Читать книгу Die Rache der Zarentochter - Tatana Fedorovna - Страница 5

Bittere Niederlagen

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Tag für Tag erreichten uns bald darauf Nachrichten von Niederlagen. Ich zürnte. Die jungen Soldaten waren Taugenichtse in allen Varianten und Variationen, eben unerfahrene Feiglinge.

Koltschaks Generäle und dieser selbst hatten die Kraft seiner Truppen über- und die der Rotgardisten unterschätzt. Das neue Staatsoberhaupt hatte einfach zu wenig erfahrene Soldaten in der Truppe und überwiegend junge Jahrgänge eingezogen. Er misstraute aufgrund eigener Erfahrungen den alten Haudegen. Das war ein fataler Fehler, der sich nun bitter rächte!

Den frisch gebackenen neuen Kriegern fehlte eine intensive Ausbildung und jegliches Durchhaltevermögen. In den Kämpfen zeigten sie die Standhaftigkeit scheuer Hasen.

Versager, alles Versager! Ich grollte jeden Tag innerlich. Ja, man mag es nicht glauben, aber auch viele Offiziere bräuchten ebenfalls Nachhilfe! Sie waren nicht ausreichend geschult und oft nur aus der Not heraus beförderte Unteroffiziere aus der alten Armee. Einzig die eigene Karriere hatten diese Herren im Kopf. Statt miteinander agierten sie zuweilen sogar gegeneinander. Sie kämpften in den eigenen Reihen mehr um Ränge und Orden. Mit den wenigen verbliebenen adeligen Offizieren bildeten die neuen Mitglieder der Korps keine echte Einheit.

Wiederum hatten die Roten inzwischen ihre Truppen mit deutschem Geld gut ausgerüstet, die Zahl der berittenen Einheiten vergrößert und abermals die Veteranen aus dem Weltkrieg eingezogen.

Und während unsere Frischlinge kuschten, pokerte manch Älterer zu hoch. Da die Einheiten von General Khanzin zu weit vorgestoßen waren, konnte Radola Gajda diese bei der roten Gegenoffensive am 28. April 1919 nicht unterstützen. Khanzins weiterer Vormarsch brachte uns nur einen Pyrrhussieg. Die Flanken seiner Armee waren viel zu weit auseinander gezogen. Die Roten griffen diese an und Khanzins Soldaten drohte inzwischen eine komplette Umklammerung.

Wie konnten man das zulassen? Wo waren Russlands Talente geblieben, die glorreichen und klugen Helden?

Durch das Vorpreschen der Roten an den zu langen Flanken würde Khanzins Verbindung zur sibirischen Armee von Radola Gajda bald unterbrochen werden. Es war nur noch eine Frage der Zeit.

Die Soldaten Khanzins waren in so schwere Kämpfe verwickelt, dass diese nicht einmal ihre Stellungen halten konnten. Helfen konnten sie den anderen Einheiten nicht. Durch diese Fehler war jeder Heeresteil vollkommen auf sich allein gestellt. Man konnte bloß beten, dass die rote Gegenoffensive zusammenbrach, die Unsrigen doch irgendwie standhielten und die Bauern aus der Umgebung sich ebenfalls zur Wehr setzten. – Ja, die Bauern! Um unser Hoffnungsfeuer zu schüren, setzten wir nun schon auf diese wenig geeignete Spezies als Partisanenkämpfer!

Tarpen tauchte unerwartet bei mir auf. Ich hatte erst in einer Woche mit ihm gerechnet.

„Pack rasch deine Sachen ein!“, rief mein Ritter mir äußerlich ruhig, aber doch sehr gehetzt wirkend zu. Er versuchte seine innere Aufregung vor mir zu verbergen.

„Warum?“, fragte ich missmutig. Es musste alles noch schlimmer sein. Ich ahnte nichts Gutes.

„Wir schlagen uns zu meinem General durch!“, verkündete er und drängte mich noch energischer zum Aufbruch. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

„Also wird Khanzin sich nicht halten?“, fragte ich besorgt nach.

