. Als ich während des College Yoga kennenlernte, war ich überzeugt, eine Abkürzung gefunden zu haben, der Mensch zu werden, der ich sein wollte. Direkt nach meinem Abschluss zog ich in der Nähe von Boston in einen Ashram, eine Gemeinschaft, die dem Weg des Yoga verpflichtet war. Ich war überzeugt, dass dieser Weg mich mit entsprechendem Einsatz zu spiritueller Freiheit führen würde.
Unsere Gemeinschaft folgte strengen Regeln. Wir standen vor Sonnenaufgang auf, nahmen eine kalte Dusche und verbrachten dann mehrere Stunden mit Yoga, Meditation, Singen und Beten. Wir arbeiteten auch hart und viel an dem Betreiben eines Yoga-Zentrums, eines vegetarischen Restaurants und eines Ladens am Harvard Square. Von hingebungsvollem Eifer erfüllt, stand ich oft sogar noch früher auf als meine Mit-Yogis oder setzte mich spätabends noch hin, um meine spirituelle Praxis zu vertiefen.
Mein aufrichtiges spirituelles Streben hatte sich mit einer Überzeugung verknüpft, die in dieser und vielen ähnlichen spirituellen und religiösen Gemeinschaften verbreitet ist: Um glücklich und frei zu sein, müssen wir uns läutern, indem wir unsere Egos von aller Selbstsucht, Aggression und Unsicherheit befreien. Die durch sportliche Yoga-Übungen ausgelösten Hochgefühle und die Verzückung, die ich in Meditationen erlebte, waren mir Zeichen meines Fortschritts. Doch zu anderen Zeiten war ich mir meiner »Unreinheiten« schmerzlich bewusst, was mich motivierte, mich mit noch mehr Eifer in meine spirituellen Praktiken zu vertiefen.
Solches Streben nach Vollkommenheit ist ein äußeres Zeichen für die Trance. Meine Trance wurde von der Überzeugung genährt, dass ich ein begrenztes, unzulängliches Selbst sei. Ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein, hatte ich viele Idealvorstellungen davon, wie ein spiritueller Mensch fühlen, aussehen und sich verhalten sollte. Ich hatte auch ein Ideal davon, wie ein »gesunder« weltlicher Mensch sein sollte. Ich prüfte mich regelmäßig, wie ich im Vergleich zu meiner Idealvorstellung dieses perfekten Selbst abschnitt. Natürlich empfand ich mich praktisch immer als unzulänglich – denn direkt unter der Oberfläche lauerten meine Selbstbezogenheit, meine unklaren Motive, mein Ehrgeiz und meine Bewertungen. Im Rückblick kann ich erkennen, wie die Mischung aus echtem spirituellem Bestreben und unbewusstem Perfektionismus für Verwirrung und Zündstoff sorgte. Ich kann erkennen, was Danna Faulds meinte, als sie schrieb: »Perfektion führt zu nichts als Schmerz.«
Das Perfektions-Projekt bricht zusammen
Die morgendliche Praxis im Ashram gab mir Energie und befreite mich vorübergehend von der Anspannung eines selbstzentrierten Fokus. Ich genoss es, mit meinen Freunden zu meditieren und zu singen, ich genoss das gemeinschaftliche Frühstück und die Fahrgemeinschaft. Dieses Wohlgefühl hielt oft stundenlang an, doch an einem Morgen geriet ich in eine tiefe Krise.
Zu jenem Zeitpunkt war ich die Leiterin unseres Yoga-Zentrums, und wir waren spät dran, unsere wichtigste Veranstaltung im Jahr anzukündigen, bei der mehrere bekannte Yoga-Lehrer auftreten würden. An jenem Morgen kam der Leiter unserer Gemeinschaft verspätet und sichtlich erregt zu unserem wöchentlichen Mitarbeiter-Treffen. Ich fragte ihn, was los sei.
»Was los ist?«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Schau dir das doch mal an!« Er warf die Flyer auf den Tisch, die ich für die Veranstaltung gemacht hatte, und ich sah sofort den Tippfehler in dicken, fetten Buchstaben vorne drauf: Es war das falsche Datum! Mir sank das Herz und ich spürte, wie mein Gesicht vor Peinlichkeit errötete. Wir hatten von diesem Flyer gerade 3000 Exemplare drucken lassen. Ich hatte es absolut vermasselt.
