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Die Rache muss warten

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Da Tarpen von Radewitz seine Pflichten als Stabsoffizier nicht vernachlässigen konnte, verbrachte ich viel Zeit allein. Das galt ebenso für die Nächte. Manchmal sah ich ihn mehrere Tage nicht. Mit jeder einsamen Stunde spürte ich stärker, dass ich ihn vermisste. Er begann mir etwas zu bedeuten.

Am nächsten Tag wartete ich besonders sehnsüchtig auf die Rückkehr meines Beschützers. Würde er mir die Genehmigung fürs das Gefängnis verschaffen? In Gedanken plante ich die heiß ersehnte Rache in verschiedensten Variationen. Leider tauchte der Vielbeschäftigte nicht auf. Der Dienst hielt ihn zu lange fern. Das Warten machte mich rasend. Aus Wut tötete ich in der nächsten Nacht zwei Männer und trank erneut viel böses Blut. Das besänftigte mein Gemüt, doch die Sorge blieb.

Wie lange musste ich mich noch gedulden? Einen weiteren Tag später, am frühen Vormittag, betrat der heiß Ersehnte endlich mein Zimmer.

Seine Augen wirkten matt und aus den Mundwinkeln sprach die Erschöpfung. Trotzdem sah ich ihn hoffnungsvoll an.

„Wo bist du so lange gewesen?“

Seine Augen blickten beschämt.

„Beim Verhör von Medwedew. Ich musste dabei als Untervernehmer zugegen sein.“

„Was hat er gesagt?“

„Ziemlich viel. Stabskapitän Belozerkowski ist für seine Brutalität bekannt.“

„Hat der Kerl wenigstens seine Untaten gestanden?“

Tarpen von Radewitz lachte pikiert auf.

„Bei dem Verhör hätte jeder alles gestanden. Belozerkowski hat ihm gleich zu Anfang mehrere Zähne herausgeschlagen.“

„Er hat es verdient!“, stieß ich energisch hervor. Allerdings hätte ich die Folter gerne selbst geleitet. In mir loderte grenzenloser Hass.

„Ich habe eine Kopie des Protokolls dabei. Medwedew hat es selbst unterschrieben.“ Mein Liebster zog ein Blatt Papier aus seiner Kalbsleder-Offizierstasche hervor.

„Ich weiß aber nicht, ob es die Wahrheit ist oder nur das Ergebnis von Belozerkowskis Schlägen.“

Er sah das Schreiben eine Weile an, ehe er es mir reichte. Scheinbar wog er ab, ob ich es lesen durfte.

Mit zitternden Händen nahm ich das Protokoll und las:

Der Zar, die Zarin, die vier Töchter des Zaren, der Arzt, der Koch und der Diener kamen aus ihren Zimmern. Der Zar trug den Zarewitsch in seinen Armen. Der Herrscher und der Thronerbe trugen Militärhemden und Fellmützen. Die Zarin und ihre Töchter trugen Kleider, aber keine Mäntel. Der Herrscher ging mit dem Thronfolger voraus. In meiner Gegenwart gab es keine Tränen, keinen Seufzer und keine Fragen. [...] Sie wurden in das Eckzimmer neben der verschlossenen Vorratskammer geführt. Jurowskij befahl Stühle zu bringen. Die Kaiserin setzte sich vor die Wand, in der die Fenster waren – näher zur rückwärtigen Säule des Bogens. Hinter ihr standen drei ihrer Töchter, der Kaiser befand sich in der Mitte, neben dem Thronerben, und hinter ihm stand Dr. Botkin. Das Dienstmädchen [...] stand links [...]. Neben ihr stand eine der Töchter. Das Hausmädchen hielt ein Kissen im Arm. Die Töchter des Zaren hatten kleine Kissen mitgebracht, eines davon legten sie auf den Sitz des Stuhles für den Thronfolger, das andere auf den Stuhl ihrer Mutter. Gleichzeitig betraten elf Männer den Raum [...]. Als er wieder ins Haus ging, waren zwei bis drei Minuten vergangen. Als er in das Zimmer ging, sah er alle Mitglieder der Zarenfamilie mit zahlreich Wunden am Körper auf dem Bodern liegen. Blut strömte über den Boden. Der Zarewitsch war noch am Leben- und stöhnte. Jurowskij ging zu ihm hinüber und schoss aus kürzester Entfernung zwei- bis dreimal auf ihn. Der Zarewitsch wurde still. Bei diesem Anblick wurde mir speiübel. Die Leichen wurden nach draußen zu den Lastwagen auf Bahren getragen, die aus einem Hemd bestanden, das über zwei Stangen [...] gespannt war. Die Leichen wurden in eine Grube gelegt, [...] und mit Schwefelsäure überschüttet um sie unkenntlich zu machen.

