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Petrograd am 31. Dezember 1916

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Unsere Mutter, die Zarin von Russland, schien nicht mehr ganz bei normalen Sinnen zu sein. Ihr Mund zuckte sprachlos, als rang sie um Worte. War uns Geschwistern das höfische Leben am frühen Morgen trotz des andauernden Krieges noch relativ sicher, fast normal vorgekommen, drang urplötzlich die erschreckende Düsternis der Vergänglichkeit unbarmherzig durch jede Ritze. Grauen lauerte bedrohlich um uns herum und streckte seine scharfen Krallen nach uns aus. Die Bestie Tod setzte zum Sprung an und wollte unsere Kehlen zerfetzen und roten Lebenssaft trinken. Ein eisiger Hauch ließ mein jungfräuliches Blut gefrieren.

Alexej, mein jüngerer Bruder, wirkte besonders verstört. Er war erst zwölf Jahre alt. Wie sollte er auch alles begreifen? Er war zwar der Zarewitsch, also der offizielle Thronfolger, aber jetzt nur ein verängstigter kleiner Junge.

Ich liebte ihn so sehr und war bereit, alles Leid von ihm auf mich zu nehmen. Er hatte trotz der unheilbaren Bluter-Erkrankung sein warmes herzliches Gemüt bewahrt. Nun aber presste sich Aljoscha, so nannten wir ihn, angstvoll an unsere Mutter. Ihre Weinattacken wurden von heftigen Krämpfen begleitet. Sein Haar war ganz nass von ihren salzigen Tränen. Sogar auf seiner blauen Matrosenuniform, die er am liebsten trug, zeigten sich dunkle Flecken.

Wir vier Mädchen saßen erstarrt auf gepolsterten Hockern um die beiden herum. Keines von uns wagte irgendein Wort zu sagen – gleich Kaninchen beim Anblick des Fuchses – und warteten gebannt, ja voller Schrecken auf das Kommende. Eine Standuhr schlug im Nebenraum und ließ mich zusammenzucken. Der tiefe Gong drang dumpf durch die geschlossene Tür und erinnerte mich an die Glocken eines Friedhofs. Meine feinen Haare auf den Armen standen zu Berge. Die Zeit schien still zu stehen, wie ein Fluss der unmittelbar durch den plötzlichen Einbruch starken Frostes vereiste. So musste es sich anfühlen, wenn der eigene Tod tatsächlich nahte und man sein unabänderliches Wirken begriff.

Ich war jedenfalls vollkommen verwirrt, verängstigt und zugleich ausgesprochen wütend auf mich selbst. Da ich, Olga, mit einundzwanzig Jahren die Älteste von uns Geschwistern war, musste ich mich doch irgendwie zusammennehmen. Eigentlich wollte ich hemmungslos weinen und mich so erleichtern, doch meine Rolle in der Familie forderte äußerliche Disziplin. Ich durfte jetzt nun einmal kein Kind mehr sein. Der lange Krieg und die Staatsräson hatten mich Romanowprinzessin erwachsener geformt, als ich es vom Alter her eigentlich war.

Was konnte ich nur unternehmen, um zu helfen? Wer sollte den jüngeren Geschwistern sonst Halt geben, wo schon Mama uns alle so erschreckte? Ihr hysterischer Zusammenbruch ließ uns die Unsicherheit der gesamten Welt, die Verletzlichkeit unserer kleinen Familie erkennen. Alle Vorstellungen von Sicherheit und Dauerhaftigkeit waren letztlich nur Konstrukte – wie Häuser, die aus Klötzen errichtet wurden. Entfernte man ein tragendes Teil, brach gleich das ganze Gebäude zusammen und verdeutlichte die allem innewohnende Zerbrechlichkeit.

„Sein Segen wird mich auf dem schmerzvollen Weg begleiten, den ich hienieden noch zu wandeln habe“, flüsterte Mama mysteriös mit rauer Stimme und irre nach oben verdrehten Augen. Die Worte klangen geradezu schauerlich aus ihrem Mund.

