Читать книгу Die Rache der Zarentochter - Tatana Fedorovna - Страница 6

Die Sokolows

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Die Zarengegner rückten wie eine Welle aus roten Flammen vor. Am ersten Juli fiel dann sogar Perm.

Froh, nicht zu den Eingekesselten zu gehören, an denen sich die Bolschewiken grausam rächten, erreichten wir an diesem Tag Jekaterinburg. Hier, wo man meiner Familie so viel Leid zugefügt hatte, fühlte ich mich fast schon geborgen. Das war ein Gipfel des Absurden, doch Veränderungen bestimmen nun einmal den Fluss des Lebens. Nichts ist von Dauer. Feinde werden zu Freunden und Freunde werden zu Feinden.

Erneut war nun die Stadt mein Nothafen. Doch auch hier regierte inzwischen überall der Mob in den Gassen und ein Großteil der Einwohner frönte bereits der Flucht. Die Straßen und die Eisenbahnstation präsentierten sich als heillos überfüllt. Die Fluchtwege platzen aus allen Nähten, wie gekochte Würste aus dem umhüllenden Darm. Viele warteten auch auf die Möglichkeit, mit einem der wenigen Züge gen Osten zu entrinnen. In dem Verlassen der Heimat sahen sie ihr letztes Heil.

Doch in Kriegszeiten zählten Soldaten mehr als andere, wie Kaufleute, Beamte, Bürger und Bauern. So war es immer gewesen, so war es auch diesmal. Kam eine Kette von Waggons, nahm sie das Militär sofort in Beschlag und schickte Soldaten mal in diese, mal in jene Richtung. Weißgardisten und Tschechen stritten sich dann um die wenigen zerschlissenen Sitzplätze und um die Viehwaggons. Argumente, Beleidigungen und schmutzige Fäuste flogen. Es galt oft das Recht des Stärkeren. Trotzdem fand sich am Ende meist irgendeine Einigung, schließlich hatten die Männer viele Monate Seite an Seite gekämpft und waren noch immer aufeinander angewiesen.

Die ständig zunehmende Zahl der Zivilisten auf dem Bahnhof vergrößerte das Chaos von Tag zu Tag – sehr zur Freude von Plündern und Dieben. Nur gut, dass noch kein Winter war. Unzählige Gauner nutzten die Not nach allen Regeln ihres Handwerks aus. Das Fehlen der staatlichen Ordnungsgötter wurde für sie zum Segen. Erwischte man sie einmal, hing man sie zügig in Selbstjustiz auf. Es blieb keine Zeit für Gerichte und es gab keine Möglichkeiten zur längeren Bewachung. Öfter als es dem Herrn im Himmel lieb wäre, traf das auch schon einmal Unschuldige, da die Banditen ihre Schuld gern anderen anhängten. Mehrere Hingerichtete baumelten als abschreckende Beispiele an den Bäumen in der Umgebung. Krähen rissen ihnen blutige Stücke aus dem Körper. Es war ein schockierender Anblick, der die Sitten des Landes in Zeiten unbändiger Verzweiflung widerspiegelte.

Nachdem mein Beschützer, Oberst Tarpen von Radewitz, im Stab vorgesprochen hatte, beschlossen wir, in unserem alten Hotel zu übernachten. Bloß einen Tag zur Erholung von der schweren Reise hatte man ihm freigegeben. Es war ein Tropfen lindernde Güte auf den geschundenen Stein. Morgen Mittag musste er sich zu weiteren Besprechungen einfinden – zur Planung von Taktiken für einen möglichst unblutigen ehrenvollen Rückzug und die Flucht. Die tschechische Legion musste unbedingt ihre Kampfkraft bewahren und war der letzte Garant der Sicherheit. Die Tschechen wollten aber endlich heim. Der Weg nach Westen war nun verschlossen.

Wir begaben uns zu dem Quartier, welches zum Kreuzpunkt für unsere beiden Schicksale geworden war. Der gute alte Portier erkannte uns sofort. Das ließ einen Hauch von Vertrautheit in mir aufkommen. In Zeiten der Not und im Krieg klammerte man sich an alles, was Beständigkeit und Normalität vorgaukelte.