Wir sprachen darüber, einen neuen Flyer zu erstellen, die Aussendung zu verschieben und welche anderen Wege es gäbe, den Fehler wieder auszubügeln. Mein Verstand arbeitete hart daran, das Problem zu lösen, doch die Last des Versagens lag mir wie ein Felsbrocken auf der Brust. Am Ende unserer Sitzung begann ich, mich zu entschuldigen: »Ich bin dafür verantwortlich«, sagte ich mit leiser, tonloser Stimme. »Und es tut mir echt leid …« Ich spürte, wie mich die anderen ansahen, und plötzlich blitzte Ärger in mir auf, und die Worte brachen aus mir hervor: »Aber es war echt ein Riesenberg Arbeit, mit dem ich ganz alleine dastand.« Ich spürte ein Brennen in den Augen, aber ich blinzelte die Tränen weg. »Es wäre schön gewesen, wenn jemand da gewesen wäre, um es noch mal Korrektur zu lesen. Vielleicht wäre das dann nicht passiert.«
Den Rest der Woche versank ich in Selbstekel. Stunde um Stunde spulte mein Verstand alles ab, wo ich in letzter Zeit hinter meinen Ansprüchen zurückgeblieben war. Ich sah, wie ich log, um mich einer sozialen Verpflichtung zu entziehen, wie ich einer anderen Lehrerin gegenüber den Umfang meiner Yoga-Kurse übertrieb, wie ich einer anderen Freundin Klatsch und Tratsch weitererzählte, um mich als Insiderin zu zeigen. Statt mit Großzügigkeit und selbstlosem Dienen beschäftigte ich mich nur mit meinem eigenen spirituellen Fortschritt und meinem Bestreben, als Yoga-Lehrerin zu glänzen. Wieder einmal wurde ich mit dem konfrontiert, was ich an mir am wenigsten mochte: Unsicherheit und Selbstbezogenheit. Ich fühlte mich von allen um mich herum getrennt und in einem Selbst gefangen, das ich nicht sein wollte.
Während jener schwierigen Tage wurde mir klar, dass ich, seit ich denken konnte, damit beschäftigt war, zu beweisen, dass ich okay bin, und mich zu vergewissern, dass ich Fortschritte mache. Als Studentin, als politische Aktivistin, als Yogini und als Lehrerin – überall führte ich Checklisten meiner Errungenschaften. In all diesen Rollen versuchte ich, einer gewissen Definition eines »guten Menschen« zu entsprechen – hilfsbereit, zugewandt, gute Zuhörerin, konstruktiv, vertrauenswürdig und in jeder Situation positiv. Ich widmete mich mit brennendem Eifer dem Yoga und der Meditation. Doch mein ganzes Gefühl von Kompetenz hatte sich durch einen einzigen Fehler aufgelöst, und mein ganzes Selbstbild als guter, spiritueller Mensch war durch einen Moment verärgerter Abwehr ausgelöscht worden. Trotz all meiner Selbstverbesserungs-Strategien war ich damit konfrontiert, dass ich mich als ein grundsätzlich mangelhaftes Selbst empfand.
Das Raumanzug-Selbst ist das kleine Selbst
Wenn ich anfange, von der Trance zu sprechen, meinen manche, dass jegliche Erfahrung des Selbst schlecht oder unspirituell sei und ausgemerzt oder transzendiert werden sollte. Damals im Ashram war das meine Überzeugung – mein Selbstverständnis und meine Unvollkommenheit waren unzertrennbar miteinander verbunden. Heute sehe ich das Raumanzug-Selbst als mein kleines Selbst, welches vielfach auch als »Ego« bezeichnet wird.
Dem »Ego« haftet oft ein negativer Beigeschmack an, doch das kleine Selbst (oder Ego) ist ein natürlicher Bestandteil unserer Konditionierung und unbedingt notwendig, um sich im Leben zurechtzufinden. Es entsteht in allen Menschen aus einem »Ich«-Gefühl und umfasst alle mentalen Aktivitäten, die wir brauchen, um zu funktionieren. Dazu gehört auch das ängstliche, schützende Selbst, welches in manchen Traditionen als »Angst-Körper« bezeichnet wird. Und auch das verlangende Selbst gehört dazu, welches nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse nach Nahrung, Sex, Sicherheit und Respekt strebt.