„Das weiß nur Gott allein! Ich will auch nicht, dass dir irgendetwas passiert!“

Tarpen erzählte mir hastig noch etwas mehr zur militärischen Lage und seinen Fluchtplänen. Er und die anderen Tschechen hatten kurzfristig inmitten des ausbrechenden Chaos beschlossen, zu seinem tschechischen Oberbefehlshaber zurückzukehren, dem General Radola Gajda. Wenn wir unser Schicksal nicht mit den bald hier Eingekesselten teilen wollten, durften wir keine Zeit verlieren. Am kummervollen Blick meines Helden erkannte ich, dass er mir nur die halbe Wahrheit verriet. Es stand offenbar noch schlechter um unsere Armee, als er mir preisgab. Als Stabsoffizier war er genau eingeweiht.

Wir umarmten uns innig und voller trauriger Leidenschaft. In mir breiteten sich Furcht und Frust aus. Das zarte Pflänzchen Hoffnung erstarb. Was wurde nun aus meiner Rache? Das Leben war wichtiger.

Mein Beschützer war nur gekommen, um mich abermals zu retten. Seine Liebe zu mir erwies sich erneut als grenzenlos. Sie schien aus einer besseren Welt zu stammen, so rein war sie. Geduldig wartete er bisher noch immer auf ihre Erfüllung und hoffte, dass ich ihm endlich auch die meine gestand. Konnte ich ihn jedoch anlügen? Mein Schicksal und der Racheschwur verbaten es mir, auf persönliches Glück zu hoffen. Zudem war ich inzwischen eine Mörderin. Schlimmer ging es nicht. Darum tat ich vor mir selbst, als gäbe es keine andere Wahl. Belog ich mich?

Indessen musste sich Tarpen, der mich aufrichtig liebte, allein mit der Hoffnung begnügen. Armer Kerl! Es wäre nur fair, wenn ich ihn ganz losließe. Aber ich wollte und konnte es nicht wirklich. Er war doch mein einziger Halt. Ich beschloss trotzdem, ihn bei nächster Gelegenheit zu verlassen. Das war ich ihm schuldig.

„Weinst du, Olga?“, fragte er bestürzt. „Bitte verzage nicht, wir schaffen das schon!“, versuchte er mir Mut zu machen. Er wusste ja nicht, woran ich in Wirklichkeit dachte.

Mein aufgesetztes Lächeln sollte ihm die Illusion vermitteln, dass ich ihm glaubte. Ich war ja über etwas anderes traurig. Alles endete irgendwann. Es war bloß eine Frage der Zeit.

Im Nu suchte ich alles Wichtige zusammen. In erster Linie zählten dazu das verbliebene Gold der Plünderer und etwas Garderobe. Unten warteten bereits die Pferde und fünf weitere Tschechen auf uns. Karuschka war schon gesattelt. Tarpen hatte an alles gedacht.

Auch der Offizier, der mir im Koptyaki-Wald das Leben gerettet hatte, gehörte wieder zu unser Gruppe. Zum Glück erkannte er mich nach wie vor nicht und sah mich lediglich als die russische Freundin seines Cousins an.

In der Ferne hörten wir vermehrt dumpfe Einschläge von Granaten. Unsere kleine Einheit ritt los.

Zuerst verlief die Reise relativ friedlich. Für Anfang Mai verwöhnte uns ein angenehmes Wetter. Jedoch trafen wir wiederholt auf Sperren aus Stacheldraht und mussten unsere Passierscheine vorweisen. Doch bald fingen die richtigen Probleme an.

Vor uns im Osten hörten wir bereits erhebliches Gewehrfeuer und lauten Kanonendonner. Die Gefechte waren sehr nah und Rotgardisten schnitten uns offenbar den Heimweg ab. Waren wir schon eingekesselt?

„Schneller!“, hetzte Tarpen unseren kleinen Trupp voran.

Aber die Pferde, bis auf Karuschka, konnten nicht mehr. Ich war eine geringere Last als die Männer. Eines der Tiere brach erschöpft unter seinem Reiter zusammen. Es hatte Schaum vor dem Mund und war am Ende. Der Tscheche erschoss es. Die anderen Tiere wieherten erschrocken und machten große verängstigte Augen. Jetzt musste er zu mir auf den Rappen, da ich die leichteste Reiterin war und Karuschka als einziges Tier keine größeren Ermüdungserscheinungen zeigte.