Das Geständnis des Kerls entsprach vollkommen der Wahrheit. Mein Herz bebte und blutete, bei dem, was ich las. Tränen rannen mir das Gesicht herunter. Alle Abläufe standen mir natürlich detailliert vor Augen. Selbst meine Furcht durchlebte ich erneut. Tarpen wirkte von dem Anblick, den ich ihm bot, erschüttert. Mein Freund wusste nicht, wie er antworten sollte.

„Ist schon gut, Olga“, versuchte er mich hilflos zu trösten. „Dieser Schuft ist ja in Haft.“

Ich warf mich weinend in seine Arme. Unbeschreiblich schmerzhafte menschliche Gefühle überwältigten mich. Für einen Moment war ich wieder das kleine Mädchen, die Tochter des Zaren, das eine Erwachsene spielen musste. Ich fühlte mich als unschuldiges Opfer. Schluchzer entrangen sich meinem Mund und schüttelten den Körper.

Mein Beschützer strich mir liebevoll übers Haar. „Olga“, flüsterte er. „Geliebte Olga, warum nimmt dich das so mit? Was hat man dir bloß angetan?“

Ich schüttelte den Kopf. Darüber konnte ich nicht reden.

Warm rannen die Tränen aus meinen Augen. Die grantige Kruste um meinen Menschlichkeit hatte einen starken Riss bekommen und ließ diese unschuldigen Gefühle hervorquellen. Das Leid drohte mich zu ersticken. Ich rang um Atem und keuchte nach Luft. Mit großer Anstrengung regulierte ich diese Emotionen herunter. Das Menschliche erstarb und die Bestie in mir lebte wieder auf. Nur so konnte ich Rache üben und schuldige Leben ohne hinderliches Gewissen nehmen. Ich wollte Medwedew und seine Gefährten töten! Alles, was er mir angetan hatte, sollte er doppelt so qualvoll durchleiden! Zwischen Täter und Opfer gibt es keinen wesentlichen Unterschied. Recht ist bloß ein Begriff, den Menschen geschaffen haben, ein Wort, eine Illusion. Ist Rache nicht ebenfalls eine Form von Recht? Zurück blieb einzig der Wunsch nach dieser.

„Hast du mir die Besuchserlaubnis verschafft?“, stieß ich wie gewandelt kaltherzig hervor.

Zum Glück konnte Tarpen mein boshaftes Gesicht und die Veränderung darin nicht sehen. Sie hätte ihn vielleicht erschreckt.

„Nein, das ging einfach nicht. Unser General hat jeden Besuch bei dem Inhaftierten verboten.“

„Wieso?“, knurrte ich zornvoll. Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, diesem Versager an die Gurgel zu greifen.

„Medwedews Leben ist von internationaler Bedeutung“, rechtfertigte sich mein Gegenüber. „Er ist der entscheidende Zeuge für den Zarenmord. Viele haben ein großes Interesse daran, sein Leben zu rauben. Deswegen wird er sogar beschützt. Nur so können wir doch den Roten die Untat juristisch beweisen.“

Ich rastete innerlich aus, zwang mich aber zur Beherrschung. Was für eine Ironie! Die Tschechen beschützten das Leben der Furie, die meine Familie getötet hatte.

„Mach noch einen Versuch!“, fauchte ich ihn an.

„Nein, das bringt nichts.“

„Dann wirst du mich niemals bekommen!“ , zischte ich mit zynischer Kälte in sein Ohr. „Meine Schatztruhe bleibt dir auf ewig versperrt!“

„Damit kann ich leben. Ich liebe dich auch so.“ Er gab sich als Ehrenmann.

Meine Wut flammte lodernd empor, doch ebenso schnell sank sie wieder ab. In mir kämpfte die boshafte Bestie mit dem kuscheligen Kätzchen, der Hass mit Zuneigung. Warum musste dieser Schwächling mir zugleich so wunderbar sowie widersprüchlich erscheinen? Er hatte doch versagt. Seine Worte waren voller Würde und Stärke. Mit einer Hand wollte ich ihn ermorden und seinen Ungehorsam mit Blut bestrafen! Ich brauchte keinen nutzlosen Helfer! Aber meine andere Hand wollte ihm liebevoll das Haar streicheln. Und meine Lippen die seinen sogar küssen.

„Geh!“, stieß ich innerlich zerrissen hervor und wandte mich ab, um ihn vor der wilden Kreatur in mir zu schützen. Diese gewann in mir die Oberhand, das Kätzchen wurde zerfetzt.