Doch dieses kleine Selbst ist nicht unser wahres Selbst – es umfasst nicht die Fülle dessen, wer wir sind. Anders gesagt: Wenn wir mit einem kleinen Selbst identifiziert sind, nehmen wir uns als einzelne Wellen wahr und erkennen nicht, dass wir aus Meer bestehen. Wenn wir uns unseres wahren Selbst als Meer bewusst werden, ist das uns vertraute Wellenmuster – unserer Ängste, Abwehrmechanismen, Vorlieben und Geschäftigkeit – immer noch ein Teil von uns, aber es definiert uns nicht mehr.
Die Lehre des Buddha befasst sich in ihrem Kern mit genau dieser fehlgeleiteten Identität. Der Buddha erkannte, dass wir alle darauf konditioniert sind, an angenehmen oder vertrauten Erfahrungen festhalten zu wollen (was er »Begehren« oder »Anhaften« nannte) und unangenehme Erfahrungen abzulehnen (was er »Widerstand« oder »Ablehnung« nannte). Sowohl das Begehren als auch die Ablehnung verengen unser Verständnis dessen, was wir sind – sie verleiten uns, uns mit einer begrenzten, individuellen, isolierten Existenz zu identifizieren und daran anzuhaften.
Diese fehlgeleitete Identifikation wird durch die Geschichten bestärkt, die wir uns erzählen. Wir glauben, wir seien die Stimme in unserem Kopf, wir glauben, wir seien der Hauptdarsteller unserer Geschichte, und wir glauben, unsere Sicht der Welt »da draußen« sei die Wirklichkeit. Vielleicht haben wir ein prall gefülltes, anstrengendes Leben. Vielleicht stellen die Arbeit, die Familie und Freunde mehr Anforderungen an uns, als wir meinen, erfüllen zu können. Vielleicht ist das die Zusammenfassung all der Geschichten und Gefühle unserer Überforderung – immer zu viel zu tun zu haben, immer so vielen Erwartungen gerecht werden zu wollen, so gerne mehr freie Zeit haben zu wollen, aber sich verantwortlich zu fühlen. Solche Geschichten führen leicht zu falschen Zufluchten wie Überarbeitung, Selbstschutz-Lügen und betäubendem Konsumverhalten. Indem wir unsere Geschichten immer wieder abspulen, verstärken wir unsere Identifikation mit einem überlasteten, überangepassten Selbst. Diese Identifikation bestimmt dann immer mehr unser Selbstverständnis. Wir haben uns im Raumanzug verfangen.
Oder stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Sie glaubten, dass jeder da draußen nur seine eigenen Interessen verfolgt, und wenn Sie die Situation nicht zu Ihrem Vorteil ausnutzen, werde es nur ein anderer tun. Dann würden Sie vielleicht wütend werden oder sich verletzt fühlen, wenn andere versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Dies kann zu falschen Zufluchten wie Kontrolle über andere, Macht- und Besitzstreben führen. Dann entwickeln wir Geschichten, die unsere Weltsicht untermauern, und bestätigen damit unsere Identität eines aggressiven, kontrollierenden Selbst.
Je mehr unsere Geschichten auf Angst beruhen, desto stärker verfangen wir uns in unserem reduzierten Selbstverständnis. Dann glaubt nicht nur unser Verstand, so wie meiner damals: »Ich bin irgendwie verkehrt« – auch unser Körper wird dann von den Emotionen überflutet, die mit dieser Überzeugung einhergehen: Depression, Scham und noch mehr Angst. Dann ist »Ich bin irgendwie verkehrt« nicht mehr einfach eine Idee, die wir loslassen könnten, sondern eine felsenfeste Überzeugung. Es fühlt sich einfach real an. Und wenn uns jemand verletzt, fühlt sich die Überzeugung, diese Person sei irgendwie verkehrt, ebenso real an. Wir sind dann in einer Trance gefangen, die uns sowohl von unserem Innenleben als auch von anderen trennt.