„Schön, dass Sie noch leben. Ich war in großer Sorge!“ Das Gesicht des Angestellten spiegelte seine Erleichterung wider.

„Könnten wir etwas zu essen erhalten?“, fragte Tarpen und strich sich flüchtig über den flachen Bauch.

Erschüttert musterte ich seine ausgemergelte Statur. Der Magen meines Liebsten knurrte wie ein flehendes Hündchen. Der traurige Laut ließ mein Inneres schmerzen. Seit langer Zeit waren wir nicht mehr richtig speisen gewesen.

„Kein Problem!“, entgegnete der Portier. „Unser Vorräte werden noch eine Weile reichen, da wir nur noch wenige Gäste beherbergen. Fast alle sind bereits abgereist.“ Keinen Atemzug später wechselte sein zuversichtlicher Blick zu einer Miene der Besorgnis. „Werden die Roten hierherkommen?“

Mein Freund und Beschützer nickte. Er wollte nicht lügen.

„Bleiben Sie in der Stadt?“, fragte ich mitleidsvoll.

Der Angestellte lächelte traurig, versuchte jedoch zu einer unbeschwerten Art zurückzufinden. „Ich ziehe mir einfach eine alte Joppe an. Für die Roten gehöre ich ja zum Proletariat. Sie werden mir hoffentlich nichts tun. Und dann bete ich, dass der liebe Gott Admiral Koltschak irgendwann wieder zurückkehrt“, erklärte er uns seine persönliche Strategie.

Ich überlegte, wie ich seine Strapazen mildern könnte. Bei meiner Abreise könnte ich ihm vielleicht ein paar goldene Münzen schenken. Sie stammten noch vom Diebesgut der Plünderer, welche mich damals im Wald vergewaltigt hatten und verbrennen wollten. Tarpens Cousin hatte mich gerade noch rechtzeitig gerettet. Kurzerhand hatte er ihnen damals den Prozess gemacht und sie an Ort und Stelle aufgeknüpft. Dafür war ich ihm sehr dankbar. Etwas von deren Beute hatte ich als Notreserve in Jekaterinburg versteckt. Wenn der Portier den roten Sturm überlebte, würden das Gold ihm dabei helfen, in der Not nach dem Krieg den Magen zu füllen und zu überleben.

Als wir dann endlich in das wohlige Restaurant eintraten, blickte uns ein bekanntes Gesicht entgegen. Die Augen des Mannes leuchteten auf. Es war Staatsanwalt Sokolow. Der treue Monarchist hatte Tarpen binnen eines Herzschlags erkannt. Mit beschwingtem Schritt kam er zu uns. Seine junge Ehefrau blieb lächelnd am Tisch zurück, erhob sich aber höflich.

„Schön, dass ich Sie noch einmal wohlbehalten sehe, Oberst von Radewitz. Ich befürchtete schon, Ihnen wäre etwas passiert. Sie waren lange fort. Fast alle Bekannten sind schon weg. Kommen Sie bitte an unsere Tafel und verwöhnen Sie Ihren Gaumen auf meine Rechnung. Bei der Gelegenheit würde ich gerne etwas mit Ihnen besprechen!“ Er wandte sich nun mir zu. Für einen Moment erstarrte seine Mimik, um dann im heiteren Glanz wiederaufzuleben.

„Endlich sehe ich Sie aus der Nähe! Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.“

Galant küsste er meine Hand. Der Mann war mir sympathisch. Unser Inneres trifft eine solche Entscheidung in Bruchteilen. „Obwohl ich Sie schon bei manchem Empfang aus der Ferne gesehen habe, hatten wir nie das Vergnügen, miteinander zu reden. Man könnte denken, dass Sie mich scheuen“, scherzte er. Nochmals musterte er mein Antlitz genau. Seine Stirn legte sich in Falten.

Ich lächelte gespielt schüchtern, so als wär ich nur irgendeine gewöhnliche Geliebte eines Offiziers. Ahnte er etwas und erkannte mich?