Verstört tappte mein nutzloser Held davon. Was war mit mir los? Ich durfte keine romantischen Gefühle zulassen. Das behinderte meine Pläne.

In den folgenden Tagen lauschte ich den Nachrichten. Es machten viele Gerüchte zum Mord an meiner Familie die Runde. Mit der weiteren Aufklärung der Ereignisse hatte man inzwischen den gewissenhaften Kasaner Staatsanwalt Sokolow beauftragt. Er löste die militärischen Ermittler ab. Ob das gut oder schlecht für meine Vergeltungspläne war, konnte ich nicht abschätzen. Ich argwöhnte aber, dass diese neuerliche Wendung lästige Begleiterscheinungen haben würde.

Jedenfalls hatte die Mutter des Zaren, meine Oma, die weißgardistische Regierung und den Staatsanwalt um eine genaue Fallanalyse gebeten. Sie hatte der Verwaltung mitgeteilt, dass sie für jegliche Unkosten der Untersuchung persönlich aufkommen würde. Noch immer hoffte sie, ihren Sohn und uns lebendig wiederzusehen. Zurzeit lebte sie auf der sicheren Krim, außerhalb des Einflusses der Roten, die auch ihr nach dem Leben trachteten und das gesamte Geschlecht der Romanows auslöschen wollten.

Einige Tage später spazierten Tarpen und ich einen Feldweg am Rand der Stadt entlang. Der Schnee reichte sehr hoch, unsere Stiefel versanken bis zum Schaftende darin. Ein Stück des Weges waren wir geritten, jetzt wanderten wir zu Fuß weiter. Der Atem der Pferde dampfte. Die Tiere scheuten noch immer etwas vor mir. Nach wie vor hoffte ich auf eine Ausnahmeerlaubnis für den Gefängnisbesuch.

„Hat Medwedew noch etwas verraten?“, erkundigte ich mich. Der Oberst schaute zurück, um sicher zu sein, dass uns niemand hörte.

Die zwei Attachés standen bei den Pferden und rauchten. Sie genossen die Pause vom Dienst.

„Wenn du mich fragst, verspottet er uns“, antwortete mein Gefährte nach einer Weile. „Man kann ihm nicht glauben.“

Der Schnee knirschte unter unseren Schritten, doch die Sonne schien. Es war ein schöner Wintertag. Nicht einmal Schüsse hörte man. Das schuf die Illusion von Frieden.

„Wieso?“, fragte ich nach. „Weshalb traut ihr ihm nicht?“

„Weil sich der Kerl ohne Grund gestellt hat. Er hat uns eine abenteuerliche Geschichte aufgetischt.“ Tarpen schüttelte den Kopf, um zu verdeutlichen, wie ihn das erstaunte.

Ein toter Vogel lag mit offenem Schnabel am Wegesrand. Er war erfroren und erinnerte an die Endlichkeit des Lebens.

„Welche?“, bohrte ich nach und hakte mich bei ihm vertraut ein.

Tarpen lachte auf. „Dieser Wicht foppt uns. Angeblich ist er vor der lebendigen Zarentochter Olga geflohen, die ihn auf offener Straße angegriffen hat. Er hat sich ergeben, damit diese ihn nicht umbringt. Aber sage mir, welcher Soldat hat Angst vor einem Mädchen? Stellt man sich deswegen seinen Feinden, wo einen der sichere Tod erwartet?“

Mit seinem Fuß warf mein Begleiter etwas Schnee über das verendete Tier. Er glaubte wohl, dass es die bezaubernde Landschaft verschandelte. Dann griff seine Hand nach der meinen. Ich ließ es zu. Die warmen, vergossenen Tränen für meine Familie hatten gezeigt, dass noch Menschlichkeit in mir lag. Und die Augenblicke, die ich schluchzend in seinen Armen verbracht hatte, waren Ausdruck dafür gewesen, wie innig ich für ihn empfand. Er bedeutete mir mehr als andere Menschen. Diese Gefühle hatten nichts mit Liebe zu tun, aber sie stellten eine Form von Zuneigung dar.

„Das klingt verrückt“, stimmte ich leise zu. Wie wunderbar war es in seiner Nähe. Ich fühlte mich geschützt und ein wenig wie zu Hause. Das war einfach nur seltsam.

„Für seine Lügen hat der Chefvernehmer Belozerkowski ihn Dutzende Male geschlagen“, fuhr Tarpen fort. „Er wollte ihn von diesem Schwindel abbringen und erfahren, warum er sich wirklich gestellt hat.“

„Und?“, fragte ich scheinbar interessiert, denn die Wahrheit war längst auf dem Tisch.