Unsere Identifikation mit einem kleinen Selbst findet immer außerhalb des Lichts des Gewahrseins statt. Und sie währt so lange, wie wir nicht bemerken, dass unsere Geschichten einfach Geschichten sind (und keine Realität), solange wir die rohen Gefühle in unserem Körper nicht bemerken, solange wir die Angst oder das Begehren nicht bemerken, welches unser Verhalten antreibt. Es entspricht dem Wesen der Trance, dass sie mit Gewahrsein unvereinbar ist und sich auflöst, wenn wir in Präsenz Zuflucht nehmen.
Erwachen aus der Trance
Meine durch einen Tippfehler ausgelöste Woche der Selbstablehnung war der Anfang eines lebenslangen Prozesses des Erkennens und Loslassens meiner Identifikation mit einem kleinen Selbst. Weil ich meine Selbstzweifel so »unspirituell« fand, sprach ich mit niemandem darüber. Bei der Arbeit verhielt ich mich ganz professionell. Ich hielt mich aus dem spielerischen und zwanglosen Geplauder während der Mahlzeiten heraus, und wenn ich versuchte, teilzunehmen, fühlte ich mich wie eine Betrügerin.
Einige Wochen später beschlossen die Frauen des Ashrams, eine Sensibilitäts-Gruppe zu gründen, in der wir über persönliche Schwierigkeiten reden könnten. Ich fragte mich, ob das vielleicht meine Chance war, wieder authentischer zu werden.
Unser erstes Treffen fand an einem Sommerabend statt. Während der ersten Stunde sprachen die anderen Frauen über den Stress bei der Arbeit, die Kinder und gesundheitliche Probleme, und ich spürte, wie die Angst in mir zunahm. Als im Gespräch eine Pause entstand, brach mein Geständnis aus mir heraus. »Ich weiß, ich mache viel Yoga und ich unterrichte viel, und es sieht vielleicht aus, als wäre ich ein hilfsbereiter, freundlicher Mensch … Vielleicht ist das in gewisser Weise auch wahr, aber es ist auch eine Fassade. Niemand soll sehen, wie selbstbezogen ich bin, wie egozentrisch und bewertend.« Ich hielt kurz inne und schaute in die ernsten Gesichter, bevor ich mit dem rausrückte, was mir wirklich auf dem Herzen lag: »Es ist schwer auszudrücken, aber … ich glaube nicht, dass ich ein guter Mensch bin, und das macht es so schwer, mich irgendjemandem wirklich nahe zu fühlen.«
Ich erinnere mich nicht, wie die anderen Frauen auf meinen Versuch der Aufrichtigkeit reagierten. Vielleicht waren sie mitfühlend oder erkannten ähnliche Gefühle auch in sich selbst. Ich war zu sehr in meiner Scham gefangen, um es zu bemerken. Ich verließ das Treffen, so schnell ich konnte, ging in mein Zimmer, rollte mich auf meinem Bett zusammen wie ein Baby und weinte.
Das laute Aussprechen meiner Erfahrung vor den anderen hatte meinem kleinen Selbst seine Schutzschicht genommen. Ich fühlte mich wund und schutzlos und fing an, mich innerlich dafür zu beschimpfen, dass ich etwas gesagt hatte. Wie könnte ich morgen irgendjemandem ins Gesicht schauen? Ich sagte mir, ich sollte sofort aufstehen und Yoga machen. Aber stattdessen begann ich nachzuspüren, was eigentlich wirklich schiefgelaufen war, dass ich mich so schlecht fühlte.
Plötzlich wurde mir klar, dass dieser innere Prozess nur eine weitere Wiederholung war. Ich versuchte immer noch, die Dinge in den Griff zu kriegen, indem ich darüber nachdachte, indem ich mehr übte, indem ich zu beeinflussen versuchte, wie mich die anderen sehen. Als ich diese falschen Zufluchten erkannte, hielt ich abrupt inne. So wollte ich nicht weitermachen.