Mich fröstelte noch mehr. Was war der tiefere Sinn dieses gehauchten Psalms? In diesem Moment war uns noch nicht klar, dass nur zehn Wochen später eine Revolution dessen verborgene Bedeutung offenlegen würde.

Endlich vernahmen wir die lange erwarteten Schritte. Es waren seine. Das hölzerne Parkett knarrte wohltuend gewohnt unter seinen ledernen Stiefeln. Wir alle wandten unsere Köpfe und sahen zu der großen, mit Intarsien verzierten Doppeltür. Nur unsere Mutter vergrub das Gesicht weiterhin im Haar von Aljoscha.

Die beiden Flügel öffneten sich knarrend.

Papa war extra aus dem Kriegsquartier in Minsk herbeigeeilt, um uns zu trösten. Er warf uns allen äußerst besorgte Blicke zu, stürzte aber sofort zu Mama. Der Anblick seiner Gemahlin entsetzte ihn am meisten. Unser Vater, der Zar von Russland, rang um Fassung, versuchte dem übermächtigen Chaos aber einen Rest an Stärke entgegenzustellen, genau wie ich. Er war schließlich das Rückgrat des Großreiches, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Armee, des Staates, der Romanows und unserer kleinen Familie. Ich konnte mir eine Welt ohne ihn nicht vorstellen. Er war mein Held, der unbesiegbare Ritter, für mich das Beste, was das Geschlecht der Romanows je hervor gebracht hatte.

„Was kann ich tun?“

Im ersten Moment wirkten diese Worte wie Pfeiler der Normalität. Mein Vater wusste instinktiv, dass jede andere Frage in diesem Moment unpassend wäre. Papa war äußerst klug und einfühlsam. Mama war mehr deutsch im Charakter und hatte seit der Begegnung mit Rasputin einen starken Hang zum Mystizismus. Das verbindet vielleicht als Einziges Deutsche und Russen. Die letzten Jahre hatten in Bezug auf die Gesundheit Aljoschas bewiesen, dass dieser sogar dem rationalen Handeln oftmals überlegen war.

Ohne Mutters Glauben an den Wunderheiler Rasputin wäre der Zarewitsch längst gestorben. Mein geliebter Bruder litt an der in vielen Adelshäusern verbreiteten Hämophilie. Als die Ärzte ihn aufgaben und die Popen bereits die letzte Salbung empfahlen, heilte Rasputin ihn vor unser aller Augen. Gegen den Widerstand von Papa, seinen Beratern und den Ärzten hatte Mama allein dessen Wunderkräften vertraut. Sie hatte Recht gehabt und dadurch Aljoscha wiederholt das Leben gerettet. Deswegen hassten die Ärzte und auch die höfische Kurie den mönchischen Wunderheiler. Er führte ihnen und allen aufgeklärten Zweiflern ihre Unfähigkeit sowie Dummheit vor Augen. Nicht Rasputin, den wir auch Vater Grigorij nannten, irrte, sondern sie. Wieso erwählte Gott einen versoffenen Mönch aus dem Ural, um seine Wunder zu vollbringen? Das verstand niemand, wozu auch.

Es gab in Russland keinen Mann, der ihm glich. Gott hatte dem sibirischen Priester ganz besondere Fähigkeiten geschenkt, aber leider zuweilen auch ein abscheuliches Benehmen. Er hurte, widersetzte sich der gesellschaftlichen Rangordnung und trank viel zuviel. Diese Auswüchse stellte er jedoch bei Mama so weit wie möglich zurück. In ihrer Gegenwart benahm Rasputin sich besser. So wie ein Vater, der sich mit ganzem Einsatz um seine Tochter und deren Sorgen kümmerte. Mutter hatte das beste Bild von ihm, denn er war schließlich der Retter des Thronfolgers, ihres einzigen Sohnes. Die Wissenschaft hatte versagt. Das hatte Rasputin natürlich Einfluss gegeben, den andere ihm neideten.