„Gern!“, nahm mein Begleiter die Einladung an. „Wir sind gerade erst angekommen, allerdings mit schlechten Neuigkeiten. Perm ist gefallen.“

„Ich weiß“, erwiderte Staatsanwalt Sokolow traurig. „Alle neuen Nachrichten sind im Augenblick voller Bitterkeit, so als hätte sich das Schicksal gegen unsere Sache verschworen. Die Bolschewiken erhängen dort alle gefangenen Offiziere, vergewaltigen die Frauen und schonen selbst die Kinder nicht. Einfache Soldaten werden entweder in ihre Einheiten eingegliedert oder lebendig begraben, um Munition zu sparen. Zuvor müssen sie oft noch ihre eigenen Massengräber ausheben.“

Seine junge Ehefrau war ganz bleich und machte ängstliche Augen.

„Wir konnten uns im letzten Moment noch durchschlagen“, erklärte Tappen in seinem gebrochenen Russisch.

„Es war wirklich sehr, sehr knapp!“, fügte ich hinzu, um den schmalen Grat unseres Überlebens zu betonen.

„Möge der Gottvater mit uns sein“, sprach der Staatsanwalt sich bekreuzigend und wies bestimmt auf die uns angedachten Plätze. Tarpen küsste nun ebenfalls der Gemahlin von Sokolow die Hand. Diese nickte mir freundlich zu. Einen Pendelschwung später rückte der Staatsanwalt gekonnt meinen Stuhl zurecht. Wir setzten uns an den Tisch.

„Sind inzwischen Ihre Ermittlungen beendet?“, wagte ich gleich zu Beginn zu fragen. Neugier trieb mich an.

Unser Gastgeber schüttelte traurig den Kopf. „Es gibt zwar eine Unmenge neuer Indizien, gleichwohl wird eine Flucht dazu führen, dass ich meine Arbeit nicht beenden kann. Warum fragen Sie?“

„Meine Verlobte ist Monarchistin bis in die feinste Blutader“, erklärte Tarpen. „Alles, was mit der ermordeten Zarenfamilie zusammenhängt, interessiert sie wie das Wohl ihres eigenen Kindes.“

Ich errötete. Diese Worte könnten mich verraten.

Der Staatsanwalt musterte mich nochmals aufmerksam. Ich merkte, dass er mit sich rang. Würde er mich entlarven? Doch er nickte nur verständnisvoll.

„Auch wir sind sicher Monarchisten“, bekundete er. „Ich verabscheue die Demokratie etwas. Revolution sind nichts Anderes als ein Teufelswerk. Sie sehen ja, was für ein Chaos durch dieses Gedankengut entstanden ist. Den Menschen wird viel versprochen, aber neue Machthaber denken in erster Linie an sich. Sie nutzen ihren Sitz am Gipfel, um sich höchstmöglich zu bereichern, ehe der nächste Verkünder sie in den Abgrund stürzt. Demokratie funktioniert vielleicht in Amerika, jedoch niemals hier in Russland. Russen brauchen zudem immer eine feste Hand und die Religion, sonst sind sie herzlose Bestien!“

Seine Ehefrau nickte eifrig und schaute ihren Mann mit verliebten Augen an. Man sah, dass sie ihn zutiefst bewunderte. Sie bildeten ein schönes Paar. Selbst der Altersunterschied, der groß wie eine Kluft wirkte, konnte diese Harmonie nicht zerbrechen. Es war so schade, dass das Kriegsgemetzel ihrem Glück im Wege stand.

Doch das ging mir ebenso.

„Demokratie ist sicher etwas für Narren“, stimmte Tarpen unserem Gesprächspartner zu. „Revolutionen sorgen nicht für Gerechtigkeit. Sie spülen nur noch unmoralischere Machthaber auf die oberste Stufe der Gesellschaft, die sich dann schlimmer als die von Gott gesandten Despoten aufführen. Jeden Tag erleben wir das jetzt.“

Der Kellner kam. Auch er hatte ein trauriges Gesicht. Die allgemeine Stimmung war wie 1916 kurz vor der Revolution. Die Endzeit schien nahe.

In mir loderte der Zorn wie die sieben Plagen der Apokalypse auf. Ich hasste dieses rote Gesindel, das meiner Familie und ganz Russland so viel Unglück gebracht hatte. Der rachsüchtige Teil in mir wollte die Mörder unserer Familie und deren Befehlshaber bestrafen. Leider entwickelte sich mein persönlicher Rachefeldzug ungünstig. Es sah aus, als müsste ich wahrscheinlich noch viel Geduld aufbringen.