Eine innere Stimme fragte: »Was würde geschehen, wenn ich jetzt nicht versuchen würde, etwas zu ändern?« Ich spürte sofort die Angst in meinem Körper und dann das vertraute Versinken in Schamgefühlen – genau den Gefühlen, die ich, seit ich denken kann, zu vermeiden versuchte. Aber in dem Moment flüsterte dieselbe innere Stimme ganz leise einen vertrauten Refrain: »Let it be. (Lass es zu.)«
Ich legte mich lang auf den Rücken, atmete ein paarmal tief durch und spürte, wie das Gewicht meines Körpers von dem Futon getragen wurde. Wieder und wieder versuchte mein Verstand, zu entwischen, indem er wiederholte, was ich Stunden zuvor gesagt hatte, oder ausprobierte, was ich sonst noch sagen könnte, um mich zu erklären. Wieder und wieder brachte mich die Absicht »Lass es zu« zurück zu der Angst und der Scham in mir. Während ich die Nacht so allein in der Dunkelheit lag, wurde aus diesen Gefühlen manchmal auch Kummer. Ich war erschüttert, wie viel von meinem Leben – meiner Lebendigkeit, meinem Lieben – verloren ging, wenn ich mich in meinen Gefühlen der Minderwertigkeit verlor. Ich öffnete mich alldem ganz, tief schluchzend, bis der Kummer nach und nach verebbte.
Ich stand auf, setzte mich auf mein Meditationskissen vor meinem kleinen Altar und war weiterhin aufmerksam. Mein Geist kam auf natürliche Weise zur Ruhe und ich wurde mir mehr und mehr meiner inneren Erfahrung bewusst – einer stillen, von Zartgefühl durchdrungenen Präsenz. Diese Präsenz war ein Seinszustand, der alles einbezog: die Wellen der Traurigkeit, das Gefühl meiner trocknenden Tränen, den Gesang der Grillen, die schwüle Sommernacht.
In diesem offenen Zustand tauchten wieder Gedanken auf – die Erinnerung an meine Abwehr bei der Arbeitsbesprechung und meine Versuche einer echten Entschuldigung, dann mein Yoga-Unterricht am nächsten Morgen, wo ich versuchte, eine positive, zuversichtliche Energie auszustrahlen. Während ich mir diese Szenen ansah, fühlte ich mich, als würde ich einer Schauspielerin in einem Stück zusehen. Die Schauspielerin versuchte ständig, sich zu schützen, und trennte sich dabei mehr und mehr von sich selbst, von ihrer Authentizität und von der Möglichkeit, sich durch die Verbindung zu anderen unterstützt zu fühlen. Und in jeder Szene sah ich, wie sie immer etwas »tat«, um sich besser zu fühlen, etwas »tat«, um keinen Schmerz zu spüren, etwas »tat«, um Versagen zu vermeiden.
Während ich da saß und diesem Spiel zusah, hatte ich zum ersten Mal das durchdringende Gefühl, dass ich das nicht wirklich bin. Die Gefühle und Reaktionen dieser Schauspielerin waren mir sehr vertraut, doch sie bildeten nur die Wellen auf der Oberfläche dessen, was ich wirklich bin. Genauso war alles, was in diesem Moment geschah – die Gedanken, die Körperempfindungen des Sitzens auf dem Meditationskissen, die Empfindlichkeit, die Erschöpfung –, Teil von mir, doch es definierte mich nicht. Mein Herz öffnete sich. Wie traurig, so lange in einer derart begrenzten Welt gelebt zu haben, wie traurig, mich so getrieben und einsam gefühlt zu haben!
Trance und Erwachen sind beide natürlich
Wenn wir in Trance sind und uns in einer Emotion wie Angst, Scham oder Ärger verfangen haben, weiß unsere innere Intelligenz, dass etwas nicht im Lot ist. Eine Zeit lang, möglicherweise sogar jahrzehntelang, denken wir vielleicht irrtümlicherweise, »etwas stimmt mit mir nicht« oder »etwas stimmt nicht mit der Welt« und wir müssten unsere Unvollkommenheiten reparieren und uns irgendwie vor Fehlschlägen schützen. Allmählich oder plötzlich erkennen wir dann die eigentliche Ursache des Problems in unserer fehlgeleiteten Wahrnehmung unserer Selbst. Wir erkennen, dass wir in der Identität eines kleinen, isolierten, mangelhaften Selbst gelebt haben. In diesem Moment des Erkennens mögen wir versucht sein, einer weiteren Täuschung zu unterliegen: »Mit mir stimmt etwas nicht, weil ich immer wieder in diese Trance verfalle.« Doch mit jedem Erwachen von Bewusstheit, mit jedem Gewahrsein und Zulassen dessen, »was geschieht«, löst sich unsere eingeengte Identität weiter auf, und wir entspannen uns mehr in unsere natürliche Ganzheit hinein.