„Das ist ein hervorragendes Pferd!“, lobte mein Mitreiter in gebrochenem Russisch, „einfach unglaublich!“

Sein Kompliment für wusste ich zu schätzen. Leider war gerade er der tschechische Offizier aus dem Wald. Ich war ihm noch nie so nahe gewesen und musste mich sogar an ihm festhalten, da er vorn saß. Mein Herz schlug ängstlich.

Durch unsere ausgelaugten Pferde kamen wir leider zu langsam voran. Man musste sie schonen, um nicht noch mehr zu verlieren. Mehrmals studierten die Offiziere in den Zwangspausen die Karten, um nach Ausweichwegen zu suchen. Würden wir es noch schaffen?

Schüsse peitschten nun in unmittelbarer Nähe. Aus dem Wald hetzten uns mehrere verängstigte Weißgardisten entgegen.

„Haut ab!“, riefen sie uns zu. „Der Weg nach Osten ist abgeschnitten!“

„Verflucht!“, keuchte Tarpen. Die Männer sahen sich mit ernsten Gesichtern an. Keiner sagte ein Wort. Die aufkommende Verzweiflung verbargen sie gekonnt hinter ihren erstarrten Minen. Schließlich waren sie erfahrene Soldaten. Man musste jetzt erst recht zusammenhalten und nicht in Panik geraten.

Zum Glück begann es plötzlich zu regnen. Vielleicht nutzte uns das, weil es den Feinden die Sicht verschlechterte. Die Tschechen berieten sich erneut. Manchmal fiel ihr Blick auf mich. Sie sorgten sich offenbar um mein Wohl.

Nach einiger Zeit trat ihr Anführer zu mir: mein Gefährte.

„Wir wollen dir nicht zumuten, dich mit uns durch die Front zu schlagen. Diese Nacht warten wir im nächsten Dorf ab. Danach müssen wir uns wahrscheinlich zu deiner Sicherheit trennen. Als Frau werden sie dir normalerweise nichts tun, in unserer Begleitung aber schon.“

Nein, nie wieder verließ ich ihn! Ich wollte ihn nicht verlieren! Und selbst Tarpen sprach irgendwie zweifelnd. Ihm gefiel die Lösung nicht, er wusste sich bloß keinen besseren Rat.

„Ich bleibe an deiner Seite, egal was kommt!“, stieß ich energisch hervor. „Wenn du mich fortschickst, folge ich dir. Ich kann wie ein Mann kämpfen und auch sterben. Noch einmal trennen wir uns nicht. Du bist alles, was ich habe und mein neues Leben!“ Während ich sprach, raste mein Herz vor Angst, ich war wie von Sinnen.

Mein tschechischer Beschützer sah mich verblüfft an. Seine Augen wurden vor Rührung feucht. Aber Soldaten weinen nicht im Krieg, sie sind keine Frauen. So ein gefühlsintensives Bekenntnis hatte ich ihm noch nie gegeben. Er spürte das genau und begriff, dass meine Worte eigentlich so etwas wie eine Liebeserklärung waren.

„Mein Gott, Olga!“ Ihm fehlten fast die Worte. „Und ich dachte manchmal, ich wäre nur ein netter Zeitvertreib für dich und argwöhnte, du spielst mir vielleicht alles nur vor!“

Selbst ich staunte über meine aus dem Herz kommenden gefühlvollen Worte. In mir steckte immer noch mehr Menschlichkeit als angenommen. Meine Pule hämmerten und meine Brust brannte wie Feuer. Ich hatte unermessliche Angst, ihn endgültig zu verlieren, wenn ich ihn jetzt fortgehen ließ. Die Furcht steigerte sich so sehr. Ich lauschte in mein Innerstes. Dort herrschte nacktes Chaos.

„Du bist es wahrlich wert, geliebt zu werden und für dich zu sterben“, murmelte er.

„Nein, zu leben!“, widersprach ich und drückte mit Inbrunst seine Hand. Dann hauchte ich einen liebevollen Kuss auf diese.

