Читать книгу Die Rache der Zarentochter - Tatana Fedorovna - Страница 7

Das Elixier

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Als ich nach exakt zwei Stunden zurückkehrte, war Mama ganz allein im Raum. Auch der Zarewitsch war inzwischen fort. Im Vorraum fielen mir zehn schwer bewaffnete Kosaken unserer Leibwache mit entschlossenen Gesichtern auf. Ihr Hiersein in so großer Zahl war ungewöhnlich. Niemand von ihnen wagte ein Geräusch zu machen. Sie wirkten wie große Schaufensterpuppen. Die Stille war geradezu gespenstisch. Es lag Spannung in der Luft. Was bedeutete das alles? Normalerweise hielten die Leibwächter sich überhaupt nicht in diesem Teil des Palastes auf.

Ohne ein Wort zu sagen und scheinbar ihre letzte Willenskraft zusammennehmend, erhob Mama sich mühsam, jedoch entschlossen von dem samtenen Sofa, auf dem sie geruht hatte. Sie winkte mir. Ich folgte ihr wortlos. Was sollte ich auch sagen? Die Kosaken eskortierten uns schweigend. Tür für Tür öffnete sich. Wir stiegen über verborgene Treppen und durch Geheimtüren tiefer und tiefer. Wohin gingen wir überhaupt? Noch nie war ich in diesem im Untergrund verborgenen Teil des Palastes gewesen. Unser Palais war ohnehin recht groß, vielleicht eine der größten Residenzen der Welt.

Zuweilen versuchte eine der dort platzierten und im Geheimen ihren Dienst leistenden Wachen uns sogar den Weg zu verweigern.

Mama drohte dann stets: „Ich bin die Zarin! Tritt zur Seite oder du stirbst sofort!“ Unsere Leibwache fasste dann jedes Mal zur besseren Verdeutlichung die Gewehre fester. Meine Mutter und die Männer wirkten zu allem entschlossen. Die Kosaken würden schießen. Man konnte sich auf sie verlassen. Das fühlte ich genau, denn ich stand selbst einem Reiterregiment seit meinem sechzehnten Lebensjahr als Hauptmann vor und kannte die Soldaten. Das kleine Kommando bereitet mir große Freude und war ein Privileg, welches ich Vater abgetrotzt hatte, nachdem die Besetzung durch die Erkrankung des Zarewitsch vakant war. Zarensöhne erhielten stets ein eigenes Kosakenregiment, um sich als Befehlshaber zu üben. Meine Ernennung als Prinzessin war ein Bruch mit der alten Konvention und zeigte, wie aufgeschlossen mein Vater war. Ich ritt inzwischen verdammt gern und konnte es mit so manchem männlichen Rekruten aufnehmen. Einer der Feldwebel trainierte mich sogar drei Mal die Woche in asiatischer Kampfkunst, die er in China erlernt hatte. Er bezeichnete mich als seine talentierteste Schülerin. Vielleicht lag das daran, dass ich als Mädchen und Tochter des Zaren doppelt ehrgeizig war. Vater nahm meine Fortschritte mit Erstaunen zur Kenntnis. Mutter hatte meine militärischen Avancen zuerst abgelehnt, aber bei Ausbruch des Krieges dann doch stillschweigend gebilligt. Zumindest kritisierte sie mich nicht mehr.

So drangen wir im Laufe einer Stunde bis in die Gänge unterhalb der sogenannten geheimen Schatzkammern vor, wie Mama mir nebenbei erklärte. Auch hier gab es noch Wachen. Wir kamen zu einem Tunnel, von dessen Existenz wohl nur ganz wenige Eingeweihte wussten. Er verlief recht steil nach unten. Feuchtigkeit tropfte von der niedrigen Decke. Es roch unangenehm modrig. Wir waren inzwischen so tief, dass ich Furcht hatte, dass die Erdmassen über uns herunterbrechen und uns begraben könnten.