Vielleicht sollte ich einfach die Seiten wechseln? Unter den Roten war ich dichter an meinen Feinden. Aber das hieße, sich von Tarpen loszureißen und unser Band zu durchtrennen. Ich wollte die uns verbleibende Zeit genießen, das kurze Glück, die vergängliche Illusion. Träumte vielleicht insgeheim sogar davon, ihn zu meinem dauerhaften Gefährten zu machen. Dann könnte er zusammen mit mir der brutalen russischen Welt entfliehen, welche sich sterbend um uns drehte. Das Leben konnte uns vielleicht noch herrliche Genüsse spenden.

Ich verwarf den Gedanken jedoch schnell, denn ich hatte eine Blutschuld einzulösen. Irgendwann mussten wir uns trennen. Doch jetzt war dieser Augenblick nicht. Nein, ich genoss jede Minute unseres Beisammenseins.

„Dürfte ich erfahren, wie Ihre neuen Erkenntnisse lauten?“, griff Tarpen das Thema höflich auf. Er wusste, wie sehr es mich interessierte. Ich übersetzte.

Der Staatsanwalt war sofort in seinem Element und vergaß sein eigenes Anliegen. Die Aufklärung des Zarenmordes sah er anscheinend als seine wichtigste Lebensaufgabe an.

„Wir haben einige weitere Informationen gefunden, die ein ganz neues Bild auf die Ereignisse werfen“, erklärte er.

Ich war gebannt, versuchte indes äußerlich ruhig zu erscheinen.

Seine verliebte Ehefrau nickte mit bedeutungsvollem Gesicht und linste vorsichtig zu den anderen Tischgruppen, ob uns niemand belauschte.

„Eigentlich soll man nichts zu laufenden Ermittlungen sagen, aber vermutlich ist es gut, dass ich Ihnen davon in dieser besonderen Situation erzähle“, sprach er im verschwörerischen Ton und gewichtige Falten traten in sein Gesicht. „Mir und meiner Frau könnte etwas passieren und dann sind Sie beinahe die Einzigen, die die Wahrheit kennen. Alles löst sich ja gerade hier in Unordnung auf.“

Er unterbrach seinen Vortrag, denn der Kellner servierte uns Wein und tischte anschließend geräucherten Stör als Vorspeise auf.

„Ich schreibe gerade an einem Buch, damit die Beweise nicht der Nachwelt verloren gehen“, fuhr er jedes Wort betonend fort.

„Die wichtigsten Dokumente habe ich in einem Koffer zusammengepackt und das Gleiche macht der Kasaner Oberstaatsanwalt Nikander Miroljubow. Er ist neben mir und Jordanski der Dritte, der alle wesentlichen Details kennt. Wir hoffen, dass einer von uns es ins Ausland schafft, um der zivilisierten Welt die ganze Wahrheit zu offenbaren.“

„Sie verlassen die Stadt?“, fragte Tarpen nebenher.

Nun schaute der Ermittler ängstlich und besorgt. „Die Bolschewiken würden mich töten, wenn ich hierbleibe. Sie werden nicht zulassen, dass ich ihr Verbrechen aufkläre und die Hintermänner überführe. Selbst bei meiner Frau wird das rote Gesindel keinen Anstand zeigen. Dabei ist sie schwanger.“

„Herzlichen Glückwunsch“, sprachen Tarpen und ich gleichzeitig, obwohl die Situation denkbar schlecht für ein solches Ereignis war. Daher wirkte unser aufgesetztes Lächeln nicht ganz ehrlich. Tarpens Augen blickten traurig mitfühlend.

„Danke“, flüsterte seine Gemahlin und errötete schamhaft.

Unsere kleine Gemeinschaft aß etwas vom Fisch. Sokolow und seine Frau griffen nur symbolisch zu. Sie hatten ihre Vorspeise schon gegessen. Für einen Moment hatte uns die gute Nachricht in schlechten Zeiten den Mund verschlossen. Das Schweigen lastete für einen Augenblick auf unserer kleinen Gesellschaft.