Tarpen stieg auf sein Pferd, da die anderen ungeduldig wurden. Wir folgten alle seinem Beispiel. Eilig verließen wir die Hauptstraße und folgten einem abseitigen Feldweg, der uns von dem Gewehrfeuer fortführte. Nach einigen Kilometern trafen wir inmitten eines Wäldchens auf ein baschkirisches Dorf. Es bestand aus etwa zwanzig weit verstreuten Holzhütten von einfachster, geradezu miserabler Bauart. Als wir einritten, musterten uns die wenigen Bewohner misstrauisch. Unsere Männer suchten eine Behausung aus, die ihnen für die Nacht aus militärischer Perspektive am geeignetsten erschien. Sie bestand aus einem einzigen Raum, der in alle Himmelsrichtungen Fensterluken hatte, und an zwei Seiten gab es jeweils eine Tür. Das Haus glich mehr einem großen Stall. Zwei Kühe wohnten hier mit den Bewohnern zusammen. Sie waren mit Stricken festgebunden, beäugten uns und kauten vor sich hin. Im Zentrum lockte eine Kaminstelle mit ihrer Wärme, dafür funktionierte der Rauchabzug nicht allzu gut.

Die schäbig gekleideten Bewohner, eine Alte und ihre Schwiegertochter, zeigten sich von der gewaltsamen Einquartierung nicht begeistert und suchten vorsichtshalber bei den Nachbarn Unterschlupf. Der jahrelange Krieg hatte alle arm und misstrauisch gemacht. Leise fluchend machten sich beide davon.

„Tut meinen Kühen nichts!“, bat die Alte abschließend und entblößte dabei einen Mund ohne Zähne.

Die Tschechen wechselten sich in der Wache ab. Jeweils einer von ihnen bezog trotz des schlechten Wetters einen Beobachtungsposten in der Krone eines nahen Baumes. Zusätzlich verlegten sie eine Schnur bis ins Innere der Hütte. Wenn der Wächter im Baum daran zog, bewegte sich ein kleines Pendel. Sie verstanden sich fast wortlos und waren ein eingespieltes Team. Wir kochten uns schweigend Tee. Was sollte man auch sagen? Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Meine Überlegungen schweiften hin und her, ich wog das Für und Wider eines möglichen Entkommen ab.

Nach einigen Stunden wurde es vollends dunkel. Der Regen prasselte immer stärker nieder, so als hätten sich die Himmelspforten geöffnet. Da das Strohdach sich als undicht erwies, tröpfelte es ins Innere und der Lehmboden verwandelte sich an manchen Stellen in Schlamm. Wie konnte man nur so hausen?

Leider kam das Gewehrfeuer kontinuierlich näher. Die Unsrigen wurden sicher noch weiter zurückgedrängt. Konnten wir überhaupt noch fliehen?

Die Tschechen wechselten mit der Wache. Tarpens Cousin war an der Reihe. Wortlos verließ er den Raum. Kurz darauf trat der Abgelöste vollkommen durchnässt und fröstelnd in die ärmliche Stube. Ich reichte ihm wärmenden Tee.

Am fortgeschrittenen Abend schmiegten Tarpen und ich uns unter einer Decke aneinander. Die anderen taten so, als wäre es ihnen egal oder als ob sie es nicht bemerkten. Sicher ersehnten auch sie sich Zärtlichkeiten und mussten schon sehr lange darauf verzichten. Krieg war bitter. Der Tod ist manchmal eine Erlösung. Sie alle träumten wohl von mir, da meine weiblich verführerische Aura unerbittlich auf die Männer einwirkte. Etwa zwei Stunden vergingen so. Der Regen ließ nach. Für eine Weile nickte Tarpen ein. Ich behütete seinen Schlaf und strich manchmal zärtlich seine Haare aus der Stirn. Plötzlich vernahmen meine Ohren seltsame Geräusche. Flüsternde Stimmen nahten. Fremde lungerten hinter dem Haus.

Ich rüttelte an Tarpens Schulter.

„Da geht etwas vor!“, zischte ich.

Im Nu sprang er auf. Die anderen drei wurden durch unsere Aktivität ebenfalls achtsamer und zogen ihre Revolver.

Feuer loderte in der Dunkelheit empor. Das Strohdach unseres Hauses begann an einer Ecke etwas zu brennen. Durch die Nässe konnte das Feuer sich jedoch nicht ausbreiten und der Brand erlosch zum Glück von allein. Es entstand jedoch viel Qualm. Jetzt schaukelte auch das Pendel und im gleichen Moment ertönte von draußen eine Stimme:

„Kommt nacheinander ohne Waffen raus, sonst rösten wir euch wie Kartoffeln!“

„Das ist sicher unser Tod!“, stellte Tarpen bitter fest.

