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REGULIERUNGSWAHN

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Schon Tacitus sagte einst, dass es „im verdorbensten Staat die meisten Gesetze gibt“ – oder anders, in Anlehnung an Karl Kraus ausgedrückt: „Wenn die Sonne der Moral tief steht, dann steigt die Anzahl der Gesetzesregeln“.

Wir haben es historisch mit einer fast einmaligen Gesetzesflut und Überregulierung zu tun. Das ist kein Zufall, sondern ein Angriff auf die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen. Es sind verlässliche Zeichen des herauf dämmernden Obrigkeitsstaates. Es ist zudem eine historisch-stringente Entwicklung, die meines Erachtens drei Hauptursachen hat:

1. Das neue Selbstverständnis der EU, das zum Teil aus der Finanzkrise entstanden ist. Weg von nationalstaatlicher Souveränität und hin zur Vereinheitlichung, Schuldenunion und geldpolitischen Planwirtschaft. Diese Entwicklung sehen wir am deutlichsten in der Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB), auf die ich noch zurückkommen werde. Vorerst denken Sie bitte an Stichworte wie Niedrig-Zins-Politik, Abschaffung des Bargeldes und eigenmächtiger Zukauf von Schulden und Schrottpapieren auf Risiko und Kosten der europäischen Steuerzahler, Lobbyismus in der EU und damit die Art und Weise der Entscheidungsfindung in Brüssel;

2. Die heutige Gesellschaftspolitik, die Aufwertung des Opferbegriffes und der gesellschaftliche Mainstream der „Beleidigtenkultur“ sowie ein falsch verstandener Gleichheitsgedanke, der die Gleichheit der Menschen in der Gleichheit der Ergebnisse misst und irrig vermeint, die Schwachen zu stärken, indem man die Starken schwächt. Das Ergebnis sieht man an der Schulmisere und den rund 30 % Analphabeten unter den 15-Jährigen;

3. Das Wegbrechen der Werte, insbesondere der christlichen fundierten Werte, von denen sich Europa nicht gänzlich lösen kann, ohne zu zerfallen. Diese Erosion hat politische Gründe, aber auch solche der Migration aus nicht-europäischen Ländern, die EU-weit längst das Ausmaß einer Völkerwanderung erreicht hat. All das gefährdet den Grundkonsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, der durch immer neue Gesetze ersetzt werden muss.

Beginnen wir mit dem Selbstverständnis der EU: Ich persönlich hatte mir in meiner publizistischen Tätigkeit vorgenommen, nicht ständig über die EU zu schreiben. Mittlerweile musste ich lernen, dass es geradezu unmöglich ist, nicht über die EU zu schreiben. 90 % unserer Gesetze werden in Brüssel gemacht.

Es gibt kaum eine gesetzliche Regelung, für deren Inhalt die EU nicht verantwortlich ist. Das wird in den kommenden Jahren noch viel ausgeprägter der Fall sein. Denn die EZB hat in einem neuen Selbstverständnis nicht nur die Geldpolitik, sondern nunmehr auch die Fiskalpolitik übernommen. Erst vor ein paar Monaten verkündete EZB-Chef Draghi vor der versammelten Presse, dass die EZB für die nächsten zwei Jahre Wertpapierankäufe von 1.400 Milliarden Euro tätigen wird, wobei auch Ramsch und Schrottpapiere der Banken, Schulden der Krisenländer und faule Kredite gekauft werden sollen.