„Trotz grausamster Folter erzählt er ständig das Gleiche. Mit Marter können wir ihm nicht beikommen. Der Kerl führt uns an der Nase herum, wo jeder andere längst alles gestanden hätte. Nur wenige Menschen sind so stark.“

„Also wendet man jetzt noch härtere Methoden an?“, mutmaßte ich hoffnungsvoll. Solange ich nicht mitmachen konnte, sollte der Kerl wenigstens durch die Hände anderer leiden. Die Wahrheit wurde Medwedew zum Verhängnis. Je mehr er sie erzählte, um so weniger glaubte man ihm. Das war schon irgendwie komisch und eine besondere Rache.

Mein Informant schüttelte den Kopf. „Staatsanwalt Sokolow meint, dass solche Quälereien nichts bringen. Deshalb hat er jede weitere Folter verboten.“

Ich kochte innerlich. Nun bekam der Kerl im Knast auch noch eine Luxusbehandlung!

„Sokolow ist ein aufrichtiger Mann und treuer Monarchist“, schloss Tarpen das Thema ab. „Er gibt sich alle Mühe, den Fall aufzuklären. Dazu will er international verwertbare Beweise sichern, doch Geständnisse unter Folter haben nur eine bedingte Aussagekraft.“

„Dann soll er mal mit seinen Kuschelmethoden weitermachen“, gab ich mürrisch zurück.

Eine Zeit lang schwiegen wir, dann sagte mein Begleiter plötzlich: „Möchtest du heute mitkommen?“

„Wohin?“, fragte ich mit neuer Hoffnung. Konnte ich doch ins Gefängnis und dem Mörder nahekommen?

„Der Staatsanwalt hat mich zum Abendessen eingeladen. Ich habe darum gebeten, jemanden mitbringen zu dürfen.“

Er sah mich liebevoll an.

„Mir geht es nicht gut“, wich ich dem unausgesprochenen Wunsch aus. „Das Sonnenlicht schmerzt mich heute besonders stark.“

Da Sokolow nun der Aufklärer war, wollte ich jeden direkten Kontakt mit ihm vermeiden. Durch seinen Auftrag kannte er sicher viele Bilder von meiner Familie. Wenn er meine Ähnlichkeit mit Olga entdeckte, würde ihn das misstrauisch machen. Niemand sollte Verdacht schöpfen und mich mit der Zarenfamilie in Verbindung bringen. Das war mein Geheimnis, welches mir gleichzeitig als Schutzmantel diente. Sonst würde man mich erneut verfolgen, nach meinem Leben trachten.

„Warum willst du nicht doch mitkommen? Ruh dich einfach noch ein wenig aus!“, hakte mein Begleiter enttäuscht nach.

„Du hast doch immer so großes Interesse an dem Zarenmord. Es gibt keine bessere Quelle als Sokolow persönlich. Bei ihm laufen alle Informationen zusammen.“

„Mein Interesse gilt mehr den Mördern“, parierte ich und nahm mir vor, noch vorsichtiger zu sein.

„Was ist dein Geheimnis? Ich würde es sehr gerne erfahren.“ Mein tschechischer Freund musterte mein Gesicht in allen Facetten.

„Dann wäre es kein Geheimnis mehr“, gab ich seiner Frage eine scherzhafte Wendung, so bitter diese in meinen Ohren auch klang. Ich zog meinen Arm aus dem seinen.

Wir gingen zu den Pferden zurück. Als sie mich rochen, machten sie furchtsame Augen. Tarpen hatte mir eines der Tiere geschenkt, da es für den Dienst zu schwach war und vermutlich eine unerkannte Krankheit in sich trug. Für eine Frau ohne Gepäck war es allerdings stark genug. Ich hatte das Tier spöttisch Karuschka getauft. So hieß einst das sprechende Pferd von Ilja Muromez, meinem früheren Lieblingshelden.

„Warum haben die Tiere Angst vor dir?“, staunte Tarpen. „Du bist eine gute Reiterin und sie kennen dich inzwischen.“

Ich zuckte mit den Schultern und schwang mich in Karuschkas Sattel. Einer der Gefreiten hielt das Tier zur Sicherheit an den Zügeln fest.

„Wahrscheinlich haftet an meiner Haut der Geruch von Blut. Vor einigen Zeit starb unter mir ein Pferd im Kugelhagel der Roten.“

„Ja, das könnte eine Erklärung sein. Diese Tiere sind sehr sensibel“, stimmte er zu.

Unsere kleine Abteilung ritt nach Jekaterinburg zurück. Dabei brütete ich vor mich hin. Tarpen von Radewitz konnte mir also nicht helfen. Ich musste mir anders Zugang zu Medwedew verschaffen.

Zarin der Vampire. Schatten der Nächte

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