Zaghaft, wie aus einem Traum erwachend, hob Mama ihren Kopf. Unendlich langsam kehrte ihr Blick aus einer anderen Welt in diese zurück und färbte sich sofort mit grenzenlosem Hass.

„Töte diese widerlichen Bestien!“, brach es wild aus ihr heraus.

Papa versteinerte und auch wir waren entsetzt. War das wirklich unsere warmherzige Mutter? Mama hatte nie Todesurteile akzeptiert. Manch ruchloser Bösewicht verdankte ihr eine Begnadigung. Stets war sie selbst für die Abschaffung solcher Strafen in Russland eingetreten. Nun forderte sie diese entgegen früherer Überzeugung?

Wir alle wussten natürlich genau, wen die Zürnende meinte. Es ging um unsere eigenen Verwandten und deren Freunde, um das sakrosankte Blut von Angehörigen der Romanows.

Unser Vater rang um Fassung. Er sprach niemals unbedacht. Wie ein Schriftsteller und Philosoph wählte er seine Worte genau, wog sie oft sogar zu lange ab.

„Wage es nur nicht, diese sündigen Bestien zu verteidigen!“, zischte sie zornerfüllt.

„Dein Lieblingsneffe Großfürst Dimitrij und sein Liebhaber Fürst Jussupow haben ihn ermordet. Sie waren es. Das steht fest und ist allgemein bekannt.“ Sie spuckte nun sogar aus. „Dr. Lasawert hatte für sie Rattengift in Rasputins Wein gemischt. Nur geschwitzt hat unser Vater Grigorij davon. So leicht bringt man einen von Gott Geliebten nicht um.“

Für einen kurzen Moment hielt sie inne und verdrehte die Augen nach oben, so als sähe sie direkt zum heiligen Vater. „Dann hat Purischkewitsch ihn an den Hoden gefoltert und Jussupow, der widerliche schwule Bückling deines Neffen, hat ihn kaltblütig erschossen. Doch Gott ließ unseren Beschützer nicht sterben.“ Erneut drehte sie ihre geröteten Augen gen Himmel, um die Heiligkeit Rasputins zu untermalen.

„Gerade wollte er fliehen, da kamen die Monster zurück. Dimitrij, dieser böswillige Hund, schoss abermals auf den Geschundenen und schlug ihm mit seinem Stock sogar ein Auge aus.“

Sie machte eine ahnungsvolle Pause und sah Vater nun fest in die Augen. „Das alles geschah in Jussupows Palais durch die Hand eines Romanow! Selbst als die Bestien Vater Grigorij gefesselt und verstümmelt in die Newa warfen, versuchte er noch, sich zu befreien.“

Niemand unterbrach sie, als sie abermals in ihrer Anklage einhielt. Jedem Wort durch betonte Dehnung Gewicht verleihend, schloss sie die lange Rede ab: „Sie wussten, dass der Zarewitsch nur durch seinen Segen überleben kann!“

Papa sagte nichts. Es waren seine nächsten Verwandten, die Rasputin getötet hatten. Es waren Romanows, um die es hier ging. Das machte selbst ihn sprachlos, da Mama zu Recht ihren Tod einforderte.

Nicht einmal die Polizei hatte in Russland Zutritt zu den Häusern von Familienmitgliedern des Zaren. Obwohl Nachbarn diese über die Schüsse im Palast alarmierte, mussten die gerufenen Beamten den Mord an Rasputin untätig geschehen lassen und durfte sich nicht einmischen.

„Er war ein Priester und von Gott gesandt!“, stieß meine Mutter nochmals keuchend hervor.

„Sie wollen uns vernichten und den Thronfolger töten! Seine Prophezeiung wird nun eintreten“, erklärte Mama mit von Paranoia geweiteten Augen.

„Welche Prophezeiung?“, wagte Tatjana furchtsam zu fragen.

„Rasputin hat einen Brief hinterlassen“, klärte ich flüsternd meiner Schwester auf.