Mama hielt inne und wendete sich der Eskorte zu. „Wenn ihr jemals erzählt, dass ihr hier wart, werden eure Familien sterben!“ So rigoros hatte ich sie nie zuvor erlebt. Für mich war sie immer meine Mama, jetzt gab sie sich als die wirkliche Zarin in der Tradition Katharinas der Großen und zeigte zudem, dass in ihr auch noch das kämpferische blaue Blut ihrer germanischen Vorfahren pulsierte. Es übernahm in dieser Krisensituation die Regentschaft. Ich musste davon etwas abbekommen haben, gestand ich mir spöttisch ein.

Die Leibwachen zuckten mit keiner Wimper. Auf die Kosaken war seit Jahrhunderten Verlass.

Wir kamen nun zu einem Raum, dessen eiserne Tür mit großen Schlössern verriegelt war. Er war wohl unser Ziel. Davor standen erneut zwei bewaffnete Posten, die uns erstaunt anblinzelten. Hierher kam sonst wohl nie jemand außer ihnen selbst.

„Tretet beiseite!“, befahl meine Mutter herrisch und zog ein Schlüsselbund aus ihrer Tasche.

„Das dürfen wir nicht!“, beharrte einer der beiden trotzig auf seinem Befehl.

„Ihr wisst, wer ich bin?“ Meine Mutter sah sie wütend an. Sie duldete heute keinen Widerspruch.

Beide nickten eifrig.

„Ich bin hier das Gesetz und mein Befehl steht im Moment über jedem anderen. Ihr widersetzt euch eurer Zarin.“

Sie nickte den Männern zu: „Erschießt sie!“

Die Kosaken senkten eifrig die Gewehre, um dem Befehl gleich nachzukommen.

„Nein, wir gehorchen!“, bat der arme Kerl entsetzt mit erschrocken aufgerissenen Augen und fiel auf die Knie.

„Gnade! Bitte! Ich war verwirrt von eurem ungewohnten Anblick hier“, stammelte er. „Ich bin nur ein gewöhnlicher Dummkopf!“

Mama blickte kurz auf unsere Begleiter: „Nehmt ihnen zur Sicherheit die Waffen ab, aber verschont sie noch einmal!“

„Widersprich niemals wieder deiner Zarin!“, forderte sie nebenbei.

Der Mann versuchte die Erde zu küssen, die ihre Füße berührt hatten.

„Bitte verzeiht uns!“

Die beiden wurden von unserer Eskorte ihrer Pistolen beraubt. Meine Mutter öffnete den Eingang. Wir traten endlich ein. Alle anderen blieben draußen. Mama schloss sorgsam die Tür hinter uns zu. Was wollten wir hier?

In dem Raum standen vor allem religiöse Utensilien, Ikonen, Leuchter und verstaubte Geschenke von fremden Herrschern aus längst vergangenen Zeiten. Meine Mutter sah sich um und ging zielstrebig zu einem der Schränke. Sie öffnete diesen, warf die darin enthaltenen Gegenstände achtlos auf den Boden und zog ein geheimes Fach heraus.

„Nur noch zwei! Wo sind die anderen?“ Ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich und erschrocken zugleich.

„Mama, was ist das?“, fragte ich erschauernd.

Meine Mutter sah mich an.

„Olga, wir werden bald alle ermordet. Es ist nur eine Frage der Zeit. Rasputin hat sich niemals geirrt. Rasputins Prophezeiung wird eintreten. Sie kommt von Gott. Grigorij hat sich nie geirrt. Sei bereit!“

Tränen kullerten aus ihren Augen. Die Angst vor dem Tod stand in ihrem Gesicht und war zum Greifen.

„Wenn ich dir dieses Mittel gebe, ist alles verloren und es gibt keinen Ausweg mehr. Beiß mit aller Kraft auf diese Kapsel. Sie ist so dünn konstruiert, dass sie dem Biss nicht standhält.“

Ich verstand gar nichts.