Die anderen nickten. „Wir hätten hier nicht rasten sollen. Die Baschkiren sind von Natur aus hinterhältig, ebenso wie die Russen!“, entfuhr es einem der Männer.

Als der Mann meinen Blick auffing, biss er sich beschämt auf die Lippe. Die Bemerkung war ihm entglitten, zeigte jedoch, wie die Tschechen über unser Volk im Geheimen dachten.

„Entschuldigung!“, murmelte er. „Es ist nicht persönlich gemeint.“

Er hatte jedoch recht. Auch unsere Familie war mehrfach von den eigenen Leuten verraten worden. Die Russen drehten sich wie Fahnen im Wind. Jemand wie Lenin brauchte ihnen nur etwas versprechen. Gestattete man ihnen, straflos zu rauben oder zu töten, waren sie gleich dabei. Nur eine starke und brutale Hand hielt ihre Bosheit in Schach.

„Lasst mich mit ihnen Russisch reden!“, bat ich. „Sterben werden wir ohnehin. Da kommt es auf den Zeitpunkt nicht an.“ Ich hoffte, dass sich durch irgendeinen Umstand draußen eine Chance ergab. Das war besser, als hier zu verbrennen oder im Kugelhagel dahinzuscheiden.

Die Männer wollten allerdings kämpfen und als Offiziere in Ehre umkommen.

„Vertraut mir!“, bat ich nochmals.

„Was soll’s?“, willigte Tarpen ein. „Wir sterben so oder so.“

„Wir kommen!“, schrie ich auf Russisch nach draußen.

Die Tschechen legten ihre Waffen ab, trieben aber zuerst die zwei Kühe hinaus, um zu sehen, ob sofort geschossen wurde. Als dies nicht geschah, traten wir nacheinander aus der Hütte.

Eine Gruppe von bewaffneten bärtigen Männern mit bösen Gesichtern umringte uns. Unter ihnen befand sich die Alte, der unser Haus gehört hatte.

„Das sind die Bolschewiken!“, schrie sie, mit ihrem schmutzigen Finger auf uns weisend. „Die haben mir das Haus gestohlen!“

„Da haben wir euch Roten aber erwischt!“, sprach der Anführer der Gruppe. „Wir hängen euch auf, ihr Mistkerle habt keine Gnadenkugel verdient!“ Er spuckte verächtlich auf den Boden.

Sie hatten die Stricke schon dabei.

Verblüfft schauten wir uns an. Die verwechselten uns.

„Ja, hängt sie auf!“, schimpfte die Alte begeistert mit. „Sollen die Diebe baumeln!“ Dann beäugte sie ihr angekohltes Dach. „Meine arme Hütte! Wer repariert sie mir?“

„Wir sind keine Bolschewiken!“, versuchte Tarpen in gebrochenem Russisch zu erklären. Er vergaß in der Aufregung anscheinend, dass ich ja reden sollte.

Der Anführer schlug ihm unvermittelt die Faust ins Gesicht. Blut lief aus Tarpens Nase. Mein Inneres kochte. Beinahe hätte ich mich planlos auf ihn gestürzt.

„Lügt nicht, ihr Hunde!“, schrie der Anführer des Trupps. „Ihr tragt keine Uniformen der Unsrigen!“

„Das sind tschechische Uniformen!“, erwiderte ich aufgeregt in reinem Russisch. „Sie kämpfen auf Koltschaks Seite und haben sogar eigenhändig Jekaterinburg befreit!“

Die Männer zögerten und sahen sich dumm an.

„Aber die sind doch gar nicht hier, sondern dreihundert Kilometer weiter östlich!“, warf der Baschkirenhauptmann ein. Er war offenbar sogar einigermaßen informiert. Die anderen aus seiner Gruppe nickten zur Bestätigung.

Wir hatten hier eine Bürgerwehr aus Baschkiren vor uns, welche Admiral Koltschaks Truppen gegen die Rotgardisten unterstützte.