„Wenn er durch die Hand eines Mitglieds unserer Familie stirbt, werden wenige Monate später das Zarenreich und die Romanows untergehen. Vater Grigorij hat somit sogar den Mord an ihm vorausgesagt.“

Daraufhin hielt Tatjana verblüfft die Hände vor den Mund.

„Vielleicht sind wir wirklich verloren!“, stöhnte Vater, worauf unsere Blicke noch angstvoller wurden. Die Worte waren ihm entglitten und eigentlich nur für ihn gedacht.

Er versuchte hilflos die Hand unserer Mutter zu nehmen, diese stieß seine aber erbost weg.

„Rette wenigstens deine Kinder! Rette den Zarewitsch, Aljoscha, deinen Sohn! Es geht um seinen Thronanspruch. Töte diese hinterhältige Brut aus dem Hause Romanow! Vernichte alle diese Verräter, verschone niemanden!“ Mama war außer Rand und Band.

„Warum haben unsere Cousins das getan?“, fragte Anastasia naiv. „Vater Grigorij war doch unser Beschützer, zudem nur ein einfacher Mönch.“

„Werden wir wirklich alle sterben?“, flüsterte mein kleiner Bruder und sah mich mit großen verängstigten Augen an. Er war gerade erst zwölf Jahre alt.

„Das werde ich nicht zulassen!“, erwiderte Papa und nahm alle Kraft zusammen.

„Ich beschütze euch, ich bin noch immer der Zar!“

Mama gab ein irrsinniges Kichern von sich. Ich bekam erneut eine Gänsehaut.

„Sie arbeiten bereits an deinem Sturz! Sie nehmen dich nicht mehr ernst! Das bedeutet diese Tat. Bist du überhaupt noch von dieser Welt?“, spottete sie.

Unserem Vater entglitt die Beherrschung über seine Gesichtszüge. Tiefste Sorgen spiegelten sich in ihnen.

Mama forderte erneut: „Töte sie sofort, nur so kannst du uns beschützen! Gib den Befehl! Noch gehorcht man dir. Wenn du mich und deine Kinder wirklich liebst, dann zerfetze sie! Sei ein russischer Wolf und kein feiges Schaf.“ Sie blickte ihm fest in die Augen. „Wir wollen ohnehin nicht länger Romanows sein. Der Name ist für immer besudelt. Lasst uns danach die Sachen packen und aus dem bösen Land fliehen, solange es noch möglich ist. Sie alle hassen uns. Ich verabscheue dieses bösartige Volk!“

„Wer hasst uns?“, fragte der kleine Zarewitsch noch verängstigter. „Ich denke, alle lieben mich?“

Mama lachte abermals ihr neues hysterisches Lachen. Sie war eine wütende Hyäne, die ihre Jungen bis aufs eigene Blut verteidigte und bereit war ihr Leben zu opfern. Papa rannen nun Tränen aus den Augen. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Die Räson verbot das, so schwer die Situation auch war. Russische Männer weinen nicht. Das tun nur Frauen. Er war immer der Fels gewesen, an dem sich alle festhalten konnten.

Wir alle fühlten instinktiv, dass Mama Recht hatte. So gern ich Papa glauben wollte. Die eisige Vorahnung unseres Todes zog durch unsere Gemächer und vertrieb die letzte Illusion von Beständigkeit vollständig. Wie übermütige Schmetterlinge hatten wir das wärmende Licht eines Sonnentages genossen, ganz vergessend, das dieser Tag enden würde, doch die Nacht und unser Ende rückten mit jedem Augenblick näher. Das wurde mir nun bitter klar.

Papa kniete sich auf den Boden und versuchte erneut die Hand seiner geliebten Frau zu nehmen. Diese gewährte ihm diese Intimität nicht mehr.

„Wenn dir das Leben unserer Familie etwas wert ist, wenn dir der Zarewitsch etwas bedeutet, dann töte deinen Neffen und seine Helfer! Beweise, dass du uns wirklich liebst und es nicht nur leere Worte sind. Zeig, dass du wirklich ein Zar und kein gutmütiger Narr bist! Kämpfe endlich!“, beschwor sie ihn erneut.