„Mama, du machst mir fürchterliche Angst. Das ist doch alles nur ein böser Traum. Was ist das? Etwa tödliches Gift?“

„Nein, genau das Gegenteil davon. Es ist deine einzige Hoffnung auf ein Weiterleben.“

Sie winkte mich ganz dicht heran. Niemand sollte uns hören können. Ihr Mund flüsterte nun in mein Ohr: „Ich sah mit eigenen Augen, dass ein zum Tode Verurteilter, nachdem er erhängt wurde, durch diese Medizin am nächsten Tag erwachte. Man hatte sie ihm zuvor verabreicht. Der Henker musste ihm darauf den Kopf abtrennen und ihn verbrennen, um das Urteil zu vollstrecken.“

„Was ist das für ein Mittel? Was sind das für unglaubliche Geschichten?“ Mir standen die Haare auf den Armen zu Berge. Das lag nicht an der Kälte im Raum.

„Sie sind wahr, Olga. Es gibt eben mehr zwischen Himmel und Erde, als wir sehen. Du hast es bei Rasputin und der Heilung des Zarewitsch selbst beobachten können.“

Sie beugte ihren Mund erneut zu meinem Ohr herab und flüsterte so leise, als könnte uns jemand belauschen.

„Es ist ein uraltes Heilmittel und zugleich Staatsgeheimnis. Es macht dich sofort ohnmächtig und lässt dein Herz so langsam schlagen, dass jedermann dich für tot hält. Selbst wenn man dich schwer verletzt, verblutest du nicht. Es war einst ein Geschenk des chinesischen Kaisers an Katharina die Große. Ich habe zuerst die Geschichte auch nicht so richtig geglaubt und deswegen eine der Phiolen an einem zum Tode Verurteilten ausprobiert. Wer rechnet schon in glücklichen Tagen damit, ermordet zu werden? Nachdem wir die Wirkung selbst gesehen hatten, versteckten wir die verbliebenen vier Kapseln hier unter den uralten Sachen. Nur dein Vater und ich wussten eigentlich davon. Doch es fehlen zwei. Sie wurden scheinbar gestohlen.“

„Mama, was erzählst du für Schauergeschichten und verlangst du von mir?“, fuhr es aus mir ungestüm heraus. Das Entsetzen ließ mich fast ohnmächtig werden. Die Wände schwankten. Meine Stirn glühte plötzlich wie im Fieber.

Sie fuhr unbeirrt fort: „Wenn ich dir also eine Kapsel gebe, dann ist alles verloren und wir werden mit Sicherheit sterben. Zögere in diesem Moment nicht. Vertrau mir! Ich will, dass du lebst. Nimm Rache, dein Vater ist zu schwach dazu! Du bist stark und klug.“

Mama war wohl verrückt geworden. Ich zitterte unwillkürlich und meine Zähne klapperten aneinander.

„Und was ist mit den anderen von uns. Es sind doch nur zwei Kapseln? Was wird Gott dazu sagen?“

„Der?“ Mama lachte blasphemisch. „Er wird es schon verstehen! Denn er hat uns dieses Leid angetan.“

Diese neuartige Auslegung unseres Glaubens aus dem Mund meiner Mutter war zutiefst ungewöhnlich. Sie legte ihren Finger auf den Mund – als Zeichen, dass ich schweigen sollte. Die zwei kleinen Kapseln mit der ungewöhnlichen Tinktur steckte Mama in eine eigens mitgebrachte kleine Dose und verbarg diese in ihrer Tasche. Dann öffnete die Zarin von Russland die Tür. Ich bemühte mich, ruhig und unbefangen zu erscheinen.

„Sofern ihr irgendjemanden erzählt, dass ich hier war, sterbt ihr!“, ermahnte sie die vollkommen verängstigten Wachposten. Beide hatten offenbar noch immer mit ihrem Tod gerechnet und nickten glücklich mir aufgerissenen Augen aus einfältigen Gesichtern.

Wir gingen von den Kosaken eskortiert zurück.

Die Rache der Zarentochter

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