Aufgrund dieser Beschlussfassung der EZB und der Anmaßung, zur Eurorettung nun auch eigenmächtig Fiskalpolitik zu betreiben – eine Anmaßung, die übrigens weit über das hinaus geht, was die EZB nach dem Vertrag von Maastricht überhaupt darf – wird es in Zukunft bedeutungslos sein, ob wir in Österreich Strukturreformen durchführen, Sparpakete schnüren oder Steuern senken oder gar wer die Wahlen gewinnt. Denn kein innerstaatliches Programm kann diese neue Form der Umverteilung und Geldvernichtung ausgleichen. Alleine in Deutschland hat die Niedrig-Zins-Politik der EZB in einem Jahr 39 Milliarden Euro an Sparvermögen vernichtet. In unserem Nachbarland gibt es daher massive Widerstände gegen das neue Selbstverständnis der EZB, von unserer Bundesregierung hört man hingegen nichts.

Wie Sie allein daran ersehen können, ist vom ursprünglichen Selbstverständnis der EU, frei reisen, kaufen, verkaufen, investieren, studieren und sich frei bewegen können, nicht mehr viel vorhanden. Brüssel hat sich zu einer Hochregulierungszone entwickelt. Mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das darin bestand, dass Güter, die in einem Mitgliedstaat unter den dortigen Vorschriften hergestellt werden, grundsätzlich in der gesamten EU verkauft werden dürfen, hat das alles nichts mehr zu tun. Die Folgen sind die Vereinheitlichung und die Behinderung der wirtschaftlichen Dynamik und die Behinderung der Schaffung von Arbeitsplätzen. Mit einem Wort: Gesetzesflut und Überregulierung.

Ein Brandbeschleuniger dahin war die Eurokrise. In dieser hat man die Nichtbeistands-Klausel (auch No-Bailout-Klausel) in Art. 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU außer Kraft gesetzt, weil man einen Dominoeffekt und ein Übergreifen der Krise auf benachbarte Volkswirtschaften fürchtete. Es kam zu Schuldenerlässen, Rettungsschirmen und Bankenrettungen. Plötzlich haftete ein Mitgliedsland für die Schulden eines anderen. „Too big, too fail“ lautete der Schreckensruf. Die entscheidenden Industrienationen ließen sich von der Drohung eines Staatsbankrotts Griechenlands faktisch erpressen und stimmten dem Aufbau der Schuldenunion zu. Damit entließ man die Staaten aus der Selbstverantwortung und begab sich auf den Weg des Einheitsstaates, den man seither mit aller Vehemenz verfolgt, weil eine Umkehr politisch nicht mehr durchsetzbar erscheint. Dazu müsste die Konjunkturlokomotive Deutschland einen Alleingang machen und die Notbremse ziehen, was nicht zu erwarten ist, wenn man sich die Zusammensetzung der neuen Kommission und der EZB ansieht.

1.011 Verordnungen, 388 Änderungsverordnungen, 14 Richtlinien, 64 Änderungsrichtlinien – und das alles in einem Jahr. Dass die Überregulierung nicht meine Erfindung oder Einbildung ist, zeigt nicht nur diese Flut an Gesetzesbestimmungen, sondern auch die Tatsache, dass die EU-Kommission offiziell beschlossen hat, künftig Gesetze auf deren Notwendigkeit hin zu überprüfen. Mit ihrem am 2. Oktober 2013 in Brüssel vorgestellten „Fitnessprogramm“ für die Verwaltung wollte die EU unnötige Regeln ersatzlos streichen. Komplizierte Vorgaben sollten einfacher und neue künftig bereits vor der Verabschiedung darauf geprüft werden, ob sie tatsächlich notwendig sind. Ich halte das für reine Kosmetik und PR und bezweifle, dass das je zu einem Ergebnis führen wird, denn die gesamte Entwicklung und Ausrichtung der EU steuert auf die Vereinheitlichung durch Überreglementierung zu. Fitnessprogramm für die Verwaltung hin oder her; neben dem fehlenden politischen Willen zur Selbstbestimmung einzelner EU-Länder wurden die rechtlichen Voraussetzungen für die Überregulierung gerade erst geschaffen:

Beispielsweise mit dem Vertrag von Lissabon, der im künftigen Gesetzeswerdungsprozess Mehrheitsprinzipien verankerte und gemeinsam mit der neuen Rolle des Europäischen Parlaments ein einheitliches EU-Staatsvolk unterstellt, das es nicht gibt. Dieser Vertrag reformierte den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag). Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellte 2009 in einer sehr negativen Stellungnahme zum Vertrag von Lissabon fest, dass das Europäische Parlament nicht „hinreichend gerüstet“ ist, um „repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen“, so lange kein „einheitliches europäisches Volk“ existiert. Mit anderen Worten: Derzeit hat das Europäische Parlament laut dem Bundesverfassungsgericht nicht die Legitimität, per Mehrheitsdiktat die Österreicher zum Beispiel zur Zulassung der Atomenergie zu zwingen. Derartiges passiert aber, weshalb es weiterhin zur Vereinheitlichung und Überregulierung kommt.

Hinzu tritt noch ein weiteres Problem, das die Überregulierung erst wirklich anheizt. Die Einzelinteressen der Lobbyisten, die immer neue Gesetze und Ausnahmebestimmungen für ihre Auftraggeber erwirken und ihre Sonderwünsche in neuen Gesetzen und Ausnahmen zu den Gesetzen festgelegt sehen wollen. Das führt zu einem gigantischen Anwachsen der Gesetzestexte und Verordnungen. In Brüssel agieren derzeit geschätzte 20.000 Lobbyisten, das sind etwa 30 Lobbyisten pro EU-Abgeordneten. Die genaue Zahl steht nicht fest, da es sich hier nur um die offiziell registrierten handelt. In der Praxis erarbeitet und formuliert werden die Gesetze von den 32.000 EU-Kommissionsbeamten. Zu Tausenden treffen, manipulieren und beeinflussen Lobbyisten diese Beamten und damit die Gesetze Europas. In die Arbeitsweise in Brüssel gab jüngst die holländische PR-Agentur Schuttelaar & Partners Einblick: „Wir sind häufig bei der Kommission, das ist unsere erste Anlaufstelle. Die Experten, die sich mit einem Dossier beschäftigen, die sind die Eintrittspforte.“ Die Beamten schätzten die Treffen sehr, sagt van’t Veld, Strategie Senior Consultant der Agentur, auch bekämen sie gerne konkrete Vorschläge, wie man ein Gesetz verbessern könne. „Wie alle Lobbyisten schreiben auch wir für unsere Kunden Vorschläge für Gesetzesänderungen oder -zusätze.“ Oft werden die auch in den endgültigen Text übernommen: „Dann könnte man tatsächlich sagen, Berater schreiben Teile der Gesetze.“

Allein die Finanzindustrie gibt jährlich 120 Millionen Euro für Lobbying aus. Lobbyisten und PR-Agenturen schreiben ganze Textpassagen von Gesetzen. Das führt nicht nur zu einer Überregulierung, sondern auch zu einer gewaltigen Manipulation, deren Ausmaß erst unlängst von britischen Forschern der Oxford Universität unter Einsatz eines Text-Analyse-Programms nachgewiesen werden konnte. Ein entsprechender Bericht wurde im British Medical Journal veröffentlicht. Untersucht wurde die Entstehung der Tabak-Gesetze zwischen 2009 und 2014. Das von den Forschern verwendete Text-Analyse-Programm konnte aufzeigen, wie sich die Wortwahl in den Gesetzesentwürfen genau verändert hat. Ausgangslage war – wörtlich – dass bekannt ist, dass „die Tabakindustrie den wirtschaftlichen Nutzen über die Gesundheit der Konsumenten stellt“. Das Text-Erkennungssystem verfolgte die Frequenz von „Pro-Industrie-Worten“, wie etwa „Wirtschaft“ im Vergleich zu jenen des öffentlichen Interesses wie „Gesundheit“ oder „warnen“. Betrachtet wurde ein Textentwurf in drei Stadien seiner Entwicklung.