In jener Nacht an meinem Altar fiel ein altes Selbstbild von mir ab. Aber wer war ich dann? In jenen Augenblicken spürte ich, dass sich die Wahrheit dessen, was ich war, nicht in einer Idee oder einem Bild meiner selbst erfassen ließ. Sie lag vielmehr in dem Zustand der Präsenz selbst – in der Stille, der wachen Offenheit –, die sich wie Heimat anfühlte. Mich durchflutete ein Gefühl der Dankbarkeit und Ehrfurcht, das mich seitdem nie wieder ganz verlassen hat.
Seitdem habe ich von vielen Wegen des Erwachens erfahren, und zu den meisten von ihnen gehört ein formelles oder informelles Aufmerksamkeitstraining. Eine Freundin von mir lernte in einem Malkurs, jenseits aller Ideen von »Bäumen« oder »Wolken« in eine geheimnisvolle Welt sich ständig wandelnder Formen, Schattierungen und Essenzen zu schauen. Sie erklärte: »Statt als Beobachterin eine bestimmte Art von Baum zu sehen, war da einfach diese subjektive Innigkeit lebendiger Strukturen, Farben … Ich war Teil eines Tanzes der Lebendigkeit.« Eine Mutter berichtete, wie sich ihr Gewahrsein nach einem Kurs zum Dialog mit Jugendlichen veränderte. Während sie ihrer Tochter zuhörte, löste sie sich bewusst von ihren Vorstellungen darüber, wie ihre Tochter sein sollte, und ließ einfach den Klang ihrer Stimme und den Blick aus ihren Augen auf sich wirken und spürte nach, was das Herz ihrer Tochter wohl mitteilen wollte. Dieses wertfreie Zuhören erweiterte auch ihr eigenes Selbstgefühl: »Ich war nicht mehr in der Rolle der kritischen Mutter gefangen – endlich ein frischer Wind!«
Eine regelmäßige Meditationspraxis ist der zuverlässigste Weg, unsere Aufmerksamkeit darin zu schulen, die Trance zu bemerken – das Auftauchen der vertrauten, tiefsitzenden Geschichten von Schuld und Versagen, von alten Ängsten, Ärger oder Depression. In den folgenden Kapiteln zeige ich, wie wir uns darin üben können, immer wieder zur Präsenz zurückzukehren, und wie die Erkenntnis dessen, wer wir sind, uns immer bewusster werden lässt. Im Laufe der Zeit werden wir immer schneller erkennen, wann wir uns in der Trance verloren haben, und wir werden wissen, dass die Anschuldigung unserer selbst oder anderer oder der Welt oder das Streben nach Kontrolle oder Perfektion kein Ausweg sind. Das Leiden der Trance wird uns vielmehr daran erinnern, in den gegenwärtigen Moment heimzukehren und uns mit der umfassenderen Wahrheit dessen, was wir sind, zu verbinden.
Die Erfahrung, zu unserem wahren Selbst zu erwachen, ist schwer zu beschreiben. Der indische Lehrer Sri Nisargadatta sagt dazu: »… in der Erkenntnis fühlen Sie sich vollständig, erfüllt, frei … und doch nicht immer fähig, zu erklären, was passiert ist … Sie können es nur in negativen Begriffen ausdrücken: ›Mit mir ist nichts mehr verkehrt.‹« Wenn sich die Schleier der Trance lüften, erleben wir immer noch, wie die Freuden und Nöte, die Hoffnungen und Ängste unseres kleinen Raumanzug-Selbst kommen und gehen, aber wir definieren uns nicht mehr über sie. Wir nehmen die Dinge nicht mehr so persönlich, wir meinen nicht mehr, dass »mit uns etwas nicht stimmt«. Stattdessen fangen wir an, der Unbefangenheit und Güte jenes Wesens zu trauen, das unsere Trance uns nicht erkennen ließ. Wir erleben dies als eine enorme Erleichterung und einen Geschmack von Freiheit.