Sie zuckte in Krämpfen und weinte erbittert, weil sie ahnte, dass Papa vor dieser letzten Konsequenz zurückschreckte. Es waren nun einmal Söhne aus dem Geschlecht der Romanows, die Rasputin gemeuchelt hatten. Sein Charakter war ausgleichend, mehr der eines Künstlers, als der eines wirklichen Soldaten. Er führte einen Krieg, ohne die Bereitschaft tatsächlich Blut vergießen zu wollen. Die Niederlage war auf diese Weise vorprogrammiert. Wer immer nur das Beste für alle will, wird am Ende Schaden bringen.

„Du hast schon immer auf die Falschen gehört! Ich hätte dich niemals heiraten sollen. Alle wollten das verhindern, selbst deine Mutter. Sie wusste warum. Jetzt führst du sogar Krieg gegen die Deutschen. Deine Frau und Kinder sind aber Deutsche!“

„Sind wir wirklich Deutsche?“, fragte der Zarewitsch.

„Mama will damit sagen, dass wir auch solche Wurzeln haben, da sie in Deutschland geboren wurde“, erklärte ich schnell.

„Dann sollten wir vielleicht auf Mama hören und fliehen“, versuchte der kleine Zarewitsch im Streit zwischen seinen Eltern auf seine kindliche Weise zu vermitteln. In seinen Augen stand Hoffnung. Die Flucht erschien ihm als ein wunderbarer Ausweg.

Unser Vater sah ihn traurig an.

„Ihr seid hier geboren und somit Russen!“, widersprach er Mama. Da er sich aber mit ihr keinesfalls noch mehr anlegen wollte, beschwichtigte er jedoch. „Natürlich habt ihr auch das Blut euer Mutter.“ Das Wort deutsch vermied er dabei. Russland führte ja Krieg mit dem deutschen Kaiser, der auch noch sein Cousin war.

„Und ich bin nicht so verdorben wie diejenigen, die Rasputin töteten. Alles muss nach Gesetz und Ordnung erfolgen“, endete er.

„Glaubst du diesen Unsinn tatsächlich?“, schrie Mutter abermals die Beherrschung verlierend.

„Die Gesetze machen nur Menschen. Man kann sie verändern. Du bist der Zar! Mach ein Gesetz, das uns beschützt! Rasputin war ihnen egal. Wer ist der Nächste? Sie wollen in Wirklichkeit deinen Sohn, den Thronfolger meucheln! Er und das Zarentum sind ihr eigentliches Ziel. Wer soll jetzt den Zarewitsch heilen, Doktor Botkin etwa? Bist du denn immer noch blind oder dumm? Sie weihen unseren Sohn dem Tod. Töte sie, schnell oder ich fliehe mit den Kindern allein!“ Sie sah ihrem Gemahl direkt in die Augen. „Und wir sind keine Russen, sondern Deutsche! Alle deine Untertanen sehen das so!“

Entsetzt schauten wir uns an. Die Sorgen trennten Mama und Papa. Sie wirkten in diesem Moment wie Rivalen und nicht wie ein sich liebendes Ehepaar. In ihren Appellen erahnten wir das ganze Ausmaß der Gefahr.

„Ich werde den Arzt rufen lassen“, schlug Vater vor.

Mama verlor vor Wut jede Zurückhaltung und spuckte in Raserei auf das Parkett des Bodens.

„Damit der mir Laudanum gibt oder mich wegen des Aussprechen der Wahrheit für irre erklärt? Das wollen sie doch nur. Ich glaube hier keinem mehr. Warum vertraust du deinen Beratern immer mehr als uns? O, Nicky! Warum ist es so weit gekommen? Wo ist deine Liebe geblieben? Dieser Krieg hat dich verändert. Du trägst ebenso Schuld daran, dass unser Beschützer ermordet wurde. Diese Schlangen haben erkannt, dass Rasputin sie enttarnt hatte. Wir werden alle sterben, wenn du sie nicht bestrafst!“

„Sie werden selbstverständlich ihre Strafe erhalten!“, erklärte unser Vater.