Das Ergebnis: „Die EU-Gesetzgebung verschob wesentliche Positionen zugunsten der Tabakindustrie und anderer Beteiligter, die mit der Position der Industrie verbunden waren“, so die Analysten der Oxford University. Der Anteil der Worte „Gesundheit“ und „warnen“ sank dramatisch, wohingegen der Anteil des Wortes „ökonomisch“ wuchs. Aus dem ersten Entwurf wurden alle Vorschläge für eine schmucklose Verpackung und Beschränkungen für den Verkauf entfernt. Im zweiten Entwurf wurde die Größe

der abschreckenden Bilder auf den Verpackungen von 75 Prozent auf 65 Prozent reduziert. Zudem wurde das Verbot für Slim-Zigaretten wieder entfernt, sowie jenes für Menthol-Zigaretten um fünf Jahre verschoben. Die Forscher sprachen von einem „beispiellosen“ Grad der Lobbyarbeit.

Hierzu in bester Erinnerung ist noch Herr John Dalli, der im Jahre 2012 als EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz seinen Hut nehmen musste, weil ihm im Zusammenhang mit der Tabak-Gesetzgebung Bestechlichkeit vorgeworfen wurde. Der Deal: 60 Millionen Euro für eine weitere Ausnahmeregelung (Aufhebung des Verbotes von Lutschtabak). Für Herrn Dalli gilt nach wie vor die Unschuldsvermutung.

Ein weiteres Beispiel für Überregulierung durch Lobbyismus war die versuchte Privatisierung unseres Trinkwassers. Hierbei handelt es sich um ein Milliardengeschäft. Die EU wollte Gemeinden künftig dazu zwingen, die Trinkwasserversorgung europaweit auszuschreiben und an den „Bestbieter“ zu vergeben. Wer „Bestbieter“ sein würde, war leicht auszumachen: Einer der milliardenschweren (zumeist französischen) Großkonzerne im Bereich der Wasserwirtschaft. Kaum ein lokaler Anbieter könnte mit den Angeboten mithalten, denn das Geschäft funktioniert so: Der Konzern übernimmt die Trinkwasserversorgung. Die bisher verantwortliche Gemeinde erhält dafür vom Konzern einen Kredit in vielfacher Millionenhöhe. Das spült Geld in die leeren öffentlichen Kassen. Damit kann die Gemeinde öffentliche Vorhaben realisieren, beispielsweise ein neues Kongresszentrum oder dergleichen bauen. Die Wasserrechnung für die Bürger hingegen steigt kontinuierlich an, weil die Menschen nicht nur das verbrauchte Wasser, sondern auch gleich die Schulden der Gemeinde, die diese beim Großkonzern hat, an Letzteren zurückzahlen. Auch ist die Wartung der Leitungen ist sehr teuer, weshalb diese nicht instandgehalten, sondern bloß das Wasser mit Chlor gereinigt wird. Dieses wird sodann in Flaschen abgefüllt und ins Ausland verkauft.

Es war wenig verwunderlich, dass zufällig ein EU-Kommissar aus dem Heimatland der größten Wasserkonzerne, Frankreich, den Europäern die Vorteile der Wasserprivatisierung erklären wollte. Nach Protesten, einem Wasservolksbegehren und nicht auch zuletzt aufgrund der Mobilisierung durch die KRONE musste das Vorhaben vorerst aufgegeben werden.

Nur aufgrund dieser Vorkommnisse müsste jeder EU-Abgeordnete ein Gesetz, das ihm von der Kommission vorgelegt wird, mit folgendem Generalverdacht behandeln: „Ein Gesetzesvorschlag der Kommission ist so lange verdächtig, bis das Gegenteil bewiesen ist“.

Doch kommen wir zum zweiten Punkt: Die heutige Gesellschaftspolitik, dem gesellschaftlichen Mainstream, der so genannten „Beleidigtenkultur“.