„Hintermänner?“, versuchte ich nach ein paar salzigen Happen die unangenehme Stille zu vertreiben.

Der Staatsanwalt sah mich erneut mit diesem merkwürdigen Blick an und musterte mich abermals genau.

„Wir wissen jetzt, dass die Toten mit Schwefelsäure übergossen wurden, um sie unkenntlich zu machen. P. L. Wojkow, der Versorgungskommissar des Ural, hat diese Brühe geliefert und als Lohn den Rubinring der Zarin erhalten.“

Ich konnte mich gut an das Schmuckstück erinnern. Der Ring war ein Geschenk meines Vaters zum zwanzigsten Hochzeitstag. Papa hatte Mama über alles geliebt. Vater hatte sich von mir beraten lassen, als er diesen bei unserem berühmten Hofjuwelier, dem genialen Fabergé, anfertigen ließ.

„Und das ist bloß die Spitze vom Berg“, fuhr der Staatsanwalt fort. „Fast zur gleichen Zeit wurden die Schwester der Zarin, die Frau des Großfürsten Michail und ihre Söhne, die einen Anspruch auf den Thron hätten, in Alapajewsk lebendig in einen Schacht gestoßen. Man konnte ihre Leichen identifizieren und hat inzwischen die toten Romanowprinzen nach Tschita überführt. Soviel ich weiß, will man sie nach Osten, notfalls bis China, mitnehmen, um wenigstens ihre Überreste vor den Bolschewiken zu retten. Wie bei der Ermordung des Großfürsten ließen die roten Bestien Lügen verbreiten. Sie streuten das Gerücht, dass angeblich Weiße die Prinzen entführt hätten. Sie also gar nicht tot wären. Das Ziel Lenins ist es, alle Romanows auszurotten. Ihr Alter spielt für die Bolschewiken keine Rolle. Sie haben einfach kein menschliches Herz. Satan führt die Revolution persönlich an.“

Ich stimmte ihm innerlich zu. Unsere Feinde waren keine guten Menschen. Die Welt war besser ohne sie und ihre Ideologie dran. Unser Kampf war richtig und wichtig. Wir standen auf der richtigen Seite.

„Vieles wissen wir von Medwedew“, fügte der Staatsanwalt hinzu. „Leider konnte ich diesen Unhold nicht mehr befragen, da er eines mysteriösen Todes gestorben ist.“

„Wissen Sie zwischenzeitlich mehr darüber?“, erkundigte sich Tarpen in stockendem Russisch. Es war aber insgesamt durch unser häufiges Beisammensein besser geworden.

Diese Frage ließ meinen Nacken kribbeln, als würde mich jemand dort packen. Hoffentlich war ich nicht inzwischen in Verdacht geraten, denn wir hatten wenige Tage nach dessen Tod die Stadt verlassen.

„Während der Autopsie fanden wir durchaus einige merkwürdige Spuren“, eröffnete Sokolow.

„Da er jedoch überall Hämatome und Wunden hatte, können diese durchaus auch von Belozerkowskis Befragungsmethoden stammen. Sie verstehen sicherlich …“, gab unser Gesprächspartner bereitwillig Auskunft. „Das machte die Klärung der wirklichen Todesursache unmöglich. Vielleicht war einfach sein Herz stehen geblieben. Ich bin ja generell gegen Folter. In seinen leblosen Augen stand irgendwie Entsetzen. Wir haben die Geschichte verbreitet, er sei an Typhus gestorben. Doch das hat der Oberstaatsanwalt nicht geglaubt. Er hat gar nichts geglaubt. Anfangs hat Miroljubow sogar mich als Täter verdächtigt und eine penibel genaue Untersuchung gefordert. Leider bleibt Medwedews Tod bis heute in weiten Teilen ein Rätsel. Das kann wohl nur Gott wirklich lösen.“

Ich war zufrieden. Niemand brachte mich mit dem Mord in Verbindung.

„Aber gewiss doch“, fügte ich mit einem schelmischen Schmunzeln hinzu, das gleichwohl bestens in meiner Brust verborgen blieb.