„Dann lass sie doch sofort hinrichten! Häng das Gesindel auf!“

„Das kann ich nicht.“

Mama winkte konsterniert ab.

„Ich wusste es! So bist du eben. Sie werden dich bald heiligsprechen, aber nicht wegen des Glaubens, sondern wegen Scheinheiligkeit. Die ist aber nichts anderes als deine Schwäche zu handeln. Sogar die Terroristen wissen das inzwischen!“

So würdelos hatte ich Mama noch nie mit ihm sprechen gehört. Sie verhöhnte ihn regelrecht.

„Das Blut klebt nun auch an deinen Händen“, flüsterte sie und blickte uns schaurig verschwörerisch an. „Das Leid ist nicht mehr aufzuhalten.“

Sie klang, als verabschiedete sie sich schon jetzt von ihren Kindern – für immer.

Wir waren noch mehr verängstigt. Panik erfüllte endgültig unsere Herzen. Dieser Tag gehörte zu den Schlimmsten.

„Ich will noch nicht sterben!“, bat der Zarewitsch ängstlich.

Ich strich ihm tröstend über sein tropfnasses Haar und konnte die eigenen Tränen nicht länger zurückhalten.

„Olga?“ Aljoscha sah mich fragend und um Hilfe bittend an. Die Situation überforderte ihn, obwohl er durch seine Krankheit schon oft an der Schwelle des Todes gestanden hatte.

„Ich passe auf dich auf“, flüsterte ich in sein Ohr und benetzte ihn nun auch noch mit meiner Trauer.

„Niemand soll dir jemals Leid zufügen. Dann bekommt er es mit mir zu tun!“

Aljoscha lächelte dankbar und drückte meine Hand.

Auch aus Vaters unermesslich traurigen Augen ergossen sich in einem dünnen Rinnsal Tränen in seinen Bart. Er war sich seiner eigenen Unfähigkeit bewusst, fand jedoch keinen Ausweg.

In der Tür erschien ein Staatssekretär. Irritiert nahm er die Tränen im Gesicht des Zaren wahr.

„Majestät, Sie werden erwartet!“

Meine Mutter winkte meinen Vater ab.

„Geh nur zu den Verrätern, berate dich mit ihnen! Du hast mich enttäuscht! Lecke dem Gesindel ordentlich den dreckigen Arsch!“

Wir schauten sie pikiert über die ungewöhnlich deftige Wortwahl an. Die Welt war wirklich aus den Fugen geraten.

Papa wischte sich mit dem Uniformärmel die Tränen ab und erhob sich schwerfällig. Einige seiner Orden schepperten dabei traurig. Das Geschehen wirkte unwahr, verloren, wie hinter einem Schleier.

Unser Vater schien mir um Jahre gealtert. Sein Gang war nicht mehr der eines russischen Zaren. Ein erschöpfter alter Mann zog ein letztes Mal in eine nicht zu gewinnende Schlacht. Sein Schwert war aus Holz, das seiner Gegner aus Stahl. Er hatte jedoch keine Wahl. Sein aufgesetztes Lächeln, das uns Kinder ermutigen sollte, war eine offensichtliche Lüge. Angst schnürte mir die Kehle zu. Papa würde uns nicht mehr beschützen können. Das wurde mit unmittelbar klar.

Mama sah mir in die Augen und musterte dann meine Erscheinung. Sie hatte offensichtlich einen Entschluss gefasst. Ein eigenwilliger Funke leuchtete in der Trübnis ihres Blickes auf.

„Geht jetzt bitte!“, forderte sie uns Mädchen auf. Nur den Zarewitsch drückte sie noch fester an sich.

Was sollten wir tun? Wir erhoben uns.

Mama wandte sich unerwartet direkt an mich: „Olga, halte dich bereit. Komm bitte allein in zwei Stunden zu mir. Ich muss noch etwas Wichtiges mit dir zusammen erledigen. Sei pünktlich!“

Die Rache der Zarentochter

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