Geführte Meditation
Herzensgüte – Freundliche Zuwendung zu sich selbst
Die Meditation der Herzensgüte (das Pali-Wort Metta bedeutet »Freundschaft, liebevolle Zuwendung« und wird auch oft mit »liebende Güte« übersetzt) ruft uns unsere Verbundenheit mit allem Leben ins Bewusstsein. Sie beginnt in der Regel mit einer fürsorglichen Hinwendung zu uns selbst. Diese einfache Praxis ist ein direkter und kraftvoller Weg, aus der Trance zu erwachen. Indem wir uns selbst mit Freundlichkeit betrachten, fangen wir an, die Identität eines isolierten, mangelhaften Selbst aufzulösen. Dies erzeugt die Grundlage dafür, auch andere mit bedingungslos liebendem Herzen einzubeziehen (siehe auch »Herzensgüte – Hinter die Fassade schauen« am Ende von Kapitel 12).
Setzen Sie sich bequem an einen ruhigen Ort und entspannen Sie die Bereiche Ihres Körpers, die sich angespannt anfühlen. Nehmen Sie sich etwas Zeit, um im Herzen den Atem zu spüren: Einatmend spüren Sie, wie Sie Wärme und Energie empfangen, ausatmend spüren Sie, wie Sie sich in eine Offenheit hinein entspannen.
Beginnen Sie, sich selbst flüsternd oder in Stille Gebete der Herzensgüte zu widmen. Wählen Sie zu Anfang Ihrer Praxis vier oder fünf Sätze, die Ihnen etwas bedeuten. Die folgenden Sätze sind Anregungen dazu:
• Möge ich mit Herzensgüte erfüllt sein; möge ich von Herzensgüte umfangen sein.
• Möge ich sicher und unbeschwert sein.
• Möge ich vor inneren und äußeren Gefahren geschützt sein.
• Möge ich glücklich sein.
• Möge ich mich so annehmen, wie ich bin.
• Möge ich tiefen, natürlichen Frieden erfahren.
• Möge ich die natürliche Freude des Lebendigseins erfahren.
• Möge ich in meinem eigenen Sein wahre Zuflucht finden.
• Mögen mein Herz und mein Geist erwachen; möge ich frei sein.
Öffnen Sie sich, während Sie die einzelnen Sätze wiederholen, für die Bilder oder Gefühle, die die Worte hervorrufen. Gehen Sie diese Meditation als Experiment an, spüren Sie, welche Worte und Bilder Ihr Herz am wirksamsten erweichen und öffnen. Probieren Sie, ob es Ihre Erfahrung der liebevollen Zuwendung zu Ihnen selbst vertieft, wenn Sie sanft eine Hand auf Ihr Herz legen.
Nehmen Sie sich dafür so viel Zeit, wie Sie mögen. Bieten Sie sich selbst diese Sätze an und lassen Sie sie in sich nachklingen. Bleiben Sie zum Ende der Meditation eine Weile ruhig sitzen und achten Sie auf die Gefühle in Ihrem Körper und in Ihrem Herzen. Ist da ein neues Empfinden von Raum und Feinfühligkeit oder Zartgefühl? Fühlen Sie sich mehr in sich selbst zu Hause?
Im Laufe des Tages:
Je mehr Sie sich daran erinnern, sich selbst mit Freundlichkeit zu betrachten, desto leichter werden Sie Verbindung und Freiheit von der Trance erfahren. Sie können das überall üben. Beim Gehen, beim Autofahren, bei jeder alltäglichen Tätigkeit können Sie sich selbst Sätze liebender Güte zukommen lassen.
Wenn Sie beunruhigt oder aufgeregt sind:
Die Gebete der Herzensgüte können sich unpassend und künstlich anfühlen, wenn wir in die Fänge der Angst, Scham oder Verwirrung geraten sind. Manchmal scheint durch sie noch prägnanter zu werden, wie schlecht und minderwertig wir uns fühlen. Beziehen Sie diese Reaktionen ohne Beurteilung in Ihre Meditation mit ein: »Möge auch dies von liebevoller Güte umfangen sein.« Fahren Sie dann einfach mit Ihrer Meditation fort und akzeptieren Sie alle Gedanken oder Gefühle, die sich zeigen.
Wenn die Worte mechanisch scheinen:
Sorgen Sie sich nicht, wenn Sie merken, dass Sie die Worte einfach nur hersagen. Das Herz öffnet und schließt sich nach eigenen, natürlichen Rhythmen. Entscheidend ist Ihre Absicht, Herzensgüte zu erwecken.