Im Zentrum der heutigen Politik, insbesondere der heutigen Gesellschaftspolitik steht das „Opfer“.

Irgendjemand wurde gemobbt, beleidigt, diskriminiert, vernachlässigt, schlecht oder ungerecht behandelt, übersehen, gestalkt, nicht genügend respektiert, nicht wahrgenommen, nicht verstanden oder schlicht vergessen. Es gibt heute eine unübersehbare Anzahl an Opfern, ja ganze Opferclans. In unserer Gesellschaft ist „das Opfer“ in allen seinen neuen Varianten ein geachteter Vertreter unserer Zeit geworden. Das verkauft man uns als Fortschritt.

Doch diese Beleidigtenkultur ist das Gegenteil davon; also weder fortschrittlich noch hochsozial. Sie tritt an die Stelle des Staates als übergeordnetes Gemeinwesen und ist die neue Form der „primitiven Stammesgesellschaft, in der die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe alle anderen Loyalitätsverhältnisse überlagert“. Es ist die „Randgruppen-Hierarchie der Stammeswelt“, wie es der Publizist Jan Fleischhauer treffend ausgedrückt hat. Je beleidigter und empörter eine Gruppe in der Öffentlichkeit auftritt, umso sicherer ist ihr die Aufmerksamkeit der Medien und des Gesetzgebers. Die gesetzlichen Anstrengungen steigen immer mehr an, um auch wirklich jede Form der Benachteiligung zu vermeiden: Denken Sie an die verpflichtende Quoten, Gleichstellungsprogramme, Sprachverordnungen, Anti-Diskriminierungsgesetze, Bundesgleichbehandlungsgesetze, Kommissionen und dergleichen mehr. Jeder muss berücksichtigt werden. Ein sehr gutes Beispiel sind die „Andersgeschlechtlichen“. Facebook führte neben männlich, weiblich oder transsexuell 57 weitere, verschiedene Geschlechtsidentitäten ein. Hier einige Beispiele:

androgyner Mensch, androgyn, bigender, weiblich, Frau zu Mann (FzM), gender variabel, genderqueer, intersexuell (auch inter*), männlich, Mann zu Frau (MzF), weder noch, geschlechtslos, nicht-binär, weitere, Pangender, Pangeschlecht, trans, transweiblich, transmännlich, Transmann, Transmensch, Transfrau, trans*, trans* weiblich, trans* männlich, Trans* Mann, Trans* Mensch, Trans* Frau, transfeminin, Transgender, transgender weiblich, transgender männlich, Transgender Mann, Transgender Mensch, Transgender Frau, transmaskulin, transsexuell, weiblich-transsexuell, männlich-transsexuell, transsexueller Mann, transsexuelle Person, transsexuelle Frau, Inter*, Inter* weiblich, Inter* männlich, Inter* Mann, Inter* Frau, Inter* Mensch, intergender, intergeschlechtlich, zweigeschlechtlich, Zwitter, Hermaphrodit, Two Spirit drittes Geschlecht, Viertes Geschlecht, XY-Frau, Butch, Femme, Drag, Transvestit, Cross-Gender.

Wie diese künftig nicht-diskriminierend bei der Besetzung von Aufsichtsräten oder im Text der Bundeshymne berücksichtigt werden sollen, bleibt offen. Doch Vorsicht: Nicht jede Minderheiten-Zugehörigkeit qualifiziert automatisch für den Opferstatus. Millionäre, Jäger, Offiziere oder Adelige schaffen es selten auf die Liste der bedrohten Arten. Aber das ist ein anderes Thema.