„Auch eines der Trommelfelle war seltsamerweise durchbohrt. Einige abergläubische Bewacher meinten, dass ein rachsüchtiger Geist ihn ermordet hat.“ Sokolow lachte. „Doch konnte ich das dem Oberstaatsanwalt schreiben?“

Wir machten große und erstaunte Augen. Die meines Gefährten waren aufrichtig, die meinen lediglich ein Kunstwerk. Ich wusste als Einzige, wie er wirklich gestorben war.

„Russen sind eben ein abergläubisches Volk!“, ergänzte seine hübsche Frau.

„Als Ausländer darf ich so etwas nicht sagen“, scherzte Tarpen. „Dabei könnte es richtig sein.“

Ich tat ebenfalls so, als amüsierte mich der letzte Teil der Geschichte köstlich. Zufrieden dachte ich an den Tod dieses Mistkerls und leckte zufrieden kurz meine Lippen. Ja, das war durchaus eine Form von Gerechtigkeit.

Tarpen blickte etwas irritiert in mein zufriedenes Gesicht. Rasch passte ich dessen Ausdruck der Situation an, ebenso meine Worte: „Jaja, der Volksglaube“, murmelte ich, wie es der russischen Etikette entsprach.

„Da Medwedew nicht mehr zur Verfügung stand, musste ich andere Wege suchen“, fuhr der Staatsanwalt fort und trank etwas Wein. „Ich habe mir deswegen genau angeschaut, mit wem die Bolschewiken vor dem Attentat gesprochen haben.“

„Wie denn das?“, fragte Tarpen.

„Das Hauptpostamt bewahrt die versandten Telegramme für einige Zeit auf. Also bin ich dorthin gegangen. Durch den plötzlichen Angriff hatten die Bolschewiken nicht daran gedacht, dieses Wissen zu vernichten.“

Schweiß rieselte meinen Rücken vor Aufregung herunter und begann sich wohlig zu erwärmen. Gleich erfuhr ich sicher noch mehr über die Mörder meiner Familie. Offenbar war der Staatsanwalt doch zu etwas zu gebrauchen.

„Offiziell gaben die hochrangigen Bolschewiken Phillipp Goloschtschokin und Alexander Beloborodow den Befehl zur Ermordung der Zarenfamilie“, sagte der Staatsanwalt. „Doch stimmte das? Die meisten Eingeweihten vermuteten, dass Lenin persönlich den Mord angeordnet hat. Dafür gibt es aber bisher keinen belastbaren Beweis. Vielmehr haben wir andere Indizien gefunden. So fand ich im Hauptpostamt verschlüsselte Telegramme amerikanischer Diplomaten an Beloborodow. Es könnte durchaus sein, dass sie hinter allem stehen und den Mord angeraten haben.“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Tarpen verblüfft.

„Wir konnten einen Namen entschlüsseln. In Amerika lebt ein jüdischer Illuminatenbanker. Er heißt Jacob Fischer. Wir wussten über geheime Quellen bereits vorher, dass er, wie die Deutschen auch, die Bolschewiken unterstützt. Der Kerl zieht viele unsichtbare Fäden und ist offenbar der eigentliche Auftraggeber der Telegramme. Man könnte spekulieren, er wolle auf diese Weise das Auslandsvermögen der Romanows an sich reißen. Ich bin zwar kein Anhänger der Theorie, dass die Revolution eine zionistische Verschwörung ist, aber es ist auffällig, dass fast alle Beteiligten am Zarenmord tatsächlich auch Juden sind. Beloborodow ist einer, Lenin auch und das Erschießungskommando ist ebenfalls voll davon.“

Der Kellner brachte nun den Hauptgang, Spanferkel und Kartoffeln.

„Wahrscheinlich ging es wie immer um sehr viel Geld“, fasste Sokolow zusammen. „Mehr wissen wir erst, wenn es uns gelingt, die verschlüsselten Nachrichten ganz zu dechiffrieren. Ich werde sie auf die Flucht mitnehmen.“

Mein Inneres kochte regelrecht. Die Nachrichten warfen mich aus der Bahn. Von Jacob Fischer hatte ich noch nie etwas gehört. Ich setzte gleich auch ihn auf meine geheime Liste.