„Das sind Verbindungsoffiziere!“, erklärte ich. „Sie sind gerade unterwegs, um die Tschechen als Hilfe zu holen. Wenn ihr ihnen etwas antut, kann die Tschechische Legion nicht benachrichtigt werden und zur Unterstützung herbeikommen. Nur sie können uns alle vor den Roten noch retten!“

Das Letztere war natürlich gelogen, da ohnehin keine Chance dafür bestand.

„Glaubt ihnen bloß nicht!“, wetterte die Alte. „Das sind mit Sicherheit Rote!“

„Halt’s Maul!“, gebot ihr der Anführer nun Einhalt.

Mehrmals knallte es. Das Gewehrfeuer der Kämpfe war sehr nahe. Der Leitwolf der Meute überlegte. Eine Entscheidung fiel ihm schwer.

„Sprich mal Tschechisch!“, forderte er sicherheitshalber.

Tarpen tat ihm den Gefallen.

„Perfektes Tschechisch!“, rief einer aus der Gruppe. „Sie sagen die Wahrheit.“

„Mhm.“ Der Anführer wusste nicht weiter.

„Hängt sie lieber auf!“, forderte das widerliche Weib nochmals und betrachtete mit wütenden Augen ihre angesengte Hütte.

Die Kühe blökten.

„Ihr könnt gehen!“, rang sich der Hauptmann zu einer Entscheidung durch. „War alles nicht so gemeint. Aber die Hexe hat uns gerufen und behauptet, dass sich Rote bei ihr einquartiert hätten. Sie hat noch nie eine Tschechenuniform gesehen und ist zudem noch halb blind.“

Die Tschechen wirkten sehr erleichtert. Sie waren dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Das war noch einmal gut gegangen. Zum Glück hatten sie auf mich gehört.

Bald darauf brachten die Partisanen auch noch unseren fehlenden Mann zu uns, außerdem einen weiteren gefangenen Soldaten in Rotgardistenuniform. Dieser war ein echter Bolschewik, den sie irgendwo aufgegriffen hatten.

„Sie haben mich überrascht, als ich kurz musste!“, entschuldigte sich Tarpens Cousin. Beide trugen schon einen Strick um den Hals. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Einer von beiden würde tatsächlich baumeln, den anderen gaben sie uns zurück.

„Wenn ihr nach Osten wollt, müsst ihr schnell machen!“, erklärte der Anführer. „Es gibt nur noch einen geheimen Schleichweg durch die Sümpfe! Der Rest ist bereits verloren.“

„Zeigt ihn uns!“, bat ich. „Es ist unsere letzte Chance!“

„Du bist Russin?“, fragte der Anführer argwöhnisch.

„Dolmetscherin!“, log ich. „Die Tschechen sprechen unsere Sprache kaum. Admiral Koltschak hat mich ihnen zugeteilt.“

Das überzeugte ihn.

„Gebt der Alten eure Pferde als Ersatz für den Schaden an der Hütte, sie nutzen auf dem Weg ohnehin nichts!“, forderte der Hauptmann.

Das Großmütterchen war damit vollends zufrieden. Vier Pferde mit guten Sätteln waren mehr wert als ihre Kühe, auch mehr als ihre baufällige Kate. Über diese Wendung zeigte sie sich regelrecht begeistert und gab uns sogar Speck und Schinken für den Weg mit.

Dafür trauerte ich um meinen Karuschka. Dieser hatte sich gerade an mich gewöhnt. Doch uns blieb keine Wahl.

Der Anführer wandte sich nun dem letzten Gefangenen zu. „Dann hängen wir eben nur den auf!“

„Bitte tut das nicht!“, wimmerte dieser.

Das machte den Spaß für seine Bewacher umso größer. Lachend zogen sie ihn an einem starken Ast hoch, sodass er noch leicht stehen konnte. Sein Gesicht lief bereits rot an. Anschließend zogen sie dem nach Luft Keuchenden die Kleidung aus.

„Die brauchen wir noch! Du kackst bestimmt gleich!“

Vollkommen nackt stand er da und kämpfte auf Zehenspitzen mehrere Minuten um sein Leben. Es war ein grausiger Anblick. Da seinen Mördern die Qual dann doch zu lange dauerte, stieß einer der herzlosen Gesellen ihm zur Beschleunigung noch ein Messer ins rechte Bein. Blut sprudelte hervor und rieselte herab. Der Mann wimmerte in den letzten Zügen. Tränen liefen sein junges verzerrtes Gesicht herunter.