Hinzu kommen noch dutzende – unsinnige und überbordende – Sprachverordnungen, die den Regeln der deutschen Sprache und der Verständlichkeit zuwiderlaufen. Hier ein Beispiel aus der gegenderten Bundesverfassung:

„Dauert die Verhinderung der Bundespräsidentin/des Bundespräsidenten, deren/dessen Funktion zunächst auf die Bundeskanzlerin/den Bundeskanzler übergegangen ist, länger als 20 Tage, so üben die Präsidentin/der Präsident, die zweite Präsidentin/der zweite Präsident und die dritte Präsidentin/der dritte Präsident des Nationalrates als Kollegium die Funktionen der Bundespräsidentin/des Bundespräsidenten aus“.

Zudem existiert ein falscher Gleichheitsgedanke: Der Begriff der Gerechtigkeit wird einfach mit dem Begriff Gleichheit vertauscht. Gleichheit = Gerechtigkeit. Um diese Gleichheit zu erzwingen, braucht es Normen und Gesetze und Personen, die die Umsetzung der Gleichheit überwachen. Doch diese Gleichheit, die unter dem Titel Chancengleichheit daherkommt, ist in Wahrheit nur eine leere politische Phrase und Selbstbetrug: Denn wenn alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem sozialen Status, die gleiche Chance haben, dann tritt die Ungleichheit noch stärker hervor. Wenn beispielsweise David Alaba und ich je einen Fußball bekommen und wir gleich oft damit trainieren, dann kann ich Ihnen garantieren, dass David Alaba der weit bessere Spieler sein wird. Also: Die Ungleichheit zwischen uns beiden tritt noch stärker hervor. Da man aber Gleichheit nicht als Chancengerechtigkeit, sondern als Gleichheit in den Ergebnissen misst, wird (insbesondere in den Schulen) alles unternommen, damit David Alaba nicht besser Fußball spielt als ich, weil man ja das gleiche Ergebnis erzielen will. Man versucht die Schwachen zu stärken, indem man die Starken schwächt. Und um diese veritable Dummheit durchzusetzen, muss man Gesetze einführen und Leute anstellen, die dafür sorgen, dass der Alaba nicht zu gut wird, weil es sonst für den Wallentin ungerecht ist.

Und wer in der Gleichheit auf materiellem Niveau sein politisches Ziel sieht (Stichwort Kommunismus), für den ist das individuelle Erwerbsstreben, der Fleiß und die Tüchtigkeit des anderen eine ständige Bedrohung. Hierfür gibt es sogar aktuelle Beispiele aus der EU-Wirtschaftspolitik. Noch vor etwa einem Jahr wollte die EU Deutschland für seinen Exporterfolg so lange bestrafen, bis sich die deutsche Volkswirtschaft auf dem Niveau der Schuldenstaaten befindet. Salopp gesagt, hätte Deutschland jedes Mal Strafe zahlen müssen, wenn ein Grieche einen VW-Golf kauft.

Gerade in der Schulpolitik sehen wir die zahlreichen Verordnungen, Schulversuche und Sonderregelungen, weil auch hier das Motto gilt: „Lieber alle gleich schlecht, als unterschiedlich gut“. Der Erfolg sind eine Million Analphabeten. Werte, die durchaus mit dem Mittelalter konkurrieren können.

Zum dritten Punkt: Die Veränderung und Aufweichung, ja der Wegfall der Werte, insbesondere der Wegfall der christlich fundierten Werte, also jenem Erbe, von dem Europa sich nicht gänzlich lösen kann, ohne zu zerfallen. Das zerstört den Grundkonsens in den Staaten Europas, der durch immer neue Gesetze ersetzt werden muss. Dahinter steht das politisch-utopische Programm der befreiten Gesellschaft, die den Staat nicht pluralistischer, sondern bodenlos macht.