„Und wo wollen Sie jetzt hin?“, erkundigte sich Tarpen.

Der Staatsanwalt lief rot an und druckste herum. Mit einem schiefen Lächeln gestand er: „Genau das ist unser eigentliches Anliegen. Entschuldigen Sie meine aufdringliche Frage, aber wir haben keine Wahl.“ Er rang etwas mit sich. „Halten Sie es für möglich, dass die Tschechische Legion uns mitnehmen und einen gewissen Schutz bieten könnte?“

Für einen Moment trat Stille ein. Ich biss die Zähne zusammen.

„Niemand fühlt sich für uns zuständig“, ergänzte seine Frau im klagenden Ton. Ihre hübschen Augen füllten sich mit Tränen, wie ich sie längst zu weinen verlernt hatte.

Tarpen dachte einige Atemzüge lang nach. Er zögerte mit der Antwort und stand zwischen zwei Stühlen.

„Ich komme gerade vom Stab“, presste er endlich hervor. „General Gajda ist von der Zusammenarbeit mit den Weißgardisten zutiefst enttäuscht und hat den Befehl gegeben, dass wir keine Zivilisten mitnehmen dürfen. Der Rest der Tschechischen Legion soll sich nach Wladiwostok durchschlagen. Wir haben hohe Verluste zu verkraften. Aus seiner Sicht würden Zivilisten uns bei den zu erwartenden Kampfhandlungen nur behindern und aufhalten. Die Zeit der Kooperation ist vorbei. Wir Tschechen müssen uns jetzt um uns selbst kümmern.“

Der Staatsanwalt wurde bleich und auf dem Gesicht seiner Frau stand geradezu Entsetzen. Die Tschechen waren ihre letzte Hoffnung gewesen. Hätten sie sich doch nur eher abgesetzt. Es war nicht immer gut eine verlässlicher Beamter zu sein.

„Bitte verzeihen Sie, dass ich gefragt und Sie bedrängt habe“, entschuldigte sich der erschütterte Sokolow äußerlich höflich. Er war ein Ehrenmann nach alter Manier. „Ich tat es für meine Gemahlin und unser Ungeborenes“, fügte er leise erklärend hinzu, als hätte er etwas Falsche getan.

Tarpen nickte und murmelte etwas, doch retten konnte er den Abend nicht. Die Stimmung senkte sich auf das Niveau, das 1912 beim Untergang der majestätischen Titanic an Bord geherrscht hatte. Das Gespräch kam nicht mehr so recht in Gang und stockte peinlich.

Der Staatsanwalt wusste, dass es ohne Schutz um ihn und seine junge Gemahlin geschehen war. Ihr Kind hatte keine Chance in dieser kriegerischen Welt.

Wer sollte die Wahrheit im Ausland verbreiten, wenn alle tot waren? Starb Sokolow, ging das Wissen um dieses Verbrechen verloren.

Nach diesem deprimierenden Mahl verabschiedeten wir uns voneinander. Während Sokolows schwangere Frau mich umarmte, flüsterte ich ihr leise ins Ohr: „Verzagen Sie nicht, ich versuche den Oberst umzustimmen!“

Die verängstigte Dame konnte sich nicht zurücknehmen. Ein Weinkrampf schüttelte sie urplötzlich. Sie kämpfte um das Leben ihres Kindes, hatte die Hoffnung gerade aufgegeben und schöpfte nun wieder neue.

Bitterlich weinend konnte sie sich nicht von mir lösen und klammerte sich geradezu an mich.

Die beiden Männer schauten pikiert, wussten aber nichts zu sagen, da sie den plötzlichen Gefühlsausbruch bloß unzureichend begriffen. Stumm standen beide da. Auch die wenigen anderen Gäste und der Kellner beobachteten neugierig, was da vorging.

Nachdem Sokolows Gemahlin wieder Herrin über ihre Tränen geworden war, trennten wir uns. Ich sah noch, wie sie ihrem Ehemann etwas ins Ohr hauchte. Dieser wandte sich erstaunt zu mir um. In seinem Gesicht lag Verblüffung.

Nein, die beiden durften keinesfalls sterben.

Die Rache der Zarentochter

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