„Ich habe doch Kinder“, keuchte er kaum verständlich. Er tat mir fast leid.

„Wir auch!“, spotteten die Baschkiren.

Über den sich bietenden Anblick laut lachend, zogen sie ihn schließlich ganz am Ast hoch. Kot, Urin und Blut flossen herunter. Seine Beine zuckten im Sterben, während er um den letzten Atem rang. Das war Russland. Der Krieg offenbarte das wahre Gesicht der Menschen. In solchen Zeiten wurden Mörder als Helden geehrt. Ich hasste sie alle.

Der Hauptmann gab uns zum Schluss noch einen Führer mit.

„Usban kennt sich in den Sümpfen am besten aus. Wir bleiben hier und machen weiter Jagd auf die Roten. Möge Gott euch beistehen!“

Er bekreuzigte sich, als wäre er ein barmherziger Christ. Die anderen Baschkiren machten es genauso. Erst foltern, dann beten, dachte ich hämisch. So verlogen waren die Menschen. Zusammen mit dem wortkargen Usban machten wir uns auf den morastigen Weg. Er erwies sich als sehr beschwerlich. Zudem regnete es wieder in Strömen. Das war zwar unangenehm, andererseits tarnte uns dies bei der Flucht.

Das Sumpfgebiet, welches wir durchqueren mussten, war riesig. Man konnte es ausschließlich mit einem erfahrenen Führer überwinden. Oft sanken wir bis zur Hüfte ein und glaubten fast zu sterben. Die Nahrung verdarb durch die Feuchtigkeit und das Wasser ging uns aus. Wir tranken deswegen den Regen und an klareren Sumpfstellen das brackige Wasser. Der Marsch dauerte ganze vier Tage. Wir begegneten keinem Menschen und waren alle am Ende der Kräfte.

„Nun müsst ihr allein weiter!“ Usban wies uns die Richtung.

Zum Dank für die Rettung gaben wir ihm etwas Geld. Zufrieden trottete der Baschkire zurück.

Wir rasteten einige Zeit, bis unsere Sachen trocken waren. Glücklicherweise hatte der Regen aufgehört und die Sonne zwängte sich zwischen den Wolken durch. Ich wertete das als gutes Omen.

Zwei der Tschechen begannen inzwischen zu husten. Sie hatten sich erkältet. Das Glück blieb auf unserer Seite. Nach ein paar Kilometern trafen wir auf einen weißgardistischen Kontrollposten und zeigten unsere zerschlissenen Dokumente. Inzwischen hatten die Roten Khanzins Truppen im Westen komplett eingekesselt und auch die andere Seite des Sumpfes befand sich in ihren Händen. Wir waren nur knapp entkommen., wie wir erfuhren. Die Weißgardisten gaben uns Brot und Speck. Ich brachte beides den beiden angeschlagenen Tschechen. „Ihr seid krank und braucht gutes Essen. Nehmt es!“

Sie umfassten die Gaben dankbar. Soldaten sind immer hungrig. Man versorgte uns auch mit neuen Pferden. Auch hier hofften die Leute darauf, dass wir die Tschechische Legion zu Hilfe holten. Die Hoffnung stirbt immer als Letztes.

Sobald wir alles verspeist und etwas geruht hatten, ritten wir los.

„Wie geht es dir?“, fragte Tarpen einen der Erkrankten nach längerer Zeit.

„Vor wenigen Stunden fühlte ich mich dem Tod nahe und jetzt reitet mir das Pferd nicht schnell genug!“, erwiderte dieser begeistert, hustete aber trotzdem.

„Geht mir ebenso!“, rief der andere. „Die Dünste des Sumpfes haben m ich krank gemacht. Die Luft hier ist geradezu köstlich!“

Er küsste ein Bild, das an einer Kette um seinen Hals hing.

„Vielleicht sehe ich meine Liebste doch noch wieder! Das Schicksal meint es offenbar gut mit uns.“ Trotz der schwierigen Umstände gaben sich alle ausgelassen fröhlich. Eben wie jene, die im Angesicht des Todes ein langes Leben geschenkt bekommen. Unser nächstes Ziel hieß Jekaterinburg. Dort befand sich wieder der Stab der tschechischen Legion.

Die Rache der Zarentochter

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