Die politische Dimension der Utopie von der befreiten Gesellschaft liegt in dem (auf Rousseau zurückgehenden) Irrglauben, dass der Mensch das großartigste Wesen auf der Welt ist, aber nur durch die Gesellschaft verdorben wird. Man müsse nur die Gesellschaft ändern und den Menschen befreien und schon schaffen wir das Paradies auf Erden. Diese grobe Verkennung des Menschen und von alledem, was ihn treibt, hat schon in der Vergangenheit zu großem Unglück geführt – man denke an die Auswüchse des Kommunismus. Zudem steht dieses scheinbar fortschrittliche Denken weit hinter demjenigen der angeblich rückschrittlichen Kirche, die von der Erbsünde spricht und damit ausdrückt, dass wir Menschen nicht so großartig sind, wie wir oft meinen.

Begleitet wird diese ideologische Forderung auch von einer sehr eigentümlichen Geschichtsauffassung: Die gesamte bisherige Geschichte wird als Geschichte der Unfreiheit verstanden. So ziemlich alles war falsch, despotisch, rückständig und hatte archaische Strukturen. Erst heute könne die gerechte Gesellschaft gebaut werden. Niemand geringerer als der emeritierte Papst Benedikt XVI. nahm hierzu einmal wie folgt Stellung:

„Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue – gewiss kritische und demütige – Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen“.

Wie gesagt, das sagte der Papst.

Die Eckpunkte unserer Moral und unserer Kultur und Werte sind christlich. Das Christentum hat der Aufklärung in Europa die Vernünftigkeit und den inneren Zusammenhang gegeben. Selbst wenn jemand die Amtskirche ablehnt oder Atheist ist, kann er sich der von 2.000 Jahren Christentum geprägten Kultur nicht entziehen, die letztlich seine Idee von „gut“ und „böse“ geprägt hat. Der einzige Unterschied ist, dass an die Stelle der Religion die gute Absicht tritt.

Lassen Sie zwei oder drei Generationen ohne Christentum oder wie man heute sagt, befreit vom Christentum aufwachsen, und Sie werden sehen, dass es plötzlich nicht mehr so ganz klar ist, was als „gut“ oder „böse“ zu bewerten ist. Und wenn die Intuition dafür abhandenkommt, dann hat das für eine Demokratie fatale Auswirkungen. Warum?

Weil Demokratie nichts anderes als die Entscheidung der Mehrheit ist. Sie kann keine Werte schaffen, sie hängt von den Werten ab, die die Menschen haben. Denken Sie etwa an die Ablehnung der Sklaverei. Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hat die Menschheit diese Intuition nicht eingeschlossen – im Gegenteil sie war weit eher die historische Normalität als die heutige Ablehnung derselben. Nun stellen Sie sich vor, man würde über die Wiedereinführung der Sklaverei abstimmen und 80 % stimmten dafür. Haben Sie irgendeinen Zweifel, dass die Sklaverei nicht eingeführt wird? In einer Demokratie wäre mit dieser überwältigenden Mehrheit die Sklaverei wieder eingeführt – keine Frage.

Warum aber stimmen wir über Derartiges nicht ab?

Weil wir aus unserer Wertüberzeugung zu der Auffassung gelangt sind, dass der Mensch eine Würde besitzt, die nicht antastbar ist und auch nicht dem demokratischen Spiel von Mehrheit und Minderheit unterliegt. Wie sehr der Begriff Würde kulturell variiert, zeigt sich beispielsweise in Teilen Indiens, wo die Witwenverbrennung trotz staatlichem Verbots nur aufgrund des kulturellen Erbes weiterhin gang und gäbe und für viele nichts Unmoralisches ist. Die Frage, was fundamentale Freiheitsrechte sind, ist eben variabel und es besteht gegenwärtig die Gefahr, dass im Namen der Freiheit die Freiheit abgeschafft wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Gesetzesflut und Überregulierung hemmt nicht nur die Wirtschaft, sondern ist das Symptom einer sich verändernden und zum Teil zerfallenden Gesellschaft. Wir sollten daher nicht nur die Überregulierung selbst und damit ein Symptom, sondern jene Ursachen bekämpfen, die ich genannt habe.

Offen gesagt

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